TRENDS

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DIE RHEINPFALZ AM SONNTAG
SEITE 16
E
s beginnt ganz früh, kaum
dass die Kleinen laufen gelernt haben und einfache
Worte wie „Auto“ oder
„Mama“ sagen können: Die Entdeckung des Gummistiefels als unübertroffenem Allwetter-Spielschuh, der
beim Durchwaten von Pfützen vor
Feuchtigkeit schützt, im Sandkasten
das Eindringen piksender Körnchen
verhindert und wundervolle Abdrücke auf Muttis frisch gewischtem Küchenboden hinterlässt. Kleinkinder,
die Gummistiefel tragen, haben eher
eine nasse Windel als feuchte Füße,
sofern sie ihre Stiefel nicht dem Härtetest in einem viel zu tiefen Matschloch oder im nächst gelegenen Bach
unterziehen. Es ist eine selige Zeit
voller Eroberungsdrang, denn dank
ihrer Gummistiefel glauben die Rotznasen tatsächlich, über Wasser gehen zu können.
20. SEPTEMBER 2009
AUF STREIFE
Gummistiefel und
Wasser gehören zusammen wie Pech und
Schwefel. Das praktische Schuhwerk ist
mittlerweile so trendy,
dass man es (fast)
immer tragen kann,
wie hier am Schloss
Charlottenburg in
Berlin. (foto: hix)
Chanel wurden schon Gummistiefel
gesichtet. Wobei der darauf angesprochene Karl Lagerfeld kürzlich in
der Klatschpresse mit den Worten zitiert wurde: „Ich wusste nicht einmal, dass wir Gummistiefel herstellen.“ Ob man denn in den ChanelGummis ebenfalls Schweißfüße bekommt, wurde in dem Zusammenhang übrigens leider nicht geklärt.
Die Produzenten höherpreisiger
Modelle arbeiten zum Teil mit allerhand Tricks, das anrüchige Problem
in den Griff zu bekommen. Sei es
durch eine atmungsaktive Fütterung
oder durch kluge Passformen oder
am besten durch beides, damit
Feuchtigkeit und Wärme aufgenommen und infolge der Gehbewegung
nach außen gepumpt werden können. Gerade Jäger und Naturfreunde
fordern in dieser Hinsicht mehr innere statt äußere Werte.
Für Kinder sind Gummistiefel Begleiter durch alle
Hindernisse. Für Jugendliche sind sie das Hindernis.
Die Unbeschwertheit hält ungefähr bis zur sechsten oder siebten
Schulklasse an. Die Kinder haben
dann zwar immer noch Gummistiefel im Schrank, doch merken sie langsam, dass die Dinger unter optischen
Gesichtspunkten dem neuesten Turnschuh aus dem Hause Nike oder Adidas nicht das Wasser reichen können. Außerdem bereitet es auch nur
noch bedingt Freude, auf dem Schulhof in Pfützen zu springen, um die
Umstehenden nass zu machen.
Kurz, Gummistiefel entwickeln
sich für einen Pubertierenden im
Frühstadium zum „No-Go“, wie Untragbares auf Neu-Deutsch so schön
heißt. Wobei durch Eltern auferzwungenes Fehlverhalten – „Du
ziehst jetzt die Plastiksocken an und
damit basta!“ – vom sozialen Umfeld des Heranwachsenden gnadenlos mit Schmährufen sanktioniert
wird und zu traumatischen Belastungen führen kann (genauso wie ZweiStreifen-Turnschuhe, Mützen mit Ohrenklappen und andere „praktische“
Kleidungsstücke). Es ist die Zeit, in
der das hormonelle Sein das Modebewusstsein bestimmt.
Der Erwachsene entdeckt dann irgendwann die Vorzüge des Gummistiefels wieder, nämlich wenn er
sich vom Modewahn befreit hat und
es partout nicht mehr einsieht, bei
Regenwetter seine guten Lederschuhe zu versauen. Andererseits weiß
der reife Mensch, dass es keine Vorzüge ohne Nachteile gibt. Denn so
wenig wie der Gummistiefel Wasser
reinlässt, so wenig lässt ein einfaches Modell es eben auch heraus.
Die Folge sind übel riechende marinierte Socken und ein schweißnasser Fuß. Da Geruchsnerven, Schamgefühl und Eitelkeit vor allem bei Männern im Alter mitunter stark nachlassen, gehören die „Waldbrand-Austreter“, „Flurschadenbretter“ oder auch
„Friesen-Röhren“ bei dieser Spezies
teilweise zur Grundausstattung.
Allerdings gibt es im Garten oder
beim Angeln auch einfach keinen
besseren Schuh. Und in einem richtigen Schweinestall käme ohnehin keiner auf den Gedanken, sich über
strenge Gerüche zu beklagen. Kurz
und gut, der Gummistiefel ist ein
bisschen wie ein Kondom: Es ist gut
eines zu haben, wenn man es
braucht. Das Aussehen ist egal.
Hauptsache, es ist dicht.
Das mit dem Aussehen hat sich in
den vergangenen Jahren jedoch geändert. So wie es ja längst bunte Kondome gibt, wurde das Farbspektrum
Was darf‘s sein? Das
Top-Modell für 255 Euro?
Oder doch lieber die
Version für zehn Euro?
Flippige Röhren
Früher waren Gummistiefel praktisch, grau und anrüchig. Kurz: absolut nicht sexy.
Heute kommen die Latexlatschen knallbunt und modisch daher. Mit ihnen geht‘s
zur Cocktail-Party statt in den Kuhstall. Von Marco Heinen
STIEFELPARADE I
Blümchen oder Karos:
Neue Herbstmodelle
von Giesswein (1, 2, 6),
Viking (3, bei mare2.de),
Aigle (4, bei Görtz)
und der Damenstiefel
mit Schnürung, ebenfalls von Aigle (bei
grube-shop.de), jeweils
von links gezählt.
STIEFELPARADE II
Einfarbig oder quietschbunt: Giesswein (1),
Viking (2, bei mare2.de),
Görtz (3, 5 („Hunter
Boots“) und 6) sowie
die mit Kalbsleder gefütterten Jagdstiefel
„St. Hubert“ der Firma
Le Chameau (bei grube-shop.de).
STIEFELPARADE III
Rindvieh oder Hufeisen: Görtz (1, „Hunter
Boots“), alle anderen
Viking (bei mare2.de).
fotos: firmen (18).
Wo der Modetrend zum Gummischuh herkommt, darüber gehen die
Meinungen auseinander. Womöglich war es ja Paris Hilton, die sich
einst für einen TV-Selbstversuch in
den Stall eines Bauernhofes wagte?
Oder war es die Sendung „Bauer
sucht Frau“, die stilbildend wirkte?
Schäfer Heinrich & Co. als Trendsetter, man glaubt es kaum. Vielleicht
sind dann doch eher ein paar US-Promis verantwortlich, so wird im Internet spekuliert, die sich mit dem stylischen Schuhwerk auf irgendwelchen
Partys haben sehen lassen. Vorzugsweise am Strand oder in der Nähe
eines Swimming-Pools, weil es da ja
auch nass werden kann.
Claudia Schulz vom Deutschen
Schuhinstitut in Offenbach meint indes, der Trend stamme eindeutig
von den Britischen Inseln, wo der
Country-Stil fast schon zum guten
Ton gehöre. Oberste Trendsetterin
wäre demnach die Queen, die sich
nicht zu fein ist, mit ihren „Wellies“ so werden die Gummistiefel im
feuchten Inselreich genannt – und in
der typisch britischen Wachsjacke in
die Öffentlichkeit zu treten.
Für den letzten Kick dürfte jedoch
Supermodel Kate Moss gesorgt haben, die mehrfach das traditionell
matschige Musikfestival im südenglischen Glastonbury in Gummistiefeln
besuchte – und ebensolche für einen
guten Zweck signiert hat. Sponsor
dieser Aktion war die Firma Hunter,
und die ist königlicher Hoflieferant
für, na klar, Gummistiefel. So wird
ein Schuh draus!
Mindestens bis zum kommenden
Jahr werde der Trend zum Latex-Treter wohl noch anhalten, prophezeit
eine Sprecherin der Schuhkette
Görtz. In der Marketingabteilung des
Tiroler Herstellers Giesswein spricht
man von erhöhter Nachfrage, sogar
schon in den Sommermonaten: „Die
Saison hat längst angefangen. Es regnet ja fast jeden Tag“, so der trockene Kommentar der Mitarbeiterin, die
in diesem Herbst vor allem KaroMuster als „sehr gefragt“ einstuft.
Aber egal, ob das Wetter gut oder
schlecht ist, die Farben und Motive
der modischen Gummistiefel lassen
keine schlechte Laune aufkommen.
Bunte Berglandschaften, FlowerPower-Look, Sonnenblumen, röhrende Hirsche oder ungewöhnliche Unifarben zieren die teils mit Schnallen
und Schnürsenkeln aufgepeppten
Schaftschlappen.
Einige eher dunkel gehaltene Modelle mit verspielten Mustern bieten
SCHICHT IM SCHAFT – RUND UM DIE GUMMITRETER
Vorbei ist das Exil in Wald
und Feld – die flexiblen
Treter sind salonfähig.
Wenn das Design stimmt.
beim Gummilatschen über die Klassiker-Farben Gelb, Dunkelgrün und
Dunkelblau hinaus deutlich erweitert. Dank der wachsenden Zahl sintflutartiger Regenfälle ist der nützliche Stiefel inzwischen – nomen est
omen – auf dem Vormarsch und in
vielen bunten oder dezent schicken
Dessins erhältlich.
Teilweise sind diese so schön, dass
man sie bei schlechtem Wetter gar
nicht tragen mag und lieber auf den
nächsten Sonnenschein wartet.
Selbst aus dem Hause der Edelmarke
WO DER STIEFEL HERKOMMT
Die Erfindung des Amerikaners Charles
Nelson Goodyear, Kautschuk zu vulkanisieren und so Gummi zu gewinnen,
bescherte uns nicht nur die von Goodyear erfundenen Gummikondome, sondern auch den Gummistiefel. 1850 traf
Goodyear seinen Landsmann Hiram
Hutchinson, der ihm das Patent auf
die Herstellung von Schuhen und
Schutzkleidung aus Gummi abkaufte.
1953 meldete Hutchinson in Frankreich die Marke „À L‘Aigle“ an, als Reminiszenz an den US-Adler („Eagle“).
Noch heute stellt die Firma „Aigle“
Gummistiefel her. In Großbritannien
ließ erstmals Arthur Wellesley, erster
Herzog von Wellington, 1817 einen
Stiefel aus Kalbsleder fertigen. Dieser
ähnelte vom Schnitt her den späteren
Gummistiefeln. Der Adlige setzte einen
Trend, die Stiefel wurden fortan „Wellies“ genannt. Als der Amerikaner Henry Lee Norris Mitte der 1850er Jahre
nach Schottland zog, um die „North
British Rubber Company“ zu gründen,
waren Wellies längst ein Begriff. Dennoch ist Norris‘ Firma – heute „Hunter
Boot Ltd.“ – eng mit der Bezeichnung
Wellies verbunden, vor allem durch
den „Hunter Boot“ von 1955.
WIE DER STIEFEL GEMACHT IST
Gummistiefel bestehen häufig nur zum
geringen Teil oder gar nicht aus Gummi, sondern aus schwererem PVC oder
Polyurethan und werden – zumindest
in den billigen Varianten – mehr oder
minder maschinell hergestellt. Hochwertige Stiefel werden indes aus Natur-
kautschuk oder Gummimischungen mit
hohem Latexanteil gefertigt und im
Ofen vulkanisiert. „Je höher der Naturkautschukanteil ist, umso haltbarer
und flexibler ist der Gummistiefel“,
sagt Thorsten Milkereit, Produktmanager bei der Firma Grube aus Bispingen, einem Spezialausrüster für Jäger,
Naturfreunde und Umweltschützer.
Doch es ist nicht nur das Material, das
die Schuhe teilweise recht teuer
macht. Gute Modelle entstehen in
Handarbeit aus vielen Einzelteilen. So
gibt es etwa einen Jagdstiefel für 169
Euro von Le Chameau, der dank einer
Fütterung mit Bambusviskose und einer Art Belüftungssystem, bei dem die
Feuchtigkeit quasi aus dem Schuh gepumpt wird, auch bei sehr langem Tragen trockene Füße verspricht. (hix)
Nur Gummi? Von wegen.
In manchem Stiefel
steckt High-Tech. Für den
wirklich trockenen Fuß.
sich als Alternative für den Theaterbesuch an, und selbst im Wald ist
längst nicht allein Jägergrün gefragt.
Auf ein Modell der Firma Muckboot
sind beispielsweise Baumstämme
aufgedruckt – vermutlich, um das
Niederwild zu verwirren und die Tarnung des Naturfreundes nicht auffliegen zu lassen. Die Zeiten, als es nur
die Wahl zwischen hoch und halbhoch gab, sind jedenfalls endgültig
vorbei. Die Klimakatastrophe kann
kommen. Modisch sind wir gut darauf vorbereitet.
RSG_16

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