Dostojewskijs Die Brüder Karamasow

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Dostojewskijs Die Brüder Karamasow
Dostojewskijs
Die Brüder Karamasow
Von Sergej Bleicher ([email protected])
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Inhaltsverzeichnis
Seite 3 bis 11 Inhalt und Interpretation der Personen und Ereignisse in fliessender Textform
Seite 12 und 13 allegorische Interpretation des Buches, beziehend auf die Seiten 3 bis 11
Seite 14 und 15 Dostojewskij und Russland
Seite 16 und 17 Zeittafel
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Die Brüder Karamasow
Vorwort
Der Nachfolgende Text ist eine Zusammenfassung des Buches „Die Brüder Karamasow“, der
gleichzeitig eine Interpretation des Buches und der Personen einschließt, um einen fließenden
Text zu schreiben habe ich darauf verzichtet meine Schlussfolgerungen explizit darzustellen,
hierfür entschuldige ich mich, da es nicht immer klar abzusehen ist wo diese sind.
Nun ja,
das vorliegende Buch „Die Brüder Karamasow“ ist der letzte große Roman Dostojewskijs,
mit dem er 1878 seine vor dreizehn Jahren mit Schuld und Sühne begonnene Romanreihe
abschließt, die den Kern seines Schaffens bilden. Die Brüder Karamasow ist ein
Kriminalroman von dem perfekten Verbrechen, einem Mord dessen Täter ein anderer
beschuldigt wird, der Roman ist aber auch, für sich betrachtet, die Darstellung eines einzigen
Menschen und seines inneren Kampfes um das Gute. Dostojewskij erzählt sein Werk aus der
Darstellung eines persönlichen Bekannten, der die Agierenden vorstellt. Aus einer zeitlichen
Distanz von dreizehn Jahren, werden von dem allwissenden Erzähler, die Ereignisse weniger
Tage beschrieben, ein solches Zusammentreffen wichtigster Ereignisse im Leben der
Hauptpersonen, ist typisch für Dostojewskijs Werke.
Der Roman Dostojewskijs spielt in einer russischen Provinzstadt, genannt Skotoprigonjewsk
übersetzt etwa „Viehofen“. Nun lebte in dieser Stadt um etwa 1866 ein Mann, Fjodor
Pawlowitsch Karamasow, er war ein reicher Gutsbesitzer, ein Gutsbesitzer der nur wenig Zeit
seines Lebens auf seinem Landgut verbracht hatte. Fjodor Pawlowitsch gehörte zu jener
besonderen Art von Menschen, die keineswegs dumm sind, doch bis auf wenige Sachen hin
unverständlich zu sein scheinen, zu welchen gehörten zweifellos die finanziellen Dinge, er
hatte als junger Mann mit nur sehr wenig Land angefangen und führte das Leben eines
Schmarotzers, war oft ungeladener Gast bei Familienessen, als er starb besaß er ein Vermögen
von etwa hunderttausend Rubel in bar, was seine große Menschenkenntnis und
Verhandlungskunst beweist. Zu den Dingen die ihn interessierten gehörten auch Frauen, ja
man kann sogar sagen dass die Frauen wohl sein größtes Interesse waren und den meisten Teil
seiner Aufmerksamkeit beanspruchten, das äußerte sich in großen Orgien die bei ihm im Haus
geführt wurden, sogar in den Jahren in denen er verheiratet gewesen war. Fjodor Pawlowitsch
war zwei mal verheiratet, die erste Ehe schloss er mit Adelaida Iwanowna Muisowa, einer
Schönheit aus dem Adelsgeschlecht der Muisows, die ebenfalls Landbesitzer waren, wie er zu
einer solch feinen Dame gelangte ist verschwiegen, doch sehnte er sich zu der Zeit nach
einem gesicherten Leben, zudem war eine üppige Mitgift sehr verlockend für ihn. Mit
Adelaide Iwanowna hat er ein Kind gezeugt, Dimitrij, trotz des Kindes konnte die Ehe
zwischen ihnen nicht lange halten, wo doch der Ehestand weder mit Liebe seitens Fjodor
Pawlowitsch noch seitens seiner Gattin beschritten wurde. Bereits früh sah Adelaida
Iwanowna dass sie für ihren Mann nur Verachtung empfinden konnte, sogar Schlägereien
zwischen den beiden Eheleuten waren des Öfteren vorgekommen, wobei nicht Fjodor
Pawlowitsch schlug sondern Adelaida Iwanowna die heißblutige, mutige, und oft ungeduldige
Frau als erste Ohrfeigte. Nach vier Jahren Ehe kehrte dieses Frauenzimmer Fjodor
Pawlowitsch und seinem Hof den Rücken und brannte mit einem armen Lehrer durch,
überlies den kleinen Mitja dem Vater, und siedelte noch immer verheiratet nach Moskau über.
Man kann sich vorstellen was Fjodor Pawlowitsch für ein Vater für den kleinen Dimitrij
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gewesen sein muss, den kaum war seine Frau weg, schaffte er bei sich im Haus ein ganzen
Harem an, wo leichte Frauengestalten herein- und herausgingen, und während er aus seinem
Heim eine Sündenholle machte erzählte er selbst in hohen Gesellschaften, wie ihn seine Frau
doch gequält hatte, erzählte Einzelheiten aus dem Eheleben, die jedem anständigen Mann
peinlich wären in den Mund genommen zu werden. Um das dreijährige Kind kümmerte sich
zeitweilig Gregorij Wassilijewitsch, der ergebene, vielleicht etwas dummhafte, Diener Fjodor
Pawlowitschs, mit seiner Frau Marfa, die beide im Nebengebäude im Hof wohnten, welches
Fjodor Pawlowitsch mit der festen Überzeugung, dass niemand bis auf die engsten
Verwandten und natürlich auch den Gästen im Haus übernachten durfte, im Garten bauen lies,
auch wenn er dadurch manchmal ganz allein im Haus gewesen ist, oder vielleicht gerade
deswegen. Grigorij nahm sich also vorerst des kleinen Kindes an. Und erstaunlicherweise
schien auch die Verwandtschaft mütterlicherseits den Kleinen vergessen zu haben, den erst
nach einem Jahr meldete sich ein Neffe Adelaida Iwanownas, ein junger Mann von guter,
liberaler Bildung, und nahm Mitja nach Moskau mit, wo dann die Verantwortung eine Tante
zweiten Grades übernahm, die schließlich auch starb, und Mitja zu einer ihrer Töchter kam,
die ebenfalls in Moskau ansässig war. Den Vater schien der Aufenthalt seines Sohnes kaum
zu kümmern, er schien sogar ihn ganz vergessen zu haben, wie auch seine Gattin, den er und
Adelaida Iwanowna waren immer noch verheiratet, nach einer längeren Zeit jedoch, besinnte
Fjodor Pawlowitsch sich seiner Reue gegenüber der Ehegattin, und machte schon Anstalten
nach Moskau zu fahren, um sich wenigstens im Guten von ihr zu trennen, doch erfuhr er
plötzlich per Telegram von ihrem Tod. Als er dies vernahm überströmte ihn große Freude,
nicht wegen des Todes seiner Frau, für den empfand er Mitleid, er freute sich über die gelöste
Bindung.
Kaum war einige Zeit ins Land gegangen, heiratete Fjodor Pawlowitsch wieder, auch seine
zweite Frau war eine junge Schönheit, mit der er sich auf einer Geschäftsreise in einem
anderem Gouvernement bekannt gemacht hatte, jedoch war Sofia Iwanowna von einem ganz
anderem Charakter als Fjodor Pawlowitschs erste Gemahlin, sie war eine ruhige, gutherzige,
sanfte Persönlichkeit, stark in ihrem Glauben. Die zweite Ehe hielt acht Jahre, doch wäre sie
wahrscheinlich gar nicht zu Stande gekommen, hätte die sechzehnjährige damals schon
gewusst dass sie aus einer Knechtschaft in ein andere wechselte, sie wohnte nämlich als
Weisenkind bei einer Wohltäterin, einer strengen Generalin bei der sie immer
Zurechtweisungen hatte erleiden müssen. So war die Heirat ihre erst-beste Gelegenheit um
aus diesem Hause zu kommen. Fjodor Pawlowitsch behandelte seine zweite Gattin nicht einer
Ehefrau würdig, wegen ihrer Sanftheit trat ihre Rechte mit beiden Füssen, und lud sogar, in
den späteren Jahren der Ehe, leichte Frauen in Sofia Iwanownas Anwesenheit in ihr Haus ein,
solch ein großer Lüstling war dieser Fjodor Pawlowitsch gewesen. In solchen Momenten
betete Sofia Iwanowna immer, und einmal wurde Fjodor Pawlowitsch sogar auf das beten
seiner Frau wütend, er zerschlug die Ikonen Marias und Christies, und da erkrankte sie an
einer psychischen Krankheit, die sich durch hysterische Anfälle äußert, und die Betroffene
sogar zeitweilig den Verstand verlieren kann, genannt wird diese Krankheit Klikuschki, was
übersetzt „Schreierinnen“ bedeutet. Aus dieser Ehe gingen zwei Kinder hervor, Iwan, im
ersten und Alexej, im vierten Jahr der Ehe ebenso wie Dimitrij vor ihnen, wurden sie von dem
Vater nicht beachtet, und als dann im achten Jahr der Ehe die Mutter starb, wurden die beiden
von der Generalin, die die Ehe beobachtete, und sogar nach dem Tode Sofia Iwanownas noch
immer Nachtragend dafür war, dass Sofia Iwanowna sie damals verlassen hatte - sie sagte das
der Tod ihr zurecht gekommen sei -, nahm aber die zwei Kleinen an sich. Als die Generalin
kurz darauf starb, hinterlies sie Iwan und Alexej je ein tausend Rubel für ihre
Schulausbildung. Das Geld legte man mit Zinsen an, so wuchs es bis es benötigt wurde, auf
zwei tausend. Iwan finanzierte später mit diesem Geld eine Auslandsreise nach Europa
während seines Studiums. Mit dreizehn Jahren bereits erkannte man in Iwan einen sehr
intelligenten Menschen, so wurde damals nach Moskau gebracht zu einem bekannten
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Pädagogen, während Alexej in Obhut eines guten Bekannten, und des Haupterben der
Generalin blieb. Dieser Mann, Jefim Petrowitsch Polenow, war der GouvernementAdelsmarschall, er schloss den kleinen Aljoscha so in sein Herz, dass er ihn in seiner eigenen
Familie aufwachsen und erziehen lies. Iwan hingegen musste für seinen Lebensunterhalt
selber sorgen. Trotz der zweitausend Rubel arbeitete Iwan neben dem Studium an der
Akademie der Naturwissenschaften, meist für eine Zeitung, verfasste kleine amüsante
Berichte die schnell unter den Verlagen begehrt wurden, später verfaste er ganze Artikel wie
über die Gerichtsbarkeit der Kirche.
Nach dem Tode Sofia Iwanownas unternahm Fjodor Pawlowitsch Reisen durch Russland,
blieb schließlich für eine lange Zeit in Odessa, in Südrussland, wo er Bekanntschaften mit
Juden schloss, finanzielle Dinge sich aneignete, die Mädchen allerdings, vergas er dabei nicht.
Erst etwa drei Jahre vor der trefflichen Ankunft seiner Söhne, vorerst Aljoschas, kehrte er in
das Städtchen zurück.
Als drei Jahre später Aljoscha zu seinem Vater zurückkehrte, zeigte sich Alexej ein Mann, der
sichtlich über sein Alter gealtert ist, das Gesicht Fjodor Pawlowitschs wirkte rundlich,
aufgedunstet und fett, überhaupt war Fjodor Pawlowitsch klein vom Wuchs, wirkte jedoch
nicht untersetzt, zusammen mit seine gebrochener Nase und seinem herabhängenden,
wulstigen Adamsapfel verlieh ihm sein Äußeres ein Markantes, doch alltägliches Aussehen,
vielleicht nicht unbedingt das eines typischen russischen Geschäftsmannes, er sah eher aus
wie ein „römischer Patrizier der Verfallszeit“ wie er es selber ausdrückte, doch will ich mich
nicht zu lange an dieser Stelle aufhalten. Alexej machte auf Fjodor Pawlowitsch einen tiefen
Eindruck, vielleicht ist „Eindruck“ hier das falsche Wort, Aljoscha schien in ihm wieder
etwas zu beleben, was schon seit langem in ihm verstorben zu sein schien. Fjodor
Pawlowitsch lies sich in den drei Jahren, in denen er wieder in der Stadt wohnte oft gehen,
war oft zerstreut, brachte seine Sachen, die er angefangen hatte, oft nicht zu ihrem Abschluss
und betrank sich immer mehr, wenn man gesteht, eigentlich jeden Abend, doch seit Aljoscha
bei ihm im Haus wohnte besann er sich wieder auf das Familienleben, nicht das die
Frauenbesuche im Haus aufhörten, doch wurde Fjodor Pawlowitsch sentimentaler.
Während Aljoscha bei seinem Vater, in seiner Geburtstadt, wohnte, schien er über
etwas nachzudenken, ging oft an das Grab seiner Mutter, bis er auf einmal seinem Vater
entschlossen bekundete, er wolle in das Kloster eintreten, und die Mönche wollten ihn schon
als Novizen aufnehmen. Sichtlich erstaunt war Fjodor Pawlowitsch in diesem Augenblick
dass sein „ruhiger“ Junge sein Inneres gefunden und bestätigt zu haben schien, und lies seinen
jüngsten den Weg gehen den er sich gefunden hatte, allerdings währe Fjodor Pawlowitsch es
auch nie in den Sinn gekommen seinen Sohn von seinem Weg abzubringen, höchstens einen
Ratschlag geben, wollte er. Alexej trat daraufhin in das Kloster ein, sein Lehrer und geistiger
Vater wurde Starez Sosima, den die ganze Familie noch kennenlernen sollte, und auf den ich
noch gleich zurückkommen werde. Und obwohl Alexej jetzt wusste das alles was er in seinem
Herzen gefühlt hatte richtig war, war er jedoch nicht als Mensch gefestigt, aber wer kann dies
auch mit 19 Jahren von sich behaupten?
Mit Iwans Ankunft in der Stadt war die Familie Karamasow versammelt, den Dimitrij war
schon seit einiger Zeit dort, wohnte aber nicht bei seinem Vater, würde der siebenzwanzigjährige Sohn bei Fjodor Pawlowitsch wohnen, würden bestimmt sehr brisante Situationen
entstehen, denn Dimitrij lag mit seinem Vater schon seit Jahren im Streit wegen eines
Landstückes, welches ihm seine Mutter hinterlassen hatte, Fjodor Pawlowitsch es jedoch sich
zu eigens gemacht hatte. Das Landstück muss ein Wert von etwa fünfundzwanzigtausend
gehabt haben, doch Fjodor Pawlowitsch lies keine einzige Kopejke von diesem Geld sehen,
bloß gab er seinem Sohn immer wieder Geld in Kredit, wenn Dimitrij ihn schon handfest
bedrohte. Man könnte meinen dass Dimitrij wohl das Geld wohl bekämme wenn er mit dem
Fall vor das Gericht gezogen wäre, doch verstand Dimitrij Fjodorowitsch nichts von solchen
Dingen, das heißt er wollte es nicht verstehen. Für ihn waren Advokaten ein niederträchtiges
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Volk, er konnte schlichtweg mit solchen nicht reden, denn er wurde immer von dem
Analysieren eines Tatbestands, zersetzend dessen in die kleinsten Teile, verwirt und fühlte
sich schließlich wie ein kleines Kind, wenn man dann ihm eine Folgerung aus diesem
aufredete, die er nicht verstand. Auch war das Geld für Dimitrij nur eine Nebensache ohne die
man aber nicht Leben könne. Man hörte in der Stadt die Leute sagen, Dimitrij Fjodorowitsch
verstünde nicht das Geld beisammen zu halten, man erzählte sich wie er vor einem Monat im
Gasthaus von Mokroje, bei einem Gelage, dreitausend ausgegeben habe.
Außer dem Geld gab es zwischen Vater und Sohn eine noch vielleicht imenz wichtigere
Streitfrage, nämlich die der Frauen. Denn Dimitrij war in eine besondere Frau verliebt,
Agrafena Alexandrowna, Gruschenka. Einzig wenn er ihren Namen hörte, schlug sein Herz
aus der Brust heraus, und er erlaubte keinem diesen Namen ohne Grund auszusprechen, als ob
er sich abnutzen würde. Nun kannte diese Schönheit aber auch Fjodor Pawlowitsch, und ob
Sie es glauben oder nicht, wollte dieser lüsterne Alte Gruschenka bezahlen damit sie zu ihm
kommen würde, dreitausend Rubel wollte er ihr geben, jeden Abend ging er, in großer
Hoffnung, bis in die Nacht hinein in seinem Zimmer umher, schaute aus dem Fenster und
kippte nervös ein Gläschen Kognak nach dem anderen.
Die Eifersucht, die Mitja empfand, würde es vielleicht nicht geben, wenn Gruschenkas Herz
nicht schon einem anderen gehört hätte, einem polischen Offizier, in den sie sich als siebzehn
jähriges Mädchen verliebt hatte, der aber, nachdem er Gruschenka verführt hatte, geheiratet
hatte und mit der Frau weggezogen war. Fünf lange Jahre waren, seit ihr Peiniger davon
gefahren war, für Gruschenka vergangen, und noch immer konnte sie nicht anders als ihn zu
lieben. Die Leute aber in der Stadt tratschten, sie sei wegen ihres Geldes zickig, und wolle
Dimitrij Fjodorowitsch nur zugrunde richten. In Wahrheit aber, hatte Gruschenka dem Mitja
von diesem Offizier, der ihr vor fünf Jahren Lieder vorgesungen hat, erzählt, nicht aber dass
ihr Herz noch immer erbebte wenn sie an ihn dachte. Ob Fjodor Pawlowitsch die ganze
Geschichte von diesem polnischen Offizier kannte, weiß ich nicht, doch könnte ich es mir
nicht vorstellen dass dieser Lüstling von Gruschenka ablassen würde.
Noch einen weiteren Groll hatte Mitja mit den Frauen, war er doch mit Katharina Iwanowna,
einer reichen Erbin, verlobt. Nicht dass man denkt, Dimitrij Fjodorowitsch hätte kein
Gewissen, ganz im Gegenteil, doch er hat Katharina Iwanowna nie geliebt, und sie ihn auf
eine Weise, welche man vielleicht nicht Liebe nennen würde sondern eher eine Art von
aufersetzter Ehrfurcht gemischt mit verletztem Stolz, es schien so als ob sie etwas zu
beweisen hätte, denn Katharina Iwanowna und Dimitrij Fjodorowitsch lernten sich bei einem
gewissen Tatbestand, den ich nicht ganz erläutern möchte, kennen. Tatsache war damals, dass
gegen Katjas Vater, der Verdacht der Geldveruntreuung bestand, viertausendfünfhundert
Rubel, haben damals in der Kasse gefehlt, ihr Vater aber, er war ein ehrwürdiger, schon alter
Mann, hat das Geld bei Pferderennen verspielt, und hatte kein verfügbares Bargeld mehr. Und
als letzten Ausweg sah man damals, das Geld von einem Bekannten, Dimitrij Fjodorowitsch,
zu leihen. Nun der hatte zu der Zeit wirklich soviel Geld in Kredit bi dem Vater bekommen,
und als man ihn um das Geld bat, war er bereit es zu geben, und sagte die schöne Tochter,
Katharina, solle das Geld am Abend abholen. Natürlich hatte man den Wunsch des
Karamasow verstanden, und wollte Katja davon nichts wissen lassen, doch die bestand darauf
solange, bis sie es schließlich erfuhr. Am Abend dieses Tages, kam Katharina Iwanowna in
das Kwartier Dimitrij Fjodorowitschs, und klopfte leise an. Mitja hatte seine beste Kleidung
angezogen, doch als er sie sah, bereit sich für ihren Vater hinzugeben, erfühlte ihn ein Hass
gegen diese wunderschöne Gestalt, die vor ihm stand, ein Hass der am Abgrund einer
unüberwindbar tiefen Liebe stand, dass er barsch, ohne einen Ton zu sagen, zu dem
Schreibtisch ging, fünftausend Rubel herausnahm und Katja in die Hand drückte, und sie mit
einem Blick wegschickte. Die Anklage gegen ihren Vater wurde, wegen des plötzlich
aufgetauchten Geldes, fallengelassen. Dimitrij bekam das Geld drei Monate später vollständig
zurück, doch sah er Katharina Iwanowna für ein halbes Jahr nicht mehr, erst als sie nach
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Moskau fuhr, bekam er von ihr einen Fetzelchen Papier auf dem nur stand, dass sie ihm aus
Moskau schreiben werde. Dimitrij fuhr ihr nach, doch bevor Dimitrij erkennen konnte, dass
Katja ihn nicht liebte, sondern, ihn mit ihrer Überspanntheit, für den damaligen Abend um
Verzeihung bat, verlobten sie sich. Erst als Mitja auf Gruschenka traf, wurde es schlagartig
bewusst, dass es keine Liebe war, die er für Katja empfand. Damals, mit Gruschenka, gab er
in einer Nacht soviel Geld aus dass man auch heute noch, einen Monat später, die Leute
davon sprechen hörte, besonders, weil man meinte das Geld habe er von Katja gestohlen. Oh!
das Geld, dieses Geld bekam Mitja tatsächlich von Katharina Iwanowna, doch war es ein
Geschenk an ihn, wusste sie doch, dass er niemals von ihr Geld annehmen würde, so gab sie
ihm, als sie sah, dass er vor Armut stank, unter dem Vorwand er solle das Geld zur Post
bringen dreitausend Rubel, ohne Zweifel hätte sie das Geld auch selbst dorthin bringen
können, dachte sich später Dimitrij. Naja, Mitja riss den Kuvert auf und nahm das Geld, wie
schon erwähnt, an sich... .
Und es gibt noch eine Tatsache um Katja, welche sie wegen ihres Stolzes nicht annehmen
konnte, und ich deshalb erwähnen sollte: das aufrichtige Begehren ihrer von Iwan
Fjodorowitsch. Doch statt ihm in die Augen zu schauen, um in ihnen Liebe zu entfachen,
kommandierte sie ihn herum.
Iwan lebte die Zeit über bei Fjodor Pawlowitsch im Haus und wurde von Gregorij genauso
bedient wie der Hausherr selbst, ach ja, zu den Beinsteten gehörte bis auf Grigorij und seiner
Frau Marfa noch ein Mann, Pawel Smerdjakow. Wie Paul Smerdjakow zu Fjodor
Pawlowitsch kam, ist eine heikle Geschichte von der ich nur das nötigste berichten will: von
der Mutter Pawel Smerdjakows, weiß man dass die eine stadtbekannte, obdachlose
Geistesgestörte war genannt Lisawetta Smerdjatschnaja, Lisawetta, die stinkende, doch trotz
ihres Namens und der Tatsache weshalb er ihr gegeben worden war, war sie bei den Leuten in
der Stadt willkommen und gern gesehen, war sie doch friedlich und sanftmütig, bis auf einmal
Lisawetta schwanger wurde. Man fragte sich damals wer wohl der schamlose Vater des
Kindes sei, den Lisawetta vermochte nicht zu sprechen, und irgendwie muss es damals über
Gerüchte in der Stadt durchgesickert sein das Fjodor Pawlowitsch, als er betrunken mit
Freunden nach hause ging und sie auf Lisawetta getroffen haben, der Vater geworden sein,
Fjodor Pawlowitsch wehrte sich gegen diese Behauptungen und Anschuldigungen
entschieden. In dem darauffolgenden Winter, stieg die vom Wuchs her untersetzte Lisawetta
Smerdjatschnaja, mit dem Kinde im Bäuchlein, über den hohen Zaun Fjodor Pawlowitschs
und gebar vor Gregorijs Augen im stehen das Kind. Lisawetta starb jedoch bei der Geburt,
sodass das Kind von Gregorij auf erzogen wurde. Man taufte den Jungen auf den Namen
Pawel, und als Vaternamen, setzten alle ganz von selbst Fjodorowitsch hinzu, der hatte nichts
dagegen und fand das sogar irgendwie drollig. Smerdjakow, so nannte ihn der mutmaßliche
Vater nach dem Namen seiner Mutter, war sehr still, nicht das er schüchtern oder in großem
Maße in sich verschlossen war, er redete nur nicht viel, schien aber doch immer über etwas
nachzudenken, etwas heimtückisches vielleicht, und war anderen manchmal unheimlich, und
oft unwillkommen. In seinem Inneren verachtete Smerdjakow die Menschen, sogar die ganze
Menschheit, doch besonders Russland. Was ihn zu so einem tiefen Hass bewegt hatte, vermag
ich nicht zu sagen, doch weiß ich, dass er in seiner Kindheit von Gregorij für sein rüpelhaftes
Verhalten verprügelt worden ist, einmal sogar so stark, dass bei Smerdjakow am Tag darauf
Epilepsie äußerte. Nun Smerdjakow konnte gut kochen und wurde deshalb von Fjodor
Pawlowitsch eingestelt. Als Iwan Fjodorowitsch aus Moskau anreiste entdeckte wohl
Smerdjakow in ihm eine Art Menschen, mit denen es sich lohnen würde zu unterhalten, vor
allem hörte er aber nur zu.
Das Kloster der Stadt, in das Aljoscha eingetreten war, war im weiten Umkreis durch die
Starzen bekannt, ein Starez war etwas besonderes in der orthodoxen russischen Kirche, er war
so etwas wie der Älteste, der weiseste, was „Starez“ auch eigentlich heißt, doch war er nicht
der Führer des Klosters und auch nicht der das geistige Oberhaupt. Nun, das Kloster wurde
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mit den Starzen zu einem Wallfahrtsort, den früher hatte es sonst keine rühmlichen Dinge,
weder ein großartiges Klostergebäude, noch wurden in ihm heilige Reliquien aufbewahrt.
Starez Sosima wurde schon zu seinen Lebzeiten wie ein Heiliger verehrt. Wenn er sprach
hörte sofort jedes Gemenge von Menschen auf zu reden, und sie hörten ihm zu, und besonders
unter den alten Weibern hörte man sagen er sei ein Wundervollbringer. Oft kamen Weltliche
zum Starez in die Einsiedelei, man sah ihnen den Kummer in den Augen an, wenn sie jedoch
vom Starzen Abschied nahmen, schauten viele von ihnen wieder froh drein, als ob er ihnen
tief ins Herz geschaut hatte und durch wenige Worte die Menschen aus ihren Problemen, aus
denen sie alleine nicht heraus zu kommen vermochten, eine Richtung aufzeigte. Starez
Sosima war schon ein bejahrter Mann und war seit einer längeren Zeit krank. Er war durch die
Krankheit sehr schwach geworden und man befürchtete im Kloster sein baldiges Ableben,
was besonders Aljoscha nicht wahrhaben wollte. Über die Zeit hin ist seine geistige
Verknüpfung mit dem Starez so gewachsen, dass er nicht wusste wie er sein weiteres Leben
gestallten sollte, wenn das Undenkbare geschehe, „Du musst hinausgehen in die Welt, musst
heiraten und Kinder kriegen, und du wirst ein guter Mensch werden“, sagte der Starez Sosima
einmal zu ihm. Der Starez, hatte wegen seines liberalen Glaubens im Kloster einige Gegner,
dieser Glaube hatte als Fundament die rationale Aufrichtigkeit, der Starez hatte viel
Lebenserfahrung, war doch in seiner Jugend Offizier, und hatte in seinem Leben mit vielen
Menschen zu tun, und viele Schicksale verfolgt, er vermochte gutherzig den Menschen zu
mustern, sah seinen Werdegang im Voraus. Er sagte das die Lüge und die Heuchelei, seien sie
auch so klein sowohl gegenüber anderen als auch gegenüber sich selbst, die Schlange ist die
den Menschen verführt das Paradies zu sehen. Und er glaubte an die Menschen, er sagte dass
die Menschheit gar keine andere Wahl hätte als gut zu werden, das Gefühl nach Liebe das in
jedem von uns steckt ist weitaus größer als jeder andere Drang. In seinem Glauben verurteilte
er den Vatikan, „Die Kirche zu einem Staat wandeln ist die dritte Versuchung des Teufels“
sagte er, und ich muss sagen dass ich hier mit ihm völlig übereinstimme. Tatsache ist dass als
im dritten Jahrhundert nach Christi, das Römische Imperium christlich wurde, es die Kirche in
sich einschloss und doch ein heidnisches Reich blieb. Die Kirche in ihm wurde in ihm ein
Segment, sie veränderte sich, wurde sesshaft und politisch. Das Papsttum trat auf: ein
Oberhaupt in der Kirche – wozu? habe ich mich immer gefragt, grenzt dies nicht an
Heuchelei?, denn die Kirche steht unter den Menschen nicht über ihnen, sie ist ein Instrument
den sich jeder bedienen kann um als Individuum zum Glauben zu kommen. Mit dem
Papsttum griff die (heut. kath.) Kirche nach weltlicher Macht, strebte und strebt bis heute
noch die Welt zu regieren, dabei sollte es genau umgekehrt sein, jeder Staat sollte seine Ziele
verwerfen und nur die der reinen Kirche annehmen, was einen solchen Staat keineswegs
entehren würde, er würde in höchstem Maase dem Menschen dienen. „Das Licht der Welt
wird aus dem Osten kommen“ pflegte der Starez zu sagen.
Der alte Karamasow, kannte den Starez, und gab zum Anschein er sei die Streitigkeiten mit
seinem Sohn leid, zumindest in den finanziellen Sachen, so schlug Aljoscha leichtfertig vor,
sich beim Starez, in der Einsiedelei zu versammeln, doch kaum hatte der Alte an dem
besagten Tag seinen Sohn erblickt, wollte er auch nicht mehr in irgendeiner weise verhandeln,
statt dessen gab es ein Konzert, ja sogar ein Skandal, genau das war es was Aljoscha im
nachhinein befürchtet hatte. Fjodor Pawlowitsch fing an vor dem körperlich geschwächten
Starez den Hanswurst zu spielen, und zu behaupten, alle seien gegen ihn, also habe er noch
mehr das Recht dazu. Tatsächlich aber, hatte wahrscheinlich bisher kein einziger Mensch, und
sei es auch der dümmste Bauer, der in diesen Räumlichkeiten je gewesen sein mag, gewagt
diesen Ort so zu entehren. Der Starez Sosima, allerdings, saß auf seinem Stuhle da, und sagte
kein Wort, er sah dass Fjodor Pawlowitsch ein solcher Mensch war, und wurde nicht
ärgerlich, er sah auch den aufrichtige Wut und den Zorn Dimitrij Fjodorowitschs über den
Vater, und plötzlich stellte sich der Starez, ohne etwas zu sagen auf seine schwachen Beine,
und machte eine Gäste, über die im Nachhinein, viel gerätselt wurde und ihr schließlich etwas
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wahrhaftiges und mysteriöses zugesprochen wurde: Der Starez stand auf, und ging, gestützt
von Aljoscha, vor Dimitrij Fjodorowitsch, und mache schließlich ein Fußfall vor ihm, bis auf
den Boden, sodass die Stirn auf dem Holz aufschlug. Wie gesagt, es wunderten sich alle
Anwessenden sehr und fragten leise den Nachbarn was das zu Bedeuten habe. Dostojewskij
verurteilt Dimitrij hier schon im Voraus auf seine allegorische Schuld am Mord seines Vaters.
Schließlich gingen alle betrübt und zornig auseinander, besonders Aljoscha, dessen
Befürchtungen, dass sich sein Vater nicht im geringsten verständlich gezeigt hatte, vollem
Masse eingetroffen waren, war sehr traurig. Dimitrij war zornig aus der Zusammenkunft
gegangen, er hatte nicht weiter über den Fußfall des Starez nachgedacht, er zürnte vor allem
das sein Vater, solch ein Widerling, bei seiner Gruschenka, sein Rivale war. Oh ja, Dimitrij
hatte große Angst und war schrecklich eifersüchtig nach allen Seiten. Der Gedanke seinen
Vater mit Gruschenka zu sehen rührte in ihm ein Widerwillen auf den er nicht kontrollieren
konnte. Dimitrij wollte in solchen Momenten den Alten erschlagen, und Fjodor Pawlowitsch
wusste davon, viele wussten es, deshalb pflegte Fjodor Pawlowitsch sich immer einzusperren
und nur abends die Türe zu öffnen wenn er ein bestimmtes Zeichen von Smerdjakow klopfen
hörte, welches – und das ist typisch für Smerdjakow – er sofort an Dimitrij verraten hatte, den
er fürchtete dass Dimitrij in seinem Zorn auch ihn erschlagen könnte.
Alleine Iwan ging erhobenen Herzens aus der Zusammenkunft, hatte doch der Starez ihm
seinen Weg bestätigt, und ihm auferzeigt, dass Iwan mit seinem Herzen einen guten Weg
geht. Denn Iwan kann nicht die Augen vor der Realität der Welt verschließen, er sieht dass
das Leid der Welt groß ist. Wie kann ein liebender Gott, eine solche Welt zulassen, in der
Unschuldige leiden müssen?, in der Kinder leiden können, Kinder, solange sie nicht das
siebente Lebensjahr erreichen, sind völlig unschuldig, sie kennen den Unterschied zwischen
Gut und Böse nicht, sie können nicht denken einem anderen Menschen Leid beizubringen. Ich
will hier ein Beispiel aus dem Buch nehmen: Es war in der düstersten Zeit der
Leibeigenschaft, noch am Anfang des Jahrhunderts, gab es einen General, mit guten
Beziehungen, der auch ein steinreicher Gutsbesitzer war, aber zu jenen Leuten gehörte die,
wenn sie in den Ruhestand traten, fast überzeugt waren, dass sie sich das Recht über Leben
und Tod ihrer Untergebenen Verdient hätten. Solche gab es damals. Nun, dieser General lebt
auf seinem Gut, einen Gut von zweitausend Seelen, tut groß, behandelt seinen kleineren
Nachbarn, als wären sie seine Schmarotzer. Er besitzt eine Meute aus Hunderten von Hunden,
fast hundert Hundewärtern, alle tragen sie Uniform, und sind beritten. Und nun wirft eines
Tages ein erst acht jähriger kleiner Junge, der Sohn eines Leibeigenen, beim Spielen einen
Stein, und verletzt den lieblings Jagdhund des Generals am Bein. ,Warum hinkt mein
Lieblingshund?’ , fragt der General. Man meldet ihm, das der kleine Junge einen Stein
geworfen und den Hund am Bein verletzt habe. ,Ah, du warst das’, sagt der General und
mustert ihn von oben bis unten, ,greift ihn!’, brüllt der General. Die ganze Nacht über saß der
Junge im Arrestlokal. Am nächsten Morgen, kaum ist es hell geworden, will der General, im
vollen Staat zur Jagd reiten. Er setzt sich aufs Pferd, umringt von seinen Schmarotzern, den
Hundewärtern und Jägermeistern, die alle beritten sind, und den Hunden. Das ganze
Hofgesinde ist versammelt, und vorn vor allen anderen steht die Mutter des schuldigen
Knaben. Man führt den Knaben aus dem Arrestlokal heraus, es ist eine düsterer, kalter,
nebeliger Herbsttag, prachtvoll zur Jagd. Der General befiehlt, den Knaben zu entkleiden, das
Kind wird ausgekleidet, es zittert, ist vor Angst von Sinnen, und traut sich nicht zu mucksen.
,Hetzt ihn!’ Kommandiert der General. ,Lauf, Lauf!’ rufen die ihm Hundewärter zu, und der
Knabe läuft... ,Ihm nach!’ brüllt der General, und lässt die ganze Meute der Windhunde auf
ihn los. Vor den Augen der Mutter hetzt er das Kind zu Tode, und die Hunde reißen ihn in
Stücke!... Wenn der Preis der Freiheit der Menschen das Leid eines einzigen Kindes und
seiner Mutter wäre, wie könnte ein liebender Gott dann eine solche Welt erschaffen, welcher
Mensch könnte in einer solchen Welt leben? ,Ich will die Freiheit nicht, ich will jemanden der
mir Brot gibt’ sagt der Mensch in seiner Verzweifelung, den er sieht, das alles was er anpackt
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zu Stein wird, wir sehen aktuell die BSE Krise, und den Nord-Süd Konflikt vor uns, hätte
Jesus damals, in der Wüste, die Versuchungen des Teufels angenommen, so hätte er alle
Macht über die Menschen haben können, die Menschen wären ihm zu Füssen gelegen und
hätten getan, was er von ihnen verlangte. Doch Jesus lehnte diese Art von Macht ab und
antwortete: „Der Mensch lebt nicht von Brot allein!“. Und plötzlich sehen wir das Leid Gottes
vor uns, mit dem die Freiheit des Menschen erkauft wurde, und es glüht in unserem Herzen
auf: ‚Ich werde hart arbeiten Herr, ich werde mein Brot verdienen, und ich werde Dich
preisen, denn Gerecht bist Du!’.
Am nächsten Tag war der alte Hanswurst guter Laune, den Iwan Fjodorowitsch wollte wieder
nach Moskau abreisen, so dachte sich der Lüstling, dass nun Gruschenka wohl endlich zu ihm
ins Haus kommen werde. Als Iwan in der Tür stand und die Troika vorgefahren war, machte
sich Fjodor Pawlowitsch sogar Anstalten den Iwan zu umarmen, und ihn zu küssen, doch der
erkannte es noch rechtzeitig genug, um seinen Vater die Hand in den Weg zu strecken, der
alte drückte die Hand. Iwan verließ die Stadt mit gespaltenem Herzen, er war froh darüber,
dass er Katharina Iwanowna, die ihn immer noch schikanierte, in Anwesenheit Aljoschas und
ihrer Vermietern gesagt hatte, welche Gefühle er zu ihr empfunden hatte, ja er war sogar
etwas stolz darauf es ihr so direkt gesagt zu haben, denn er vergas nicht sie auf ihre Fehler
hinzuweisen. Er hatte das so direkt gemacht, dass sie sogar einen hysterischen Anfall
bekommen hatte. Nun war er froh über die gelöste Bindung, den er sah ein, dass sie nie
zugeben hätte zugeben können, dass sie ihn liebte, und soviel Zeit hatte Iwan Karamasow,
nun wirklich nicht. Andererseits quälte ihn ein Schmerz, ein Ungewissen, nach einem
Gespräch, das er gestern mit Smerdjakow geführt hatte, bei diesem Smerdjakow stimmt etwas
ganz und gar nicht in seinem Kopf, dachte sich wohl Iwan Fjodorowitsch nach dem Gespräch,
das er in Ungeduld abbrach. Nun dieser Smerdjakow sagte Iwan, ganz eindringlich,
unmissverständlich, und mit Ernster Miene, werde morgen, also heute, einen Epilepsieanfall
bekommen, nachdem er von der Treppe gestürzt war, und empfiehl Iwan deshalb besser aus
der Stadt zu fahren, naja, was der Iwan ja sowieso vorhatte, den es könnte ja etwas mit dem
Vater, Fjodor Pawlowitsch, geschehen. Iwan brüllte Smerdjakow an, was wohl geschehen
könnte, und weshalb er ausgerechnet von der Treppe fallen sollte, und was überhaupt
Smerdjakow von ihm wolle. Mit einem wissend-erkennendem Lächeln, wich Smerdjakow
Iwan aus, als der in das Haus ging. Heute, da er jetzt in der Troika saß, sagte er sich, dass ihn
der ganze Affenzirkus nicht interessiere und er werde in Moskau das Leben wieder finden.
Während er das dachte, hatte doch das Wissen auf dem Herzen, dass er bald wiederkehren
müsse.
Dimitrij aber, suchte diesen ganzen verfluchten Tag nach Geld, er glaubte plötzlich in seiner
Not, Geld von völlig Fremden bekommen zu können, er lief zum Beispiel zu Samsonow, der
ein Bekannter Gruschenkas war, und schon sehr bejahrt, nun er lief dorthin um ihm für
dreitausend Rubel die Rechte an seinem Land zu verkaufen, Dimitrij behauptete fest man
könne aus diesen sechs- bis siebentausend Rubel Gewinnen. Der alte wollte, den
Unbekannten erst gar nicht hereinlassen, erst als Dimitrij bekunden ließ, er wäre in
Gruschenkas wohl und sehr ernster Lage gekommen, lies Samsonow öffnen. Mitja hatte sich
doch tatsächlich ausgemalt, dieser Samsonow würde ihm Helfen, da er dringend das Geld
brauchte, um mit Gruschenka ein neues Leben anfangen zu können, doch wo er seine Idee,
seinen Plan vor Samsonow ausbreitete, wackelten ihm die Knie. Dieser Samsonow, war ein
reicher Mann, und lies selbst seine eigenen Söhne keine Kopejke Geld von ihm sehen, nur
wohnen durften sie mit ihren Familien bei ihm im Haus, eingeengt auf der ersten Etage,
während er allein, die ganze Zweite beanspruchte. Nein, dieser Samsonow gab Mitja kein
Geld, doch sagte er ihm dass irgendwo hinter den sieben Hügeln, ein Mann zu wohnen
pflegte, der eventuell dieses Landstück haben wollte, natürlich machte er sich über diesen
Dimitrij Fjodorowitsch lustig, und innerlich kochte der Alte vor Wut. Mitja griff diese
10
Information sofort auf und war gottweiß wie dankbar. Nach diesem Besuch, schloss sich
Samsonow in sein Arbeitszimmer ein, und am Abend wurde er krank. Mitja hatte bis auf zwei
Zwanzigkopejkenstücke kein Geld, und musste seine zwei, ihm wertvollen, Pistolen für zehn
Rubel versetzen, um sich eine Troika mit einem Fuhrmann mieten zu können. Nun, ich will
seine Odyssee hier abkürzen, denn bekam er auch dort kein Geld, weil der Gutsbesitzer, von
dem Samsonow gesprochen hatte, betrunken gewesen war. Erst am Abend kehrte Mitja
zurück in die Stadt, und lief sofort zu der Frau um die er sich den ganzen Tag gesorgt hatte.
Während er unterwegs war, stand bei Gruschenka alles in den Sternen, ihr Verführer hatte ihr
wieder geschrieben, wollte sich am heutigen Abend mit ihr in Mokroje in jenem Gasthaus
treffen, wo sie sich vor einem Monat, für ein Stündlein nur, in Mitja verliebt hatte. Als Mitja,
voller Ungeduld, bei Gruschenka erschien, Agrafena Alexandrowna hatte ihr Haus an der
Hauptstrasse, war Gruschenka schon fortgefahren, und hatte ihrer Dienerin, Fenja,
ausdrücklich aufgetragen, niemandem zu sagen wohin sie aufgebrochen war. Mitja stürmte
ins Haus, packte Fenja bei den Schultern, die völlig eingeschüchtert kein Wort
zusammenbrachte. Unendliche Eifersucht entflammte in seinen Augen als er verstanden hatte.
Er lief wie ein Wahnsinniger hinaus, und nahm einen Mesingschössel im Laufen mit. Er
rannte quer durch die Stadt, kletterte aus einer Hintergasse über einen Zaun und lief durch
einen Garten. Voller Zorn und Eifersucht klopfte er an das Fenster Fjodor Pawlowitsch das
geheime Zeichen, und sofort regte sich eine aufgebrachte Stimme „Gruschenka bist du es?,
Gruschenka“ sprach der Alte hoffend aus dem geöffneten Fenster in den Garten. Dimitrij sah,
dass Gruschenka wohl nicht bei ihm sein konnte, doch das Profil seines Vaters erregte in ihm
so einen großen Wiederwillen, dass er den Messingstössel anhob um dem alten endlich den
Kopf einzuschlagen. Im letzten Augenblick besinnte er sich aber, und lief aus seinem
Versteck neben dem Fenster, wieder in den Garten. Der erschrockene Fjodor Pawlowitsch
fingt an zu brüllen. Das Gebrülle vernahm Grigorij und lief aufgebracht in den Garten hinaus,
„Vatermörder“ schrie Grigorij. Mitja kletterte gerade wieder über den Flechtzaun, als
Grigorij heranlief und ihm am Bein zerrte, und da holte Mitja aus Hast aus und zu, er traf
Grigorij an der Schläfe. Das Blut floss, und der getroffene sank sofort auf dem kalten
Gartenboden zusammen, Mitja erkannte was er da gerade getan hatte, ich habe den Mann, der
mich gefüttert hat, erschlagen, ich verdamter Schuft, dachte er, du hättest mir nicht in Quere
kommen sollen, alter Narr!, dachte er weiter. Die ganze Nacht über, reute er seine Tat an
Grigorij. Als er mit einem wahnsinnigen Ausdruck im Gesicht, Grigorijs Blut an den Händen
und einem Pack Hundertrubelscheine, das Geld hatte er entgültig aus Katjas altem Kuvert
genommen, bei Fenja erschien, dachte sie sofort, er habe seinen Vater erschlagen. In Angst
erzählte sie Mitja von dem Brief des Polen, und von ihrer Herrin, die jetzt wohl schon in
Mokroje war. Bestürzt vernahm Mitja dies alles, er erinnerte sich wieder des polnischen
Generals, dem er damals, als Gruschenka es erzählte, keine Achtung schenkte, so kaufte
Dimitrij Fjodorowitsch, immer noch mit Blut an den Händen seine Pistolen zurück, und
wollte sich, nachdem er in das Gasthaus in Mokroje gefahren war, in den ersten
Sonnenstrahlen erschießen.
Inzwischen war Smerdjakow, aus seinem Krankenbett gestiegen, denn er hatte tatsächlich
einen Anfall vorgespielt, lief ganz heimlich, vorbei an dem verletzten Grigorij, zu dem Vater
ins Haus, und erschlug ihn von hinten mit einem gusseisernen Briefbeschwerer, er nahm auch
die dreitausend aus dem Briefumschlag. Nun, während Mitja in Mokroje sein Herz
Gruschenka hingab, und sie ihm ihres, denn den Polen hatte sie nach Polen zurück geschickt,
wurde es in der Stadt hell, die Polizisten waren in Aufruhr. Es war völlig einleuchtend, dass
Dimitrij Fjodorowitsch seinen Vater umbracht hatte, und es galt jetzt ihn vom Selbstmord
abzuhalten, so stürmten die Behörden nach Mokroje.
Um Fünf Uhr morgens endet mit der Verhaftung Dimitrijs die Haupthandlung, und geht in die
Rekapitulation des Gerichtsprozesses über. Mit dessen Analyse die Interpretation der
Handlung aufgebaut wird.
11
Dostojewskij bietet dem Leser zwei verschiedene Arten an sein Werk zu verstehen,
eine realistische und eine allegorische. Wobei das Gericht einen Fehler begeht aber auch
gleichzeitig richtig urteilt, ohne dass man von einem logischen Widerspruch sprechen kann.
Auf der realistischen Ebene begeht die Justiz einen Irrtum, den nicht Dimitrij, sondern
Smerdjakow hatte gemordet. Auf der versinnbildlichten Ebene, stehen vier Komponenten
eines einzigen Angeklagten vor den Geschworenen. Denn Dostojewskij hat jeden der Brüder
mit einem bestimmten menschlichen Typ versehen, und jede dieser Komponenten wird von
Dostojewskij mit einer bestimmten Haltung zur bösen Tat gekoppelt. Betrachten wir die
Brüder und ihre Versinnbildlichung, so steht Alexej als Mönch für die Keuschheit, Iwan, der
intellektuelle Grübler, ist verantwortlich für den Realismus, Dimitrij, als der draufgängerische
Soldat, für die Emotion, und der mutmaßliche Stiefbruder Smerdjakow ist der Lakai.1 Auf
dieser allegorischen Ebene werden diese vier Teile einer Person, die die böse Tat verübt hatte
vor ihr persönliches Gericht, das Gewissen, wobei der Verteidiger und der Staatsanwalt als
die argumentierenden Kräfte innerhalb dieses Gewissens gesehen werden, gestellt. Die
Aufgabe des Gewissens ist nun zu urteilen welche Komponente für die Tat verantwortlich
ist.2 Es stellt sich die Frage: warum spricht der innere Richter in Gestalt der Geschworenen
ausgerechnet die Komponente Dimitrij schuldig? Dostojewskij macht uns sozusagen zu
Zeugen dessen was in einem Menschen vorgeht. Zunächst schauen wir auf die Einstellung der
Hauptakteure zur Tat: Nun, Alexej sagt, als Iwan ihn auf den gewollten Vatertod anspricht,
bestürzt, dass wenn Iwan anfängt davon zu sprechen wäre es ihm so, als ob ihm auch schon
der Gedanke dazu gekommen wäre. Alexej symbolisiert hier die unterbewusste Bejahung des
Mordes, Iwan die insgeheime Bejahung, Dimitrij, die offene Bejahung, Smerdjakow ist der
Ausführer, die Exekutive. Wieso spricht also das Gewissen Dimitrij schuldig? . Nach
Dostojewskijs Ansicht, durchläuft also der böse Wunsch eine Kette von Station, vom
Aufkeimen, bei Alexej, wo eine Idee eines solchen Gedanken, sofort vernichtet wird, über zu
Iwan, indem dieser Gedanke analysiert, doch niemals ausgesprochen wird, in Dimitrij fasst
sich dieser Gedanke zum Drang, der Wunsch wird ausgesprochen, und schließlich an
Smerdjakow übergeben, wo der böse Wunsch zur Wirklichkeit wird. In der Nacht vor der
Gerichtsverhandlung, vor dem Urteil des Gewissens, nachdem Smerdjakow seine Tat Iwan
gebeichtet hat, erhängt sich Smerdjakow, völlig nach Zeitplan, in vollem Wissen, den hier
verschwindet dieser teuflische Gedanke, der am Zeitpunkt des Mordes da war, völlig. Das
Gericht glaubt der Aussage Iwans über das Geständnis Smerdjakows nicht, so wird das
richtige allegorische Urteil gefällt: Dimitrij ist schuldig. Denn erst durch den starken Willen
Dimitrijs, kann Smerdjakow einschreiten und die Tat vollbringen. Mit einem Wort: Der
teuflische Wunsch hat die Phasen des Aufkeimens, der insgeheimen Bejahung und der
offenen Bejahung durchlaufen, um sich verwirklichen zu können. Projiziert auf die
Charaktere, verlängert der Lakai, des Soldaten, in Übereinstimmung mit dem Intellektuellen,
Arm ins Wirkliche. Dass die erste Komponente Alexej nicht zur Tat ausreicht, ist nicht die
Frage, aber auch die Komponente des Iwan reicht nicht allein dazu aus, Smerdjakow ist also
allein von Dimitrij abhängig. In einer Welt also, die keinen Dimitrij kennt, ohne die Emotion,
so argumentiert Dostojewskij, gäbe es keinen solchen Mord. Man sieht dass, Dostojewskij
die Differenzierung zwischen Alexej-Iwan und Dimitrij-Smerdjakow, schon bei den
Verwandtschaftsverhältnissen beginnt: Alexej (19 Jahre) und Iwan (23 Jahre) stammen aus
Fjodor Pawlowitschs zweiter Ehe mit der sanften, hysterischen Sofia Iwanowna, während
Dimitrij (27 Jahre) in Fjodor Pawlowitschs erster Ehe, mit der heißblutigen Adelaida
Iwanowna, geboren wurde. Der mütterliche Anteil bei Alexej und Iwan ist die Vergeistigung,
und eine Scheu vor der Aktion. Der väterliche Anteil, bei den Brüdern, ist das Ungetüm, der
unüberwindbare Drang nach Leben. Bei dem Fall Smerdjakow wird eine solche Allegorie
1
vgl. Microsoft Encarta ´99. Dostojewskij
Zu den hier und im folgenden referierten Überlegungen vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Die zweifache Pointe der
„Brüder Karamasow“. In: Euphorion, 69 (1975), S. 333-349.
2
12
sehr deutlich, denn er hat eine ungewisse Herkunft, wobei Fjodor Pawlowitsch gerüchteweise
als Vater hingestellt wird. Das trennt ihn von den reinen Empfindungen der Titelgestallten
und soll bedeuten, dass der Exekutor des Bösen im Menschen nicht in einem wahren
Verwandtschaftsverhältnis zu den Gefühlen im Menschen steht.3 Smerdjakows Selbstmord
wird, zeigt ebenso dass dieser Lakai nicht zum aufrecht menschlichem Sein gehört. Er
entzieht sich mit dieser Tat der Verantwortung. Auch Dimitrij wollte sich in jener Nacht
seiner Verhaftung umbringen, jedoch aufrichtig und nicht aus Flucht, erkannte schließlich,
dass der Mensch sich nicht seiner Schuld entziehen kann, besonders weil er zu diesem
Zeitpunkt das ihm vorgeworfene Verbrechen nicht kannte. Auch an den zugeordneten
Frauengestalten lässt Dostojewskij den Leser die Differenzierung erkennen: Dimitrij ist
verliebt in die schlagfertige Gruschenka, Iwan in die stolze Katharina Iwanowna, die ihm
Dimitrij übergeben hatte, Alexej in die lahme Liese, während Smerdjakow mit einer Magd,
die Parodie einer Liebesbeziehung führt.
Die Bestätigung der ganzen Allegorie lässt sich auch darin finden, wenn man betrachtet wo
die Brüder zum Zeitpunkt des Mordes waren. Alexej war im Kloster, ich will hier
nachträglich den Tod des Starez erwähnen: Nach dem Tode seines leiblichen, wie auch seines
geistigen Vaters, wurde Aljoscha auf seine eigenen Beine gestellt. Nun hat Alexej zum
Zeitpunkt des Mordes, abgeschlossen vom weltlichen Treiben, Gott gepriesen. Iwan war in
einer anderen Ortschaft, er wollte sich die Tat nicht ansehen. Und schließlich Dimitrij, er war
ganz nahe an des Vaters Gurgel.
Dimitrij wird zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt, und er will diese Strafe auf sich
nehmen, obwohl er immer noch von seine Unschuld behauptet. Er nimmt die Strafe nicht
wegen der realistischen „Gedankensünde“, sondern für die faktische Erwirkung des
Verbrechens, auf sich.
Soviel zur Skizierung der Problemstellung.
3
Vgl. Heinz Wagner: Das Verbrechen bei Dostojewskij. Eine Untersuchung unter strafrechtlichem Aspekt.
(Göttingen 1966)
13
Dostojewskij und Russland
Das Werk Dostojewskijs ist immer sehr Zeitgebunden, ist immer eine Gesellschaftskritik,. mit
den Brüdern Karamasow kommt Dostojewskij an den Roman „Schuld und Sühne“ zurück mit
dem er 1866 seine Romanreiher eröffnete und die den Kern seines Schaffens bilden. Doch die
Brüder Karamasow sollten nur der erste, vorbereitende Teil eines Zweiteilers werden, in dem
Dostojewskij wieder in seine Gegenwart schlüpft, doch ist sein Tod zuvorgekommen. Mit
einem solchen Zweiteiler wollte Dostojewskij offenbar eine Handfeste Zusammenfassung
seiner Ideen zeigen.
Zu dem Zeitgeist Dostojewskijs möchte ich den Anfang des zehnten Buches der Brüder
Karamasow in einer Geschichte zusammenfassen:
Es war einmal ein Junge namens Kolja Krasotkin. Dieser arme Junge hatte niemals einen
Vater gehabt, denn sein Vater war gestorben als Kolja noch ein kleines Kindchen war. Doch
Kolja hatte eine sehr sanftmütige und heitere Mutter, die sich sehr um sein Wohlergehen
kümmerte. Kolja wuchs heran, er besuchte die Vorschule und war immer daran interessiert
etwas neues auszuprobieren und sich alles zu merken und zu beurteilen. Unter den
Mitschülern war er angesehen, auch weil er einige ausgeklügelte Streiche den Lehrern
gespielt hatte, doch er wusste immer eine Grenze nicht zu überschreiten . Zuhause lass Kolja
in den Büchern seines Vaters, für die er noch viel zu jung war, seine Mutter aber, wunderte
sich nur über das vor dem Bücherschrank stehende Kind und sagte nichts dazu, seine Mutter
schimpfte nur mit ihm weil er eigentümlich gefühllos ihr gegenüber war, aber je mehr sie ihn
darum bat, desto weniger zeigte er ihr sein Herz. Zu Koljas Eigenheiten gehörte auch dass er
es haste wenn man ihn auf seine Größe oder auf sein Alter ansprach, er sagte dann zwar
immer die Wahrheit, doch sagte er auch, dass er schon bald älter und größer sein werde.
Einmal fuhren er und seine Mutter für ein paar Tage in eine etwa siebzehn Werst4 entfernte
Ortschaft um Verwandte zu besuchen. Die Kinder dort waren einige Jahre älter als er, deshalb
konnte er nur schwer Freunde finden, doch an dem dritten Tage sagte er, um die Größeren zu
beeindrucken, er werde sich heute unter den Mitternachtszug legen, und ihm wird nichts
passieren. Die älteren Jungen hielten das für Prahlerei und glaubten ihm nicht. Als es Nacht
war, versammelte sich eine kleine Gruppe von Jungen, die heimlich aus ihren Häusern
geschlichen waren, etwa eine Werst von der Ortschaft entfernt, bei den Zuggleisen. Kolja war
immer noch fest entschlossen das was er vorgenommen hatte auch auszuführen: er legte sich
zwischen die Gleise, als sich in der Ferne sich ein Licht zeigte, und war ganz still. Die
anderen Jungen versteckten sich in den Gebüschen neben den Gleisen. Als der Zug sich
nährte kriegten sie Angst und schrieen Kolja zu, er solle weglaufen, doch Kolja blieb liegen.
Der Zug fuhr mit der schon voll erreichten Geschwindigkeit und großer Wucht über Kolja
hinweg, und die Jungen gerieten in Panik, sie liefen zu ihm hin als der Zug vorbei war, doch
Kolja bewegte sich nicht. Später sagte er ihnen er habe damals einen Ohnmachtsanfall
vorgespielt um sie zu erschrecken, doch war er damals tatsächlich in Ohnmacht gefallen. Nun,
seit diesem Vorfall nannten ihn alle einen „tollkühnen Burschen“ und jeder ältere Junge
behandelte ihn seit dem mit Respekt. Die Nachricht von dieser Tat verbreitete sich nur
allzuschnell und bald hatte auch seine Mutter davon erfahren, in diesem Augenblick hatte sie
wahrscheinlich beinahe einen Herzanfall bekommen. Seit dem bemühte sich Kolja zu seiner
Mutter offenherziger zu sein, obwohl er immer noch nichts von dieser wie er selbst sagte
,Gefühlsduselei’ hielt.
Kolja besaß einen angelaufenen Hund, er taufte ihn auf den Namen Pereswon. Dieser war ein
großer Köter mit zotteligem grauen Fell und mit einem blinden Auge. Kolja trainierte seinem
Hund allerlei Kommandos nach französischer Art an, die Pereswon, nach einiger Zeit, alle
4
Die Werst: ehm. russ. Längenmass, 1066,78m
14
nach der Reihe ausführte, um seinen Herren zu erfreuen, auch ohne dass Kolja ihm Befehl
gab. Besonders gut konnte Pereswon sich tot stellen, er blieb auf Befehl Koljas eine Minute,
bald zwei, bald drei regungslos auf einer Seite liegen, und die kleinen Kinder mit denen Kolja
gerne zusammen war, fingen bei diesem Anblick meistens wirklich an zu glauben Pereswon
sei gestorben. Doch dann, wenn Kolja seinen Befehl zurücknahm, sprang der große Hund
aufeinmahl überraschend und wieder ganz lebendig auf und wedelte mit dem Schwanz um
freudig weitere Kommandos Koljas auszuführen. Die kleinen Kinder hatte Kolja wirklich
gern, auch wenn er mal damit manchmal in der Schule, geneckt wurde, den er war schon in
der zweiten Klasse. Kolja sagte dann dass es nun mal zu seiner Natur gehöre und dass er nur
mit den Kindern spiele um sie zu erfreuen, selber empfinde er nichts dabei. Doch gab es da
einen Jungen mit dem Kolja sich besonders gut verstanden hatte, den Iljuscha. Als Iljuscha in
die Vorklasse kam, wurde er immer von den anderen Kindern ausgelacht und verspottet da er
abgetragene und zu kleine Kleidung trug. Doch Iljuscha war ein stolzer Junge und obwohl er
sich manche der Neckerein der kleinen Kinder zu Herzen nahm, war er ihnen niemals
unterwürfig geworden. Als Kolja die neckenden Kinder sah, fing er an den Iljuscha zu
beschützen, das gefiel dem Kleinen und die anderen schreckte es ab. Von da an waren die
beiden immer zusammen, sogar Sonntags, und Kolja brachte dem ihm untergebenen Iljuscha
allerhand Dinge bei, wie man zum Beispiel mit Bauern auf dem Markt zu reden hatte oder wie
man sich anziehen sollte. Iljuscha hatte auch einen Hund, doch was mit ihm passiert war, ist
eine traurige Geschichte. Smerdjakow, der nun verstorbene halb-Karamasow, hatte Iljuscha
beigebracht den weichen Teil aus dem Brot herauszumachen und darin eine Nadel zu
verstecken, um dieses Brot dann einem Hund hinzuschmeißen. Der kleine Junge schmiss ein
solches Brotbällchen dem im Garten angeketteten Hund hin, der Hund war sehr hungrig,
deshalb verschlang er das Bällchen Brot sofort, ohne darauf zu kauen. Iljuscha beobachtete
wie der Hund winselte und um sich im Kreis lief.
Einige Zeit später wurde er krank, und er behauptete selber er sein nur krank geworden weil
er damals seinen Hofhund getötet hatte. Man hatte den Iljuscha mit manchen Dingen wieder
versucht gesund zu bekommen sogar eine englische Doge wurde Iljuscha zur Aufheiterung
gebracht, doch davon wurde die Krankheit nur noch schlimmer. Viele Kinder kamen täglich
an sein Krankenbett unter der Führung von Alexej Fjodorowitsch, während Kolja einige Zeit
überhaupt nicht kam. Doch dann, als er immer davon hörte wie Alexej sich um den kleinen
kümmerte, beschloss Kolja Krasotkin doch zum sterbenden Iljuscha zu gehen. Er nahm
Pereswon mit, und wusste dass der kranke sich schnell mit diesem Hund anfreunden würde.
Zeittafel
1821
1837
Fjoder Michailowitsch Dostojewskij am 11. November als Sohn eines
Armenarztes in Moskau geboren.
Am 11. März Tod der Mutter durch Schwindsucht.
15
1838 – 43
1839
1842
1843
1844
1845
1846
1847
1848
1849
1850 – 54
1854 – 56
1856
1857
1859
1861
1861 – 63
1862
1863
1864
1865
Besuch der Ingenieurschule der Petersburger Militärakademie. Lektüre
und erste dichterische Versuche; besondere Begeisterung für Schiller
und Puschkin.
Ermordung des Vaters durch Leibeigene auf seinem Landgut.
Ernennung zum Leutnant.
Anstellung als technischer Zeichner im Kriegsministerium.
Entschluß als freier Schriftsteller zu leben; Aufgabe der Stellung im
Ministerium.
Bekantschaft mit den Dichtern Nekrassow und Turgenjew und dem
Literaturkritiker Wissarion Belinskij.
Dostojewskijs Erstling, der Briefroman Bednye ljudi ( dt. Arme Leute ),
erscheint im triumphalen Erfolg in Nekrassows Petersburger
Almanach. Unter dem Einfluß Belinskijs erster Kontakt zu den
revolutionären Geheimgesellschaft um Petraschewskij und Durow.
Novelle Die Wirtin. Bruch mit Belinskij.
Mehrere Erzählungen, darunter Weiße Nächte, Das schwarze Herz, Der
ehrliche Dieb.
Am 5. Mai Verhaftung Dostojewskij und aller anderen Mitglieder der
Petraschewskij – Gruppe. Im September Prozeß mit Todesurteil, dessen
Unwandelung zu vier Jahre Zwangsarbeit und vier Jahren Militärsdienst
in Sibirien erst auf dem Richtplatz verkündet wird. In der
Untersuchungshaft Abfassung der Erzählung Ein kleiner Held.
Strafhaft in der Festung Omsk ( Sibirien ). Dort Auftreten der ersten
schweren epileptischen Anfälle.
Militärdienst in Semipalatinsk in Sibirien.
Beförderung zum Unteroffizier zum Fähnrich.
Am 14. Februar Eheschließung mit Marja Dmitrijewna Isajewa.
Rückkehr nach Russland. Der Roman Das Dorf Stepantschikowo und
seine Bewohner erscheint.
Bekantschaft mit Gontscharow, Tschernyschewskij, Dobroljubow,
Ostrowskij und Saltykow – Schtschedrin. Beginn der leidenschaftlichen
Liebe zu Apollinarija (Polina) Suslowa. Die Aufzeichnungen aus einem
toten Hause, Darstellungen der sibirischen Wirklichkeit, und der
Roman Die Erniedrigten und Beleidigten erscheinen.
Mit seinem Bruder Michail Herausgeber der Zeitschrift Wremja.
Zusammenarbeit mit Nikolai Strachow und Appolon Grigorjew.
Erste Europareise: Berlin Dresden, Paris, London, Genf, Florenz,
Mailand, Venedig, Wien. In London Zusammentreffen mit dem
exilierten russischen Publizisten und revolutionär Alexander Herzen,
sowie mit Bakunin.
Zweite Europareise, z.T. in Begleitung Polinas. In Wiesbaden erstmals
am Roulett – Tisch. Große Spielverluste in Badeb – Baden, und Bad
Homburg. Im April Verbot der Wremja. Veröffentlichung des Berichts
über die erste Europareise: Winterliche Aufzeichnungen über
sommerliche Eindrücke.
Am 27. April Tod seiner Frau Marja Dmitrijjewna. Am 22. Juli Tod
seines Bruders Michail. Die Aufzeichnungen aus einem Kellerloh
erscheinen.
Dritte Europareise ( Wiesbaden, Kopenhagen ). Erneutes
Zusammensein mit Polina. Wieder große Spielverluste.
16
1866
1867
1867 – 71
1868
1869
1871
1873
1875
1876 – 77
1877 / 78
1879 – 80
1880
1881
1882 – 83
1906 – 19
Der Roman Prestplenie i nakasanie (dt. Schuld und Sühne, Rodion
Raskolnikow) erscheint in der Zeitschrift Ruskij westnik. Der in 26
Tagen niedergeschriebenen Roman Der Spieler erscheint im Verlag
Stellowskij.
Am 27. Februar Eheschließung mit Anna Grigorjewna Snitkina. Im
April Flucht beider vor den Gläubiger ins Ausland.
Dauernder Aufenthalt in Westeuropa, überwiegend in Deutschland.
Unüberwindliche Spielsucht; ständige Verluste. In Baden – Baden
Zusammenkunft mit Turgenjew; endgültiger Bruch.
Am 5. März in Genf Geburt der Tochter Sonja; am 24. Mai Tod des
Kindes . Der Idiot erscheint.
Am 26. September in Dresden Geburt der Tochter Ljubow.
Im Juli Rückkehr nach St. Petersburg, wo der Sohn Fjoder geboren
wird. Der Roman Besy (dt. Die Dämonen) beginnt in der Zeitschrift
Ruskij westnik zu erscheinen. Neuer literarischer Ruhm.
Dostojewskij übernimmt für 15 Monate die Schriftleitung der
Zeitschrift Grashdanin.
Geburt des zweiten Sohnes Aljoscha (gest. 1878). Wegen eines
Lungenemphysems Kuraufenhalt in Bad Ems . Der Roman Der
Jüngling erscheint in Otetschestwennye Sapiski.
Herausgeber uns allgemeiner Autor der Monatsschrift Tagebuch eines
Schriftstellers.
Aufnahme in die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften als
korrespondierendes Mitglied.
Die Brüder Karamasow erscheint in der Zeitschrift Russkij westnik.
Am 20. Juni Ansprache anlässlich der Enthüllung des Puschkin –
Denkmals in Moskau (Puschkin-Rede).
Dostojewskij stirbt am 9. Februar an den Folgen eines Blutsturzes in St.
Petersburg. Beisetzung im Alexander - Newskij – Kloster.
Polnoe sobranie sotschinenij, 14 Bde. (St. Petersburg).
Sämtliche Werke, 22 Bde., übers. v. E. K. Rahsin (München).
(Die Daten der Zeittafel sind nach dem Kalender neuen Stils angegeben.)
17

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