Diagnose und Therapie der ADS

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Diagnose und Therapie der ADS
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Einführung
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ADHS als psychopathologische Diagnose:
Rückblick und Ausblick
1 ADHS als psychopathologische Diagnose: Rückblick und Ausblick
Einleitung
1.3 Defizite der aktuellen Klassifikation
1.2 Komorbiditäten und nosologische Typologie
1.3 Genetische Forschung und Klassifikation
Schlussfolgerungen
Einleitung
Die Geschichte der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als eines Phänomens menschlichen Verhaltens
reicht weiter zurück als allgemein angenommen. So kann historisch auf herausragende
Persönlichkeiten der Menschheit wie z. B.
auf die Eroberer Alexander der Große oder
Dschingis Khan hingewiesen werden, die
vermutlich von ADHS betroffen waren, um
damit zugleich auch den kreativ-produktiven Anteil anzusprechen, der bei einer ausschließlich psychopathologischen Betrachtung außerhalb des Blickfeldes bleibt.
Wissenschaftsgeschichtlich sind der Begriff
und das Konstrukt von ADHS hingegen
noch relativ jung (vgl. Rothenberger und
Neumärker 2009).
Erste Beschreibungen, die mit der aktuellen Diagnose ADHS vereinbar sind, finden
sich schon in der englischen Literatur bei
Alexander Crichton am Ende des 18. Jahrhunderts und bei George Still zu Beginn des
20. Jahrhunderts. Der in der aktuellen No-
menklatur der ICD-10 verwendete Begriff
der Hyperkinetischen Störung wird in der
deutschsprachigen Literatur bereits bei Kramer und Pollnow (1932) verwendet. Die besondere Fokussierung auf ein Syndrom mit
Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung
und Impulsivität begann sich international
jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg zu etablieren. Während in den 60er- und 70er-Jahren
des 20. Jahrhunderts aus der Tradition der
organischen Störungen kommend in vielen
Ländern noch der Begriff der Minimalen Zerebralen Dysfunktion (minimal brain dysfunction) eine zentrale Bedeutung in der
kinder- und jugendpsychiatrischen Krankheitslehre hatte, vollzog sich speziell in der
nordamerikanischen Fachliteratur mit Studien über das „hyperactive child syndrome“
eine stärkere Zentrierung auf eine deskriptive Psychopathologie, die sich bei der Definition von Störungen auf Verhaltensphänomene anstatt auf ätiologische Ableitungen
stützte.
In dieser Entwicklung der Forschung verlagerte sich der Fokus zunehmend auf den
Aspekt der Aufmerksamkeitsstörung, sodass
schließlich in der 1980 veröffentlichten dritten Fassung der US-amerikanischen Klassifikation des Diagnostic and Statistical Manual
(DSM-III) eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit und ohne Hyperaktivität erfasst
wurde, während die Internationale Klassifikation der Krankheiten mit dem Begriff des
Hyperkinetischen Syndroms zur gleichen Zeit
in der ICD-9 und seit den 1990er-Jahren mit
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Hans-Christoph Steinhausen
dem Begriff der Hyperkinetischen Störung in
der ICD-10 den Akzent weiterhin stärker auf
die Hyperaktivität setzt. Dabei bedient sie
sich aber des in der Neurologie bereits anders
definierten Begriffs der Hyperkinese als einer
speziellen motorischen Störung und schuf
somit einen problematischen Begriff für eine
psychische Störung.
Andererseits vollzog sich die Entwicklung
der nordamerikanischen Terminologie auch
nicht frei von zeitgeschichtlichen Wirrungen,
zumal schon in der 1987 vollzogenen Revision in Form des DSM-III-R die Aufspaltung
in eine Aufmerksamkeitsstörung mit bzw.
ohne Hyperaktivität aufgehoben wurde und
die kombinierte Störung ADHS als einzige
Kategorie verblieb. Nur wenige Jahre später
wurde diese Entwicklung mit dem DSM-IV
von 1994 wieder zurückgenommen und die
vorherige Differenzierung erneut eingeführt.
Seitdem werden drei Typen differenziert: ein
kombinierter Typ, ein vornehmlicher Aufmerksamkeitsdefizit-Typ (AD) und ein vornehmlicher Hyperaktiv-impulsiver Typ (HI).
In der Phase der Vorbereitung von DSM-V
und ICD-11 darf man gespannt sein, welche
Revisionen des Konzeptes aus der Reflexion
der aktuellen Wissenslage durch die Expertenkommissionen die nähere Zukunft bestimmen wird. Das vorliegende Kapitel versucht
einige Linien der Forschung aufzuzeigen, die
bei einer Neufassung der ADHS-Kriterien
berücksichtigt werden sollten.
1.1
Defizite der aktuellen
Klassifikation
Die Forschung zu ADHS hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel stärker an der Typologie des DSM als an der Typologie des
ICD orientiert, die in der noch aktuellen 10.
Revision neben dem Einheitskonzept der
Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit
zusätzlich auch die komorbide Hyperkineti14
sche Störung des Sozialverhaltens berücksichtigt (vgl. Steinhausen 2009). Problematisch an der Klassifikation gemäß DSM-IV
ist zunächst die mangelnde Berücksichtigung
der Tatsache, dass es sich bei dem Typ der
Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) und
dem kombinierten Typ (ADHS) um deutlich
verschiedene Syndrome handelt. Die ICD
hingegen kennt eine derartige ADS überhaupt nicht, und es ist verwunderlich, dass
in den Kreisen von Praktikern und Laien der
Begriff der ADS eine erstaunliche Popularität
gewonnen hat. Hier darf wohl kritisch angemerkt werden, dass die Dominanz des
Begriffs ADS gegenüber dem der ADHS in
diesem Sprachgebrauch offensichtlich durch
das Syndrom einer „ausgeprägten Differenzierungs-Schwäche (aDS)“ bedingt ist.
Tatsächlich liegen beim Aufmerksamkeitsdefizit-Typ Probleme der fokussierten und
selektiven Aufmerksamkeit vor und es fehlen
Probleme der Enthemmung, während beim
kombinierten Typ Probleme der persistenten
Anstrengung und Ablenkbarkeit sowie Probleme der Enthemmung im Vordergrund
stehen, die auch nach Rückbildung der Hyperaktivität im Entwicklungsverlauf bestehen
bleiben (Barkley 2006). Bei ADS bestehen
zentrale Probleme des Arbeitsgedächtnisses
sowie stärkere Probleme der Motivation als
der Inhibition, und zahlreiche Befunde der
Forschung weisen ADS als eine separate Störung mit unterschiedlichem Profil in den Bereichen von Kognitionen, Verhalten, Komorbiditäten, Medikation und Neurobiologie aus
(Diamond 2005). Somit liegen hinlängliche
Argumente vor, eine differenzierende Klassifikation vorzunehmen.
Weitere Gründe für eine Revision der
Klassifikation von ADHS lassen sich aus
empirischen Untersuchungen ableiten, die
mit der mathematischen Methode der sog.
„latent class analysis“ (LCA) an verschiedenen Stichproben durchgeführt wurden.
Dabei konnten einerseits recht gute Replikationen der DSM-IV-Typologie z. B. hinsichtlich einer hohen Ausprägung von
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Aufmerksamkeitsdefizit-Merkmalen (Neuman et al. 1999), aber auch Befunde ermittelt werden, die eine Modifikation dieser
Typologie nahelegen. So fanden sich Klassen
mit reinem AD, aber auch Klassen von
ADHS in Komorbidität mit oppositionelltrotzigem Verhalten (OTV) oder der kombinierte Typ in Verbindung mit verschiedenen Komorbiditäten (Neuman et al. 2001)
sowie schließlich auch eine geringe Korrespondenz mit den DSM-IV-Subtypen (Rasmussen et al. 2002).
Im Interesse einer Verbesserung der Korrespondenz zwischen Phänotyp und Genotyp
wurden in einer neueren Untersuchung neben
ADHS auch die Symptome der häufigen dissozialen und emotionalen Störungen einbezogen. Die durch die LCA ermittelten Befunde fielen in sechs bis acht verschiedene
Cluster; dabei waren die emotionalen Störungen (Angst und Depression) in allen Altersgruppen stark mit AD und dem kombinierten ADHS-Typ verbunden, während die
Störungen des Sozialverhaltens (SSV) stark
mit dem ADHS-Typ assoziiert waren (Acosta et al. 2008). Auch diese mit der LCA ermittelten empirischen Befunde könnten sowohl für die zukünftige Klassifikation als
auch die molekulargenetische Forschung
relevant werden, die mit der Identifikation
von sog. Endophänotypen (s. u.) nach tragfähigen Brücken zwischen Genotyp und
klassischem Phänotyp sucht.
Zahlreiche weitere Aspekte der aktuellen
Klassifikation gemäß DSM-IV bedürfen auf
der Basis von Erkenntnissen der Forschung
und der klinischen Praxis einer kritischen
Überprüfung.
Entsprechende Argumente hat Barkley
(2007) unlängst zusammengefasst. Aktuell
werden bei der Diagnosenstellung noch zwei
separate Schwellenkriterien für AD und HI
berücksichtigt, wobei diese beiden Subtypen
ungenügend differenziert werden. Tatsächlich wäre die Bildung eines einzigen Kriteriums sinnvoller. Ferner ist die Zahl der Symptome ungewöhnlich hoch und noch dazu
redundant. Keine andere Störung wird im
DSM-IV mit derart vielen Symptomen definiert. Ein gravierendes Defizit stellen zudem
die ungenügende Entwicklungsanpassung
der Symptome und das Fehlen von Schwellenkriterien für verschiedene Altersgruppen
dar. Die aktuellen Symptomkriterien beziehen sich schwerpunktmäßig auf männliche
Kinder im Alter von etwa sechs bis zwölf
Jahren. Modifikationen müssten die Symptomatik sowohl bei Vorschulkindern und
Jugendlichen als auch besonders bei Erwachsenen berücksichtigen, die zunehmend
Schwerpunkte in der Versorgung bilden.
Ferner kritisiert Barkley (2007) auch die
ungenügende Abbildung theoretischer Konzepte auf der Verhaltensebene in der aktuellen Klassifikation von ADHS. In den letzten
Jahren haben sich als zentrale theoretische
Entwürfe vor allem das Konzept der mangelnden Inhibition und das der Aversion
gegenüber Belohnungsaufschub (delay aversion) herauskristallisiert, die bei der Revision stärkere Berücksichtigung finden müssten.
Barkley geht hier in seinen Überlegungen so
weit, die Begriffe des AD durch die breiter
gefasste Störung der Exekutivfunktionen und
der HI durch Probleme der Verhaltensinhibition zu ersetzen. Damit würden theoretische Konstrukte der Neuropsychologie an
die Stelle des Verhaltens treten.
Auch in der Formulierung anderer Aspekte der definierenden Kriterien bestehen Notwendigkeiten für eine Überarbeitung. So sind
einige Merkmale mit verschieden interpretierbaren Zusätzen wie „oft“ oder „entwicklungsunangemessen“ oder „signifikant beeinträchtigend“ versehen, die beträchtliche
Unschärfen schaffen. Ebenso sollte das Kriterium des Alters bei Symptombeginn bei
sieben Jahren modifiziert werden. Zahlreiche
der erst oft spät diagnostizierten Erwachsenen sind nicht in der Lage, den Beginn ihrer
Störung mit exakten Altersangaben zu belegen. Hier wäre eine Erweiterung des Kriteriums auf den Zeitraum von Kindheit und
Jugend hilfreich. Ein weiterer kritischer
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1.2
Komorbiditäten und
nosologische Typologie
Das gleichzeitige Auftreten mehrerer Krankheiten ist in der Medizin eher die Regel als
die Ausnahme. Der für dieses Phänomen erst
zu Beginn der 1970er-Jahre in der Epidemiologie geprägte Begriff der Komorbidität
ist in der Psychopathologie nicht unproblematisch, weil er eigentlich nur im Kontext
gut validierter Krankheitseinheiten mit gut
aufgeklärter Pathologie und Ätiologie sinnvoll ist. Nicht ohne Grund wird in der Psychopathologie der Begriff der Störung präferiert, zumal viele psychopathologische
Syndrome von dieser Konzeption einer
Krankheit (lateinisch: morbus) recht weit
entfernt sind. Die alternative Verwendung
von eher angemessenen Begriffen wie Kovariation oder Koexistenz (Lilienfeld 2003)
hat sich aber in der erst wenige Jahrzehnte
alten Forschung zur gleichzeitigen Manifestation psychopathologischer Syndrome nicht
durchgesetzt.
Die Erforschung von Komorbiditäten hat
für die Klassifikation von psychischen Störungen insofern besondere Bedeutung, als
über die Ergebnisse möglicherweise neue
Störungseinheiten oder Subtypen begründet
werden können. Dies wiederum hat weitreichende Konsequenzen, da eine Differenzierung von Subtypen möglicherweise zu
einer Reduktion der klinischen und der ätiologischen Heterogenität sowie zu einer Verfeinerung der Behandlungs- und Präventionsstrategien führen kann. Voraussetzung
für die Etablierung neuer Subtypen ist aber
vorgängig der hinlängliche Nachweis, dass
es sich um einen jeweils validen Subtyp handelt. Für diese Feststellung ist in der Psychopathologie nach Überlegungen, die auf
Robins und Guze (1970) zurückgehen, die
positive Beantwortung möglichst vieler der
folgenden acht von Jensen et al. (1997) für
ADHS aufgeworfenen Fragen erforderlich:
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Punkt betrifft die psychosoziale Funktionstüchtigkeit. Nicht nur bei ADHS ist dieses
Merkmal von zentraler Bedeutung, sondern
generell bei allen psychischen Störungen,
zumal sich die Ableitung von erforderlichen
Interventionen in erster Linie aus der Beeinträchtigung der psychosozialen Adaptation
und nicht primär nur aus dem Vorliegen einer Störung ergibt. Dieses Merkmal benötigt
jedoch eine altersangepasste Definition, zumal sich z. B. die Aufgaben für Kinder in
Schule und Familie deutlich unterscheiden
von denen der Erwachsenen in Beruf und
Partnerschaft. Für eine chronische Störung
mit Lebenszeitperspektive wie bei der ADHS
ist eine derartige entwicklungsangepasste
Definition der psychosozialen Funktionstüchtigkeit daher von großer Bedeutung.
Weitere Kritik betrifft die Validität der
Subtypen. Diese kann aktuell nur für den
kombinierten ADHS-Typ als gesichert angesehen werden. Der HI-Typ ist oft nur ein
Vorläufer von ADHS, während ADS in sich
sehr heterogen ist. Es kann sich um eine
Residualstörung handeln, bei der sich HI im
Entwicklungsverlauf zurückgebildet hat, die
HI-Ausprägung kann unterschwellig sein
oder es liegt eine wirklich andere Störung
mit trägem kognitiven Tempo und Antriebsminderung im Sinne von Hypoaktivität vor.
Die zukünftige Klassifikation muss ferner
bei der Definition von Subtypen die Forschungsergebnisse zu Komorbiditäten aufnehmen. Der von der ICD-10 bereits aufgenommene Subtyp der Hyperkinetischen
Störung des Sozialverhaltens, also die Kombination von ADHS und dissozialem Verhalten, ist eine valide Störungseinheit, die
auch in das DSM Eingang finden muss. Hingegen ist die Validität von Komorbiditäten
mit emotionalen Störungen wie Angst, Depression und Bipolarer Störung noch nicht
vergleichsweise gut gesichert. Die Bedeutung
der Berücksichtigung von Komorbiditäten
bei der Klassifikation psychischer Störungen
soll im folgenden Abschnitt noch etwas detaillierter betrachtet werden.
1. Handelt es sich um eine umschriebene
klinische Symptomatik?
2. Liegen umschriebene demographische
Faktoren vor?
3. Liegen spezielle psychosoziale Faktoren
vor?
4. Liegen spezielle biologische Faktoren
vor?
5. Liegen spezielle familiär-genetische Faktoren vor?
6. Liegen spezielle familiäre Umweltfaktoren
vor?
7. Ist der Verlauf charakteristisch?
8. Gibt es spezifische Behandlungsergebnisse?
Für die häufigste Komorbidität von ADHS,
nämlich die mit einer Störung des Sozialverhaltens, fallen die Antworten auf diese acht
Fragen mehrheitlich positiv aus. Es handelt
sich 1. um eine häufige Koexistenz mit einem
höheren Schweregrad, die 2. häufiger beim
männlichen Geschlecht auftritt und 3. mit
herabgesetzter psychosozialer Funktionstüchtigkeit einhergeht. Ferner liegen 4. wahrscheinlich spezifische neuropsychologische
und 5. familiär-genetische Faktoren vor, die
6. durch negative Interaktionen in der Familie unterhalten werden. Schließlich ist 7. der
Verlauf ungünstiger, während 8. die Wirksamkeit der Medikamente zwar nicht verschieden, der Aufwand im Sinne einer multimodalen Behandlung aber sicher höher ist.
Jensen et al. (1997) haben bei der Sichtung
der Forschungsergebnisse zu Recht geschlossen, dass diese Komorbidität die Kriterien
an die Validität eines Subtyps überzeugend
erfüllt. Insofern darf vermutet werden, dass
im DSM-V dieser Sachlage Rechnung getragen wird und das amerikanische System zur
bereits vollzogenen Berücksichtigung dieses
Subtyps in der ICD-10 aufschließen wird.
Die Sachlage bei der Komorbidität von
ADHS und emotionalen Störungen (Angst
und Depression) ist hingegen weniger eindeutig. Diese Komorbidität kann 1. bei etwa
einem Viertel der Klientel beobachtet werden, während 2. umschriebene soziodemographische Faktoren fehlen. Hingegen führt
diese Komorbidität 3. zu einer erhöhten Belastung. Vorerst sind 4. spezielle biologische
Faktoren unbekannt, während eine gemeinsame familiäre Vulnerabilität für ADHS und
Depression besteht, was sowohl für 5. familiär-genetische als auch für 6. familiäre Umweltfaktoren sprechen kann. Schließlich
liegen 7. keine Erkenntnisse über einen charakteristischen Verlauf vor. Hingegen ist
belegt, dass 8. der Effekt der Stimulanzien
bei dieser Komorbidität vergleichsweise geringer ist, während Antidepressiva und auch
Verhaltenstherapie wirksamer sein können.
Diese kritische Sachlage (Jensen et al. 1997)
einschließlich der eher skeptischen Beurteilung durch Barkley (2007) lassen die Aufnahme der Komorbidität von ADHS und
emotionalen Störungen in das DSM-V eher
unwahrscheinlich erscheinen. Eine ganz ähnliche Einschätzung muss wohl auch für die
Verbindung von ADHS mit Bipolaren Störungen vorgenommen werden. Hier bleiben
große Unsicherheiten, ob es ich nur um überlappende Kriterien verschiedener diagnostischer Einheiten oder eine gemeinsame genetische Anlage, um eine wirkliche Koexistenz
von zwei oder mehreren Störungen oder aber
um eine entwicklungsabhängige Manifestation im Kindesalter handelt (Kent und Craddock 2003).
Eine in der angelsächsischen Diskussion
weitgehend vernachlässigte Komorbidität ist
die Verbindung von ADHS und motorischer
Entwicklungsverzögerung (developmental
coordination disorder, DCD). Verschiedene
Studien haben gezeigt, dass ADHS und DCD
stark untereinander und auch mit der Störung
mit oppositionellem Trotzverhalten assoziiert
sind, DCD wiederum mit spezifischen Lernstörungen, einschließlich Lesestörungen und
visuo-perzeptiven Problemen verbunden ist
und ADHS und DCD eine starke gemeinsame
genetische Komponente haben (Kadesjö und
Gillberg 1998, 1999; Wilson und McKenzie
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Genetische Forschung
und Klassifikation
Für die zeitgenössische genetische Forschung
in der Psychopathologie erweist sich die Orientierung an den überkommenen, durch die
gültigen Klassifikationen definierten Störungen zunehmend als hinderlich, zumal die
entsprechenden Zusammenhänge von Phänotyp und Genotyp nur gering ausgeprägt
sind. Zwillingsstudien bei ADHS stützen
aber die Validität des Subtyps von ADHS
und dissozialem Verhalten in Form von Störungen des Sozialverhaltens (SSV) oder oppositionellem Trotzverhalten (OTV). Diese
Komorbidität ist wahrscheinlich durch eine
gemeinsame genetische Ursache auf entweder
direktem oder indirektem Weg über GenUmwelt-Korrelationen oder -Interaktionen
bedingt und wird wahrscheinlich durch eine
gemeinsame Zahl von Genen gesteuert (Nadder et al. 2002). Zusätzlich zeigen verhaltensgenetische Befunde, dass ADHS den
größten Anteil seiner genetischen Ursachen
mit SSV/OTV und Defiziten der Exekutivfunktionen teilt, wobei es wahrscheinlich
noch weitere von ADHS unabhängige genetische Einflüsse auf SSV, OTV und Exekutivfunktionen gibt (Coolidge et al. 2000).
Schließlich zeigen Untersuchungen mit der
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bereits erwähnten LCA an Zwillingen, dass
es offensichtlich mehrere genetisch unabhängige Formen von ADHS mit unterschiedlichem Schweregrad der Symptome und verschiedenen Komorbiditätsmustern gibt (Todd
2000).
Angesichts der durch die aktuelle Klassifikation gesetzten Grenzen für Fortschritte
in der Erforschung der genetischen Ursachen
von psychischen Störungen allgemein und
ADHS im Speziellen hat in der jüngsten Vergangenheit die Suche nach den sog. Endophänotypen begonnen. Diese sind, wie bereits erwähnt, als Brücken zwischen Genotyp
und Phänotyp zu verstehen und nutzen messbare Markiervariablen auf anderen biologischen Ebenen (z. B. elektrophysiologische
oder andere bildgebende Merkmale), bei
neuropsychologischen Merkmalen (z. B. einzelne Exekutivfunktionen) oder im Bereich
psychopathologischer Phänomene (z. B. spezifische Persönlichkeitsmerkmale). Diese
Richtung der Forschung wird von der Hoffnung angetrieben, eine klarere Beziehung
einzelner Gene oder ihrer Kombinationen
mit spezifischen Endophänotypen zu finden.
Sollte sich diese Forschungsstrategie als
fruchtbar erweisen, könnte sie bedeutsame
Auswirkungen auf die Konzeption von
ADHS und anderen psychischen Störungen
haben. Damit würde vielleicht zumindest
teilweise die Ätiologie in gewandelter Form
wieder Einzug in die Klassifikation bekommen, nachdem die Revisionen der Vergangenheit eher eine Abkehr von der ätiologischen und eine Zuwendung zur deskriptiven
Klassifikation vollzogen hatten.
Schlussfolgerungen
Klassifikationen psychischer Störungen und
damit auch von ADHS müssen sich kontinuierlich der Frage nach ihrer Revision im Lichte neuer Forschungsergebnisse stellen. In
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1998; Martin et al. 2006). Diese Befunde
sprechen nicht nur die Frage nach einem weiteren validen Subtyp von ADHS an, sondern
können auch als eine empirisch besser umgrenzte Neuformulierung des alten, allerdings
zu weit gefassten Konzeptes der sog. Minimalen Zerebralen Dysfunktion verstanden
werden. Eine Aufnahme in das revidierte
amerikanische Konzept von DSM-V dürfte
aber unwahrscheinlich sein, nicht zuletzt vielleicht auch deshalb, weil sämtliche Studien
zu ADHS und DCD außerhalb der USA
durchgeführt wurden.
diesem Beitrag wurde schwerpunktmäßig der
kategoriale Ansatz in der Psychopathologie
verfolgt, der sich an fixen Diagnosekriterien
auf der Basis einer klinischen Syndromlehre
orientiert und bisher alle Klassifikationen
dominiert hat. Für die anstehende Revision
der diagnostischen Kriterien von ADHS in
DSM-V und ICD-11 sind mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit die folgenden Veränderungen zu erwarten bzw. zu erhoffen, um in
Einklang mit den gewachsenen Forschungserkenntnissen zu kommen:
• Eine Revision der Symptomlisten und Zusatzkriterien für ADHS.
• Eine der Entwicklung angemessene, altersangepasste Klassifikation der Kriterien, Symptome und psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen bei ADHS.
• Eine Revision der Subtypen von ADHS
mit Berücksichtigung von Komorbiditäten.
• Eine separate Klassifikation von ADHS
und ADS.
Hingegen ist weniger zu erwarten, dass in die
zentral der Versorgung dienenden Klassifikationen die immer wieder aus der Forschung
erhobene Forderung nach einer stärkeren
Berücksichtigung des sog. dimensionalen Ansatzes nachhaltig eingehen wird. Dieses Konzept wird jedoch in der Forschung von möglicherweise zunehmender Bedeutung werden,
zumal es mit der Annahme kontinuierlicher
Ausprägungen von Verhaltensmerkmalen in
Populationen, der Möglichkeit zur Bildung
einer individuellen Profildiagnostik und der
möglichen Nutzung für die Definition von
Endophänotypen eine besondere theoretische
Attraktivität hat.
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