Bis hierher. Und wie weiter?

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Bis hierher. Und wie weiter?
Bis hierher. Und wie weiter?
Beerdigung in Wichtigstein an der Phrase
Autor: Carla Bender
Datum: 22. Mai 2007
----Buchtitel: Bis hierher. Und wie weiter?
Buchautor: Regine Sylvester
Verlag: Kiepenheuer
Sie kann es, wenn sie nur will, aber meist will sie nicht: Regine Sylvester breitet
in ihrem neuen Buch »Bis hierher. Und wie weiter?« Alltagsbeobachtungen aus,
die sie gerne zu Alltagsweisheiten umgearbeitet hätte. Ihre Texte, zumeist in
»Brigitte« oder der »Berliner Zeitung« erschienen, handeln vom Fehlkauf, vom
Flirt, vom neuen Freund ihrer Tochter und alle sind irgendwie nett und
irgendwie mit gutem Blick begabt. Aber wer, wie Sylvester, schon im Vorwort
pädagogisiert »Auch ein kurzer Text braucht ein einen guten Anfang, einen
guten Schluss« - während wir Dummchen alle dachten, ein schlechter Schluss
täte es auch, wenn nur der Anfang blöde ist - dessen Schreib-Anstrengungen
sind aus den Zeilen zu riechen.Entsetzen breitet sich aus, wenn wir an den
schweren Sorgen der Sylvester teilhaben: Wohnt sie doch in sanften
Naturfarben und ein Brachial-Schenker bringt ihr eine knallrote Tasse mit.
Ohgottohgott. Auch die Erkenntnis, dass Frauen besonders lange suchen, »wenn
sie nichts finden wollen« ergreift das Herz. Denn natürlich sind es immer »die«
Frauen, »die« Männer, nur dann, wenn die eigentlich hübsche
Einzelbeobachtung zum Phänomen aufgeblasen wird, kann sie in die
Allgemeinplatz-Liga aufsteigen, hebt sie die Journalistin in den Rang der
Weltweisen.Aus der Rolle der Weltweisen fällt die Autorin auch dann nicht,
wenn sie augenzwinkernd die kleinen Schwächen der Menschen an sich selbst
feststellt: Da sorgt sie sich, der potenzielle Schwiegersohn könne den schönen
Jugendstil-Sekretär erben. Seht her, sagt der Satz, auch ich bin, selten genug,
ein wenig spießig, das macht mich, obwohl ich doch die Mutter der
Alltagsweisheit bin, richtig menschlich: Man reiche mir die
Jugendstil-Porzellankiste, mein Metaphern-Elefant will weiden.»Reg Dir nich
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uff«, sagt mein Kollege, der immer schlecht berlinert, wenn er leutselig sein will,
»iss doch nur Unterhaltung«. Als dürfe Unterhaltung nicht geistreich und
anspannend sein, als sei Unterhaltung grundsätzlich verurteilt im Hause RTL
hergestellt zu werden. Deshalb muss man sich aufregen, wenn im Bändchen der
Sylvester der uralte Witz über die Beleidigung der Gastgeber erzählt wird, in
dem der Gast der Frau des Hauses unwissentlich Hässliches über deren Mann
erzählt, ein Witz, der schon schlecht war als er im 18. Jahrhundert geboren
wurde. Oder wenn die Autorin die alte, schlechte Metapher von der Glatze
bemüht, auf der keine Locken zu drehen sind.Ganz übel wird die Sylvester,
wenn sie das Berliner Dorf verlässt und Politisches beobachtet: Natürlich hat sie
damals, in der schlechten alten DDR-Zeit, auch mal Antiautoritäre aus dem
Westen kennen gelernt und natürlich haben die ihr Kind in den Papierkorb
kotzen lassen: »Da muss es durch«, sollen die Eltern gesagt haben. Nach dem
einen Klischee kann das nächste nicht ausbleiben: Emanzen, so berichtet die
Autorin, verlangten »Frautel« statt »Mantel« zu sagen. Wer so spießige
Erinnerungen hat, dem kann in einer Story über Demonstrationen natürlich nur
der besoffene Alkoholiker einfallen, der noch im Taumeln »Krieg den
Faschisten« grölt. Solche gab es und gibt es, solche als allgemeines Bild
antifaschistischer Demonstrationen zu transportieren, gilt in der Branche als
Bewerbungsschreiben an das Haus Springer.Das Schlimme ist: Die Sylvester
kann es besser. Auf den zehn Seiten unter der Überschrift »Paare, Passanten«,
veröffentlicht die Journalistin verdichtete Beobachtungen, die von sozialem
Verständnis sprechen, von wirklicher Nähe zu wirklichen Menschen. Da
verstellt kein Klischee den Blick, da ist die Selbstverliebtheit vergessen. »Ich
lese erst wenn ich tot bin«, sagt der Junge in einer ihrer Geschichten, der sich
im Dauerspiel mit seinem Gameboy von seiner Mutter nicht stören lassen will.
»Schreib das auf, Sylvester!«, hatte der Kisch aus dem Hintergrund gerufen und
sie hat es getan.Was unter dem Marketing-Subtitel »Nachrichten aus einem
Frauenleben« zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde, kommt aus
Zeitungskolumnen. Da hatte es, zum schnellen Verzehr gedacht, auch einen
guten Platz, ein Buch verlangt nach längerer Haltbarkeit. Hinzu kommt, dass
nicht wenige der Kolumnenautoren, so auch Frau Sylvester, ein schweres
Tucholsky-Syndrom haben. So wie der möchten sie sein, so wie dessen Texte
sollen die ihren überleben. Raus kommt dann eine Erscheinung, die tatsächlich
schon von Tucholsky erwähnt wurde: Es ist der virtuelle Ort Wichtigstein an der
Phrase, in dem die meisten der vorliegenden Texte entstanden sind. Und genau
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dort sollten sie auch schnell beerdigt werden.
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