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literatur | 25 J u N G e F r e i H e i t | Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Jochen Thies: Die Moltkes André schlüter: Moeller van den Bruck Seite 26 Fritz J. raddatz: Tagebücher 1982–2001 eberhard straub: Zur Tyrannei der Werte Seite 27 Peer steinbrück: Unterm Strich Peter-Michael diestel: Aus dem Leben eines Taugenichts? Seite 28 Udo Ulfkotte: Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold. Alice schwarzer: Die große Verschleierung Seite 29 Ulrike Jureit, christian schneider: Gefühlte Opfer Seite 30 herfried Münkler: Mitte und Maß. Kampf um die richtige Ordnung Seite 31 Foto: picture-alliance / dpa Thea dorn: Ach, Harmonistan. Deutsche Zustände raphael Gross: Anständig geblieben Seite 32 Französische Soldaten sichern ihren Graben, um 1916: An den „Stahlgewittern“ klebt eben nicht das Blut von Verdun, sondern nur die Tinte der Berliner Nachkriegszeit Sssst-rrrt-Bumms!...udja-udja-Bumms! Der erste Weltkrieg im Originalton: Helmuth Kiesel hat ernst Jüngers Kriegstagebuch 1914 bis 1918 ediert AlexAnder PscherA M anchen Autoren begegnen wir im strahlenden Sonnenschein, im Land, wo die Zitronen blühn. Mit anderen steigen wir hoch hinauf auf den Berg, dorthin wo die Luft rein ist, wo sie verklärt und verzaubert. Das sind Autoren des stabilen metereologischen Hochdrucks. Zu diesen gehört einer mit Sicherheit nicht: Ernst Jünger. Zwischen uns und ihm steht nicht nur eine atlantische Regenfront mit Tiefausläufern, sondern zwischen uns und ihm stehen veritable Stahlgewitter. Es hilft nichts: Wer zu Jünger will, muß durch dieses Unwetter hindurch. Mit oder ohne Schirm. Und so mancher verliert dann den Glauben, wird naß und schreibt Despektierliches über jenen Stahlblitze schleudernden, menschen- und weltverachtenden, zynischen Wettergott mit dem kalten Blick. Diese Abwertung kann aber allenfalls den Text treffen, aber nicht seinen Autor. Denn die „Stahlgewitter“ sind – wie jeder halbwegs Informierte weiß – trotz ihres Authentizität verbürgen wollenden Untertitels (Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers) alles andere als ein Diarium. Sie sind eine sorgfältig komponierte und vielfach umgearbeitete Erzählung in Ich-Form. Sie sind literarische Sublimation, episches Konstrukt, am Ende eben doch fiktionales Gebilde. An den „Stahlgewittern“ klebt eben nicht die Kreide der Champagne, auch nicht das Blut von Verdun oder der SommeSchlacht, sondern nur die Tinte der Berliner Nachkriegszeit. Das Erleben, gesehen durch die Brille des Überlebens: So könnte man die Grundkonstellation von Jüngers Erstling beschreiben. Die Konjekturen, die der Autor dabei an der erlebten Wirklichkeit vornimmt, können nun überprüft werden an der von Helmuth Kiesel einwandfrei besorgten Edition der originalen Kriegstagebücher Ernst Jüngers, die in 14 nicht nur tinten-, sondern blut- und schweißbefleckten Notizbüchern heute im Marbacher Schrein liegen. Jeder wußte, daß es sie gab, jene mythischen Kladden (viele haben dieses Wort erst hier kennengelernt), die der Leutnant Jünger unter den in die Hosenträger eingehängten Handgranaten in der Rock- tasche trug. Jetzt kann man sie studieren. Doch wer diese Kriegstagebücher nur philologisch liest und ständig in den zwölf Fassungen der Stahlgewitter hin- und her blättert, um zu sehen, was sich wann, wo und wie verändert hat, dem ist nicht zu helfen. Denn was bei dieser Lektüre zunächst auffällt, ja einen regelrecht anspringt, ist die Monotonie der Echtzeit. Granaten schlagen ein, Verwundete werden abHelmuth Kiesel (Hrsg.): Ernst Jünger. Kriegstagebuch 1914–1918. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010, gebunden, 655 Seiten, 32,95 Euro transportiert, Schanzen werden ausgehoben. Granaten schlagen ein, Verwundete werden abtransportiert, Schanzen werden ausgehoben. Und so weiter. Je länger man liest, um so bedrückender wird diese Monotonie, um so unerträglicher und auswegloser wird dieses mahlende Rad der Front, das erbarmungslos über alles hinwegrollt. Diese Musik der Monotonie ist durchzogen von allen möglichen heranzwitschernden, heranwummernden, heranpfeifenden Projektilen. Jünger zeichnet sie auf, weil er weiß, wie überlebenswichtig es ist, die gefährlichen von den weniger gefährlichen zu unterscheiden. Dieser Soundtrack der Stahlgewitter drückt den Leser regelrecht in sein Sofa hinein, man ist schon versucht, den Kopf einzuziehen, wenn die Tür im Nachbarzimmer in den Angeln quietscht. Das hat etwas von akustischen 3D-Effekten, heißt aber auch: Schon ganz ohne bewußte literarische Gestaltung und Feilung, wie sie den veröffentlichten Text der Stahlgewitter auszeichnet und zu der der Leutnant im Graben weder Zeit noch Lust hatte, ist Jünger schon ein famoser Erfasser von Realität. Ja, sein Blick ist hier schärfer denn je. Er sucht, magnetisch angezogen, die Zonen des Verfalls, die in den originalen Tagebüchern einen weit größeren Raum einnehmen als in der veröffentlichten Version. Die Kriegstagebücher sind ein Text der schwarzen Romantik, in denen ein Bildschock den anderen ablöst: die schleimige Mumie des Engländers im Feindbild als Spiegelbild. Drahtverhau; die Bottiche der Schweinezucht, in denen Pferdekadaver in kochendem Wasser ausgelassen und zu Futtermaterial verarbeitet werden; die dreißig Särge in der Kirche, aus denen das Blut fließt. Dies alles deutet voraus auf das „Abenteuerliche Herz“, in Teilen auch auf die metaphorisch zerklüftete Landschaft der „Marmorklippen“ mit ihren definierten Zonen des Bösen. Unter diesem Aspekt ist die Lektüre der Kriegstagebücher besonders lohnend: Die Optik des Kriegers ist nicht gleichgültig, sie differenziert bei aller auch hier zur Schau gestellten Gleichgültigkeit („sie ist eine meiner Haupteigenschaften“) nach Gut (Überleben) und Böse (Zerstörung und Tod). Natürlich ist das ein unmittelbarer Vitalismus, der im Überlebenwollen gründet, aber in der Art, wie Jünger die Besichtigung der Schlachthöfe im Hinterland der Front beschreibt, kündigt sich schon eine im Kern moralische Ahnung von einer Abgründigkeit und Doppelbödigkeit von Realität an, wie sie den Jünger der surrealistischen Phase später kennzeichnen soll. Den nationalistischen Impetus hingegen, den die von den Stahlgewittern Begossenen so gerne brandmarken, sucht man in den Kriegstagebüchern fast vergebens. Spürt man ihm nach, so findet man ihn in schwachen, fast mechanisch klingenden Floskeln. Eher stößt man auf das Gegenteil: Die Frage nach dem Sinn des Tötens („Es ist ein Jammer, solche Kerle totschießen zu müssen“) und eine grüblerische Nachdenklichkeit, die man vom offiziellen Jünger (der sich natürlich selbst erzeugt hat), nicht kennt. Phrasen wie „Dabei sagte ich mir selber“ oder „dachte ich, ich weiß nicht, wie ich darauf kam“, die den inneren Monolog mit sich selbst abbilden, kennt man von Jünger nun überhaupt nicht. Sie passen am allerwenigsten ist das Bild des Autors. Da ist das Ich immer voll und ganz und einheitlich ein „Ich“ – ohne zersetzenden, relativierenden inneren Monolog, der schließlich ein Zeichen von Schwäche ist, weil er erstens die Zufälligkeit der getroffenen Entscheidung zeigt und zweitens die Möglichkeit von Optionen offenläßt. Im Innern des unbedingten Wollens spricht Jünger also ständig mit sich selbst: Das ist nicht die geringste Erkenntnis, die man aus der Lektüre der Kriegstagebücher mitnimmt. Gegen den Feldzug der Tugendwächter. Viele Personen und Bewegungen, die das Feindbild Muslim eint, übersehen in ihrem Zorn, daß es sich bei näherer Betrachtung um ein häßliches Spiegelbild handelt. Aus ihm blickt uns die eigene Schwäche entgegen – die Tatsache, daß die westlichen Demokratien demographisch, demokratisch, kulturell, moralisch und ökonomisch von der Vergangenheit zehren und auf Kosten der Zukunft leben. Wer an die Wurzel der tatsächlichen Probleme greifen will, muß sich wie der Autor mit dem hausgemachten Sozialismus, einem gescheiterten Wohlfahrtsstaat und falscher Einwanderungspolitik beschäftigen, statt sich an religiösen Symbolen zu vergreifen und damit nebenbei noch die letzten eigenen Werte preiszugeben. Ein mutiges, notwendiges und politisch in jeder Weise unkorrektes Buch, das die vielfältigen Einzelprobleme in ihrer Verflechtung differenziert, gedankenscharf und urteilssicher auslotet. Politische Korrektheit: Denken in den streng vorgezeichneten Bahnen derer, die in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen und zu mehr oder weniger grundlegenden Fragen die Deutungshoheit für sich beanspruchen – und jede Verlautbarung in eine oft abstruse, von schauderhaften Worthülsen strotzende Sprache gießen. Man könnte das mit Erheiterung registrieren, wenn sich dahinter nicht etwas sehr Ernstes verbergen würde. Jörg Schönbohm, eigenwilliger und unbeugsamer Konservativer, zeigt in beklemmender Weise, daß das, was einst sinnvoll als Kampf gegen Minderheitendiskriminierung begonnen hatte, heute immer mehr in eine Dämonisierung und Stigmatisierung von Andersdenkenden mündet. Was die Folgen angeht, die Gefahren für Demokratie und Meinungsfreiheit nämlich, kann er sich zu Recht auf Montesquieu berufen: „Dort, wo es keine sichtbaren Konflikte gibt, gibt es auch keine Freiheit.“ André F. Lichtschlag: Feindbild Muslim. Schauplätze verfehlter Einwanderungs- und Sozialpolitik. 64 Seiten, 10,3 x 15,3 cm, Leinen. ISBN 978-3-937801-61-2 e 7,80 www.manuscriptum.de Jörg Schönbohm: Politische Korrektheit. Das Schlachtfeld der Tugendwächter. 64 Seiten, 10,3 x 15,3 cm, Leinen. ISBN 978-3-937801-56-8 e 7,80 26 | L I T E R A T U R JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Antje Vollmer: Doppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und Ribbentrop. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2010, gebunden, 415 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro Lehndorffs. Am 4. September 1944 wurde Heinrich Graf Lehndorff, Herr auf Schloß Steinort am Mauersee in Ostpreußen, wegen seiner Beteiligung am Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 zum Tode verurteilt. Zwei Stunden nach Urteilsverkündung fand dieser „Typ des preußischen Junkers“, wie ihn ein Prozeßbericht charakterisiert, den Tod am Galgen von Plötzensee. Unmitelbar darauf verbrannte man die Leiche und verstreute die Asche auf den Rieselfeldern vor Berlin. Von „Heini“ Lehndorff ist danach, nimmt man gelegentliche Erwähnungen in den Erinnerungsberichten Marion Gräfin Dönhoffs aus, in der seit 1970 anschwellenden Literatur über die Opposition gegen das NS-Regime kaum mehr die Rede gewesen. Der Grünen-Politikerin und ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, promoviert mit einer theologiehistorischen Arbeit, kommt daher das Verdienst zu, mit ihrer extraordinär schön gestalteten, die erstaunlich informativen Familiennachlässe ausschöpfenden, auch aus staatlichen Archiven jedes Mosaiksteinchen zusammentragenden Lehndorff-Biographie diese Ungerechtigkeit aus der Welt geschaff t zu haben. Vollmer beläßt es indes nicht dabei, den engeren Kontext der Beteiligung am 20. Juli zu rekonstruieren, sondern schreibt mit der Doppelbiographie von Heinrich und Gottliebe Lehndorff einen wertvollen Beitrag zur ostpreußischen Landes- und Kulturgeschichte. Daß Vollmer die Geduld ihrer Leser zugleich mit endlosen Referaten und Zitaten aus Standardwerken zum „20. Juli“ auf eine harte Probe stellt, darf als Schatten des Ausflugs einer Berufspolitikerin in die Zeitgeschichte nicht unerwähnt bleiben. (wm) Bruno Pieger, Bertram Schefold (Hrsg.): Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat. Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2010, gebunden, 504 Seiten, 34,90 Euro George-Kreis. Der Lyriker Stefan George und sein „Kreis“ werden seit Mitte der neunziger Jahre fast inflationär porträtiert, wobei die Qualität oft in keinem Verhältnis zur Quantität steht. Die Aufsatzsammlung „Stefan George. Dichtung – Ethos – Staat“, die im Untertitel sogar noch an EUPropaganda andockt („Denkbilder für ein geheimes europäisches Deutschland“), erfüllt jedoch etwaige Befürchtungen kaum, überblätterte man die beiden Beiträge Peter Trawnys, des glücklosen Heidegger-Editors, oder auch den Aufsatz zu Edith Landmann, der Ulrich Raulffs Porträtskizze von 2009 nur unwesentlich ergänzt. Oder die knarzende Deutung Christophe Frickers zu Georges „Geheimem Deutschland“. Die Frage, ob dies Gedicht ein politisches Programm sei, findet vielleicht eine überzeugendere Antwort in seiner für 2011 avisierten George-Monographie. Ansonsten darf der Leser aber für den reichen Ertrag des Bandes dankbar sein. Dafür sei hier nur exemplarisch verwiesen auf die Interpretationen des Philosophen Harald Seuberts, des jüngst verstorbenen Manfred Riedel (JF 46/09) und vor allem auf Wolfgang Graf Vitzthums Erinnerungen an Walter Elze, von dem das beste Werk über die 1914 geschlagene Schlacht von Tannenberg gegen die russische Übermacht stammt und der im Berlin der 1930er Jahre eine Schar junger Kriegshistoriker heranzog, unter denen der Danziger Werner Hahlweg, der Clausewitz-Exeget, der berühmteste gewesen ist. (ob) FOTO: JF-MONTAGE Frisch gepreßt Der „große Schweiger“ Helmuth von Moltke, Helmuth James von Moltke im Kreise der Famile 1931 und vor Freislers Volksgerichtshof 1944, Gut Kreisau und Ehefrau Freya von Moltke und Helmuth von Moltke „der Jüngere“ 1914, (von links): Spiegel der deutschen Tragödie Glanz, Versagen und Opferbereitschaft Jochen Thies porträtiert die wichtigsten Köpfe der Familie Moltke zwischen den schicksalhaften Orten Königgrätz und Kreisau HERBERT AMMON N un also die Moltkes. Jochen Thies, Verfasser eines Buches über die Dohnanyis, eröffnet seine „deutsche Familiengeschichte“ mit Stimmungsbildern der Orte, an denen der geschichtsträchtige Name Moltke in Erscheinung tritt: am Großen Stern mit dem Standbild des Sedan-Siegers in Berlin, etwas weiter, an der Moltkebrücke, wo noch nach Hitlers Selbstmord blutige Endkämpfe stattfanden, in Toitenwinkel bei Rostock, Stammsitz der im mecklenburgischen Uradel verwurzelten Familie, in Parchim, Geburtsort des Generalfeldmarschalls, schließlich in Kreisau. Einige Fußminuten oberhalb des renovierten Schlosses liegt das Berghaus, wo die drei Besprechungen des „Kreisauer Kreises“ über den deutschen Reichsaufbau nach Hitler stattfanden. „Der Blick aus dem Fenster in die schlesische Landschaft war beeindruckend und auch ein wenig imperial.“ Das moderate Bild ist auch ein wenig kennzeichnend für das ganze Buch. Thies spannt den Bogen vom Sedan-Sieger Helmuth Karl Bernhard von Moltke (der „ältere Moltke“; 1800–1891), über dessen in der Marne-Schlacht im September 1914 gescheiterten Neffen (der „jüngere Moltke“; 1848–1916) und über den „Kreisauer“ Helmuth James (1907–1945) bis zu den in Wirtschaft und Diplomatie tätigen Moltkes der Gegenwart. Eingefügt sind Porträts von Helmuth James‘ südafrikanischer Mutter Dorothy, Tochter des hochrangigen Juristen Sir James Rose Innes (1855– 1942), sowie von seiner Witwe Freya von Moltke (1911–2010). In Bachelor-Zeiten, da historisches Grundwissen über den „großen Schweiger“ nicht zum Bildungskanon gehört, bietet das erste Kapitel über den preußischen Generalfeldmarschall viel Wissenswertes. Eher durch Zufall, bei einer Reise nach Konstantinopel, gelangte der junge Moltke, ausgestattet mit Disziplin, Bildung und zeichnerischer Begabung, zur Rolle als Militärberater des Sultans. Doch wie kam ein Mann mit vornationaler Prägung, in dänischen Diensten zum Offizier ausgebildet, zu deutlich bekundetem Nationalgefühl? Der erstmals im Revolutionsjahr 1848 von dänischer Seite national zugespitzte Streit um Schleswig-Holstein kommt hier zu kurz. Deutlich werden dagegen Moltkes Konflikte mit Bismarck, so vor der Annexion Elsaß-Lothringens nach 1870. In dem Porträt des „jüngeren Moltke“ wird die Figur eines kränklichen, entscheidungsschwachen Mannes, der sich selbst für das Amt an der Spitze des Generalstabs für überfordert hielt, plausibel. Was fehlt, ist die Rolle Moltkes in der Julikrise, das verhängnisvolle, sich zur Eskalation ausweitende Zusammenspiel mit dem k.u.k. Generalsstabschef Franz Conrad von Hötzendorff. Das Manko wird nicht aufgewogen durch die Schilderung des Zusammenstoßes Moltkes mit Kaiser Wilhelm II. auf dem Koblenzer Bahnhof, der am 3. August 1914 den bevorstehenden Angriff plötzlich anhalten wollte. In dem Kapitel zu Helmuth James konnte der Autor auf die Biographien von Günter Brakelmann und Jochen Köhler zurückgreifen. Im Kapitel über Freya ist zu erfahren, das Helmuth James „einmal aus Protest seine Stimme der KPD geben wollte“, worauf ihm sein stets loyaler Gutsinspektor, ein NSDAPMitglied, riet, die Stimme dann der Auffälligkeit halber doch lieber in Berlin abzugeben. Daß es sich um die Reichspräsidentenwahl im Entscheidungsjahr 1932 handelt, erfährt der Leser indes nicht. Präzis geschildert werden Moltkes bis zum Schluß gehegte Hoffnungen sowie Freyas klug gezielte Vorstöße zur Rettung ihres Gatten bei GestapoChef Heinrich Müller, dem Stellvertreter Himmlers. Anschaulich wird auch das Kriegsfinale sowie der von Amerikanern, unter ihnen der aus Schlesien stammende Geheimdienstoffizier Gero von Schulze-Gaevernitz, und Briten dringend nahegelegte Abschied von Kreisau im Herbst 1945. Dem Lektorat sind Fehler in mehr als tolerablem Maße entgangen. Unter Presbyterianern, Konfession der schottischen Einwandererfamilie Rose Innes, gibt es keine „Priester“. Der von Helmuth James geschätzte kroatische Bauernführer Stjepan Radić war alles andere als ein „Kommunist“. Historisch abwegig ist ein Passus, der die von den „Kreisauern“ angestrebte Neuordnung, begründet in christlich-personalistischen Ideen, in Beziehung zu Titos Selbstverwaltungssozialismus „nach 1945“ rückt. Gespür für Widersprüche ist Thies’ Sache nicht. Das in Abgrenzung zu Weimar konzipierte konservative Staatsmodell wird an anderer Stelle für „autori- tär“ erklärt. Nichts erfahren wir über das Entsetzen von Dorothys Vater Rose Innes über die Friedensbedingungen von Versailles, wenig über die bitteren, blutigen Konflikte um Oberschlesien. Ein Freikorps unter von der Goltz habe sich auf Kreisau „eingenistet“. In Moltkes Lebensbericht an seine Söhne aus dem Gefängnis liest es sich anders. Man war 1921 offenbar alles andere denn widerwilliger Gastgeber. Orientiert an Andreas Hillgruber, hält Thies Hitlers Weltherrschaftspläne allerorts schon vor 1933 für erkennbar. Daß sich Dorothy nach Lektüre von „Mein Kampf“ keine Illusionen machte, hinderte sie nicht, im Herbst 1933 Hitler als gemäßigt wahrzunehmen. Warum erwärmten sich zwei Moltke-Brüder für Jochen Thies: Die Moltkes. Von Königgrätz nach Kreisau. Eine deutsche Familiengeschichte. Piper Verlag, München 2010, gebunden, 379 Seiten, 22,95 Euro Partei bzw. SA? Unerwähnt bleiben zwei von Brakelmann genannte Briefstellen. Im September 1939 schrieb Moltke an Freya, er wisse aus verläßlicher Quelle, „wir seien in den Krieg hineingeschliddert.“ Die Quelle war vermutlich sein bis zum 9. August 1939 in Warschau als Botschafter tätiger Onkel Hans-Adolf von Moltke, was dem Leser verschlossen bleibt. Die von schwankenden Stimmungen gekennzeichneten Beziehungen zwischen Neffe und Onkel werden hin- gegen dargestellt. Ebenso fehlt Moltkes seltsam naiv anmutendes Plazet vor dem 22. Juni 1941 in einer Briefstelle, wo er – ganz anders als Beck und Dohnanyi – im Angriff auf die Sowjetunion „eine Chance“ sehen wollte. In den Personen des älteren Moltke und Helmuth James „spiegeln sich deutsche Tragödien wider“. Am Sedan-Sieger zielt der Begriff vorbei. Eher findet er im jüngeren Moltke, dem Taufpaten von Helmuth James, den klassischen Protagonisten. Ausgerechnet er, Rudolf Steiner in anthroposophischer Geistesfreundschaft eng verbunden, schlug beim halb erzwungenen Abgang Ludendorff als Nachfolger vor. Ihren Höhepunkt findet die Tragödie in den Versuchen der „verlassenen Verschwörer“, die Westmächte für ihre Rettungspläne des Reiches zu gewinnen. Bei seinen zwei Reisen nach Istanbul wartete Helmuth James vergeblich auf ein Treffen mit dem ihm bekannten US-Botschafter Alexander Kirk. Es kam nur ein Emissär des US-Geheimdienstes, der ihm angeblich die Zustimmung zum bedingungslosen Kapitulation abnötigte. Davon erfahren wir hier leider nichts. Dem in Rauschen/Ostpreußen 1944 geborenen Autor, langjähriger Journalist beim Deutschland-Radio Kultur fehlt es an Mut, seine Familiengeschichte zur Dramatisierung der deutschen Tragödie in aller bitteren Schärfe auszureizen. Seine Mahnung, der Name Moltke sei in einem „selbstbewußter gewordenen Deutschland“ nicht allein auf die Erinnerung an „Kreisau“ zu beschränken, dürfte in Christian Wulffs „bunter Republik“ verhallen. Nachdenken über einen Vordenker André Schlüter hat sich dem biographisch lange vernachlässigten Staatstheoretiker und Konservativen Revolutionär Arthur Moeller van den Bruck genähert KARLHEINZ WEISSMANN D er Name Moeller van den Brucks ist fast vergessen. Er findet sich nur noch in Fußnoten, wenn es um den Ursprung des Begriffs „Drittes Reich“ geht, oder in der Fachliteratur zur „Konservativen Revolution“. Deren Umfang hat in den vergangenen Jahrzehnten erstaunlich zugenommen, und es erscheinen weiter Quellenpublikationen wie Darstellungen zu allen möglichen Aspekten, darunter auch eine Reihe von Aufsätzen und Büchern, die sich mit Person und Ideen Moellers befassen. Allerdings fehlte bis dato ein Ersatz für die Monographie von Hans-Joachim Schwierskott (Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962), die in bezug auf die Biographie als maßgeblich zu betrachten war. Die Lücke versucht jetzt André Schlüter mit seinem Buch „Moeller van den Bruck. Leben und Werk“ zu schließen. Er stellt auf mehr als vierhundert Seiten den Lebenslauf, vor allem aber den geistigen Werdegang Moellers dar. Man wird gegen das meiste, was Schlü- ter schreibt, nichts einwenden müssen. Er zeichnet den Weg vom Sohn aus gutem Hause zum gescheiterten Gymnasiasten, Bohémien décadent, Nationalerzieher, Herausgeber der Schriften Dostojewskis, Propagandafachmann und der Leitfigur des jungkonservativen Lagers nach, referiert den Inhalt der Hauptschriften – der frühen Arbeit „Das Varieté“, des mehrbändigen Werks „Die Deutschen“, des „Preußischen Stils“, des „Rechts der jungen Völker“, des „Dritten Reichs“ – genauso wie die Entwicklung der Leitgedanken, die Moeller zum Teil in Aufsätzen an entlegener Stelle zuerst veröffentlicht hat. Es gibt außerdem ein Schlußkapitel zur Rezeption, das sich ganz sachlich mit der wachsenden Bedeutung Moellers in der Endphase der Weimarer Republik (wobei die fatalen Eingriffe des Herausgebers seiner Schriften, Hans Schwarz, deutlich hervorgehoben werden) und dann mit den Stellungnahmen in der NS-Zeit beschäftigt, die ursprünglich ambivalent waren, bei grundsätzlich positiver Tendenz, dann aber ins Negative umschlugen und den „letzten Konservativen“ aus der Reihe der Vorläufer tilgten. Vorbehalte muß man allerdings gegen die Gewichtung Schlüters und manche Bewertungen anmelden. Hierfür einige Beispiele: So bleibt schon unverständlich, warum in bezug auf Moellers 1906 erschienenes Buch „Die Zeitgenossen“ der wichtigen Auseinandersetzung mit der Figur des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt (der in Deutschland damals oft als Repräsentant eines stammAndré Schlüter: Moeller van den Bruck. Leben und Werk. Böhlau Verlag, Köln 2010, gebunden, 449 Seiten, 54,90 Euro verwandten „Amerikanertums“ galt) so wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Eine präzisere Fassung dieses Zusammenhangs hätte auch einiges Licht auf den eigentümlichen Sozialdarwinismus Moellers werfen können. Grob verzeichnend ist, wenn Schlüter behauptet, daß „Das Recht der jungen Völker“ eine spezifische „Version der ‘Dolchstoßlegende’“ präsentierte, nur weil Moeller auf die Bedeutung der alliierten Propaganda abhob und der einen maßgeblichen Anteil am Zusammenbruch der „Heimatfront“ zuwies. Hier kommt – wie an anderen Stellen – ein deutlicher Mangel an Vertrautheit mit den historischen Rahmenbedingungen zum Tragen, der sich auch bei der Behandlung von Moellers Wirken in der Nachkriegszeit niederschlägt, weil Schlüter die Mühe scheut, die Entwicklung seiner Position vor dem Hintergrund der politischen, militärischen und sozialen Ereignisse im einzelnen nachzuzeichnen und zu deuten. Eine genauere Kenntnis der Literatur hätte an diesem Punkt hilfreich gewirkt. Ähnliches wird man in bezug auf die Darstellung von Moellers Faschismus-Rezeption sagen müssen. Zutreffend hebt Schlüter Moellers prinzipielle, keineswegs nur taktische, Kritik hervor, aber die zeitgenössische Debatte über die italienische Bewegung ist ihm nicht vertraut, so daß ihm auch die relative Normalität der Anschauungen Moellers entgeht. Statt einer adäquaten Einordnung in den Zusammenhang bietet Schlüter schließlich eine merkwürdige Spekulation: „Obgleich sich also eine vermutlich unüberbrückbare Distanz sowohl zum Italofaschismus als auch zum Nationalsozialismus ausmachen läßt, bleibt letztlich der Befund, daß Moeller die Nationalsozialisten als tatkräftigen Bündnispartner im Kampf gegen Weimar und Versailles allemal akzeptiert hätte.“ Der Leser weiß so wenig, was er davon halten soll, wie bei anderen Abschnitten des Buches, die der Reflexion dienen, aber keine eigenständigen Überlegungen und Wertungen bieten, sondern nur Begriffe rekombinieren, die Schlüter von allen möglichen Autoren bezogen hat, die gerade Mode sind. Es fällt dabei ein Mangel an Sorgfalt im Gedanklichen auf, dem die Schlamperei im Satz des Buches korrespondiert: Angefangen bei den Falschschreibungen über die große Zahl von Druckfehlern bis zur abhanden gekommenen Schlußseite des Literaturverzeichnisses gibt es vieles, das mehr oder weniger ärgerlich ist, wenn auch nicht so ärgerlich wie die Unzulänglichkeiten des Inhalts. Insofern wird man zwar dankbar zur Kenntnis nehmen, daß es wieder eine umfassende Arbeit zu Moeller van den Bruck gibt.Man kann dieses Buch aber leider bloß mit erheblichen Einschränkungen empfehlen. L I T E R A T U R | 27 JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Deutsche Daseinsverfehlung Frisch gepreßt Fritz J. Raddatz’ Tagebücher: Die Elite der Republik als „Riesenaufgebot kaputter Typen“ MICHAEL WEBER Fritz J. Raddatz: Tagebücher. Jahre 1982 – 2001. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010, gebunden, 939 Seiten, 34,95 Euro FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA I m Juli 1991 empfing die Zeit-Redaktion Joschka Fischer zur Blattkritik. Fritz J. Raddatz, als Feuilletonchef 1985 gefeuert, als „freier“ fester Mitarbeiter jedoch weiterhin dabei, war von der „höchst oberflächlichen“ Art des Politikers wenig angetan. Denn mehr als die flapsige Bemerkung, „Kultur ist nicht mein Ding“, sei Fischer zum Feuilleton nicht eingefallen. FJR wollte den grünen Granden damit nicht durchkommen lassen. Es sei doch lamentabel, wie er mit der linken Hand jenen Teil der Zeitung wegwische, der „Tradition, Denken, Theorie, Inhalte“ offeriere. Darauf gestand Fischer pampig, noch nie in der Oper gewesen zu sein, nie ein Theater oder Konzert besucht zu haben. Als Raddatz konsterniert nachhakte, ob es ihn nicht geniere, auf so kärglicher Basis „die Gesellschaft umbauen zu wollen“, erhielt er den ungnädigen Bescheid: Nein, es geniere ihn keineswegs. Mit „Feist, aber leer“ quittierte FJR diesen denkwürdigen Auftritt in seinem Tagebuch. „Feist, aber leer“ – das klebt als Stigma am gesamten Führungspersonal der Republik, wie auf Raddatz’ Tagebuch-Bühne chargiert. Die Eintragungen, die der Diarist für die Jahre 1982 bis 2001, vom Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls bis zum 11. September 2001 samt seiner Kriegsfolgen, jetzt der Publikumsneugier preisgibt, präsentieren die Elite der späten Bonner und der frühen Berliner Republik, Politiker, Literaten, Journalisten, Künstler, als Gurkentruppe, als „Riesenaufgebot kaputter Typen“. Adorno dürfte nach solcher Bestandsaufnahme als widerlegt gelten: es ist offenbar doch ein falsches im richtigen Leben möglich. Und zwar vor allem jenen Intellektuellen, die in Raddatz’ comédie humaine die Hauptrollen spielen und in deren Kreisen sich der Autor als „Großkritiker“ seit Jahrzehnten wie ein Fisch im Wasser bewegt. Von Verlogenheit ist dabei viel die Rede, noch mehr von autistischer Egozentrik. Am kräftigsten verkörpert von den Hamburger Meinungsmachern. Siegfried Lenz, Günter Grass mit Fritz J. Raddatz 1980 in München: Verlogenheit und Egozentrik Der „Pressetycoon“ Rudolf Spiegel-Augstein geistert durch die Notate als wirrer Alberich, ein ewig betrunkener „größenwahnsinniger Zwerg“. In der Zeit regieren der „Koofmich“ Gerd Bucerius, ein „gerissener Vorstadtadvokat“, zusammen mit einer urteilslosen Gräfin Dönhoff, der „Inge Meysel des Journalismus“, einer „dummen Herrenreiterin“, die sich schamlos in den „20. Juli“ hineinlüge, sowie der „bramsig-eitle Kleinbürger“ Helmut Schmidt, der mit „grauslichem Oberlehrergequatsche“ nerve. Der abgehalfterte Stern-Chef Henri Nannen, „kunstunsinnig“, auch als Pensionist „ohne Kontakt zur Außenwelt“, ganz wie wie Raddatz’ andere Bonner Kontakte. Oder „der Mystiker“ Axel Springer, der per Hubschrauber zum Meditieren in die Berge flog. Allesamt „nette Typen, die uns die Welt erklären, wenn nicht gar verbessern wollen“. Über „meine Freunde, die Literaten“, urteilte Raddatz nicht milder. Daß die rezensierende Konkurrenz, der krakeelende Marcel Reich-Ranicki („beißwütiger Literaturstalinist“), der pathologische Egomane Hans Mayer, der opportunistische Schwafler Walter Jens, im trübsten Licht erscheint, verwundert nicht. Wenn aber Ur-Freund Günter Grass, ungeachtet vieler Sympathiebekundun- gen, wie eine Symbolfigur bundesdeutscher Daseinsverfehlung wirkt, ist dies als analytischer Kraftakt eines Kritikers, in dessen geistigem Haushalt es an linken Lebenslügen ebensowenig fehlt, wahrlich bemerkenswert. Grass mit seiner 1990 feilgebotenen These, der „deutsche Einheitsstaat“ habe den „Ort des Schreckens Auschwitz“ ermöglicht, also schließe Auschwitz die Vereinigung von BRD und DDR aus, stehe für die Unfähigkeit der hierzulande alle Fäden ziehenden Linken, „wirklich radikal zu denken“. Eingepuppt und wohlversorgt pflegten sie ein Weltbild aus schuldkultischer Vergangenheitsbewältigung, Volksverachtung (à la „Silber-Zunge“ Richard von Weizsäcker, 1987: „Verblüffend, wie der Begriff ‘Nation’ – auch von ihm – geradezu geleugnet wird“) und Multikulturalismus, das als Kompaß für dieses Gemeinwesen spätestens seit dem Mauerfall nicht mehr taugt. Mit „roten Poesiealbumsprüchen“ und „Legosätzen“ schotte man sich gegen die Zumutungen derer ab, die „kein Recht haben, recht zu haben“ (Adorno). Dabei könnten diese monologisch-narzißtischen Realitätsverweigerer eines Tages in Christa Wolfs Lage geraten, die 1990 fassungslos auf das „Jahrzehnte-Deba- Der Wert wird uns bestimmt werden Eberhard Straub warnt vor einer zivilgesellschaftlichen Wertediktatur ERIK LEHNERT I m Jahr 1959 hielt Carl Schmitt einen Vortrag über „Die Tyrannei der Werte“, der zunächst nur als Privatdruck Verbreitung fand, später aber noch mehrfach nachgedruckt wurde. Der Historiker und Essayist Eberhard Straub wandelt auf diesen Pfaden, hat aber schon im Titel seinen Anspruch Schmitt gegenüber relativiert. Während Schmitt einen Zustand beschreibt, umkreist Straub ein Phänomen, ohne es endgültig packen zu können. Dafür benötigt er wesentlich mehr Platz als Schmitt, der damals auf etwas mehr als ein Dutzend Seiten kam. Die Länge geht bei Straub auf Kosten der Präzision. Schmitt wird bei Straub nur zweimal explizit genannt, obwohl er dessen Kerngedanken, daß Werte immer jemanden brauchen, der sie zur Geltung bringt, mehrfach variiert. Die Formel von der „Tyrannei der Werte“ stammt allerdings nicht von Schmitt, sondern von dem Philosophen Nicolai Hartmann, der sie erstmals 1926 in seiner „Ethik“ gebraucht, um darauf hinzuweisen, daß der Wert die tyrannische Eigenschaft hat, andere Werte zu entwerten. Da diese Einsicht völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint, muß man Straub dankbar sein, daß er dieses Argument in neuer Form präsentiert. Auch heute sind Kritiker der gegenwärtigen Zustände schnell mit einem Loblied auf die Werte, die es wieder zu beachten gelte, bei der Hand. Sie übersehen dabei, daß in Deutschland gegenwärtig sehr wohl Werte gelten, nur eben andere als sich das die Kritiker jeweils wünschen. Es spricht wenig dafür, daß der Appell an Werte diese wieder zum Leben erweckt, wenn die anderen Werte so ungleich stärker durchgesetzt werden. Werte, die nicht durchgesetzt werden, sind wertlos. Was im ersten Moment paradox klingt, erschließt sich durch Straubs Blick auf die Geistesgeschichte der letzten 150 Jahre. Straubs Buch macht deutlich, wie es zu den Mißverständnissen und der Hochschätzung der Werte kam. Den Ausgangspunkt sieht er im Historismus des 19. Jahrhundert, der alles Seiende relativierte. Verschiedene Standpunkte waren möglich und durch Interpretation sollte dem jeweils eigenen Geltung verschaff t werden. Auf der anderen Seite stand die erwachende Sehnsucht nach dem Echten bzw. nach einem Halt außerhalb der greifbaren Gegenwart. Konkret macht Straub das an der Person Nietzsches fest, den er, wenig überzeugend, in einer Doppelrolle zwischen Umwerter und Romantiker sieht. Eberhard Straub: Zur Tyrannei der Werte. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, gebunden, 171 Seiten, 17,95 Euro Es gab jedoch, so Straub, keine Alternative zu den Werten: „Als Zeitgenossen des zur Reife gekommenen Kapitalismus konnten sie sich nur in Werte flüchten, um damit, wie Karl Marx spottete, die ganz praktischen Verwertungsmechanismen und Mehrwertanhäufungen mit einer Ideologie der Werte hinter einer feierlich verzierten Fassade zu verbergen.“ Das überhöht Straub zu einem Gegensatz zwischen Bürger und Ritter. Der mehrwertorientierte Bürger bleibe auf seine Subjektivität beschränkt und brauche daher einen Wert, auf den er sein Leben beziehen kann: Staat, Nation, Volksgemeinschaft. Das Ganze sei ihm nicht mehr selbstverständlich, weil der Bezug zur Transzendenz fehle. Straub rekonstruiert weiter die Entstehung der Hochschätzung für die Werte anhand der Wertphilosophie, wie sie insbesondere von Heinrich Rickert und Wilhelm Windelband vertreten wurde. Bis zum Ersten Weltkrieg konnte diese Philosophie gleichsam heimliche Ideologie des Kaiserreichs sein: Was wertvoll ist, setzt sich durch. Das sah nach der Niederlage anders aus, die nach dieser Lesart die deutschen Werte negiert hatte. Dennoch war der Siegeszug der Werte nicht aufzuhalten. Im Gegenteil: Er hält bis heute an und feierte, so Straub, mit der Gründung der Bundesrepublik, dem Fürsorgestaat und dem zivilreligiösen Verfassungspatriotismus einen ungeahnten Triumph, der die eigentlichen Abhängigkeitsverhältnisse auf den Kopf stellte: „Nicht ein Menschenbild des Grundgesetzes und ihr gemäße Verfassungslyrik erlauben ein Leben in Freiheit, vielmehr kann sich die vorstaatliche, dem Menschen eigene Würde und Freiheit nur im Staat und unter dem Schutze des Rechtes entfalten.“ Daher blickt Straub in eine düstere Zukunft. Wenn die Rechtsordnung des Staates durch eine Werteordnung ersetzt wird, heißt das nichts anderes, als daß eben alles relativierbar wird. Je nachdem, welche Werte geschätzt werden, danach wird Recht gesprochen. Ohne daß er Beispiele aus der Gegenwart bemüht, dürfte klar sein, worauf sich das bezieht: die zunehmende Einflußnahme der Zivilgesellschaft, die ihre Werte auch in der Rechtsprechung verwirklicht sehen möchte. kel“ ihrer Schriftstellerexistenz in der DDR zurückgeblickt habe. Wie keine andere öffentliche Diskussion seit dem Streit um den „Asylkompromiß“ (1991/92), illustriert soeben der „Fall Sarrazin“, was Raddatz stets im Auge hat, wenn er die Parallelwelt der Redaktionen, Verlagsbüros und Parteizentralen beschreibt: die unermeßliche „Abgehobenheit“ unserer politisch-medialen Nomenklatura. Diese Tagebücher entlassen den Leser daher wie selbstverständlich mit dem Gefühl, daß bald ein gründlicher Neuanfang fällig werde. Wenn dem bald 80jährigen Autor auf 900 Seiten trotzdem nicht, wie auf dem Schutzumschlag FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher jubelt, „der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik“ gelang, dann ist das systembedingten Scheuklappen geschuldet. Geschichtsblind überzeugter Anhänger der „ewigen These der Kollektivschuld“, unbeirrbar im Ressentiment gegen „dieses Volk“ („Es ändert sich NIE.“), das „sechs Millionen Juden ermordete“, nähert sich Raddatz dem „genetischen“ Determinismus eines Daniel J. Goldhagen und kolportiert naiv-gläubig jeden Unfug über „rechte Gewalt“. Für weite philosophisch-religiöse (Heidegger – „nie gelesen“), für historisch-politische Gefilde fehlt ihm das Sensorium, ist der Horizont zu eng. Als Tucholsky-Editor, Benn- und Rilke-Biograph ist ihm das 20. Jahrhundert Heimat. Schon im 19. beginnt er zu fremdeln, obwohl er sich einst an Marx und Heine versucht hat. Daß gerade ein Anachronismus, die Einordnung Goethes als Zeitgenosse der Eisenbahn, FJR den Chefsessel in der Zeit kostete, war eben kein Zufall. Von arg provinzieller Weltsicht zeugt zudem der Unwille, aus dem schiefen Dreieck Hamburg-Kampen-Paris auszubrechen. Der Journalistenalltag in neppigen Restaurants oder auf öden Vernissagen liefert halt nicht den Stoff, an dem Raddatz zum deutschen Balzac hätte reifen können. Gar nicht zu reden von der Maulwurfsperspektive miefiger Homosexualität, ermüdender Reminiszenzen an die schöne Zeit mit dem suizidal geendeten Eckfried (oder war’s Bernd?), unsägliches Gepussel zur Zweisamkeit mit Gerd, oder eher unappetitliche „Privat-Ferkeleien“ aus Altherrensaunen und Pornokinos der Schwulenszene. Bei morgendlicher Gymnastik auf der Cashmere-Decke, eingehüllt vom Harvestehude-Chic, den 12-ZylinderJaguar in der beheizten Garage wissend, übermannen Raddatz Selbstzweifel: bei dieser „Ruhe im Einweckglas“ produziere er nur „Unbeträchtliches“. Dem mag man nicht widersprechen. Ausgenommen davon sind allerdings jene Passagen seiner Tagebücher, die über das „Unbeträchtliche“ als Markenzeichen bundesdeutscher Kultur aufklären. Dieter Hildebrandt, Felix Kuballa (Hrsg.): Mein Kriegsende. Erinnerungen an die Stunde Null. Propyläen Verlag, Berlin 2010, gebunden, 223 Seiten, 19,95 Euro Kriegsende. Der WDR hat 2005 eine Fernsehreihe anläßlich des 60. Jahrestages des 8. Mai 1945 produziert, in der Prominente der „Flakhelfer-Generation“ ihr ganz persönliches Kriegsende in Interviews schildern. Fünf Jahre später finden sich nun diese Erinnerungen an die Stunde Null zwischen zwei Buchdeckel wieder, herausgegeben vom altlinken Kabarettisten Dieter Hildebrandt und dem WDR-Journalisten Felix Kuballa. Skurril wirkt das spätestens an der Stelle, wenn Hildebrandt seine Beiträger als „wir altgewordenen Kriegskinder“ vorstellt und dabei unterschlägt, daß viele wie Joachim Fest, Carola Stern oder Max von der Grün seit Jahren unter der Erde liegen. Auch wenn viele Darstellungen der Ausgebombten (Uta Ranke-Heinemann), NS-Verfolgten (Ralph Giordano), HJ-Jungen des letzten Aufgebots (Peter Rühmkorf) oder gar Augenzeugen des Dresdner Infernos – inklusive erlebter Tieffliegerangriffe – wie die Schauspielerin Giselle Vesco, recht aufschlußreich sind, leidet die Authenzität nicht selten darunter, daß die wiedergegebene Nachkriegsperspektive inklusive moralischer Wertungen allzu offenkundig wird. Wenn die in Danzig 1945 brutal von einer Schar Rotarmisten vergewaltigte spätere Drehbuchautorin Eva Ebner (nun auch schon vier Jahre tot) gar ihren Peinigern großmütiges Verständnis zollt, weil schließlich in deren Heimat „die Deutschen sich auch nicht wie Engel benommen haben“, mutet die Rückschau geradezu bizarr und kitschig an. (bä) ANZEIGE 28 | L I T E R A T U R JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Alles riskant, alles bedenklich! Frisch gepreßt Rudolf Lambrecht, Michael Müller: Die Elefantenmacher. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2010, gebunden, 368 Seiten, 19,95 Euro Der ehemalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück ätzt auf frische Art gegen seinesgleichen BERND-THOMAS RAMB Elefantenmacher. Das Thema spricht der Untertitel an: „Wie Spitzenpolitiker in Stellung gebracht und Entscheidungen gekauft werden.“ Wer hat sich nicht schon oft gefragt, wie „große“ Politik gemacht wird, wie hinter der politischen Fassade gemauschelt wird, und wie es überhaupt um die Rechtstreue und Unabhängigkeit unserer Politiker bestellt ist? Licht ins Dunkel verdeckter politischer Machtgefüge wollen die investigativen Journalisten Rudolf Lambrecht und Michael Müller bringen. Sie schaffen es aber entgegen des neutralen Titels nur zum Teil: Denn beleuchtet werden allein die Schreibers, Flicks, Kohls und Möllemänner; Spitzenpolitiker anderer Fraktionen bleiben unbeleckt. Anscheinend gab und gibt es nur in CDU/CSU/FDP machtvolle Politiker (Elefanten), die von den Elefantenmachern installiert und nach Bedarf für ihre Zwecke in Bewegung gesetzt werden: „Tricksen, tarnen, täuschen“ gehört aber überall zum politischen Handwerk, und so bleiben viele Fragen offen. (ctw) Peter Struck: So läuft das. Politik mit Ecken und Kanten. Propyläen Verlag, Berlin 2010. 311 Seiten, gebunden, 19,95 Euro FOTO: WIKIMEDIA U m in Peer Steinbrückscher Manier zu beginnen: Die guten Nachrichten zuerst. Das Buch „Unterm Strich“ ist unterhaltsam geschrieben. Der schnoddrige, lockerflockige Ton, den Steinbrück in seinem – um es ebenso scherzhaft zu interpretieren – „Enthüllungsbuch“ anschlägt, wird konsequent durchgehalten, von der Tiefe („Mein Lieblingssatz politisch nichtssagenden Inhalts lautet: Eine gute Grundlage ist die beste Voraussetzung für eine solide Basis“) bis zur Höhe („Dabei stelle ich nach eigenen Erfahrungen mit exzellenten Insolvenzverwaltern nicht in Frage, daß auch nach mancher ‘geordneter’ Pleite ein Phönix aus der Asche steigen kann“). Hinter der Flapsigkeit verbirgt Steinbrück jedoch auch eine empfindsame Seele. Seine Probleme mit dem aufschießenden Politstar zu Guttenberg oder seine Ängste, eigene Verdienste im Schatten der Bundeskanzlerin verschwinden zu sehen, werden vorsichtig, aber oft angedeutet. So verliert die vorgeblich entkrampfe Schreibe nicht nur nach einer Weile ihren Reiz, sie schlägt auch zunehmend in den Eindruck einer gewissen Wehleidigkeit des Autors um. Die Dünnhäutigkeit Steinbrücks erweist sich zumal in den Klagen über seine eigenen Parteigenossen. Sein Lamento über linientreue Parteikarrieristen, die „Parteiweisheiten bis zur Leugnung des gesunden Menschenverstands aufsagen und abweichende Meinungen mit einem Bannstrahl bestrafen“, offenbart eine Verbitterung über die in wirk- Steinbrück, böse und drahtig: Auch kein zukünftiger Retter lichkeitsfremden Parallel-Welten lebenden SPD-Genossen, die „von neuen Erkenntnissen und Erfahrungen nicht die Bohne angekränkelt“ sind. Der zunehmende Attraktivitätsverlust durch sattsam eingesetzte Wortwitze wird durch die steigende Redundanz der inhaltlichen Ausführungen verstärkt. Im Grunde hat Steinbrück seinen Strich schon nach den ersten 168 Seiten des fast dreimal so umfangreichen Werkes gezogen. In dem bis dahin letzten Abschnitt „Der unbekümmerte Michel: Deutsch- land“ resümiert Steinbrück exemplarisch: „Unterm Strich bleibt, daß der deutsche Landesbankensektor erheblichen Risiken unterliegt.“ Statt des Landesbankensektors könnte jeder andere Bereich eingesetzt werden, den Steinbrück bis dahin behandelt hat, von den Kommunen über Europa bis zur Weltordnung, vom Geldmarkt über die Güterproduktion bis zum Arbeitsmarkt und den Transferzahlungen. Steinbrück läßt fast nichts aus und kommt stets zum Ergebnis: Alles riskant, alles bedenklich! Der Abschnitt „Im Kessel der Finanzmarktkrise“ ist zudem gerade das, was Steinbrück eigentlich nicht abliefern wollte, ein Erinnerungsbuch mit autobiographischen Zügen. Bezeichnend ist die wichtigtuerische Dramatisierung seiner Person anläßlich der umstrittenen Rettung der bankrotten Hypo-Real-EstateBank: „Hätte das Bundeskabinett meine Kabinettsvorlage (...) nicht gebilligt oder verschoben und der Deutsche Bundestag den Gesetzentwurf nicht verabschiedet, wäre ich als Bundesminister der Finanzen zurückgetreten.“ Mit keinem Wort wird jedoch der Hintergrund der HRE-Rettung erhellt, außer einem vagen Hinweis auf die „Systemrelevanz“ dieser Bank. Dagegen wiederholt Steinbrück offen seine Begründung, weshalb der Staat die privaten HRE-Aktionäre enteignen mußte: „Die Abhängigkeit von einer Hauptversammlung und (...) von Minderheitsaktionären mit dem Potential erheblicher Störmanöver mußte aus meiner Sicht beendet werden.“ Nach Sarrazins skandalisierter Immigrantenschelte dürften Steinbrück einige seiner darauf folgenden Einlassungen zu den „Grenzen der Transfergesellschaft“ möglicherweise nachträglich peinlich sein. Dabei formuliert er vorsichtig indirekt, wie um sich abzusichern: „Hinter vorgehaltener Hand gilt es nicht als abwegig, daß die Addition von Kindergeld, Elterngeld und eventuell Geschwistergeld bei drei, vier und fünf Kindern (...) eine stark motivierende Wirkung für die Zuwanderung nach Deutschland hat.“ Diese politischen Fettnäpfchen, in die man mit solchen Hinweisen tritt, erweiterten sich zu ganzen Schüsseln, so Steinbrück, wenn man hinzufüge, „daß der wachsen- de Geldsegen für Kinder in einkommensschwachen und bildungsfernen Schichten nicht zu weniger und besser gebildetem Nachwuchs führt, sondern noch mehr bildungsferne Kinder hervorbringt“. Steinbrück kaschiert in seinem gesamten Buch regelmäßig seine Angst vor klaren Positionen. Überhaupt: Ambivalenz ist seine Grundposition, Pragmatismus seine Lehre. Seine „tiefe Skepsis gegenüber Visionen und Utopien“ paart sich mit seiner Kapitulation vor der Komplexität der Wirklichkeit mit ihren vielen Politik-Varianten. Er sieht die Politik „zum Spagat gezwungen“: „Das Sowohl-Als-auch wird die politische Kunst des 21. Jahrhunderts.“ Dabei verhehlt Steinbrück nie seine Verortung als knallharter Sozialdemokrat und Marktskeptiker mit einem tiefen Glauben an die segensreichen Wirkungen von Staatsinterventionen. „Nur ein Idiot glaubt, daß er über sich die Wahrheit schreiben kann“, zitiert Steinbrück den britischen Schriftsteller Eric Ambler. Steinbrück verkündet durchaus eine Menge Wahrheiten, „unterm Strich“ aber fehlt die Weisheit des Resümees. Dessen offensichtlich unfähig diskreditiert sich Steinbrück mit seinem Buch als potentieller politischer Retter in kommenden Zeiten. Peer Steinbrück: Unterm Strich. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2010, gebunden, 320 Seiten, 23 Euro Nachworte in eigener Sache Peter Struck. Mit dem brummigen Schnauzbartträger Struck, sozialdemokratischer Ex-Fraktionsvorsitzender und Ex-Verteidigungsminister, hat der nächste Politiker a.D. seine Tagesfreizeit für die Buchproduktion verwendet und gibt seine Expertise zum besten. Beispielsweise über die Frage, wo Deutschland verteidigt werden muß (Hindukusch) – und wo nicht (Hindelang). „Genosse Struck, warum tust Du Dir das an?“ zitiert der Politpensionist die bange Frage eines besorgten Sozialdemokraten zum Amtsantritt als Chef auf der Hardthöhe. Die Frage ist berechtigt, denn weder die Erlebnisberichte noch die Analysen sind spannend. Allerdings begibt sich der passionierte Kradlenker auf juristisch dünnes Eis, wenn er im Kapitel über den von ihm veranlaßten Rausschmiß des Generals Reinhard Günzel wahrheitswidrig behauptet, der CDUBundestagsabgeordnete Martin Hohmann habe „die Juden als ‘Tätervolk’“ bezeichnet. (vo) Der letzte Innenminister der DDR, Peter Michael Diestel, publiziert seinen Blick auf das Jahr 1990 / Als Zeitzeugnis ist der Rückblick eher unbrauchbar DETLEF KÜHN W er ist Peter-Michael Diestel? PeterMichael Diestel ist ein offenbar erfolgreicher deutscher Rechtsanwalt mit Wohnsitz und Kanzlei in Zislow. Er liebt die mecklenburgische Landschaft, die Jagd, gutes Essen und Trinken, Strickjacken mit Hirschhornknöpfen, Lederhosen und den Kraftsport. Er ist meistens fröhlich gestimmt. Ernst wird er – und das ist für einen Rechtsanwalt nicht unwichtig –, wenn er Ungerechtigkeit wittert. Das kommt dann Personen zugute, die man gemeinhin zu den Verlierern der Weltgeschichte zählt. Diestel ist gelernter DDR-Bürger mit durchaus bürgerlichem familiären Hintergrund, was im SED-Staat keine Empfehlung war. Dennoch verlief sein Leben bis 1989 beschaulich, aber insgesamt doch erfolgreich: Facharbeiter (Melker) mit Abitur, Jura-Studium, Tätigkeit als Justitiar in einer Agrar-Industrievereinigung. Hier fand er noch Zeit für die Promotion mit einem berufsnahen Thema, was in der DDR für die gesellschaftliche Reputation mindestens so wichtig war wie im Westen. Keine Parteizugehörigkeit, auch nicht in einer Blockpartei. Rechtsanwalt durfte er – zu seinem späteren Glück – nicht werden, sonst wären ihm Kontakte mit dem Staatssicherheitsdienst kaum erspart geblieben, worunter Mitstreiter wie Wolfgang Schnur und Lothar de Maizière, aber auch Gregor Gysi, Manfred Stolpe und Wolfgang Vogel bald leiden sollten. Stattdessen konnte sich Diestel auf den Ausbau einer idyllischen Nische mit schönem Haus in Leipzig für die Familie mit drei Kindern konzentrieren. Aufregend wurde es erst 1989. Diestel beteiligte sich an den Montagsdemonstrationen und stieß frühzeitig zu der Gruppe um den Leipziger Pfarrer HansWilhelm Ebeling. Deren Vorbild war die CSU in Bayern. Nach dem Fall der Mauer übernahm Ebeling den Vorsitz der Christlich Sozialen Partei Deutschlands (CSPD) in Leipzig, die dann im Januar in der DSU aufging. Auch hier wurde Ebeling Vorsitzender und Diestel Generalsekretär, mit massiver Unterstützung der CSU bei der Vorbereitung der Volkskammerwahl am 18. März 1990. Spätestens hier muß der zeitgeschichtlich interessierte Leser Eigenarten des Buches beklagen, die es als Zeitzeugnis disqualifizieren: Es fehlt jede Chronologie. Die Mitteilung von Fakten wird in Reflexionen verpackt. Zusammenhänge sind häufig unklar. Man weiß nicht, wer eigentlich als Autor fungiert. „Aufgeschrieben“ hat die „Geschichten aus 174 Tagen, in denen Amateure und Profis deutsche Geschichte machten“ Hannes Hofmann; verantwortlich ist aber offenbar Diestel selbst, der als Interview-Partner ausführlich zu Wort kommt und am Schluß „ein Nachwort in eigener Sache“ beisteuert. Der schwammige ReportageStil des Journalisten Hofmann, derzeit Chefreporter der Superillu, setzt sich jedenfalls immer wieder durch. Diese Kritik gilt auch für die kurze Zeit, die Peter-Michael Diestel als Per- Peter Michael Diestel, Hannes Hofmann: Diestel. Aus dem Leben eines Taugenichts? Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2010, gebunden, 239 Seiten, Abbildungen, 16,95 Euro son der Zeitgeschichte interessant macht: 174 Tage lang durfte er als letzter Innenminister der DDR fungieren. Es oblag ihm, das MfS aufzulösen und die Voraussetzungen für eine sachgerechte Aufbewahrung und Nutzung der Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes zu schaffen. Wie er diese Aufgabe löste, ist noch immer umstritten. Neues zu diesem Komplex kann man diesem Buch kaum entnehmen. Der häufig gegenüber Diestel erhobene Vorwurf, er sei zu blauäugig gegenüber den Offizieren des MfS gewesen, die nun seine Mitarbeiter und Berater im Ministeirum des Innern waren, wird jedoch bestätigt. Weil er von den organisatorischen Fähigkeiten und dem Hintergrundwissen dieser Leute abhängig war, wollte er auch an deren unbedingte Loyalität ihm gegenüber glauben. Das war zumindest leichtsinnig, auch wenn man ihm zugestehen mag, daß seine Abhängigkeit häufig unvermeidlich war. Diestel gehört seit August 1990 der CDU an. Als Landtagsabgeordneter in Brandenburg hatte er kaum noch Einfluß. 1994 schied er aus der Politik aus. Jetzt kann er sich dem geliebten Beruf als Anwalt widmen, mit einem Schwerpunkt unter den ehemaligen Stützen des SED-Regimes. Ihnen mag dieser Politiker der Wendezeit wie ein Geschenk des Himmels erscheinen. In Wahrheit ist er nur im System der Bundesrepublik angekommen. Hatte er sich in der DDR als Justitiar eine „kuschelige“ Nische ausgepolstert, so ist ihm dasselbe jetzt im Rechtsstaat gelungen, in dem er die PRMöglichkeiten zu nutzen weiß. Davon zeugt auch dieses Buch mit seinen gar nicht so neuen „Geschichten“. JF-Anzeigenmarkt Neuerscheinung Armin Geus Allahs Schöpfung oder die Evolution des Lebens. Zur Abwehr des Islamischen Kreationismus Basilisken-Presse Marburg an der Lahn 2010 Gerhard Hess Verlag Klartext! Ulm/Bad Schussenried seit 1946 Verlag für Zeitgeschichte, Biographien und Religion. Besuchen Sie uns unter www.gerhard-hess-verlag.de (Bei Manuskriptzusendungen vorherige telefonische Rücksprache erbeten: 0 75 83 / 94 66 23) Gerhard Hess Verlag, Rilkestraße 3, 88427 Bad Schussenried, Tel.: 0 75 83 / 9 46 23, Fax: 0 75 83 / 94 66 24, E-Mail: [email protected] Bibeltreue Christen, die am Wortlaut des Schöpfungsberichtes festhalten, Anhänger des wissenschaftlich maskierten Intelligent Design in den USA und islamische Kreationisten kämpfen inzwischen mit vereinten Kräften weltweit gegen die Evolutionstheorie, die Molekulargenetik und gegen Forschungen zur Entstehungsgeschichte des Universums. In Ministerien und Parlamenten nehmen sie zunehmend Einfluß auf den naturwissenschaftlichen Unterricht und die Forschungsförderung. Harun Yahya, Wortführer der türkischen Kreationisten, behauptet wider besseren Wissens, der islamische Terror werde gar nicht von Muslimen, sondern von atheistischen Darwinisten ausgeübt. 34 S., 17 x 24 cm, Br. Preis 14,– €, ISBN 978-925347-99-3 Bestellungen direkt an den Verlag: Basilisken-Presse, Postfach 561, 35017 Marburg an der Lahn oder über den JF-Buchdienst bzw. den regulären Buchhandel 8FSCVOHHJCUT BOKFEFS&DLF #MVUOJDIU #MVUOJDIU 5FSNJOFVOE*OGPTPEFSXXX%3,EF 296 Seiten . Paperback . f 19,90 ISBN 978-3-935197-96-0 Resch-Verlag . Telefon 0 89 / 8 54 65-0 L I T E R A T U R | 29 JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Verarmt, verdummt und abserviert Frisch gepreßt Daniel Eckert: Weltkrieg der Währungen. Wie Euro, Gold und Yuan um das Erbe des Dollar kämpfen – und was das für unser Geld bedeutet. Finanzbuch Verlag, München 2010, 272 Seiten, 19,95 Euro „Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold.“ Der Publizist Udo Ulfkotte rechnet die gewaltigen Kosten der Migration vor D aß Einwanderung unser Land bereichert und nicht etwa in erster Linie gewiefte Einwanderer, glauben wohl nicht mal mehr jene, die vom Verbreiten solcher Märchen leben. Wer sich trotzdem noch Illusionen macht, kann sich von Udo Ulfkottes neuestem Buch kurieren lassen: „Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold“ ist eine düstere Bestandsaufnahme vom Status der deutschen Selbstabschaffung. Ulfkottes Bilanz: Sowohl die chronische Überlastung der Sozialsysteme als auch die immense Staatsverschuldung sind zu einem großen Teil den Folgelasten der politisch gewollten, aber nicht kontrollierten Einwanderung aus anderen Kulturräumen im großen Stil geschuldet. Um dem bestgehüteten Staatsgeheimnis der Bundesrepublik Deutschland, dem wahren Ausmaß der Einwanderungs- und Integrationskosten nämlich, auf die Spur zu kommen, hat der Autor umfangreiches Material zusammengetragen. Bereits 2007, also noch vor der Wirtschafts- und Finanzkrise, habe Deutschland eine Billion Euro Sonderschulden für unqualifizierte Migranten aufgehäuft, die aus den Sozialsystemen mehr entnehmen, als sie einzahlen, zitiert Ulfkotte eine Berechnung Gunnar Heinsohns aus der FAZ. Das wären etwa sechzig Prozent der offiziell deklarierten Staatsschuld. Jedem einzelnen der 25 Millionen vollerwerbstätigen Nettozahler schuldeten Migranten demnach 40.000 Euro, präzisiert der Autor; unterm Strich bringe jeder arbeitende Steuerzahler schon jetzt Jahr für Jahr mehr Geld für unproduktive Migranten auf als für die eigene Urlaubsreise. Im Schnitt koste jeder nichtwestliche Einwanderer zwischen 25 und 35 die öffentliche Hand im Laufe seines Lebens 40.000 bis 50.000 Euro, zitiert Ulfkotte eine weitere Vergleichszahl aus den Niederlanden, offenbar vergleichbare Sozialstaatsverhältnisse unterstellend. Zehn Prozent der gesamten Staatseinnahmen, schätzt der Autor an anderer Stelle, gingen ohne Gegenleistung direkt als Transferleistungen an Migranten. Nicht immer legt Ulfkotte den Gang seiner Berechnungen vollständig offen, und die von sämtlichen Profiteuren und Verantwortlichen sorgfältig verschleierte Antwort auf die Frage nach den vollständigen Kosten der Einwanderung kann er natürlich auch nicht letztgültig geben. Aber er vermittelt zumindest einen Eindruck von der Dimension. Und die ist in der Tat alarmierend. Mit einer Fülle von Beispielen und Fällen – lauter „Einzelfälle“ natürlich in der herrschenden Diktion – dokumentiert Ulfkotte die „systematische Wohlstandsvernichtung“ durch planlose Einwanderung außereuropäischer Unterschichten. Deren Skrupel seien um so geringer, meint Islamkritiker Ulfkotte, als gerade die Muslime unter ihnen erschwindelte oder mit Drohungen erpreßte Sozialleistungen oder sogar die Gewinne aus Drogenhandel, Diebstahl, Zwangsprostitution oder Schutzgelderpressung mitunter quasi als legitime Tributzahlungen der Ungläubigen betrachteten. Dreiste, erschütternde und skurrile Ereignisse und Fallstudien hat Ulfkotte zum Treiben der Abkassierer im sozialund integrationsindustriellen Komplex zusammengetragen, deren behaglich eingerichtete und großzügig ausgestattete Strukturen ein gravierender Teil des Problems sind und nicht der Lösung. In Udo Ulfkotte: Kein Schwarz. Kein Rot. Kein Gold. Armut für alle im „Lustigen Migrantenstadl“. Kopp Verlag Rottenburg 2010, gebunden, 372 Seiten, 19,95 Euro weiteren Kapiteln widmet sich der Autor der Zerstörung von Lebensqualität für die autochthone Bevölkerung durch kulturferne Migranten, Ghettobildung und Verdrängungsprozesse und der politisch korrekten Degradierung Einheimischer zu „Menschen zweiter Klasse“. Zutreffend beschreibt Ulfkotte diese Entwicklungen als europäische Phänomene, ebenso die „Verblödung durch Zuwanderung“, die er wie Sarrazin konstatiert, sich dabei aber wiederum vor allem auf aktuelle Medienzitate stützt. Über 900 Belegstellen sind im Anmerkungsteil aufgeführt und erfreulicher- FOTO: FLICKR; FACEMEPLS KURT ZACH Wartende Ausländerinnen an der Bushaltestelle: Bereichert wird nicht nur die Gesellschaft weise auch als direkte Verweise auf der Netzseite zum Buch (www.keinschwarzkeinrotkeingold.de) zugänglich gemacht. Überwiegend stützt sich der Autor auf Beiträge in den gängigen Print- und elektronischen Medien in Deutschland und einigen europäischen Ländern. Hin und wieder erscheint eine „exotische“ Fundstelle nicht leicht nachvollziehbar. Das Gesamtbild, das sich aus den von Ulfkotte zusammengetragenen Zitaten und Fällen ergibt, kann freilich deprimieren. Der Autor selbst kann sich dem nicht immer entziehen; der Sarkasmus, der schon im Untertitel „Armut für alle im lustigen Migrantenstadl“ steckt, bricht in seiner Sprache immer wieder durch, wenn er die Empörung seiner Leser durch direkte Ansprache und ironisch-bissige Wortwahl aufrütteln will. Sarrazinsche Kühle liegt dem mit heißem Herzen schreibenden Ulfkotte wohl weniger, auch wenn sie die Wirkung seiner Argumente noch verstärken könnte. Was tun also? Wegweisend findet Ulfkotte den Stimmungsumschwung der letzten Jahre in den Niederlanden. Ersichtlich wünscht sich Ulfkotte eine einwanderungskritische Partei à la Wilders auch für Deutschland, die seine eher polemisch angedeuteten Lösungsvorschläge – „Rückführungsbetreuer“ statt Sozialarbeiter, „Inzuchtsteuer“ gegen gesundheitsschädliche Verwandtenehen, Schadensersatzprozesse gegen Multikulturalisten wie Armin Laschet – aufgreifen könnte. Unbeschadet dessen ist die von ihm vorgelegte Bestandsaufnahme ein unverzichtbarer Beitrag zu einem freieren einwanderungspolitischen Diskurs. Währungskrieg. Nicht viele Wirtschaftsjournalisten, die Dollar und Euro entgegen regierungsamtlichen Verlautbarungen oder der Hochglanzpropaganda von Großbanken grundsätzlich in Frage stellen, haben derartige publizistische Möglichkeiten wie der Welt-Redakteur Daniel Ekkert. In seiner aktuellen Analyse beschreibt er den Aufstieg und die ungewisse Zukunft des US-Dollar als Leit- und Weltreservewährung. Doch ungebremste öffentliche und hohe private Verschuldung kennzeichnen auch die Euro-Zone. Hinzu kommen interne Spannungen, was in der Euro-Krise im Mai offenbar wurde. Auch hinter dem prognostizierten baldigen Aufstieg des chinesischen Yuan zur Weltwährung macht Ekkert einige Fragezeichen. Für die Zukunft schließt er „eine Staatsinsolvenz, eine Inflation oder eine Währungsreform als Endpunkt der Schuldenkrise“ nicht aus. Um nach dem finanziellen „Großreinemachen“ wieder Vertrauen für ein neues Papiergeld zu gewinnen, sei es denkbar, „daß die Notenbanken das neue Geld statt allein mit Gold mit einem Korb von Rohstoffen decken“. (fis) Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin, Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, broschiert, 188 Seiten, 8,95 Euro Nach dem Schleier kommt die Scharia Alice Schwarzer schwant, daß in einer islamisierten Gesellschaft die Emanzipation der Frauen kein Zukunftsthema ist FABIAN SCHMIDT-AHMAD E s ist ein seltsamer Anblick, wie sich selbst als fortschrittlich betrachtende Gruppen einer Islamisierung in Deutschland den Weg bereiten, obwohl dies unzweifelhaft ihr eigener Untergang ist. Gleichsam Sinnbilder einer den eigenen Tod herbeisehnender Dekadenz, bejubeln homosexuelle oder feministische Lobbyisten den gesellschaftlichen Wandel, der zwar von den „Zwängen der deutschen Gesellschaft“ befreit, aber nur das fiktive gegen ein sehr reales Joch der Unterdrükkung eintauscht. Das große Verdienst von Alice Schwarzer ist es, aus dieser Logik der Extermination auszubrechen. Alice Schwarzer (Hrsg.): Die große Verschleierung. Für Integration, gegen Islamismus. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010, 272 Seiten, broschiert, 9,95 Euro Schon frühzeitig, als Schwarzer im Zuge der Revolution gegen das SchahRegime 1979 den Iran bereiste, wies sie auf die Gefahren des wiedererstarkenden Islam hin. Vor allem in den letzten Jahren, da auch hierzulande eine wachsende Ausbreitung und Zersetzung der Gesellschaft durch das Regelwerk der islamischen Sozialordnung immer deutlicher wird, ist hierzu in der Zeitschrift Emma eine Reihe grundlegender Texte erschienen. Sinnfällig wird für EmmaChefin Schwarzer die Islamisierung dabei in der Ausbreitung des islamischen Frauenschleiers. „Die große Verschleierung“ ist entsprechend ein Wortspiel – zum einen für die im Straßenbild immer deutlicher werdende Dominanz des Islam, zum anderen aber auch die gezielte Verschleierung der Tatsache, daß es sich dabei um einen Angriff auf unsere Gesellschaftsordnung handelt. Die Aufsatzsammlung gliedert sich in fünf Abschnitte. Im ersten Teil kommen Autorinnen zu Wort, die anhand von Fallbeispielen einen Überblick über den augenblickli- chen Stand der Entwicklung in Mitteleuropa verschaffen. Im zweiten Teil kommen islamische Frauenrechtlerinnen wie Necla Kelek zu Wort, welche die Türkei in ihrer tatsächlichen Entwicklung besser beschreibt, als es die vielen Hochglanzbroschüren der Europäischen Union vermögen. So heißt es über die Islamisierung des Landes: „Ganze Branchen wurden von den Islamisten vereinnahmt. (…) Sie sind in einem von der AKP-Regierung finanzierten Unternehmerverband organisiert und finanzieren ihre Geschäfte über eigene Banken.“ Den Höhepunkt des Buches stellen zweifelsohne die Berichte über islamische Konvertiten im dritten Teil der Textsammlung dar. Es sind dies vom Informationsgehalt wichtige Artikel über zum Islam konvertierte Funktionäre, die in der Öffentlichkeit als prominente „Brückenbauer“ erscheinen, oftmals aber wohl eher zur Befestigung eines islamischen Brückenkopfes installiert wurden. Daneben sind es aber vor allem die Biographien von Konvertitinnen, die einem ausgesprochen wertvolle Einblikke verschaffen. Was bringt europäische Frauen dazu, ihre persönlichen Freiheiten aufzugeben? Ist es bloße Naivität und Unkenntnis über den Islam? „Wir wissen es nicht“, schreibt Cornelia Filter. „Aber wir wissen, daß in Kreisen von Islamisten die Heirat mit einer Deutschen als sicherer Weg zum Aufenthaltsstatus gilt.“ Und noch mehr ist bekannt. So zeigt die Autorin auf, daß man in der Vergangenheit bei islamischen Konvertitinnen nicht selten Fälle sexuellen Mißbrauchs findet. Der Mensch ist eben ein vielschichtiges Wesen, und was äußerlich als pure Dummheit erscheinen mag, verbirgt manchmal ein tragisches Schicksal. Der vierte und fünfte Abschnitt beschäftigt sich mit der weit vorangeschrittenen Islamisierung in Frankreich beziehungsweise den islamischen Ländern selbst. Doch bei allem lobenswerten Engagement muß man deutlich festhalten, daß Schwarzer über die empirische Beschreibung hinaus nichts Fruchtbares geben kann. So phantasierte sie schon vor dreißig Jahren, daß man über das Verhältnis der Geschlechter „in Teheran nicht anders als in Bonn“ sprechen würde. Es ist der aus ideologischer Blindheit erzeugte Haß auf die eigene Kultur, welche diese groteske Gleichsetzung von europäischer und islamischer Kultur ermöglicht. Eine Blindheit, die übersieht, daß sie und andere Frauen es waren, die dem Islam überhaupt erst Tür und Tor geöffnet haben. „Nicht die islamistischen Terroristen“ seien das Problem, stellt Schwarzer fest. „Das wahre Problem ist die systematische Unterwanderung unseres Bildungswesens und Rechtssystems mit dem Ziel der ‘Islamisierung’ des Westens, im Klartext: die Einführung der Scharia mitten in Europa.“ Ja, aber warum ist das so einfach möglich? Hat es vielleicht etwas damit zu tun, daß es keine Kinder für unsere Schulen gibt und keine Männer, die Recht und Gesetz verteidigen? Wenn das kinderlose Mütterchen der Emanzipation eines Tages von muslimischen Männern ins Altersheim geführt wird, kann es sich ja diese Fragen stellen. Stalin. Sein Erfahrungsbericht aus dem Innern des kommunistischen Leviathan, der Klassiker „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ von 1955 hat den in der Moskauer Zentrale der „Weltrevolution“ aufgewachsenen Wolfgang Leonhard berühmt gemacht. Bei allem, was Leonhard als „Sowjetologe“, als Wissenschaftler und Publizist seitdem veröffentlichte, steht die Schreckensherrschaft Stalins im Mittelpunkt. So auch bei dem schmalen Bändchen, das „Anmerkungen“ über den grausigen Georgier und sein Regime macht. Bewegendes Motiv für den Autor, um hier noch einmal im Schnellgang die bekannten Stationen von den Fünfjahresplänen bis zum Gulag-Staat zu passieren, ist die aktuelle Tendenz in Rußland, die „den größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts“ als „Garanten nationaler Stärke“ zu rehabilitieren versucht. (wm) JF-Anzeigenmarkt Bücher von Johannes Dornseiff Frieling-Verlag, Berlin Inhaltsangaben und Auszüge unter www.johannesdornseiff.de Sprache, wohin? Bemerkungen eines Sprachteilnehmers 2. Auflage | 288 Seiten | Euro 12,90 | ISBN 978-3-8280-2393-2 Die Sprache hat, vor allem in den letzten Jahrzehnten, schlimme Entwicklungen genommen, die man weitgehend als Schwächung oder als Verschmutzung bezeichnen kann; ersteres vor allem in der Grammatik (z. B. Viele würden die Gefahr leider noch unterschätzen), letzteres vor allem im Wortgebrauch (z. B. schwul oder die Menschen bei den Reformen mitnehmen). [Zur Wortschatzverschlechterung gehört auch die Fremdwörterei, die graecolateinische und mehr noch die englische.] Der Verfasser stellt den verdorbenen Sprachgebrauch an den Pranger und zeigt zugleich, daß man sich davon freihalten kann; darüber hinaus, daß auch Sprachbereicherung möglich ist. – Im Anhang wird die Rechtschreib„reform“ zerpflückt. Verbesserungen: [da würden sie heute noch wohnen]: da wohnten sie noch heute [bräuchte]: brauchte [nichtsdestotrotz]: nichtsdestoweniger „Das hatte ich [echt] nicht erwartet“: wirklich [blauäugig]: naiv kamen drei [Menschen] ums Leben: Personen Wir müssen diesen [Menschen] helfen: Leuten [Ängste]: Angst, Befürchtungen Wir [danken für Ihr Verständnis]: bitten um Verständnis (Nachsicht) Herz[probleme]: Herzbeschwerden [Bürgerinnen und Bürger]: 1. Bürger und Bürgerinnen 2. Bürger [Recycling]: 1. Rezyklierung 2. Rückverwertung [Ticket]: Karte, Fahrkarte, Eintrittskarte [Job]: Stelle, Arbeit, Beruf, Amt es [macht] keinen Sinn: hat [Nutzer]: Benutzer [ethisch]: moralisch [maximal]: höchstens [authentisch]: echt [Region]: Gegend Neubildungen: querab (= senkrecht zur Bewegungsrichtung), Stehbleibfehler (versehentlich nicht mitgetilgt), Bestuch (= sich bestechen lassen), sich anherzen, Hindernisse und Fördernisse, Multikulti und Rassamassa Tractatus absolutus Selbstaufklärung des Denkens 2. Auflage | 896 Seiten | Euro 29,00 | ISBN 978-3-8280-1099-4 Aus der Erfahrung, daß sich alles von ihm Gedachte immer wieder zerdenken ließ, hat der Verfasser einen Standpunkt gewonnen („Ist etwas zu sagen? – An sich ist nichts zu sagen“), von dem aus diese zunächst anstößige Erfahrung verständlich ist und alles bisherige Denken – zunächst nur das eigene Denken des Verfassers, dann aber auch das aller Anderen – als naiv erscheint. Dieser Standpunkt ist zugleich eine neue und vielleicht letzte Stufe eines historischen Weges, der mit der frühgriechischen Philosophie (Vorsokratik) beginnt. Während der Kern des Tractatus sozusagen ungegenständlich ist, werden in den weiteren Verzweigungen alle klassischen Gegenstände des Denkens – Raum, Existenz, Begriff, Welt, Ding, subjektiv-objektiv, Ich, Moral u. a. – in der gehörigen Ordnung entwickelt und dargestellt. Warnung! – Ein Leser, der an Wortgebilde wie „kognitive Relevanz“, „taxonomische Interdependenz“ oder auch „basic relations“ gewöhnt ist, wird bald an Entzugserscheinungen leiden. Recht und Rache Mit einer Anzeige dieser Größe erreichen Sie für nur 81,40 Euro zzgl. USt. im Oktober bis zu 100.000 Leser. Profitieren Sie von dieser Rekordauflage aufgrund einer großen Werbeoffensive und unterstützen damit gleichzeitig die JF. Kontakt: BMV-Berliner Medien Vertrieb e. K., Helmholtzstr. 2–9, 10587 Berlin, [email protected], Tel. 030/664067-55, Fax.030/664067-54 Der Rechtsanspruch auf Wiederverletzung 256 Seiten | Euro 14,00 | ISBN 978-3-8280-1964-5 Nachdem er die Fundamente „gefühltes / zu fühlendes Recht“ und „gerechter / berechtigter Anspruch“ gelegt hat, geht der Verfasser den letzteren Schritt für Schritt durch, vom Rechtsanspruch auf den gleichen Anteil bis zum Rechtsanspruch auf Wiederverletzung. Hier erörtert und widerlegt er zunächst den Ausgleich durch gleiche Wiederverletzung, dann die Einwände gegen die Wiederverletzung überhaupt („unvernünftig“, „unmoralisch“). – Im Anhang geht es um konkretere Themen wie Strafunmündigkeit, Selbstjustiz, Resozialisierung und Todesstrafe. „Der Grundgedanke dieser Schrift ist, daß Recht und Rache zusammenhängen und daß dies nicht gegen das Recht, sondern für die Rache spricht.“ Georg Meinecke, „GESUND FÜR IMMER“ Die Revolution im Gesundheitswesen BoD. Bestseller brosch. 160 S.; 11,90 Euro; ISBN 978-3-8334-7263-3 „Dieses Buch gehört in die Hände eines jeden verantwortungsbewussten Menschen und auch dessen, der es werden will. Es müsste Pflichtlektüre in der Grundschule, sowie aller Universitäten sein. Der Inhalt ist fundiert, ehrlich und kompetent. Dr. Meineke hat eine klare, direkte und doch eine sehr feine aber informative Art dem Leser die Wahrheit zu übermitteln …“ Leserkommentar zum Buch auf www.amazon.de ANZEIGE Konservativ denken! 30 | L I T E R A T U R JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Der Fall Sarrazin 48 Seiten, 5.00 € Die beste Medienanalyse zum »Fall Sarrazin«, 4., aktualisierte Auflage – schon über 10 000 verkaufte Exemplare. Dr. Karlheinz Weißmann und Dr. Erik Lehnert leiten das Institut für Staatspolitik (IfS). www.staatspolitik.de 44 Seiten, 5.00 € Für JF-Leser kostenlos zum Kennenlernen! Zehn Jahre Institut für Staatspolitik! Lernen Sie das einzige konservative Bildungs- und Forschungsinstitut Deutschlands kennen! r Kostenlos fü JF-Leser Deutsche Schüler besuchen Auschwitz: Versöhnung bleibt in eine unabsehbare Zukunft verschoben Maßstäbe setzen! Sarrazin lesen Ellen Kositza und Götz Kubitschek leiten die redaktionelle Arbeit der Zeitschrift Sezession. www.sezession.de Konservativ Themenheft Sezession, 60 Seiten, 5.00 € Probeheft 5 € 10 €) (Normalpreis Ich erhalte auf jeden Fall ein kostenloses Exemplar der Festschrift »10 Jahre IfS« Bestellschein zurücksenden (03 46 32) 9 09 41 [email protected] www.staatspolitik.de www.sezession.de Ich bestelle zusätzlich (bitte Anzahl eintragen) `...... Exemplare Der Fall Sarrazin `...... Exemplare 10 Jahre IfS `...... Exemplare Sarrazin lesen `...... Exemplare Konservativ (Sezession 38) Name, Vorname Institut für Staatspolitik Rittergut Schnellroda 06268 Albersroda Straße, Nr. PLZ, Ort E-Post Fragestellungen über das Ziel der deutschen Vergangenheitsbewältigung T Acht Autoren erläutern Sarrazins Thesen und denken weiter: Wo hat er recht, wo greift er zu kurz? Mit Chronik, Pressestimmen und Lesetips. Bestellungen: per Post: per Tel/Fax: per ePost: Dogma und Gedächtniskrone THORSTEN HINZ Sonderheft Sezession, 48 Seiten, 9.00 € »Konservativ« scheint in Mode zu kommen. Unser Heft zeigt: Es ist weit mehr als eine Mode! Mit dem Vordenker-Lexikon »Rechte Intelligenz«. FOTO: FLICKR; ANA PAULA HIRAMA 10 Jahre IfS rauerarbeit macht frei? Von wegen! Mehr als vierzig Jahre Vergangenheitsbewältigung haben Deutschland weder Seelenfrieden noch das Ende moralischer und materieller Reparationsforderungen beschert, nur einen „rasenden Stillstand, der nicht vergehen kann“. Das jedenfalls glauben Ulrike Jureit, Historikerin am Hamburger Institut für Sozialforschung (Reemtsma-Institut), und der in Kassel lehrende Soziologe Christian Schneider. Gemeinsam haben sie über die Entstehung und Mechanik des erinnerungspolitischen Hamsterrades ein scharfsinniges, faktenreiches und wohlformuliertes Buch verfaßt. Das sei – bei allen Einwänden, von denen noch die Rede sein wird – vorausgeschickt. Jureit wählte für ihren Aufsatz einen gedächtnistheoretischen Ansatz, Schmidt verbindet die zeitgeschichtliche mit einer psychoanalytischen Perspektive. Ihr Ausgangspunkt ist die „Spirale der Selbstzerstörung“, die der Soziologe Norbert Elias im Angesicht des RAFTerrorismus im „Deutschen Herbst“ 1977 konstatierte. Elias sah in den Terroristen die exaltierte Avantgarde einer Jugend, die sich dem politischen System der Bundesrepublik entfremdet hatte und ihr Heil in marxistischen Gesellschaftsmodellen suchte. Die Ursache der Entfremdung erblickte er in einer Identitätskrise, die in der fehlenden Auseinandersetzung der Vätergeneration mit den Verbrechen des Nationalsozialismus wurzelte. Aus dem gefühlten Schuldzusammenhang der Nation bot sich den 68er-Studenten, um die es vor allem geht, ein doppelter Ausweg an: zum einen die Identifikation mit den Opfern des Regimes, insbesondere den Juden, zum anderen die unablässige Durcharbeitung und Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Der Klassiker von Margarete und Alexander Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern“ lieferte die Stichworte dafür. Bundespräsident Richard von Weizsäcker verlieh der Vergangenheitspolitik in seiner Rede am 8. Mai 1985 die staatspolitische Weihe und rückte sie mit einem Halbsatz: „das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“ in eine religiöse Dimension. Ins Säkulare gewendet, ergibt sich aus dem religiösen Erlösungsversprechen die Aussicht auf Versöhnung. Über 25 Jahre danach sind Erlösung und Versöhnung ausgeblieben oder noch immer in eine unabsehbare Zukunft verschoben. Das unter manischem Erinnerungszwang stehende kulturelle Gedächtnis der Deutschen stellt einen Son- derfall dar. Denn das Auswahlkriterium, das über die Aufnahme eines Ereignisses in die Kollektiverinnerung normalerweise entscheidet, ist die Sonderung des „Lebensdienlichen vom nicht Lebensdienlichen“, so die bekannte Erinnnerungsforscherin Aleida Assmann. Allerdings kann Assmann die Sonderrolle des Holocaust im öffentlichen Bewußtsein nicht wirklich erklären und empfiehlt den Deutschen daher ein mehrgleisiges Geschichtsbewußtsein. Daraus folgert Jureit die generelle Brüchigkeit ihrer Theorie der „kulturellen Arterhaltung“, ohne allerdings einen Alternativentwurf aufbieten zu können. Sie verweist nur auf eine „universale Rechtfertigungsordnung“, deren „universale Gedächtniskrone“ der Holocaust darstelle. Das freilich ist weder Erklärung, Trost noch Rechtfertigung für die deutsche Schuldversessenheit. Es impliziert jedoch, daß der gegenwärtige Universalismus den Deutschen abschneidet und verbietet, was ihnen als Nation lebensdienlich ist. Ulrike Jureit/ Christian Schneider: „Gefühlte Opfer“. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Klett Cotta, Stuttgart 2010, gebunden, 253 Seiten, 21,95 Euro Christian Schmidt beschäftigt sich im zweiten Teil des Buches mit den Grundlagen der Vergangenheitspolitik, insbesondere mit Theodor Adornos „Negativer Dialektik“ (1966) und dem 1967 erschienenen Klassiker der Mitscherlichs. Die ungeheure Wirkung und Nachwirkung der „Unfähigkeit zu trauern“ steht im grotesken Mißverhältnis zu seiner wissenschaftlichen Qualität. Sie erklärt sich daraus, daß das Buch ein „Deutungsangebot für den moralischen Zustand der Nachkriegsrepublik“ lieferte. Es half der 68er-Generation, sich selber als Opfer und „Entronnene“ ihrer nazistisch kontaminierten Eltern zu fühlen und eine „vulgäre ödipale Dramatik“ ins Weltgeschichtliche zu projizieren. Zugleich eröffnete der Auschwitz-Rekurs – wie das Beispiel Joschka Fischers zeigt – reale Machtoptionen. Weiterhin spielte der Wunsch hinein, die Rache der Opfer „durch nachträgliche Eingemeindung und Heiligsprechung abzuwehren“. Zum bevorzugten Objekt dieser „Gegenidentifizierung“ wurde der „jüdische Intellektuelle als mehrdeutige Inkarnation des Opfers, als das man sich selber fühlte“. Dieser „Andere“, den die Elterngeneration gefürchtet und eliminiert hatte, war jetzt der „geliebte Andere“, den man vermißte. Aus Fremdheit wurde ein „Liebesprogramm“, Fremdenfeindlich- keit wurde in Fremdenliebe verwandelt. Die Bitte „Ausländer, laßt uns mit den Deutschen nicht allein!“ leitet sich ab aus diesem Defekt. So bestechend Schneiders Analyse ist, so banal ist der Ausweg, den er weist. Er appelliert an die Deutschen („an uns“), die eingetretenen Verluste als solche zu akzeptieren und sich von der Hoffnung zu verabschieden, sie durch geschichtspolitische Operationen rückgängig machen zu können. Das Buch endet exakt dort, wo eine Fundamentalkritik einsetzen müßte. Sein grundsätzliches Defizit besteht darin, daß Jureit und Schneider nur eine Binnenperspektive zulassen und über die Erinnerungspolitik schreiben, als handele es sich um Eigenbewegungen des Geistes und der Moral. Historische und politische Umstände – außenpolitische zumal – bleiben außer Betracht. Das Buch „Charakterwäsche“ von Caspar von Schrenck-Notzing oder der Sammelband „Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik“, der die Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule beleuchtet, kommen nicht vor. Diese zeigen aber, wie eine planvolle und langfristig angelegte Personal-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik genau das kranke Bewußtsein geformt hat, dessen Zukkungen die Autoren jetzt analysieren. Der von Christian Schneider entdeckte Wunsch, der Rache der Opfer durch Eingemeindung zu entgehen, ist nichts anderes als das von Arnold Gehlen formulierte Bestreben besiegter beziehungsweise „widerlegter“ Nationen, die fehlenden praktischen Handlungsmöglichkeiten durch Missionierung zu kompensieren und auf diese Weise Schonung zu erlangen. Dieses Streben und die subalterne Stellung Deutschlands innerhalb der „universalen Rechtfertigungsordnung“ lösen auch die Widersprüche in Assmanns Gedächtnistheorie auf. In einem bestimmten Maße war die Missionierung erfolgreich: Weltweit gilt die deutsche Vergangenheitsbewältigung als vorbildlich; nur die Schonung bleibt aus, und das Rad der Erinnerung dreht sich immer hektischer. Kein Wunder, denn „ohne die relativierende Kraft der konkreten Erinnerung werden die Schuldgefühle zu Erinnyen, deren Rachedurst mit jedem Opfer, das ihnen gebracht wird, wächst“ (Peter Furth). „Konkrete Erinnerungen“ heißt auch, geschichtliche Ereignisse begreifbar zu machen, indem man sie in ihren historischen Kontext stellt, sie historisiert. Von der Historisierung des Holocaust weiß Schneider aber nur, daß es sie „nie wird geben können“. So wird aus dem Aufklärer am Ende ein Dogmatiker und ein Verteidiger des bundesrepublikanischen Hamsterrades. Schade drum. L I T E R A T U R | 31 JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Die Unentschiedenen sitzen im Sumpf Frisch gepreßt Wilhelm Bleek: Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie. Verlag C. H. Beck, München 2010, gebunden, 472 Seiten, Abbildungen, 34,95 Euro Der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler analysiert die politische und gesellschaftliche Mitte GÜNTER ZEHM Herfried Münkler: Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung. Rowoht Verlag, Berlin 2010, gebunden, 300 Seiten 19,95 Euro FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA W er über Mitte und Maß schreiben will, darf nicht selber mittelmäßig sein. Das ist das Problem von Herfried Münkler, den Berliner Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker, dessen Buch „Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung“ leider nur mittelmäßig geraten ist. Es faßt die Problematik des Mitteseins durchaus übersichtlich zusammen, liefert viele Fakten und am Ende ein gewaltiges Literaturverzeichnis. Doch zur Klärung der Begriffe trägt es wenig bei. Münkler gilt als Schöpfer der Formulierung vom „asymmetrischen Krieg“. Gern hätte man erfahren, ob der in seinem neuen Buch annoncierte „Kampf um die richtige Ordnung“ nun symmetrisch oder asymmetrisch ist, wie darin also die Kräfte verteilt sind und wie es um mögliche Siege oder Niederlagen bestellt ist. Aber darüber wird man nicht belehrt, höchstens in Verwirrung gestürzt. Am Ende weiß man nicht einmal, ob es überhaupt eine politische Mitte gibt oder ob das von den Akteuren nur behauptet wird. Vielleicht liegt die Kalamität auch darin, daß Münkler seinen Bogen allzu weit gespannt hat. Es gibt bei ihm ein großes Kapitel über „Mitte und Raum“, über Mittelmächte, geopolitische Mittellagen und Einkreisungsängste, doch was hat diese – durchaus interessante – Thematik mit dem eigentlichen Thema des Buches zu tun, dem uralten politisch-ethischen Streit um das „rechte Maß“ und den „goldenen Mittelweg“? Faktisch nichts, muß man wohl sagen, solches Zusammenquirlen schaff t nur Irritationen. Als gäbe es von der Sache her nicht schon Irritationen genug. Denn einem machtvollen Lobpreis der Mitte als absolut notwendigem Lebens- und Herrschaftsprinzip stand von Anfang an eine kaum weniger machtvolle Verachtung der Mitte entgegen, ja Lobpreis und Verachtung artikulierten sich oft in ein und derselben Person. Zwischen Mittelmaß und Mittelmäßigkeit klaff ten Abgrün- Angela Merkel vor ihrem CDU-Sinnspruch: „Nichts ist dem Mittelmäßigen so verhaßt wie geistige Souveränität“ de, auch in Sprachen, die ein gemeinsames Wort dafür hatten, wie das Lateinische mit seiner mediocritas. Mediocritas in omni re est optima („das Mittelmaß in allen Dingen ist das Beste“) – so stand und steht es seit der Antike in zahllosen städtischen Wappen eingeschrieben, beispielsweise im Wappen von Lübeck. Andererseits troffen die Lippen allererster Geistesgrößen über die Zeiten hinweg vom Hohn über die Mediocritas. „Nichts ist dem Mittelmäßigen so verhaßt wie geistige Souveränität“, donnerte etwa Stendhal, „da sprudelt die Quelle des Hasses und der schrecklichsten Gehässigkeiten.“ Das Urteil des gesunden Menschenverstandes freilich steht fest: Der „mittlere Weg“ ist immer der beste. Er ist vielleicht nicht in jedem Fall der „goldene Weg“, aber er ist der Weg der Gesundheit. Man soll im Leben nichts übertreiben, schon um der Gesundheit willen, man soll stets das rechte Maß anstreben, beim Essen und beim Fasten, beim Arbeiten und beim Ausruhen, beim Reden und beim Schweigen. Gibt es denn aber auch in der Politik jenes „gesunde“ Mittelmaß, auf das sich die Menschen einigen können und vor allem sollen? Staaten und andere überfamiliäre Ge- meinschaften sind ja keine Individuen mit einem gleichsam natürlichen Maßhalteplan im Tornister. Sie integrieren Interessengruppen der unterschiedlichsten Art; die einen wollen expandieren, die anderen ihre Ruhe haben, die einen wollen verändern, die anderen „das Erreichte sichern“. Wo ist da Mitte? Sicher, die politische Rhetorik ist so gut wie immer am individuellen Gesundheitsmodell orientiert; jeder Politiker tritt in seinen Reden für das ein, was allen am besten bekommt, also für das rechte Maß. Das heißt aber noch lange nicht, daß er dieses Maß auch wirklich vertritt oder daß er überhaupt weiß, was es wirklich ist. Sondern er nimmt das rechte Maß lediglich auf all seinen Wegen mit und pflanzt es nach Belieben auf („Wo ich bin, da ist die Mitte!“). Der berühmte „Kampf um die Mitte“, um den Münkler soviel Aufhebens macht, ist nichts weiter als ein Test darüber, wer lauter „Mitte“ schreien kann. Faktisch sämtliche politischen Strömungen, seitdem es Politik gibt, haben die Metapher des rechten Maßes verwendet, selbst die radikalsten revolutionären Gruppen, die mit ihren Umsturzversuchen angeblich immer nur die Gesellschaft „ins rechte Maß zurückbringen“ wollten. Erst im neunzehnten Jahrhundert gab es im Gefolge der Französichen Revolution von 1789 eine Ausnahme. Das Revolutionsparlament teilte sich in gemäßigte Girondisten und radikale Jakobiner auf, und dazwischen, also in der Mitte, saßen die Unentschiedenen, „der Sumpf“, wie die Revolutionäre verächtlich sagten. Danach spalteten sich viele Parlamente in „Rechte“ und „Linke“ auf; man verzichete deshalb aber keineswegs auf die Mitte-Rhetorik, ganz im Gegenteil. Jede Seite beanspruchte weiter, allein die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren und das rechte Maß zu halten. Heute haben in Deutschland im Zeichen der allgemeinen Gleichmacherei und ethischen Promiskuität die Linken gesiegt, und alle zugelassenen Parteipolitiker sind einerseits links und gleichzeitig allesamt für die Mitte. Der Kampf um die richtige Ordnung scheint entschieden. Was bleibt, sind Gespensterkämpfe im Souterrain, wo es nur noch darum geht, wieviel Geld der einzelne „Sozialteilnehmer“ am Monatsende herausbekommt und was wem eventuell vom Staat weggenommen wird, damit dieser – seine Lieblingsbeschäftigung! – „umverteilen“ kann. Es gibt bekanntlich eine „Mittelschicht“, weder arm noch allzu reich, die der eigentliche Garant gesellschaftlicher Wohlfahrt ist, und es findet zur Zeit offenbar eine „Erosion der Mittelschicht“ statt. Alle herrschenden Parteien „des Maßes und der Mitte“ machen sich nun Sorgen, daß ihnen das beim Wählervolk Minuspunkte eintragen könnte und daß dadurch die gegenwärtige Machtlage ins Rutschen gerät. Herfried Münkler zeichnet diesen Prozeß im letzten Kapitel seines Buches getreulich nach, und selbstverständlich ist auch er einerseits links und gleichzeitig für Maß und Mitte. Wie sollte er auch anders, als Politologe? Er hat ein Buch über Politiker für Politiker geschrieben. Die gewissermaßen naturwüchsige politische Wirklichkeit indessen sieht anders aus. Einem linken Parteienkartell, das von den Kommunisten über SPD und Grüne bis zu CDU und CSU reicht, steht ein „populistischer Sumpf “ gegenüber, der einen beträchtlichen Teil des wahlfähigen Volkes hinter sich hat, bisher aber trotzdem von der offiziellen Politik ferngehalten werden konnte. Mit Maß und Mitte hat das wenig zu tun. Doch es wird nicht so bleiben. Dahlmann. Dank viel Vitamin B erhielt, ohne je Geschichte studiert zu haben, der Altphilologe Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860) im Jahre 1812 ein Kieler Extraordinariat für dieses Fach. Für eine der Gründergestalten der deutschen Geschichtswissenschaft ein etwas wackliger Karrierestart. Aber der junge Mann bewährte sich, wechselte 1829 von der Förde nach Göttingen, mußte dort als einer der „Sieben“, die sich 1837 gegen den Verfassungsbruch des Königs von Hannover stemmten, seinen Hut nehmen, arbeitete in Jena an seinem dreibändigen, gleichwohl nur bis ins 16. Jahrhundert vorstoßenden Hauptwerk, der „Geschichte Dänemarks“, und fand dann ein komfortables Asyl im liberalen Preußen auf einem Bonner Lehrstuhl für Geschichte und Staatswissenschaft, wo er sich der Englischen (1844) und der Französische Revolution (1845) publizistisch widmete. Geprägt vom Bürgergeist seiner Vaterstadt Wismar, die sich zum Zeitpunkt seiner Geburt noch unter schwedischer Herrschaft befand, verkörperte der altliberale Bewunderer des englischen Konstitutionalismus als Sekretär der schleswig-holsteinischen Ritterschaft wie als nationalliberaler, kleindeutsch-preußischer Abgeordneter der Paulskirche zeitlebens den Typus des „Gelehrtenpolitikers“, für den „Geschichte und Gegenwart, Geschichte und Politik unauflöslich zusammengehörten“ (Reimer Hansen) und der aus wissenschaftlich-historiographischem Tun vor allem „Nutzen“ für die Gestaltung des Gemeinwesens ziehen wollte. Der Bochumer Emeritus Wilhelm Bleek glaubt, daß Dahlmann uns mit diesem Verständnis der politisch-staatsbürgerlichen Bedeutung von Geschichtsschreibung heute wieder nahe ist. Dementsprechend sympathisch präsentiert er seine Biographie, die überpünktlich zum 150. Todestag im November vorliegt, die aber das zweibändige Lebensbild Anton Springers von 1870/72 freilich vielfach nur „modernisierend“ nacherzählt. (wm) JF-Anzeigenmarkt Am 16. Oktober 1946 wurde der deutsche Außenminister, Joachim von Ribbentrop, im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher wegen „Vorbereitung eines Angriffskrieges“ zum Tode durch den Strang verurteilt. Bis heute wird seine Rolle im Dritten Reich generell negativ beurteilt, schon als Botschafter in London habe er England Hitler gegenüber als „dekadent“ und „schwach“ dargestellt und ihm suggeriert, daß er im Konfliktfalle nicht kämpfen werde. Mein Vater: Obwohl gerade er Hitler nachweislich auf die britische Kriegsentschlossenheit hinwies, wurde ihm von seinen Widersachern im Auswärtigen Amt und einem Großteil der sogenannten Forschungsliteratur die Behauptung zugeschrieben, die Westmächte seien schwach und feige und würden es nie wegen Polen zur Auseinandersetzung kommen lassen. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, und die Brüder Kordt fanden es angemessen, die politische Entscheidungszentrale in London mit solchen Desinformationen zu traktieren und zu einer kompromißlosen britischen Haltung zu raten. Erlebnisse und Erinnerungen Rudolf von Ribbentrop Mein Vater: Joachim von Ribbentrop Erlebnisse und Erinnerungen 496 Seiten, s/w-Abbildungen, 15 x 23 cm, Hardcover ISBN 978-3-902475-42-8 Preis: € 29,90 / sfr 51,– Durch alle Buchhandlungen zu beziehen! Der durch Joachim von Ribbentrop ersatzweise favorisierte Kontinentalblock unter Einschluß der Sowjetunion ließ sich nur im Ansatz realisieren. Ribbentrop sprach sich gegen den Angriff auf die UdSSR aus. Schreiben Sie? „Diese revolutionäre Botschaft und ihre Konsequenzen sollte jeder Christ kennen!“ Wir veröffentlichen Ihr Buch! R. G. Fischer Verlag Orber Str. 30 • Fach 51 60386 Frankfurt Tel. 0 69/ 941 942-0 www.verlage.net E-Mail: [email protected] BoD. DIN-A4 brosch. 36 S.; 6,80 Euro, ISBN: 978-3-8334-7433-0 Georg Meinecke, „Der Königsweg zu Gesundheit und hohem Alter“ BoD, brosch., 512 S.; 27,80 Euro; ISBN 978-3-8311-4199-9 Nach seinem Erscheinen wochenlang Platz 1 der BoD.-Bestseller-Liste Gesundheitseck Kaufmann: „Wir haben selber viele, viele hundert Bücher zum Thema Gesundheit und Krankheit gelesen. Einem Buch aber möchten wir ab sofort unangefochten den Spitzenplatz einräumen, nämlich diesem Buch von Georg Meinecke, welches unvergleichlich beeindruckend und verständlich geschrieben ist. Wir können dieses Buch mit absoluter Überzeugung empfehlen.“ Der Leser erfährt, wie sich praktisch jede chronisch-degenerative Krankheit bis hin zum Krebs im Endstadium auf natürliche Weise nebenwirkungsfrei heilen bzw. vor ihrem Entstehen verhindern läßt. Lateinische Regeln Das große Einmaleins der Sprache in 2 Bänden Das Beherrschen der lateinischen Sprache und ihrer Denkweise kann unbezahlbare Vorteile bringen. Deshalb hat Gerhard Bach ein Nachhilfegerüst geschrieben, das auf eigenen Erfahrungen beruht. Der Autor, ältester Sohn Joachim von Ribbentrops und im Zweiten Weltkrieg selbst mehrfach verwundet, schildert in diesem zeitgeschichtlichen Quellenwerk seinen Vater aus eigenem Erleben, insbesondere aufgrund der häuslichen Gespräche im Laufe der 30erJahre. Es ist kein unkritisches Buch, das der Sohn von Ribbentrops hier vorlegt, und kein Werk, das die Geschichte des Dritten Reiches glätten oder beschönigen will. Auch die künftige Geschichtsschreibung wird an diesem Zeitzeugenbericht, der als echte historische Quelle einzustufen ist, nicht vorübergehen können. Band 1 Das kleine Einmaleins der Sprache 34 Seiten, 6,50 EUR ISBN 3-00-008859-8 Band 2 Das große Einmaleins der Sprache 96 Seiten, 10,00 EUR ISBN 3-00-017080-4 Bestellen Sie bei: JF-Buchdienst Hohenzollerndamm 27a · 10713 Berlin Tel. 0 30 / 864 953 - 25, Fax: 0 30 / 864 953 - 50 [email protected] oder direkt beim Autor: Gerhard Bach M.A. · Wingertstr. 1½ · 97422 Schweinfurt · Tel.: 0 97 21 / 2 69 - 27 32 | L I T E R A T U R JUNGE FREIHEIT Nr. 41/10 | 8. Oktober 2010 Frisch gepreßt Deutsche Moral Moshe Zimmermann: Die Angst vor dem Frieden. Das israelische Dilemma. Aufbau Verlag, Berlin 2010, broschiert, 152 Seiten, 14,95 Euro Thomas Morlang: Rebellion in der Südsee. Der Aufstand auf Ponape gegen die deutschen Kolonialherren 1910/11. Ch. Links Verlag, Berlin 2010, broschiert, 200 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro Polynesien. Nicht nur in der Kalahari in Deutsch-Südwest (Hererokrieg) oder im Süden von Deutsch-Ostafrika (Maji-MajiAufstand) zeigte der kaiserliche Kolonialismus seine häßliche Fratze, sondern auch in der Südsee. Darauf will Thomas Morlang in seiner Arbeit über den weitgehend unbekannten Aufstand der Sokehs auf der entlegenen, etwa dreißig Kilometer im Durchmesser zählenden Karolineninsel Ponape 1911 hinweisen. Auch wenn „im Krieg gegen die Deutschen mit sechs bis zehn Toten nur vergleichsweise wenige Opfer zu beklagen waren“, wie der Autor im Vorwort konstatiert, müht Morlang sich redlich, die im Zusammenhang mit der Ermordung von vier deutschen Kolonialbeamten und fünf mikronesischen Vorarbeitern 1910 stehende „Strafverfolgungsmaßnahme“ in den Ruch von Völkermord zu setzen. Immerhin, so darf der Autor seine Thesen über die „grausamen Räuber, die wir waren“, natürlich auch in der Zeit (39/10) breittreten, wurden später von den 36 Angeklagten 17 zum Tode verurteilt, 450 andere auf eine größere Insel im Palau-Archipel verbannt. (bä) OLIVER BUSCH U nter seinem Konterfei platziert, weist der Klappentext des neuen Buches von Raphael Gross den Autor als bewältigungspolitischen Multifunktionär aus: Seit 2001 Direktor des Leo Baeck Instituts in London, leitet er seit 2006 zudem das Jüdische Museum in Frankfurt am Main und dort seit 2007 auch das Fritz Baur Institut. Derart von den Geschäften beansprucht, ist dem Tausendsassa dennoch genügend Zeit für eine Buchproduktion geblieben. So ist es zu verstehen, daß das „neue“ Werk über die „nationalsozialistische Moral“ nicht wirklich neu ist. Von den neun Kapiteln wurden sechs in Aufsatzform in szeneüblichen Sammelwerken wie der Festschrift für seinen Mentor Dan Diner oder in purer Agitationsliteratur („Expressions of German Guilt“) publiziert. FOTO: JF SCREENSHOT; JF-MONTAGE Israel. Israel ist wahrscheinlich der einzige westliche Staat, in dem links zu sein noch einen gewissen Mut erfordert. In diesem Sinne hat Moshe Zimmermann ein mutiges Buch geschrieben. Seine Kernthese: „Die israelische Gesellschaft, die die existentielle Angst zum obersten Gebot machte, hat deshalb viele ihrer Hemmungen verloren.“ Die Verrohung der Gesellschaft, die unverhohlene Apartheid – das alles sieht der Jerusalemer Historiker als größtes Hemmnis einer friedlichen Lösung der Nahost-Frage. Daß es gerade der DeutschlandKenner als Unsinn abtut, jeder Kritik an der israelischen Politik pauschal mit dem Antisemitismusvorwurf zu begegnen, hebt das Buch wohltuend von manch verdruckster Veröffentlichung hiesiger Provenienz ab. Nebenbei zieht Zimmermann dabei noch gegen den – wie er es nennt – „Mythos vom Militär als der zentralen Ikone des Zionismus und des Staates Israel“ zu Felde, etwa indem er vorrechnet, daß nur noch 52 Prozent eines Jahrgangs den Wehrdienst ableisten. Dennoch, so beklagt der Autor, habe das Militär noch immer überproportional viel Einfluß und dominierten militärische Werte die „Zivilgesellschaft“. (vo) Raphael Gross muß es „unter Nazis“ aushalten Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2010, 278 Seiten, gebunden, 19,95 Euro Deutsche Talkshowkultur mit Dauergeplapper ohne Substanz: Es herrscht ein Mangel an tiefgehenden inhaltlichen Auseinandersetzungen Laßt uns wenigstens ein bißchen streiten Thea Dorn auf dem Weg, dem seichten linken Konformismus in Deutschland zu entfliehen ELLEN KOSITZA W er die Krimiautorin, Philosophin und Talk-Dame, die sich nach T. Adorno „Thea Dorn“ nennt, als schillernde Persönlichkeit bezeichnen mag, muß sich nicht mit dem leuchtenden Wechsel ihrer Haarfarbe aufhalten. Daß Dorn auf dem Bildschirm eine gehörige Spur intelligenter und origineller daherkommt als ihre Kolleginnen, ist das eine. Das „Schillern“ meint aber auch ein gewisses Wechselspiel des Lichts, das auf sie fällt: Einerseits sind einige platt-wohlfeile Einlassungen von ihr noch in schlechter Erinnerung, allem voran ihre zeitgeistig äffende Eva-Herman-Schmäh („Eva Braun“). Andererseits: Früh – noch bevor es opportun wurde – hat sich Thea Dorn in Essays (und als Drehbuchautorin eines vielbeachteten „Tatort“) islamkritisch geäußert und sich gegen manch feministische Platitüden verwehrt. Wo andere deutsche Intellektuelle vor dem deutschen Staat warnten, konterte Frau Dorn bissig mit einer Gegenwarnung vor deutschen Intellektuellen. Im vergangenen Frühjahr hat sie – versehen mit Vor- und Nachwort aus ihrer Feder – Friedrichs Sieburgs „Die Lust am Untergang“ von 1954 neu herausgegeben, und das ist durchaus ein starkes Stück: Sieburg war der konservative Publizist der Nachkriegszeit, begnadeter Kritiker eines Zeitgeistes, der sich seinerzeit erst warmlief und heute gerade seine Hochtourigkeit aufgibt. Wer sich für Sieburgs dezidiert antilinke Polemiken begeistern kann – und Dorn, Jahrgang 1970, tut es ganz offensichtlich – dessen Schwimmrichtung geht sicher nicht mit dem Hauptstrom. Die Publizistin mag nun von ihrer Sieburg-Arbeit her Gefallen an dieser Idee gefunden haben: Bereits veröffentlichte Aufsätze bündeln, und die unter ein Motto und zwischen zwei Buchdeckel pressen. Dorn jedoch, bei aller hübschen Querköpfigkeit, ist bei weitem nicht so kantig wie Sieburg, dessen Essays sich noch Jahrzehnte später als Offenbarungen lesen. Was die „Fundamentalistin der Aufklärung“ (Dorn über Dorn) 2005 auf einer Reise durch den südafrikanischen Busch über „Beta-Löwen“ (sprich: Profilneurotiker) wie Möllemann oder Lafontaine schreib, liest man heute mit löwigem Gähnen. Ähnlich verhält es sich mit angeblich postfeministischen Forderungen aus Dorns Feder, die Familien endlich vom „patriarchalen Restmief zu befreien“. Patriarchen – wo?! Grundsätzlich ist das Buch eine Mogelpackung. „Ach, Harmonistan. Deutsche Zustände“ titelt es, doch es geht in der Mehrzahl der Texte gar nicht um ein harmoniesüchtiges Volk. Auf der Titelrückseite lesen wir in großen Lettern: Deutschland dümpelt vor sich hin. Thea Dorn regt sich auf. Das wiederum klingt nach Temperamentsausbrüchen und spitzester Feder – auch das ist keineswegs durchgehend der Fall. „Harmonistan“ ist der Autorin ein negatives Etikett. In Deutschland werde allenfalls gezankt, aber nie ordentlich gestritten – jüngst hatte sie auch den Mangel einer tiefgehenden inhaltlichen Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazins Buch beklagt. Die mangelhafte deutsche Streitkultur will Dorn mit dem Bild zweier Spielplatz-Mütter verdeutlichen, die darüber zanken, ob das Luxuseimerchen des einen Kindes nicht automatisch Begehrlichkeiten des anderen, ärmeren Kindes wecke und ob Luxuseimerchen nicht verboten gehörten: Daß es solche Sandkastengespräche nicht gibt, ist der Autorin (die ihre selbstgewählte Kinderlosigkeit häufig thematisiert) entgangen. Thea Dorn: Ach, Harmonistan. Deutsche Zustände. Knaus Verlag, München 2010, gebunden, 253 Seiten, 19,99 Euro So gerät ihr manches Bild vor lauter Fabulierfreude schief. Etwa die Rede davon, daß „wir Deutschen 6 Millionen und mehr Gründe“ hätten, „uns zu schämen“. Oder ihre Forderung – in einem ansonsten schönen Aufsatz über „das Fehlen öffentlicher Intellektueller unter sechzig“ – daß die jungen deutschen Denker vor lauter Abneigung gegen den dauererregten Ton der 68er nicht gleich das „Kind mit dem Dutschke auskippen“ sollten. Jedoch: Jenseits des Mittelmaßes und einer gewissen Vermessenheit finden wir in dieser Aufsatzsammlung etliche gekonnte Formulierungen und manchen brillanten Gedanken. Sehr schön der Essay „Leben unter Vorbehalt“, in dem sie die Infantilitätsmacken ihrer „verwöhnten, gelangweilten und gleichzeitig verängstigten“ Generationsgenossen aufs Korn nimmt, die ihre „Mentalität, ‘sich alle Optionen offenzuhalten’“ als EDITH BREBURDA WILHELM HÜNERMANN Verheißungen der neuesten Biotechnologien 160 Seiten, 17 Farbfotos, Pb., € 39.80, Fr. 55.80 Die gesamte Spannbreite der Anwendungsgebiete neuer Biotechnologien kommen in diesem Buch zur Sprache. Die Autorin setzt sich kritisch mit den Verheißungen der Genmanipulation auseinander. Sie beleuchtet die neuesten Techniken und zeigt deren Konsequenzen für unser Leben sowie die Folgen für Gesellschaft und Umwelt auf. Leicht verständlich und spannend geschrieben, werden dem Leser Einblicke in viele Aspekte ermöglicht: Genmanipulationen haben Nebenwirkungen, die wir in ihrer Gesamtheit noch gar nicht abschätzen können. Warum sind wir bei den inakzeptablen Versuchen, den Genpool und die Umwelt zu manipulieren, nicht aufgewacht, nachdem wir aus Versehen Krankheiten wie BSE erzeugt hatten? Die Autorin ist Biomedizinexpertin und in Madison, der Metropole der US-Stammzellenforschung, tätig. Vitalitätsgewinn verkaufen und damit nur Entscheidungsschwächen verbrämen. Beachtlich auch Dorns Hader mit den gängigen deutschen Intellektuellen, die nicht aufhörten, „im ewigen Antifaschismus, im Anti-Deutsch-Sein zu schwelgen“. Einer der besten hier eingesammelten Artikel titelt „Seichtgebiete“ und stammt von 2008. Frau Dorn geht hier „tatsächlichen und vermeintlichen Tabubrüchen in einer offenen Gesellschaft“ nach. Ein Restbestand an Tabus bleibe unangetastet (namentlich der Holocaust), während der „linke Bürgerschreck mit reger Plastikaxt die letzten Sessel, die vom konservativen Mobiliar geblieben sind“, zertrümmere. Mit Blick auf tönerne Provokationsgötzen wie Charlotte Roche, Lady Bitch Ray, aber auch Alice Schwarzer und ihre „Gönner“ Frank Schirrmacher und Harald Schmidt höhnt Dorn über Löwinnen, die sich „als Bettvorlegerinnen für exakt jene Schlafzimmer“ anbiedern, „die sie angeblich aufmischen“ wollten. Ein Fazit des Bandes ist, daß Thea Dorn heute schneidigere Artikel schreibt als noch vor Jahren. In einem ihrer jüngeren Aufsätze erträumt sie eine Debatte mit der Kanzlerin über Sarrazin, die „Konsumfront“, die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ und den Sinn der Phrase, „Kanzlerin aller Deutschen“ sein zu wollen. „Dann heißt ‘alle Deutschen’“, fragt Dorn Angela Merkel im Traum, „nichts weiter als ‘alle in Deutschland Geschenkberechtigten’? Glauben Sie wirklich, dieses Land zusammenhalten zu können, indem sie jedes Jahr die neueste Spielkonsole unter den Baum legen?“ Und wie das bei geschickten Mehrfachverwertern nun einmal Usus ist, reproduziert diese Buchbindersynthese kaum mehr als zwei Gedanken, die der Autor lediglich wortreich auswalzt. Gross hat nämlich zum einen die ungeheure Entdeckung gemacht, daß die deutsche Gesellschaft, die „Volksgemeinschaft“, während der NS-Herrschaft nach herkömmlichen sozialpsychologischen Gesetzen funktionierte, die jedoch eine spezifische NS-Aufladung und Akzentuierung von Ehre, Unehre („Schande“, „Rassenschande“), Treue und Kameradschaft erfahren hätte. Deren Kern liege in ihrer „antiuniversalistischen Ausrichtung“. Der somit als „völkisch“ und „partikularistisch“ bezeichnete Wertkodex des Nationalsozialismus, so lautet Gross’ zweite These, sei von der ausufernden Nachkriegsdiskussion über „Schuld“ und „Kollektivschuld“ verschont worden, der Analyse und Bewältigung somit entzogen worden. Mit der Folge, daß er selbst noch die Dramaturgie von Bernd Eichingers Filmepos „Der Untergang“ (2004) und letztlich sogar die Mentalität der Bundesdeutschen im 21. Jahrhundert dominiere. „Völkische Moralvorstellungen“, auch von „Naturrechts“-Advokaten wie Fritz von Hippel nicht hinterfragt, wirken also aus Gross’ Perspektive bis in die Gegenwart fort. Die Deutschen, so glaubt er, seien nach wie vor davon überzeugt, für verschiedene Völker gälten verschiedene moralische Normen. Da Gross dies aber zum Axiom der NS-Moral erklärt, steht kaum verhüllt die Anklage im Raum, dem sporadischen Wahl-Frankfurter mute man zu, „unter Nazis“ leben zu müssen. Kinder des Lichtes – Aus der Jugend großer Heiliger V. Yvette Salomon, 658 Rezepte, 432 S., 27 Farbf., Hardcover, € 29.90, Fr. 48.80 5. Aufl., 213 Seiten, 10 Abb., Pb., € 16.80, Fr. 24.80 Im Gedicht eines Teenagers heißt es: «Wir möchten sogar an Gott glauben, an einen unendlich starken, der alles versteht, und der will, dass wir gut sind. ... Zeigt uns für jeden von uns, der Lärm macht, einen von Euch, der im Stillen gut ist; lasst Männer auf uns los, die uns zeigen, wo der Weg ist, nicht mit Worten, sondern mit ihrem Leben.» Genau solche Beispiele bringt der Autor in diesem Buch; hier erzählt er auf spannende Art aus der Jugend großer Heiliger: Aloisius, Prinz von Gonzaga; Gabriel Possenti, ein Tänzer; Theresia von Lisieux, die Jugendheilige von Frankreich; Johannes Bosco, der Bubenkönig von Turin u.v.a. Er zeigt, wie sie die Kraft aufbrachten, sich für das Gute zu entscheiden. Dies könnte für junge Menschen Ansporn sein, sich Gedanken über ihren Lebensweg zu machen. Das Buch ist auch für Erwachsene spannend zu lesen. &+5,67,$1$9(5/$* '6LQJHQ3RVWIDFKZZZFKULVWLDQDFK7HO)D[(0DLORUGHUV#FKULVWLDQDFK