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Erschienen in: Rollenspiele. Musikpädagogik zwischen Bühne, Popkultur und Wissenschaft.
Festschrift für Mechthild von Schönebeck zum 65. Geburtstag. Hg. v. Thomas Erlach und
Burkhard Sauerwald. Frankfurt/M.: Peter Lang 2014, S. 433-449.
Thomas Phleps
Freunde bis ans Ende der Zeit – Schlagertümlichkeit reloaded
Das zweite Mal aufmerksam auf die beiden wurde ich, als ihr Konzert in der nahegelegenen Stadthalle für Sonntag, 16 Uhr, angekündigt wurde. Das ist schon ein ungewöhnlicher Konzertbeginn und ereignete sich vor kurzem erst – ein Jahr später – erneut. Einige Zeit zuvor schon hatte ich ein Interview mit einem der beiden gelesen, das
– unter dem Titel "Eine Sauerei, unsere Musik niederzumachen" (Summen 2010) – den
seltenen Fall eines durchgängig nicht aufgelösten Dissens zwischen Interviewtem und
Interviewer in Form des Aufeinanderprallens von so genannter Hoch- und so genannter
Populärkultur präsentierte. In die Musik dieser beiden gleichen Brüder, die sich in
wundersamer Mehrsprachigkeit "Die Amigos" nennen1 und seit einiger Zeit überaus
erfolgreich sind, habe ich nur kurz – wie man so sagt: reingehört. Die unter dem Siegel
Deutscher Schlager dargebotene Produktpalette hat mich schnell verschreckt und ich
frage mich ernsthaft, wer sich einem solchem Potpourri auf mehreren Schichten verankerter Grausamkeiten freiwillig aussetzt – was natürlich falsch herum formuliert ist.
Anders und richtigerweise müsste die Frage lauten: Warum kann ich mit dem, was so
vielen Hörern resp. Zuschauern an dieser Musik und ihren beiden Mediatoren gefällt,
nichts, aber auch gar nichts anfangen? – Und noch treffender und kürzer: Warum
graust es mir vor diesem äußerst beliebten Medienpaket?
Selbstverständlich und geschenkt: Jede/r hat einen anderen Geschmack (jedenfalls
meint das jede/r) und darüber lässt sich angeblich, obwohl nichts anderes passiert,
nicht streiten. Auch hat sich der Schlagerdiskurs in den letzten Jahren beträchtlich verschoben. Inzwischen treten Pop(ularmusik)forscher zur Ehrenrettung von Rezipientenerfahrungen an, wird die Wertschätzung (nicht etwa Duldung) mediokrer Schlagerproduktion als Demokratisierungsschub verkauft – und dies anscheinend unabhängig
davon, ob man diese Produktion der Unsäglichkeiten als Abschöpfung oder Ausdruck
des Volksvermögens zu begreifen sucht.2 Der Kunde entscheidet – beim Brötchenkauf
wie beim Schlagerkonsum. Beides leistet seinen Beitrag zur Konstruktion des Alltags
und außerdem: Konsumenten lügen nicht! Aber der Reihe nach:
Sprachliche Verkopplungen waren, um beim Nebensächlichsten anzufangen, um 1970,
als sich "Die Amigos" gründeten3, im Tanzmusikmilieu durchaus üblich. Ich erinnere
mich an die damals bekannteste Kirmesband aus der Gegend, in der ich aufwuchs. Sie
trug den Namen "Die Curocas" und in dieser Kapelle spielten damals – und zwar
1 Auf den CD-Hüllen wird freilich fast durchweg auf den Artikel verzichtet.
2 Bei Mendívil (2008, S. 229) führt die Tendenz, sich (ab)wertender Kritik am Schlager nicht nur zu
enthalten, sondern ihr (als einer Form elitärer Kulturauffassung) vehement entgegenzutreten, schließlich dazu, Schlagermusik (implizit) unter die "alternativen, nicht-hegemonialen kulturellen Entwürfe" einzureihen.
3 Und damals tatsächlich nicht nur zwei freundliche Brüder, sondern aufgrund eines dritten Musikanten (der 2000 krankheitsbedingt ausstieg und inzwischen verstorben ist) auch Freunde waren oder
zumindest sein wollten. Vielleicht spielte aber auch der gleichnamige, Ende 1968 in die bundesdeutschen Kinos gelangte Italo-Western mit den Protagonisten Giuliano Gemma und Mario Adorf sowie
der Musik von Ennio Morricone eine Rolle...
2
Trompete und Posaune – die späteren "singenden Gartenzwerge" Wolfgang Schwalm
und Wilfried Gliem. So klein ist die Welt (der Unterhaltungsmusik). Die Wildecker
Herzbuben wurden fast 20 Jahre später, 1989, aus der Taufe gehoben und sogleich berühmt mit ihrem "Herzilein", während "Die Curocas" die ewige Begleit- und Kirmesband blieben (bis zum heutigen Tag! – der Blick ins Internet lässt mich staunen). Den
"Die Amigos" gelang 2006, nach 36 Jahren des Bespielens von Kirmessen, Hochzeiten
und ähnlichen Annehmlichkeiten, der Durchbruch und dies auf ganz besondere Weise:
In der MDR-Sendung Achims Hitparade wurden die Amigos im November zum "Musikantenkönig", im Dezember schließlich – mit den Titel "Dann kam ein Engel" – zum
"Musikantenkaiser" erkoren.4 Zugleich kam per Teleshopping, einer forschungstechnisch weitgehend unbeachteten Konsumhölle, die 4er-CD-Box Melodien der Herzen
auf den Markt. Die 66 Songs für 49,99 Euro "zzgl. Versandkosten" verpackte die Shop24Direct-Homepage in eine Erfolgsstory, die nach dem großen Verkaufserfolg der Box
tatsächlich nachgereicht werden konnte: "Vom absoluten Musik-Geheimtipp haben sie
es in Windeseile auf die größten Schlager-Bühnen geschafft – die Amigos. Jetzt wollen
sie auch Ihr Herz erobern. Mit Musik voller Zärtlichkeit und Sehnsucht nach der großen Liebe. Sie holen Ihnen die Sterne vom Himmel. Lassen Sie sich von dieser Musik
entführen.5 Garniert wird die sehnsüchtige Sternensuche mit (sprachlich) akkuraten
"Kundenmeinungen": "Die Amigos finde ich sehr schön weil Ihre Lieder von der
Wahrheit im Leben sprechen" oder "es gibt keine schoenere musik wie die von den
amigos" – schön, schöner, am schönsten: "Gönnen Sie sich etwas Zeit für die wunderschönsten Lieder, die es überhaupt nur geben kann", haucht die Werbemoderatorin im
15 minütigen Shop24Direct-Verkaufstrailer.6 In dieser Welt der Superlative war es für
die beiden königkaiserlichen Musikanten ein Leichtes, ihre Berufe an den Nagel zu
hängen – "Die Kinder waren schon groß, viel konnte also nicht passieren" (Rauscher
2012) – und vom mittelhessischen Villingen bei Hungen in die Weiten und Höhen
volkstümlicher Unterhaltungsnachmittage auszuziehen. Unter der Obhut der Ötztaler
Plattenfirma MCP Sound & Media kam ein Nr.1-Album nach dem anderen heraus, am
erfolgreichsten Der helle Wahnsinn, der 2007 monatelang und vor allen Pop- und
Rockkonstrukten auf Platz 1 der deutschen Albumcharts stand. Plattenindustrielle
Auszeichnungen sammelten sich an: "Krone der Volksmusik" 2009, 2010 und 2012,
"Goldene Tulpe" (Holland!) 2008 und 2010, "Echo" in der Kategorie Volkstümliche
Musik 2011; und weit über vier Millionen, mehrfach mit Gold oder Platin ausgezeichnete Tonträger wurden bislang verkauft: "Das verdanken wir unseren Fans, die haben
uns groß gemacht" (Ling 2012) – aber dazu unten mehr.
Die weiter oben erwähnten "singenden Gartenzwerge" habe ich übrigens Mechthild
von Schoenebecks wegweisendem Aufsatz zu den politischen Inhalten des volkstümlichen Schlagers entlehnt, in dem sie sechs Funktionstypen resp. "Modelle der Realitätsflucht" benennt und beispielhaft beschreibt. 1994, als der Aufsatz erschien, war ein
nicht pejorativ konnotierter Einsatz des Begriffs Realitätsflucht noch etwas Ungewöhnliches – zumal für die an "Adorno bis Rauhe" Geschulten (Schoenebeck 1994, S. 8).
Heutzutage bleibt selbst für Hochschulabsolventen wie den immer jungen Götz Alsmann nur noch das Positive, ist "Musik [...] immer Realitätsflucht", ohne die jegliches
4 http://www.shop24direct.de/amigos.html (Zugriff am 13. Juli 2013).
5 http://www.youtube.com/watch?v=Qxnv47N43CE (Zugriff am 13. Juli 2013).
6 In dieser seit DDR-Zeiten von Achim Mentzel moderierten Hitparade mit vorwiegend volkstümlich
orientierter Musik traten (die Sendung ist inzwischen eingestellt) monatlich acht Interpreten auf resp.
gegeneinander an, um per Publikums-Voting den Titel des "Musikantenkönigs" zu erringen und als
Gewinner am Jahresende den des "Musikantenkaisers".
3
"Amüsement" nicht funktioniere (Siemes 2011). Eine wundersame Ansicht: Vergnügen darf nicht von dieser Welt sein! Oder jedenfalls von einer Welt, so wie sie (nun
einmal mehr schlecht als recht) ist... Auch dazu vielleicht später mehr. Doch zurück zu
den Fluchtmodellen. Wie schaut es nach nahezu zwanzig Jahren aus? Greifen die Modelle auch bei den Amigos? Zumal den beiden die branchenüblichen Ingredienzen
volkstümlicher Musik – zumindest vordergründig – abzugehen scheinen. Sie treten
nicht kostümiert auf, singen ohne dialektale Färbung, nutzen keine volksmusikalisch
konnotierten Instrumente – kurz: eine auf Brauchtum und ähnlich Gestriges, auf ein
Traditionskonstrukt abzielende Kontextualisierung unterbleibt nicht nur vollständig,
sondern scheint musikalisch wie inszenatorisch auch gar nicht beabsichtigt.
Um einer Klärung näherzukommen, sei beispielhaft die letzte CD des 'A-Teams'
herausgegriffen, Bis ans Ende der Zeit heißt sie, ist natürlich "das beste Album, dass
[sic] wir bis jetzt gemacht haben" (Kati 2012), und kletterte kurz nach ihrem Erscheinen Anfang August 2012 auf Platz 1 der Album-Charts in Deutschland.7 'A-Team' ist
jetzt nicht allein ein Kalauer, sondern soll andeuten, dass neben resp. hinter den Brüdern eine bestimmte Sorte Manpower steht, zuvörderst präsentiert durch die beiden
Produzenten Hans Jöchler, Chef von MCP, und Michael Dorth, dem Mann am Computer im Hennefer Studio von Radiola Records. Dorth hat auch an sieben CD-Tracks
'mitgeschrieben', davon drei zusammen mit Alexander Ferro, seines Zeichens Elektroingenieur und Schlagersänger. Drei weitere Titel stammen von Frank Lars, ebenfalls
Schlagersänger, und immerhin zehn der sechzehn Tracks sind den Brüdern allein, zusammen oder mit anderen zugeschrieben.8 Insofern verhält sich die CD antizyklisch, da
sie den seit dem hellen Wahnsinn stetig zunehmenden Fremdanteil an der Text-MusikProduktion zurückfährt.9 Aber recht eigentlich sind diese Zuschreibungen für den
Hörer unrelevant, da sich das Design der Tracks ganz gewiss nicht durch die Autorschaft unterscheidet – so es dies überhaupt nennens- resp. hörenswert tut.10 Hier ein
formaler Überblick:
7 Und ebenso Österreich, nur auf Platz 2 in der Schweiz; cf. http://www.chartsurfer.de/artist/amigos/
discography-ehvr.html (Zugriff am 13. Juli 2013). Es ist dies übrigens nur die letzte CD – um mich
zu berichtigen –, wenn von der saisonal bedingten CD Weihnachten mit den Amigos absieht, die
Ende 2012 erschien. Angekündigt ist bereits für Juni 2013 eine weitere Amigos-CD mit dem unwahrscheinlichen Titel Im Herzen jung.
8 Cf. zur Selbstdarstellung der Akteure: http://www.die-amigos.de; http://www.mcpsound.at/index.php
?option=com_content&task=view&id=14&Itemid=41; http://www.radiolarecords.de/radiolarecords/
index.php/de/derproduzent; http://www.alexander-ferro.de; http://www.frank-lars.de.
9 Zur Veranschaulichung: Die großen Erfolge (2006) – alle 20 Titel von einem oder beiden Brüdern
geschrieben; Der helle Wahnsinn (2007) und Ein Tag im Paradies (2008) – von 14 Titeln 2 fremd,
also nicht von den Brüdern; Sehnsucht, die wie Feuer brennt, 2009 – von 16 Titeln 5 fremd und 8
teilfremd (meist Dorth); Weißt Du, was Du für mich bist (2010) – von 16 Titeln 8 fremd; Mein Himmel auf Erden (2011) – von 15 Titeln 9 fremd.
10 Ein Tanzmucker hat mir vor kurzem erzählt, dass es ihm größte Schwierigkeiten bereitet, die zwei
Amigos-Nummern im Programm seiner Band textlich wie musikalisch auseinanderzuhalten – eine
völlig neue Erfahrung für ihn (und das will in diesem Genre etwas heißen).
4
Die Amigos: Bis ans Ende der Zeit (MCP / VM 172.008, 8/2012)
Takt
HalbtonTempo Tonart Rückung
–
= 120 F-Dur
Nr.
Titel
Dauer
1
"Mit dir bis ans Ende der Zeit"
3:20
4/4 [Disco]
2
"Weine nicht"
3:09
4/4 ['Latin']
= 116
E-Dur
+
3
"Regenbogen"
3:33
4/4 [Disco]
= 124
As-Dur
–
4
"Er liebt nur sie"
3:30
4/4 ['slow']
= 80
G-Dur
–
5
"Das größte Glück"
3:18
4/4 [Disco]
= 124
F-Dur
+
6
"Charly"
4:02
4/4 ['Country']
= 90
D-Dur
+
7
"Ave Maria"
3:06
4/4 ['Latin']
= 124
Fis-Dur
+
8
"Du bist meine Liebe"
3:32
12/8
= 108
A-Dur
+
9
"Nur ein Ring"
3:29
4/4 [Disco]
= 124
A-Dur
+
10
"Immer wieder steh ich auf"
3:26
4/4 ['Latin']
= 104
G-Dur
+
11
"Liebe im Feuer"
3:46
4/4 ['Latin']
= 112
C-Dur
+
12
"Sterne verglüh'n"
3:43
4/4 [Disco]
= 118
A-Dur
+
13
"Die kleine Bank"
3:09
6/8 ['slow']
= 58
B-Dur
–
14
"Tränen in den Augen"
3:04
4/4 ['Latin']
= 124
G-Dur
+
15
"Mein kleines Paradies"
3:44
4/4 ['Latin']
= 118
D-Dur
+
16
"Wir kommen bald wieder"
3:15
6/8 ['slow']
= 66
C-Dur
+
Die Stilbegriffe in den eckigen Klammern sind nicht ohne Grund meist in Anführungsstriche gesetzt: 'Latin' unterscheidet sich von Disco eigentlich nur durch einen nicht
ausschließlich an der 4-to-the-floor-Bassdrum orientierten Basis-Groove. Die Tonartenfolge kommt – ohne die Ausreißer Ges und As – alphabetisch bis G: C (2) – D (2)
– E (1) – F (2) – Ges (1) – G (3) – As (1) – A (3) – B (1). Dass die fünf mit jeweils
♩ = 124 schnellsten Tracks chromatisch aufsteigend in den Tonarten F – Ges – G – As
– A stehen, lässt auf eine kleine Spielerei mit der Pitch-Funktion des Computers schließen – vielleicht sogar ein interner Spaß des Produzenten Dorth.
Von den 16 Tracks liegen nur sechs unterhalb der 112 bpm-Marke (darunter die drei
Achtel-Takter), kommen ganze vier ohne die berühmt-berüchtigte Halbtonrückung
zum letzten Refrain aus und haben nur sechs (leicht) abweichende Formstrukturen (Nr.
2-4, 9, 15-16):
Die Amigos:
Amigos:"Mit
"Mitdir
dirbis
bisans
ansEnde
Ende
Zeit",
Abfolge
S(trophe)
– R(efrain)
derder
Zeit",
Abfolge
S(trophe)
– R(efrain)
1/5-8/10-14:
2:
3:
R –
4:
9:
15:
S1 –
16:
R – S1 – R –
S1
S1
S1
S1
S1
S2
S2
–
–
–
–
–
–
–
R
R
R
R
R
R
R
–
–
–
–
–
–
–
S2
S2
S2
S2
S2
S3
S3
–
–
–
–
–
–
–
R – R + letzte Zeile
R – R + die 1. beiden R-Worte
R – R + letzte Zeile
R + 1 neuer Satz
R + letzte Zeile – R + letzte Zeile
R – R + letzte Zeile
R + letzte Zeile
5
Vorgeschaltet ist dem Gesangseinsatz grundsätzlich ein instrumentales Intro, zumeist
achttaktig und die vordere oder hintere Hälfte des Refrains vorauszitierend. Weitere
'Komplikationen' wie vokale Zwischen- resp. Zusatzformteile – bspw. Bridge oder PreChorus – und instrumentale Zwischenspiele lässt das S-R-Reinheitsgebot nicht zu.
Reime sind meist in Paar- oder Kreuzform geordnet, nicht selten aber auch gar nicht
vorhanden oder nur teilweise formbildend, so bspw. die häufigste vierzeilige Refrainstruktur a-a'-b-c. Vor allem sind die Reime durchweg geprägt von außerordentlicher
Schlichtheit – im Titelsong "Mit dir bis ans Ende der Zeit" bspw. bedingungslos / grenzenlos oder ich / mich – und ohne Scheu vor Unreinheit im Refrain Erden / sterben.
Ich bin weißgott kein Amigos-Experte, würde aber vermuten, das die Melanche der
musikalischen Strukturen und der bedeutungstragenden Reizwörter auf allen CDs des
(seit 2006) "erfolgreichsten Schlagerduos" nahezu identisch ist. Durchweg lebt die
Liebe, brennt das Feuer, ist die Sehnsucht auf der Suche, rennt das Glück nicht hinterher... Durchweg holpern die Texte in melodischer Tristesse durch die Hauptdreiklänge11 – verpackt in einen 'modernen', computerproduzierten Sound, der die Stimme(n)
in eine Hülle verpackt, sodass mitunter nur unter großer Anstrengung bis überhaupt
nicht verstanden werden kann, wovon die Rede ist.
Lassen Sie mich, um dies genauer zu betrachten, zu Mechthild von Schoenebecks
Modellen der Realitätsflucht zurückkehren. Auf der CD und überhaupt im Repertoire
der Amigos nicht präsent sind Modell 3 "Tanz und Marsch" – reine Instrumentalnummern werden nicht geboten – und Modell 4 "Alkohol", das allein in der für das Schlagerkonstrukt irrelevanten biographischen Ebene eine Rolle spielt (freilich nicht die des
zur Normalität erklärten Suchtverhaltens): Bernd Ulrich war bis zum 'Durchbruch' als
Bierbraumeister tätig und – allerdings in einem anderen Problemkreis legaler Drogen:
beide Brüder sind jenseits der Bühne starke Raucher (cf. Rauscher 2012). In den Liedern der Amigos freilich wird weder getrunken noch (was auch immer) geraucht,
schon gar nicht gedrückt oder etwas eingeworfen. Die Solidität scheint derart fest
gemauert, dass selbst Aspekte wie (temporäre) Haltlosigkeit oder Mäßigung nicht auch
nur in den Blick rücken.
Auch das Modell 5 "Religiosität" ist – wenn überhaupt – nur subkutan präsent: die Lieder der Amigos sind säkular, stehen allerdings in großer Nähe zu einem unaufgeklärtasketischen Protestantismus, der vor allem die Schönwetterreden der Gestrauchelten
durchzieht, auf der CD paradigmatisch im 10. Track: "Immer wieder steh' ich auf und
glaube fest daran". Im weiteren Fokus und der Wendung zur Schicksalshaftigkeit können unter dieses Modell noch Nr. 13 "Die kleine Bank", auf der sich "Geschichte, die
das Leben schreibt" abspielt (und es ist tatsächlich keine Geld-, sondern eine Parkbank), und Nr. 6 "Charly" subsummiert werden. Charly, seines Zeichens Blindenhund,
ist seit dem "Tag, als für ihn die Sonne starb" (die anscheinend nur wie LED für kaltes
Licht zuständig ist resp. war), "sein bester Freund" mit all den Eigenschaften, deren
sich der Hund unter guten Deutschen rühmen darf.12
Für das Modell 2 "Heimat" ist auf fast jeder CD der Brüder ein Schwerpunkttitel reserviert – auf Bis ans Ende der Zeit "Mein kleines Paradies" (ein Titel, in dessen Refrain
11 Wobei melodisch-harmonische Beschränkungen, selbst melodisch-harmonische Klischees andernorts
durchaus und selbstverständlich kein Kriterium für schlechte Musik abgeben.
12 Den besten Freunden im deutschen Schlager habe ich – als Fallstudie zu deutschen Befindlich- und
Tümlichkeiten – eine längere Studie gewidmet, cf. Phleps 2001.
6
mehrere Zeilen beim besten Willen nicht zu verstehen sind13) –, durchweg verortet im
Vogelsberg, aber ebenso durchweg ohne Revitalisierung eines wie-auch-immer gearteten Traditionskonstrukts.14 Jenseits dieses Schwerpunkttitels wird freilich implizit die
Verbundenheit zur paradiesisch kleinen Welt, zur vertrauten Heimat resp. Heimat des
Vertrauens, nicht eben selten aufgerufen als herzensguter Kontrast zur für kurze (Urlaubs-)Zeit, aber nicht dauerhaft lebens- und liebenswerten fremden Ferne. Und diese
beiden, durch nur einen Vokal getrennten Aggregatzustände Lieben und Leben bilden
die Folie des fast alle Songs durchziehenden 1. Modells "Liebe" – anders als etwa bei
der von (Ent-)Kleidungsware mit dem Geruch von billigem Sex umhüllten Andrea
Berg, die die Spannungsaggregate Lieben und Lügen bedient.15 Die gestandenen
Mannsbilder leben das Lieben am liebsten engelsgleich bis ans Ende der Zeit und
lieben das Leben so wohlgeordnet und überschaubar, dass dagegen ein Fallerhäuschen
als Aufruf zur Anarchie sich ausnimmt.
Vor allem gab und gibt es bei ihnen überhaupt nicht die zwei großen STRs des Liebens
und Lebens – nicht auf ihren CDs und laut eigenem und nachdrücklichen Bekunden
auch nicht in der wirklichen Welt: Stress und Streit haben sich unter dem Siegel der
Genügsamkeit verflüchtigt ins Nirgendwo – die Begriffe selbst sind abgeschafft, zumindest obsolet resp. – aus Amigos-Sicht: "neumodisch".16 Und auf Neumodisches
jeglicher Art kann die Amigos-Welt verzichten, denn es ist eine – wir hatten es bereits
– schöne Welt mit "wunderschönsten Liedern". So ist auch "Mit dir bis ans Ende der
Zeit" zum Titelsong und ersten Track der CD erkoren worden, "weil es" – so Amigo
Bernd Ulrich – "eine schöne Aussage ist und ein schöner Text und es ist auch eine
super Melodie. Der Song geht ins Ohr" (Kati 2012). Und er bietet das vollständigste
Arsenal amigonesker Bedeutungsträger auf der CD: Liebe, Traum, Glück(lich), Zeit,
immer, wieder, Sehnsucht, Herz, Hand (in Hand), Vertrauen, Himmel, Nacht(s); lediglich die außerdem in den übrigen Liedern verbreiteten Wortstämme leb-, jahr- und
stern- sind in diesem Track nicht präsent.17
13 Und da nützt es auch nichts, es in allen drei Refrains zu versuchen: sie sind völlig identisch, da – wie
durchweg auf der CD – alle Wiederholungen via Musikproduktionssoftware vervielfältigt wurden.
14 Zum Heimatkonstrukt allgemein cf. Bausinger 1990 und in der deutschsprachigen populären Musik
cf. materialreich Höfig 2000.
15 Allein im Titel u.a. (!): "Träume lügen nicht" (CD Träume lügen nicht, 1997), "Du hast mich tausendmal belogen (CD Wo liegt das Paradies, 2001), "Ich weiß, dass du mich belügst" (CD Du,
2004), "Warum belügst du mich" (CD Splitternackt, 2006), "Du kannst noch nicht mal richtig lügen"
und "Wer einmal lügt" (CD Schwerelos, 2010).
16 Einige Beispiele aus Interviews: "Ich habe mein ganzes Leben noch nie Stress gehabt. Ich hab's hin
und wieder eilig, aber Stress? Heutzutage ist es so, wenn man morgens aufsteht und es ist auch nur
ein einziges Wölkchen am Himmel, hat man Stress. Wenn das Hoftor ein bisschen klemmt – Stress!
Aber das ist doch normal. Ich gehe jeden Tag zur Arbeit, freue mich, dass ich einen Job habe – perfekt für mich" (Reinbacher 2012). – "Diese Art von Sorge, beruflichen Stress, Burn-Out oder wie
diese neumodischen Begriffe alle heißen – davon weiß ich nichts. Ehrlich: Ich habe noch keinen
Moment in meinem Leben als stressig empfunden. Das Gefühl kenne ich nicht. Was ist Stress?"
(Rauscher 2012). – "Aber Streit hatten wir in unserem Leben noch nie. Und das wird bei uns auch
nie passieren, wir ziehen an einem Strang" (Ling 2012).
17 Das Wortarsenal habe ich mir nicht ausgedacht, sondern aus den CD-Texten extrahiert. Am häufigsten sind (natürlich) die Wortstämme lieb- (in 12 Tracks und insgesamt 54 mal plus 3 mal im Titel)
und von leb- (11 / 32), gefolgt von Herz (10 / 27), immer (10 / 42) und wieder (7 / 39), Sehnsucht
(7 / 13), glück- (7 / 16) usf.
7
Die Amigos: "Mit dir bis ans Ende der Zeit"
(Alexander Ferro, Michael Dorth)
Ich weiß heut': Wunder gescheh'n!
Das hab' ich an uns geseh'n!
Es war ein Traum, der erwacht,
aus unsrer Sehnsucht Liebe macht!
Hältst zu mir, bedingungslos,
mein Vertrau'n grenzenlos!
Schenkst mir deine Zärtlichkeit!
Führst mich aus der Dunkelheit!
Mit dir bis ans Ende der Zeit!
Machst mich zum glücklichsten Mensch auf Erden!
Hast mir die Liebe gezeigt,
Für dich würd' ich sogar sterben!
Mit dir bis ans Ende der Zeit!
Denn Lieben heißt eben [oder: geben?] für immer!
Sind wir für den Himmel bereit,
Geh'n wir Hand in Hand in die Ewigkeit!
Du gabst mir Geborgenheit,
befreitest mich aus der Einsamkeit!
Gibst mir Kraft, nach vorn zu schau'n!
Ich weiß: Ich kann dir vertrau'n!
Immer wieder spüre ich,
ohne Wort[e] verstehst du mich!
Hörst mein Herz nachts, wenn es weint!
Wärmst es, bis die Sonne scheint!
Mit dir bis ans Ende der Zeit! . . .
Mit dir bis ans Ende der Zeit! . . .
Sind wir für den Himmel bereit,
Geh'n wir Hand in Hand in die Ewigkeit!
Man könnte anfangen, die Paarreime auf ihre Logik zu befragen: Wie stellt es der erwachende Traum an, aus Sehnsucht Liebe zu machen? Weint ein Herz – so es das
überhaupt vermag – weniger, wenn es amphibiengleich gewärmt wird? Aber auf diese
pathetisch-schwülstige Art stellt sich nun mal der dichtende Laie Poetik vor.
Man könnte die musikalischen Strukturen näher in Augenschein nehmen und müsste
erkennen, dass sie – ich nehme das Ergebnis vorweg – zu einem Konglomerat voraussehbarer, aber stetig sich mehrender Langeweile formiert sind. Die harmonische Struktur hat, wie leicht zu erkennen ist, eigentlich nur zwei Überraschungen – nun gut, ein
zu großes Wort, also besser: zwei maßvolle Besonderheiten zu bieten (natürlich nur
insofern, als man von einer Struktur der größtmöglichen Immergleichheit ausgeht):
1) der zwischen Strophe und Refrain variierende Gebrauch der Subdominante und
damit zusammenhängend im Refrain eine unterschiedliche Harmonisierung der beiden
Achttakter, 2) ein angehängter, rein instrumentaler Dominanttakt am Ende des 1.
Refrains und damit auch im diesen Refrain textlos vorauszitierenden Intro.
8
Ende
derder
Zeit",
Formverlauf
Die Amigos:
Amigos:"Mit
"Mitdirdirbisbisansans
Ende
Zeit",
Formverlauf
|| Bb |
Intro:
Strophe 1: || F |
|
plus Sexten
| Bb |
|
| C7 |
plus Sexten
|
| Bb |
|
| F | C7 |
|
| C7 | Bb |
| C7 | F || Bb |
Strophe 2: || F |
|
| Bb |
| C7 |
plus Sexten
Refrain:
|| F |
|| F |
|
|
|
| C7 | Bb |
| C7 | Bb |
| F | C7 |
|| F |
|| F |
Refrain:
|
plus Sexten
|
| F | C7 ||
| F | C7 | F ||
|| F |
|
| Bb |
| C7 | F || Bb |
| C7 | F || Bb |
|
|
| F | C7 |
| F | C7 |
| C7 |
|
| F | C7 ||
| F | C7 | F ||
|
|
|
| F ||
| F ||
| F |
||
Das eingetragene plus Sexten ist das konstitutive Moment, das aus den Amigos ein
("erfolgreichstes") Schlagerduo macht: Bruder Karl-Heinz tritt hier nämlich mit diesen
(nicht allein) schlagertypischen oktavierten Schweineterzen zum zunächst solo singenden Bernd hinzu – in der ersten Strophe weitgehend die einzige Novität innerhalb der
8 + 8 Takte, von denen die ersten 14 allesamt demselben rhythmischen Motiv unterliegen und die letzten beiden Takte – vom Motiv befreit – den gesamten Tonraum
(immerhin 6 Töne!)18 abwärts durchschreiten. Den Eintaktmodellen der Strophe stehen
in den ebenfalls 8 + 8 Takten des Refain zweitaktige gegenüber, der erste Takt von
Vierteltriolen besetzt, der zweite ein abwechselnd auf der 1 und 3 schließender. Auch
im Refrain, der noch einen Ton mehr in den Keller geht (g, insgesamt also 7 Töne
bringt), weichen allein die letzten Takte vom Schema (F) ab – allerdings ist diese
Abweichung exakt das rhythmische Hauptmotiv der Strophe, und die zweite folgt
sogleich...
Die Amigos: "Mit dir bis ans Ende der Zeit", Melodie Strophe 1 – Refrain
18 Mit den brüderlichen Sexten sind es immerhin 11: die F-Dur-Leiter von a bis d".
9
Ist schon die Beschreibung der harmonisch-melodischen Vorkommnisse in "Mit dir bis
ans Ende der Zeit" derart ennuierend und durch keinen musikalischen (Be)Fund von
einiger Güte aufzulockern, so hört sich der Track selbst sogar noch ermüdender und
zermürbender, ja schrecklicher an, sodass einem angst und bange wird und man alle
Hoffnung daran setzt, dass zumindest die Zeit vergeht.
Ja, der Umgang mit der Zeit ist in dieser Musik schon ein eigentümlicher – auch textlich. In der Kopplung mit "immer" und/oder "wieder" ist der Zeitbegriff hier wie
durchweg bei den Amigos ein zeitlos-statischer, gleichgesetzt mit Ewigkeit, und überhaupt scheinen die Amigosschlager von jeglicher Zeit befreit, ohne Zeitbezüge, ohne
historisch einzuordnenden Zeitrahmen: es fahren weder Kutschen noch Autos, es gibt
nur ewigwährende 'Natur' in Form von Wiesen und Wäldern oder Himmelserscheinungen vom Regenbogen über die Sonne bis zu den Sternen. Diese Kernwörter, allesamt
Versatzstücke der Schlagergeschichte, werden zu immer neuen immergleichen Texten
ineinander montiert: Sterne, die nie verglühen, Träume, die zu Wahrheiten werden,
Sehnsüchte, die tief im Herzen brennen, oder Feuer, die ebenfalls brennen oder in mir
erwachen...19 Aber bei aller Bastelei formt sich doch eine Gesamtsicht, eine AmigosPhilosophie, die in "Mit dir bis ans Ende der Zeit" zu Erinnerungen an Soylent Green
("Geh'n wir Hand in Hand in die Ewigkeit") verleiten mag, und im Refrain von "Liebe
im Feuer" enggeführt wird:
Meine Liebe zu dir ist wie ein Feuer,
das im Leben niemals je vergeht.
Meine Liebe, sie ist kein Abenteuer,
das doch viel zu schnell vorübergeht.
Ewiges Leben und Lieben – ein (H)Ort der Trostlosigkeit, in dem selbst das Feuer (das
ja durchaus 'abenteuerlich' sein kann) zu einer Art Wellness-Dauerheizung kanalisiert
wird, die – wunderschöne Formulierung: "niemals je vergeht". In dieser 'Philosophie',
in dieser Welt der Musik gibt es keine Entwicklung, schon gar keinen Fortschritts19 Die nie verglühenden Sterne und sich bewahrheitenden Träume bspw. in "Zauber Deiner Heimat"
(1991) vom "Heimat-Duo Judith & Mel"; weitere Nachweise bitte ich mir zu ersparen – selbst die
auf den vorausgegangenen Amigos-CDs wären eine Geschichte für sich.
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gedanken (übrigens ebenso in vielen anderen, obgleich einige dieser Welten ebendieses
für sich reklamieren). Stattdessen herrscht eine stete Iteration des Immergleichen, die
über Zuschreibungen wie 'sich treu bleiben' oder 'ehrlich sein' abgesichert und sich jeglichem Zugriff des Unsicheren, Ungesicherten, Neuen zu entziehen vermag. Dazu tragen neben den aus ein und demselben Baustoffmarkt angelieferten Textbausteine in
hohem Maße auch die habituellen Hüllen bei, in die die Text-Musik-Bricolage verpackt wird. So lassen sich die corporate designten CD-Covers nur in ihrer Farbgebung
(einer ausnahmslos geschmackfreien) und der Positionierung ihrer Protagonisten – mal
Karl-Heinz links und Bernd rechts, mal Bernd... – auseinanderhalten, ohne sich tatsächlich zu unterscheiden.
Musikalisch, textlich wie visuell wird vor allem eines vermittelt: Die mal so rum, mal
so rum positionierten Brüder sind zwei wie Du und Ich: sie singen nicht besonders gut,
sie sehen nicht besonders gut aus, sie inszenieren sich nicht besonders gut – sie sind so,
wie sie sind, und so, wie wir alle sein und (trotzdem) respektiert-geschätzt-geliebt werden wollen: wir selbst! Dass exakt dieses authentische Authentizitätsmanko das Erfolgsrezept der Amigos ist, mag man kaum glauben – aber die Zahlen sprechen für
sich. Und die Amigos für ihre Fans: "Die Leute merken, dass wir ehrlich und authentisch sind und nicht abgehoben und nur am Kommerz interessiert" (Ling 2012). Und
"diese Menschen mögen unsere Musik, und für die machen wir die Musik auch. Das ist
Musik, die aus dem Herzen kommt", sagt Amigo Bernd Ulrich in einem Interview aus
dem Jahr 2010, ich erwähnte es bereits zu Beginn, zu Martin Summen – und: "Menschen, denen unsere Musik nicht gefällt, sollen einfach abschalten!" Summen, der 2008
in Jungle World (!) unter dem Titel "Ein Tag im Schunkel-Paradies" einen so hellsichtigen wie abfälligen, mit allerlei Zusatzdaten gewürzten Bericht über ein AmigosKonzert in der Berliner Kongresshalle veröffentlicht hatte, wird von Ulrich nicht geschont: "Es ist eine Sauerei, unsere Musik niederzumachen! [...] Sie haben überhaupt
kein Vorwissen und schreiben trotzdem brutal negativ! [...] Können Sie Ihr Geld nicht
anders verdienen, als über Sachen zu schreiben, die Sie überhaupt nicht mögen?" Aber
zugleich gibt es wundersame Einsicht: "Selbstverständlich ist Schlagermusik für jemanden, der sie nicht gerne hört, etwas Fürchterliches." Jedem Tierchen... Und einmal
mehr werden in musikindustriell üblicher Manier Ross und Reiter vertauscht, denn
"mit Bumm-Bumm-Schunkel-Schlagern allein verkauft man doch keine 3,5 Millionen
Platten. Bewerben Sie doch mal eine leere Flasche Bier" (Summen 2010). Da kennt
sich der Braumeister natürlich bestens aus – auch wenn die Frage unbeantwortet bleibt,
mit welchen geistigen Ergüssen diese Flasche Schlagermusik denn nun tatsächlich
gefüllt ist.
Doch ein letztes Mal zurück zu Mechthild von Schoenebecks Funktionstypen der Realitätsflucht. Äußerst interessant nämlich ist die inhaltliche Umwidmung des 6. und letzten Modells "Das Ideal der Kindheit oder: Kindchenschema". Der musikalischen Inszenierung einer idealisierten Kindheit mit Wertvermittlungen wie Unschuld, Geborgenheit, Sicherheit, Glück stellen die Amigos eine "fast grausame Welt" entgegen, in der
"Dinge passieren wie Kindesmissbrauch". Hier, und nur auf diesen Aspekt des Kindesmissbrauchs beschränkt, wird zugestanden, was der Fall ist: "Die heile Welt, die gibt es
nicht mehr" (Kati 2012).
So weit mir bekannt, haben die Amigos vier "Lieder gegen Kindesmissbrauch" – dies
auch häufig die Klammerbemerkung hinter den Titeln – veröffentlicht: "Der Schattenmann" (CD Ich steh wieder auf, 2004, und CD Die großen Erfolge, 2006), "Gebrochene Kinderherzen" (CD Ein Tag im Paradies, 2008), "Es tut so weh" (CD Mein Himmel
auf Erden, 2011) und auf der hier im Blickpunkt stehenden CD Bis ans Ende der Zeit
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"Ave Maria". Warum gerade die Mutter Gottes angerufen wird, wenn die Kinder dieser
Welt vor Kindesmissbrauch geschützt werden sollen, bleibt offen. Vielleicht kann man
die Anrufung in eine Reihe mit Karl Mays Marienverehrung stellen – erinnert sei an
sein "Ave Maria", das in Winnetou III der sterbende Apachenhäuptling über sich ergehen lassen muss.20 Oder – und wahrscheinlicher – sie wird den Bekanntheitsgraden der
Gounodschen und Schubertschen Ave Marias zu Füßen gelegt. Einen tieferen religiösen Sinn jedenfalls scheint die Floskel nicht zu verfolgen; insofern hat meine Rede
vom säkularen Grundgestus der Amigos weiterhin Bestand. Gleichviel. Im Amigosschen "Ave Maria" wird zwar beispielhaft die Entführung eines Kindes vom Spielplatz
erwähnt, auch die Grausamkeit von "wir Menschen", aber das Lied hat keinen erzählenden, sondern Appellcharakter: "Mach die Augen nicht mehr zu" und – im reimlosen
Refrain – "Ave, ave Maria, / hilf den Kindern dieser Welt" oder richtiger und weiter an
die/den Hörer/in gewandt: "Ave, ave Maria! / Hilf den Kindern dieser Welt" – allerdings schwerverständlicherweise: "Liebe und Glück zu versteh'n". Überhaupt ist das
Lied von amateurpoetischen Manierismen verstopft, so die "Augen, die aus Liebe geboren"21 oder der Reimversuch mit Stellungsproblemen "Denn sie haben es verdient, /
dass man liebevoll sie liebt".
Das poetische Fiasko dieses "Ave Maria" ist wohl dem Texter (und Komponisten)
Frank Lars zuzuschreiben;22 die anderen drei Lieder gegen Kindesmissbrauch stammen
von den singenden Akteuren selbst und berichten (ansatzweise, versteht sich) von Einzelschicksalen: "Der Schattenmann" von der Entführung der "kleinen Joleen", "Gebrochene Kinderherzen" und "Es tut so weh" vom sexuellen Missbrauch durch den Vater,
der im ersten Lied zum Selbstmord des zwölfjährigen Opfers führt, im zweiten auf die
(mit)schuldige Rolle der Mutter weist. Die Amigos verweisen zu Recht darauf, dass
Kindesmissbrauch ein Thema ist, "bei dem wir zu den Wenigen gehören, die das auf
der Bühne thematisieren" (Ling 2012, cf. auch Kati 2012). Und überhaupt war sexueller Missbrauch von Kindern bis in die 1980er völlig tabuisiert und ist es auch heute
noch weitgehend. Bei den anderen Formen von Kindesmisshandlung wie Vernachlässigung, körperliche und seelische Gewalt sieht es nicht anders aus und bei allen Formen
werden die Taten meist im sozialen Nahraum begangen, sind die Täter in den Familien
und im Verwandten- und Bekanntenkreis zu suchen. Die Amigos wissen also, wovon
sie reden und sie meinen es ernst: Als Botschafter der Opferschutzorganisation Weißer
Ring haben sie 2011 "beschlossen, für jedes verkaufte Album 3,00 Euro an den gemeinnützigen Verein zu spenden."23 Und sie setzen sich zur Stärkung der Rechte der
Opfer nachdrücklich für eine Aufhebung der Verjährungsfrist für Kindesmissbrauch
ein – ähnlich übrigens das Justizministerium, das die Verjährungsfrist von drei auf 30
20 Und das Karl May höchstpersönlich für gemischten Chor wie Männerchor komponiert und erstmals
1897 veröffentlicht hat; cf. http://www.karl-may-gesellschaft.de/kmg/primlit/musik/eklaenge/index.
htm (Zugriff am 13. Juli 2013).
21 Der Wortstamm "lieb-" taucht in "Ave Maria" so häufig auf, wie sonst nur in den drei die Liebe im
Titel führenden Tracks der CD, den Nummern 4, 8 und 11.
22 Und apropos Zuschreibungen: Die "Biographie" auf seiner Homepage meldet – ähnlich retardierend
wie seine Text-Musik-Produkte –, Frank Lars sei ein "Künstler aus NRW, der sich dem Deutschen
Schlager wie kaum ein 2.ter verschrieben hat", "ein Künstler, welcher nicht abgehoben ist, sondern
mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben ist", "er ist einfach nicht abgehoben, sondern unterhält
sich mit Dir total normal, und er hat keinerlei Starallüren" (http://frank-lars.de/index.php/de/about
franklars/frank-lars-meine-biografie; Zugriff am 13. Juli 2013) – wäre da nicht der Singular, könnte
man meinen, die Rede sei von unseren beiden Freunden...
23 https://www.weisser-ring.de/internet/kampagnen/prominente-unterstuetzer/index.html#bodytext (Zugriff am 13. Juli 2013).
12
Jahre verlängern möchte (cf. Abschlussbericht 2011). Die Überzeugung, dass ihre
Nachdrücklichkeit beim Thema Kindesmissbrauch die Fans "wachrüttelt", ist allerdings fast schon rührend: "Wir sind in der Position, mit unseren Liedern den Menschen
etwas mitteilen zu können" – woanders mag das Interesse der Fans an der guten Sache
verpuffen: "bei uns aber nicht. Bei uns bleibt es hängen! Wir sind nun einmal in einer
gewissen Machtposition, wenn wir auf der Bühne stehen" (Summen 2010). Hängen
bleibt es wie die ansonsten schöne Schlager-Scheinwelt, in der die beiden Botschafter
die "ungeschminkte Wahrheit" (Groth 2007) erzählen – man mag es kaum glauben,
dass sie es selbst glauben...
Wenn man bedenkt, wie engagiert und durchaus auch sensibel die beiden Amigos beim
Thema Kindesmissbrauch agieren, mag es verwundern, dass die Musik selbst von diesem persönlichen Engagiertsein gänzlich unberührt zu sein scheint. Aber die Musikausübung der Amigos spielt sich unter Vorzeichen ab, die einerseits auf wohltuende
Weise das 'Künstlertum' auf solides Handwerk zurechtrücken, zugleich aber in ihrer
inspirationsfreien Kunsthandwerklichkeit, ja fast schon Kunstfeindlichkeit befremden:
"Wir bespielen eine Zielgruppe, die unsere Musik mag" (Summen 2010), mit dieser
Sicht der Dinge stehen sie sicher nicht allein, aber der Ton macht – selbst bei diesen
beiden melodisch-harmonischen Minimalisten – die Musik: es wird nicht ge-, sondern
"bespielt" und nicht für Menschen/Zuhörer/Konzertbesucher, sondern "eine Zielgruppe". In letztlich ähnlicher Weise wird in dieser Bespielerei Sensibilität zu Sentimentalität oder – weil es die beiden so lieben: auf Deutsch – Empfindsamkeit zur Gefühlsduselei heruntergebrochen, wird statt Klang Soundbrei 'produziert' und werden
statt Liedtexten Worthülsenketten fabriziert. All das ist in der – nationalen wie internationalen – populären Musik Standard und eigentlich nicht erwähnenswert. Aber die
Amigos fallen – und dies gleichsam von unten! – aus dem Raster, denn über sie und
ihre Fans ziehen selbst die ansonsten von jeglicher Kulturkritik unberührten Provinzblätter her,24 während anderes und meist weitaus bedenklicheres ungeschoren bleibt,
weil es anscheinend nicht allein von bildungsschwachen und machtlosen Senioren
rezipiert wird. Gegen die Unsäglichkeiten des soeben absolvierten Eurovision Song
Contest bspw. wird kaum ein kritisches Wort laut, obgleich er jedes Jahr aufs neue
unter Beweis stellt, dass allen – und nicht nur den Alten und Schwachen – erfolgreich
und gewinnbringend schwachsinnige Musik vorgesetzt werden kann...
Achja, die 16-Uhr-Konzerte sind doch kein (weiteres) 'Markenzeichen' der Amigos –
die meisten Konzerte ihrer aktuellen ganzjährigen Tournee Bis ans Ende der Zeit beginnen um 19:30 Uhr.
24
Cf. bspw. Andreas Köthe (2012) zum eingangs angesprochenen Kasseler Konzert Anfang Februar
2012.
13
Literatur:
Abschlussbericht Runder Tisch. Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich (2011).
Hg. v. Bundesministerium der Justiz, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend, Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin; http://www.rundertischkindesmissbrauch.de/documents/AB%20RTKM_barrierefrei.pdf (Zugriff 13. Juli 2013).
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Problemgeschichte." In: Heimat. 1. Analysen, Themen, Perspektiven. Redaktion: Susanne
Althoetmar-Smarczyk (= Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung 294/I).
Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung, S. 76-90.
Groth, Susi (2007). "Amigos. Die wahren Hit-Könige" [Interview]. In: SUPERilllu.de, 20.
September; http://www.superillu.de/musik/Amigos_2119710.html (Zugriff 13. Juli 2013).
Höfig, Eckhart (2000). Heimat in der Popmusik. Identität oder Kulisse in der deutschsprachigen Popmusikszene vor der Jahrtausendwende. Gelnhausen: TRIGA-Verlag.
Kati (2012). "Die Amigos: Über das neue Album 'Bis ans Ende der Zeit'. Interview – Teil 1 &
2." In: Promipool, 26. August; http://www.promipool.de/schlager/die-amigos-man-mussimmer-vernuenftig-bleiben-74193 // http://www.promipool.de/schlager/die-amigos-ueberdas-neue-album-bis-ans-ende-der-zeit-74199 (Zugriff 13. Juli 2013).
Köthe, Andreas (2012). "Schlagerduo Amigos begeisterte in der Kasseler Stadthalle." In: Hessisch/Niedersächsische Allgemeine (HNA), 6. Februar; http://www.hna.de/nachrichten/kul
tur/kultur-lokal/schlagerduo-amigos-begeisterte-kasseler-stadthalle-1590461.html (Zugriff
13. Juli 2013).
Ling, Jan Philipp (2012). "Stars mit Anspruch: 'Die Amigos' Bernd und Karl-Heinz Ulrich im
großen KA-Interview." In: Kreisanzeiger [HEF-ROT], 18. November; http://kreisanzeigeronline.de/2012/11/18/stars-mit-anspruch-die-amigos-bernd-und-karl-heinz-ulrich-im-grosse
n-ka-interview (Zugriff 13. Juli 2013).
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Phleps, Thomas (2001). Mein bester Freund in der populären Musik. Nachricht von den neuesten Schicksalen des lauten Schalls im deutschsprachigen Raum ( = FORUM Jazz Rock Pop
6). Karben: Coda.
Rauscher, Frank (2012). "Die Amigos. Kampfansage von den netten Schlageronkels." In: Xity,
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Schoenebeck, Mechthild von (1994). "'Wenn die Heidschnucken sich in die Äuglein gucken…'
Politische Inhalte des volkstümlichen Schlagers." In: Musik der Skinheads und ein Gegenpart: die "Heile Welt" der volkstümlichen Musik. Hg. v. Helmut Rösing (= Beiträge zur
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com/artikel/2008/51/32286.html (Zugriff 13. Juli 2013).
14
Summen, Maurice (2010). "'Eine Sauerei, unsere Musik niederzumachen'. Sänger Bernd Ulrich
von den 'Amigos', Deutschlands erfolgreichstem Schlagerduo, über Karriere per Teleshopping, Lieder über Kindesmissbrauch und die Häme vieler Musikkritiker" [Interview]. In:
Frankfurter Rundschau 66, Nr. 10 vom 12. Januar, S. 20f.; http://www.fr-online.de/panora
ma/amigos-saenger-im-interview--sauerei--unsere-musik-niederzumachen-,1472782,31621
46.html (Zugriff 13. Juli 2013).

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