Diagnose und Therapie der ADS
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Diagnose und Therapie der ADS
I Einführung 1 ADHS als psychopathologische Diagnose: Rückblick und Ausblick 1 ADHS als psychopathologische Diagnose: Rückblick und Ausblick Einleitung 1.3 Defizite der aktuellen Klassifikation 1.2 Komorbiditäten und nosologische Typologie 1.3 Genetische Forschung und Klassifikation Schlussfolgerungen Einleitung Die Geschichte der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als eines Phänomens menschlichen Verhaltens reicht weiter zurück als allgemein angenommen. So kann historisch auf herausragende Persönlichkeiten der Menschheit wie z. B. auf die Eroberer Alexander der Große oder Dschingis Khan hingewiesen werden, die vermutlich von ADHS betroffen waren, um damit zugleich auch den kreativ-produktiven Anteil anzusprechen, der bei einer ausschließlich psychopathologischen Betrachtung außerhalb des Blickfeldes bleibt. Wissenschaftsgeschichtlich sind der Begriff und das Konstrukt von ADHS hingegen noch relativ jung (vgl. Rothenberger und Neumärker 2009). Erste Beschreibungen, die mit der aktuellen Diagnose ADHS vereinbar sind, finden sich schon in der englischen Literatur bei Alexander Crichton am Ende des 18. Jahrhunderts und bei George Still zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der in der aktuellen No- menklatur der ICD-10 verwendete Begriff der Hyperkinetischen Störung wird in der deutschsprachigen Literatur bereits bei Kramer und Pollnow (1932) verwendet. Die besondere Fokussierung auf ein Syndrom mit Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und Impulsivität begann sich international jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg zu etablieren. Während in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Tradition der organischen Störungen kommend in vielen Ländern noch der Begriff der Minimalen Zerebralen Dysfunktion (minimal brain dysfunction) eine zentrale Bedeutung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitslehre hatte, vollzog sich speziell in der nordamerikanischen Fachliteratur mit Studien über das „hyperactive child syndrome“ eine stärkere Zentrierung auf eine deskriptive Psychopathologie, die sich bei der Definition von Störungen auf Verhaltensphänomene anstatt auf ätiologische Ableitungen stützte. In dieser Entwicklung der Forschung verlagerte sich der Fokus zunehmend auf den Aspekt der Aufmerksamkeitsstörung, sodass schließlich in der 1980 veröffentlichten dritten Fassung der US-amerikanischen Klassifikation des Diagnostic and Statistical Manual (DSM-III) eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit und ohne Hyperaktivität erfasst wurde, während die Internationale Klassifikation der Krankheiten mit dem Begriff des Hyperkinetischen Syndroms zur gleichen Zeit in der ICD-9 und seit den 1990er-Jahren mit 13 © 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart Hans-Christoph Steinhausen dem Begriff der Hyperkinetischen Störung in der ICD-10 den Akzent weiterhin stärker auf die Hyperaktivität setzt. Dabei bedient sie sich aber des in der Neurologie bereits anders definierten Begriffs der Hyperkinese als einer speziellen motorischen Störung und schuf somit einen problematischen Begriff für eine psychische Störung. Andererseits vollzog sich die Entwicklung der nordamerikanischen Terminologie auch nicht frei von zeitgeschichtlichen Wirrungen, zumal schon in der 1987 vollzogenen Revision in Form des DSM-III-R die Aufspaltung in eine Aufmerksamkeitsstörung mit bzw. ohne Hyperaktivität aufgehoben wurde und die kombinierte Störung ADHS als einzige Kategorie verblieb. Nur wenige Jahre später wurde diese Entwicklung mit dem DSM-IV von 1994 wieder zurückgenommen und die vorherige Differenzierung erneut eingeführt. Seitdem werden drei Typen differenziert: ein kombinierter Typ, ein vornehmlicher Aufmerksamkeitsdefizit-Typ (AD) und ein vornehmlicher Hyperaktiv-impulsiver Typ (HI). In der Phase der Vorbereitung von DSM-V und ICD-11 darf man gespannt sein, welche Revisionen des Konzeptes aus der Reflexion der aktuellen Wissenslage durch die Expertenkommissionen die nähere Zukunft bestimmen wird. Das vorliegende Kapitel versucht einige Linien der Forschung aufzuzeigen, die bei einer Neufassung der ADHS-Kriterien berücksichtigt werden sollten. 1.1 Defizite der aktuellen Klassifikation Die Forschung zu ADHS hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel stärker an der Typologie des DSM als an der Typologie des ICD orientiert, die in der noch aktuellen 10. Revision neben dem Einheitskonzept der Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit zusätzlich auch die komorbide Hyperkineti14 sche Störung des Sozialverhaltens berücksichtigt (vgl. Steinhausen 2009). Problematisch an der Klassifikation gemäß DSM-IV ist zunächst die mangelnde Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei dem Typ der Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) und dem kombinierten Typ (ADHS) um deutlich verschiedene Syndrome handelt. Die ICD hingegen kennt eine derartige ADS überhaupt nicht, und es ist verwunderlich, dass in den Kreisen von Praktikern und Laien der Begriff der ADS eine erstaunliche Popularität gewonnen hat. Hier darf wohl kritisch angemerkt werden, dass die Dominanz des Begriffs ADS gegenüber dem der ADHS in diesem Sprachgebrauch offensichtlich durch das Syndrom einer „ausgeprägten Differenzierungs-Schwäche (aDS)“ bedingt ist. Tatsächlich liegen beim Aufmerksamkeitsdefizit-Typ Probleme der fokussierten und selektiven Aufmerksamkeit vor und es fehlen Probleme der Enthemmung, während beim kombinierten Typ Probleme der persistenten Anstrengung und Ablenkbarkeit sowie Probleme der Enthemmung im Vordergrund stehen, die auch nach Rückbildung der Hyperaktivität im Entwicklungsverlauf bestehen bleiben (Barkley 2006). Bei ADS bestehen zentrale Probleme des Arbeitsgedächtnisses sowie stärkere Probleme der Motivation als der Inhibition, und zahlreiche Befunde der Forschung weisen ADS als eine separate Störung mit unterschiedlichem Profil in den Bereichen von Kognitionen, Verhalten, Komorbiditäten, Medikation und Neurobiologie aus (Diamond 2005). Somit liegen hinlängliche Argumente vor, eine differenzierende Klassifikation vorzunehmen. Weitere Gründe für eine Revision der Klassifikation von ADHS lassen sich aus empirischen Untersuchungen ableiten, die mit der mathematischen Methode der sog. „latent class analysis“ (LCA) an verschiedenen Stichproben durchgeführt wurden. Dabei konnten einerseits recht gute Replikationen der DSM-IV-Typologie z. B. hinsichtlich einer hohen Ausprägung von © 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart I Einführung Aufmerksamkeitsdefizit-Merkmalen (Neuman et al. 1999), aber auch Befunde ermittelt werden, die eine Modifikation dieser Typologie nahelegen. So fanden sich Klassen mit reinem AD, aber auch Klassen von ADHS in Komorbidität mit oppositionelltrotzigem Verhalten (OTV) oder der kombinierte Typ in Verbindung mit verschiedenen Komorbiditäten (Neuman et al. 2001) sowie schließlich auch eine geringe Korrespondenz mit den DSM-IV-Subtypen (Rasmussen et al. 2002). Im Interesse einer Verbesserung der Korrespondenz zwischen Phänotyp und Genotyp wurden in einer neueren Untersuchung neben ADHS auch die Symptome der häufigen dissozialen und emotionalen Störungen einbezogen. Die durch die LCA ermittelten Befunde fielen in sechs bis acht verschiedene Cluster; dabei waren die emotionalen Störungen (Angst und Depression) in allen Altersgruppen stark mit AD und dem kombinierten ADHS-Typ verbunden, während die Störungen des Sozialverhaltens (SSV) stark mit dem ADHS-Typ assoziiert waren (Acosta et al. 2008). Auch diese mit der LCA ermittelten empirischen Befunde könnten sowohl für die zukünftige Klassifikation als auch die molekulargenetische Forschung relevant werden, die mit der Identifikation von sog. Endophänotypen (s. u.) nach tragfähigen Brücken zwischen Genotyp und klassischem Phänotyp sucht. Zahlreiche weitere Aspekte der aktuellen Klassifikation gemäß DSM-IV bedürfen auf der Basis von Erkenntnissen der Forschung und der klinischen Praxis einer kritischen Überprüfung. Entsprechende Argumente hat Barkley (2007) unlängst zusammengefasst. Aktuell werden bei der Diagnosenstellung noch zwei separate Schwellenkriterien für AD und HI berücksichtigt, wobei diese beiden Subtypen ungenügend differenziert werden. Tatsächlich wäre die Bildung eines einzigen Kriteriums sinnvoller. Ferner ist die Zahl der Symptome ungewöhnlich hoch und noch dazu redundant. Keine andere Störung wird im DSM-IV mit derart vielen Symptomen definiert. Ein gravierendes Defizit stellen zudem die ungenügende Entwicklungsanpassung der Symptome und das Fehlen von Schwellenkriterien für verschiedene Altersgruppen dar. Die aktuellen Symptomkriterien beziehen sich schwerpunktmäßig auf männliche Kinder im Alter von etwa sechs bis zwölf Jahren. Modifikationen müssten die Symptomatik sowohl bei Vorschulkindern und Jugendlichen als auch besonders bei Erwachsenen berücksichtigen, die zunehmend Schwerpunkte in der Versorgung bilden. Ferner kritisiert Barkley (2007) auch die ungenügende Abbildung theoretischer Konzepte auf der Verhaltensebene in der aktuellen Klassifikation von ADHS. In den letzten Jahren haben sich als zentrale theoretische Entwürfe vor allem das Konzept der mangelnden Inhibition und das der Aversion gegenüber Belohnungsaufschub (delay aversion) herauskristallisiert, die bei der Revision stärkere Berücksichtigung finden müssten. Barkley geht hier in seinen Überlegungen so weit, die Begriffe des AD durch die breiter gefasste Störung der Exekutivfunktionen und der HI durch Probleme der Verhaltensinhibition zu ersetzen. Damit würden theoretische Konstrukte der Neuropsychologie an die Stelle des Verhaltens treten. Auch in der Formulierung anderer Aspekte der definierenden Kriterien bestehen Notwendigkeiten für eine Überarbeitung. So sind einige Merkmale mit verschieden interpretierbaren Zusätzen wie „oft“ oder „entwicklungsunangemessen“ oder „signifikant beeinträchtigend“ versehen, die beträchtliche Unschärfen schaffen. Ebenso sollte das Kriterium des Alters bei Symptombeginn bei sieben Jahren modifiziert werden. Zahlreiche der erst oft spät diagnostizierten Erwachsenen sind nicht in der Lage, den Beginn ihrer Störung mit exakten Altersangaben zu belegen. Hier wäre eine Erweiterung des Kriteriums auf den Zeitraum von Kindheit und Jugend hilfreich. Ein weiterer kritischer 15 © 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart 1 ADHS als psychopathologische Diagnose: Rückblick und Ausblick I Einführung 16 1.2 Komorbiditäten und nosologische Typologie Das gleichzeitige Auftreten mehrerer Krankheiten ist in der Medizin eher die Regel als die Ausnahme. Der für dieses Phänomen erst zu Beginn der 1970er-Jahre in der Epidemiologie geprägte Begriff der Komorbidität ist in der Psychopathologie nicht unproblematisch, weil er eigentlich nur im Kontext gut validierter Krankheitseinheiten mit gut aufgeklärter Pathologie und Ätiologie sinnvoll ist. Nicht ohne Grund wird in der Psychopathologie der Begriff der Störung präferiert, zumal viele psychopathologische Syndrome von dieser Konzeption einer Krankheit (lateinisch: morbus) recht weit entfernt sind. Die alternative Verwendung von eher angemessenen Begriffen wie Kovariation oder Koexistenz (Lilienfeld 2003) hat sich aber in der erst wenige Jahrzehnte alten Forschung zur gleichzeitigen Manifestation psychopathologischer Syndrome nicht durchgesetzt. Die Erforschung von Komorbiditäten hat für die Klassifikation von psychischen Störungen insofern besondere Bedeutung, als über die Ergebnisse möglicherweise neue Störungseinheiten oder Subtypen begründet werden können. Dies wiederum hat weitreichende Konsequenzen, da eine Differenzierung von Subtypen möglicherweise zu einer Reduktion der klinischen und der ätiologischen Heterogenität sowie zu einer Verfeinerung der Behandlungs- und Präventionsstrategien führen kann. Voraussetzung für die Etablierung neuer Subtypen ist aber vorgängig der hinlängliche Nachweis, dass es sich um einen jeweils validen Subtyp handelt. Für diese Feststellung ist in der Psychopathologie nach Überlegungen, die auf Robins und Guze (1970) zurückgehen, die positive Beantwortung möglichst vieler der folgenden acht von Jensen et al. (1997) für ADHS aufgeworfenen Fragen erforderlich: © 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart Punkt betrifft die psychosoziale Funktionstüchtigkeit. Nicht nur bei ADHS ist dieses Merkmal von zentraler Bedeutung, sondern generell bei allen psychischen Störungen, zumal sich die Ableitung von erforderlichen Interventionen in erster Linie aus der Beeinträchtigung der psychosozialen Adaptation und nicht primär nur aus dem Vorliegen einer Störung ergibt. Dieses Merkmal benötigt jedoch eine altersangepasste Definition, zumal sich z. B. die Aufgaben für Kinder in Schule und Familie deutlich unterscheiden von denen der Erwachsenen in Beruf und Partnerschaft. Für eine chronische Störung mit Lebenszeitperspektive wie bei der ADHS ist eine derartige entwicklungsangepasste Definition der psychosozialen Funktionstüchtigkeit daher von großer Bedeutung. Weitere Kritik betrifft die Validität der Subtypen. Diese kann aktuell nur für den kombinierten ADHS-Typ als gesichert angesehen werden. Der HI-Typ ist oft nur ein Vorläufer von ADHS, während ADS in sich sehr heterogen ist. Es kann sich um eine Residualstörung handeln, bei der sich HI im Entwicklungsverlauf zurückgebildet hat, die HI-Ausprägung kann unterschwellig sein oder es liegt eine wirklich andere Störung mit trägem kognitiven Tempo und Antriebsminderung im Sinne von Hypoaktivität vor. Die zukünftige Klassifikation muss ferner bei der Definition von Subtypen die Forschungsergebnisse zu Komorbiditäten aufnehmen. Der von der ICD-10 bereits aufgenommene Subtyp der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens, also die Kombination von ADHS und dissozialem Verhalten, ist eine valide Störungseinheit, die auch in das DSM Eingang finden muss. Hingegen ist die Validität von Komorbiditäten mit emotionalen Störungen wie Angst, Depression und Bipolarer Störung noch nicht vergleichsweise gut gesichert. Die Bedeutung der Berücksichtigung von Komorbiditäten bei der Klassifikation psychischer Störungen soll im folgenden Abschnitt noch etwas detaillierter betrachtet werden. 1. Handelt es sich um eine umschriebene klinische Symptomatik? 2. Liegen umschriebene demographische Faktoren vor? 3. Liegen spezielle psychosoziale Faktoren vor? 4. Liegen spezielle biologische Faktoren vor? 5. Liegen spezielle familiär-genetische Faktoren vor? 6. Liegen spezielle familiäre Umweltfaktoren vor? 7. Ist der Verlauf charakteristisch? 8. Gibt es spezifische Behandlungsergebnisse? Für die häufigste Komorbidität von ADHS, nämlich die mit einer Störung des Sozialverhaltens, fallen die Antworten auf diese acht Fragen mehrheitlich positiv aus. Es handelt sich 1. um eine häufige Koexistenz mit einem höheren Schweregrad, die 2. häufiger beim männlichen Geschlecht auftritt und 3. mit herabgesetzter psychosozialer Funktionstüchtigkeit einhergeht. Ferner liegen 4. wahrscheinlich spezifische neuropsychologische und 5. familiär-genetische Faktoren vor, die 6. durch negative Interaktionen in der Familie unterhalten werden. Schließlich ist 7. der Verlauf ungünstiger, während 8. die Wirksamkeit der Medikamente zwar nicht verschieden, der Aufwand im Sinne einer multimodalen Behandlung aber sicher höher ist. Jensen et al. (1997) haben bei der Sichtung der Forschungsergebnisse zu Recht geschlossen, dass diese Komorbidität die Kriterien an die Validität eines Subtyps überzeugend erfüllt. Insofern darf vermutet werden, dass im DSM-V dieser Sachlage Rechnung getragen wird und das amerikanische System zur bereits vollzogenen Berücksichtigung dieses Subtyps in der ICD-10 aufschließen wird. Die Sachlage bei der Komorbidität von ADHS und emotionalen Störungen (Angst und Depression) ist hingegen weniger eindeutig. Diese Komorbidität kann 1. bei etwa einem Viertel der Klientel beobachtet werden, während 2. umschriebene soziodemographische Faktoren fehlen. Hingegen führt diese Komorbidität 3. zu einer erhöhten Belastung. Vorerst sind 4. spezielle biologische Faktoren unbekannt, während eine gemeinsame familiäre Vulnerabilität für ADHS und Depression besteht, was sowohl für 5. familiär-genetische als auch für 6. familiäre Umweltfaktoren sprechen kann. Schließlich liegen 7. keine Erkenntnisse über einen charakteristischen Verlauf vor. Hingegen ist belegt, dass 8. der Effekt der Stimulanzien bei dieser Komorbidität vergleichsweise geringer ist, während Antidepressiva und auch Verhaltenstherapie wirksamer sein können. Diese kritische Sachlage (Jensen et al. 1997) einschließlich der eher skeptischen Beurteilung durch Barkley (2007) lassen die Aufnahme der Komorbidität von ADHS und emotionalen Störungen in das DSM-V eher unwahrscheinlich erscheinen. Eine ganz ähnliche Einschätzung muss wohl auch für die Verbindung von ADHS mit Bipolaren Störungen vorgenommen werden. Hier bleiben große Unsicherheiten, ob es ich nur um überlappende Kriterien verschiedener diagnostischer Einheiten oder eine gemeinsame genetische Anlage, um eine wirkliche Koexistenz von zwei oder mehreren Störungen oder aber um eine entwicklungsabhängige Manifestation im Kindesalter handelt (Kent und Craddock 2003). Eine in der angelsächsischen Diskussion weitgehend vernachlässigte Komorbidität ist die Verbindung von ADHS und motorischer Entwicklungsverzögerung (developmental coordination disorder, DCD). Verschiedene Studien haben gezeigt, dass ADHS und DCD stark untereinander und auch mit der Störung mit oppositionellem Trotzverhalten assoziiert sind, DCD wiederum mit spezifischen Lernstörungen, einschließlich Lesestörungen und visuo-perzeptiven Problemen verbunden ist und ADHS und DCD eine starke gemeinsame genetische Komponente haben (Kadesjö und Gillberg 1998, 1999; Wilson und McKenzie 17 © 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart 1 ADHS als psychopathologische Diagnose: Rückblick und Ausblick I Einführung 1.3 Genetische Forschung und Klassifikation Für die zeitgenössische genetische Forschung in der Psychopathologie erweist sich die Orientierung an den überkommenen, durch die gültigen Klassifikationen definierten Störungen zunehmend als hinderlich, zumal die entsprechenden Zusammenhänge von Phänotyp und Genotyp nur gering ausgeprägt sind. Zwillingsstudien bei ADHS stützen aber die Validität des Subtyps von ADHS und dissozialem Verhalten in Form von Störungen des Sozialverhaltens (SSV) oder oppositionellem Trotzverhalten (OTV). Diese Komorbidität ist wahrscheinlich durch eine gemeinsame genetische Ursache auf entweder direktem oder indirektem Weg über GenUmwelt-Korrelationen oder -Interaktionen bedingt und wird wahrscheinlich durch eine gemeinsame Zahl von Genen gesteuert (Nadder et al. 2002). Zusätzlich zeigen verhaltensgenetische Befunde, dass ADHS den größten Anteil seiner genetischen Ursachen mit SSV/OTV und Defiziten der Exekutivfunktionen teilt, wobei es wahrscheinlich noch weitere von ADHS unabhängige genetische Einflüsse auf SSV, OTV und Exekutivfunktionen gibt (Coolidge et al. 2000). Schließlich zeigen Untersuchungen mit der 18 bereits erwähnten LCA an Zwillingen, dass es offensichtlich mehrere genetisch unabhängige Formen von ADHS mit unterschiedlichem Schweregrad der Symptome und verschiedenen Komorbiditätsmustern gibt (Todd 2000). Angesichts der durch die aktuelle Klassifikation gesetzten Grenzen für Fortschritte in der Erforschung der genetischen Ursachen von psychischen Störungen allgemein und ADHS im Speziellen hat in der jüngsten Vergangenheit die Suche nach den sog. Endophänotypen begonnen. Diese sind, wie bereits erwähnt, als Brücken zwischen Genotyp und Phänotyp zu verstehen und nutzen messbare Markiervariablen auf anderen biologischen Ebenen (z. B. elektrophysiologische oder andere bildgebende Merkmale), bei neuropsychologischen Merkmalen (z. B. einzelne Exekutivfunktionen) oder im Bereich psychopathologischer Phänomene (z. B. spezifische Persönlichkeitsmerkmale). Diese Richtung der Forschung wird von der Hoffnung angetrieben, eine klarere Beziehung einzelner Gene oder ihrer Kombinationen mit spezifischen Endophänotypen zu finden. Sollte sich diese Forschungsstrategie als fruchtbar erweisen, könnte sie bedeutsame Auswirkungen auf die Konzeption von ADHS und anderen psychischen Störungen haben. Damit würde vielleicht zumindest teilweise die Ätiologie in gewandelter Form wieder Einzug in die Klassifikation bekommen, nachdem die Revisionen der Vergangenheit eher eine Abkehr von der ätiologischen und eine Zuwendung zur deskriptiven Klassifikation vollzogen hatten. Schlussfolgerungen Klassifikationen psychischer Störungen und damit auch von ADHS müssen sich kontinuierlich der Frage nach ihrer Revision im Lichte neuer Forschungsergebnisse stellen. In © 2010 W. Kohlhammer, Stuttgart 1998; Martin et al. 2006). Diese Befunde sprechen nicht nur die Frage nach einem weiteren validen Subtyp von ADHS an, sondern können auch als eine empirisch besser umgrenzte Neuformulierung des alten, allerdings zu weit gefassten Konzeptes der sog. Minimalen Zerebralen Dysfunktion verstanden werden. Eine Aufnahme in das revidierte amerikanische Konzept von DSM-V dürfte aber unwahrscheinlich sein, nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil sämtliche Studien zu ADHS und DCD außerhalb der USA durchgeführt wurden. diesem Beitrag wurde schwerpunktmäßig der kategoriale Ansatz in der Psychopathologie verfolgt, der sich an fixen Diagnosekriterien auf der Basis einer klinischen Syndromlehre orientiert und bisher alle Klassifikationen dominiert hat. Für die anstehende Revision der diagnostischen Kriterien von ADHS in DSM-V und ICD-11 sind mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die folgenden Veränderungen zu erwarten bzw. zu erhoffen, um in Einklang mit den gewachsenen Forschungserkenntnissen zu kommen: • Eine Revision der Symptomlisten und Zusatzkriterien für ADHS. • Eine der Entwicklung angemessene, altersangepasste Klassifikation der Kriterien, Symptome und psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen bei ADHS. • Eine Revision der Subtypen von ADHS mit Berücksichtigung von Komorbiditäten. • Eine separate Klassifikation von ADHS und ADS. Hingegen ist weniger zu erwarten, dass in die zentral der Versorgung dienenden Klassifikationen die immer wieder aus der Forschung erhobene Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung des sog. dimensionalen Ansatzes nachhaltig eingehen wird. Dieses Konzept wird jedoch in der Forschung von möglicherweise zunehmender Bedeutung werden, zumal es mit der Annahme kontinuierlicher Ausprägungen von Verhaltensmerkmalen in Populationen, der Möglichkeit zur Bildung einer individuellen Profildiagnostik und der möglichen Nutzung für die Definition von Endophänotypen eine besondere theoretische Attraktivität hat. Literatur Acosta MT, Catellanos FX, Bolton, KL, Balog JZ, Eagen P, Nee L, Kones J, Palacio L, Sarampote C, Russell PF, Berg K, Arcos-Burgos M, Muen- ke M (2008) Latent class typing of attention deficit/hyperactivity disorder and comorbid conditions. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 47:787–807. Barkley, RA (2006) Attention Deficit Hyperactivity Disorder. A handbook for diagnosis and treatment. Second edition. New York: Guilford. Barkley, RA (2007) What may be in the store for DSM-V? ADHD Report 15:1–7. 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