Die Dinge der Popkultur // SoSe 11 // Dozent: Prof. Dr. Stefan
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Die Dinge der Popkultur // SoSe 11 // Dozent: Prof. Dr. Stefan
Die Dinge der Popkultur // SoSe 11 // Dozent: Prof. Dr. Stefan Krankenhagen Glossar: Der Kaugummiautomat Der Kaugummiautomat ist ein öffentlich zugängliches, mechanisches Gerät zur Ausgabe von Süßoder Spielwaren. Zur Montage an Außenwänden werden Automaten in Kastenform mit Metallgehäuse verwendet, die durch die Anzahl von ein bis vier Warenschächten eine Bandbreite von verschiedenen Produkten anbieten können. Kaugummiautomaten für Innenräume von Geschäften oder privaten Nutzern hingegen bestehen aus Plastik, weisen meist ein großes durchsichtiges Fach auf und können frei im Raum aufgestellt werden. Der Ausgabemechanismus hat sich seit der Einführung der Automaten nicht verändert und funktioniert bei allen Exemplaren mittels Einwerfen einer Münze und zweimaligem Betätigen des jeweiligen Drehgriffs. Das Gerät wird daraufhin eine einzelne Ware „ausspucken“, die hinter der Ausgabeklappe entnehmbar ist. Neben seiner äußeren Form stellt der Kaugummiautomat auch durch seine Farbe Wiedererkennungswert her: Die Gehäuse sind in der Regel rot mit weißer Frontseite, seltener orange. Die Füllware besteht zum größeren Teil aus Süßwaren; Am weitesten verbreitet sind die bunten 15mm-Standart-Kaugummikugeln aus Dextrose, Zucker, Kaumasse, Aromen und Farbstoffen. Dazu kommen diverse andere Produkte zum Kauen oder Lutschen, deren Eignung vor allem durch Haltbarkeit und ein spektakuläres „Munderlebnis“ bestimmt wird. Ein geringerer Teil der Schächte wird mit kleinen Spielwaren wie Scherzartikel, Schmuckstücke oder Sticker gefüllt. Hier haben Aufsteller die Möglichkeit, populäre Strömungen aufzugreifen und z.B. ihre Automaten während der Fußball-WM mit Spielermaskottchen auszustatten oder wie in den 90er Jahren die plötzliche immense Nachfrage nach bunten Plastikschnullern zu stillen. Niemand weiß, wie viele öffentliche Kaugummiautomaten in Deutschland an Wänden hängen und wie viele davon noch funktionstüchtig sind, auch nicht Institutionen wie der Bundesverband der Warenautomatenaufsteller e. V., der in diesem Jahr (2011) sein 50. Jubiläum feiert. Die geschätzte Anzahl aller Automaten liegt zwischen 280.000 und 800.000 Stück, die wiederum von rund 6.000 Aufstellern betreut werden. Als Aufsteller kann man von ca. 2.400 Automaten leben, sodass neben Kaugummi- auch Zigaretten- und Kondomautomaten meist aus einer Hand verwaltet werden. Wer sich als Hausbesitzer einen Automaten an die Wand montieren lässt, bekommt für Kaugummiautomaten mehr Provision als für Zigarettenautomaten. Geld und insbesondere Hartgeld hat die Karrierelaufbahn des Kaugummiautomaten durchgehend beeinflusst. Als die ersten Aufsteller, inspiriert durch den Kaugummikonsum der amerikanischen Besatzung, zu Beginn der 50er Jahre die Geräte in Deutschland einführten, war das Vorhandensein von einheitlichem Münzgeld Voraussetzung für die Etablierung der Automaten. Das in jüngerer Vergangenheit immer unrentabler werdende Geschäft hat sich mit der Umstellung auf den Euro noch einmal immens verschlechtert. Viele Aufsteller hielten es aufgrund der schwindenden Nachfrage nicht mehr für lohnenswert, die Münzfächer umzubauen, wodurch zahlreiche Automaten nicht mehr nachgefüllt und noch leichter zum Ziel von Vandalismus wurden. Zum Zielpublikum gehören heute Kinder, Nostalgiker, Sammler und Nachtschwärmer. Das soziale Gefüge eines Bezirks kann man anhand seiner Kaugummiautomatendichte ablesen; so hängen die meisten Automaten entlang von Schulwegen, auf Nachtclubmeilen oder in der urbanen Peripherie in der Nähe von Bushaltestellen oder Parkplätzen, während man in bürgerlichen Wohnvierteln vergeblich nach ihnen sucht. Den Umstand, dass gerade an Orten mit wenigen Beschäftigungsmöglichkeiten für Kinder Kaugummiautomaten hängen, machen sich die Herstellerfirmen zunutze und argumentieren mit der pädagogischen Funktion ihrer Automaten, an denen Kinder kontrolliert und dennoch selbstständig erste Erfahrungen im Umgang mit Geld machen können. Nicht umsonst wird ein Automat direkt in Augenhöhe von Kindern angebracht, tatsächlich fungiert er als ein Gegenüber, welches annimmt und erwidert, was man ihm gibt: Zwar führt er in der Regel einfach den gewünschten Vorgang durch, jedoch bleibt die Spannung, ob der Mechanismus funktioniert und vielleicht das begehrte Einzelstück freigibt, bis zum Abschluss der Kaufhandlung erhalten. Durch diese Unberechenbarkeit entsteht die Illusion eines eigenen Willens des Kaugummiautomaten, anhand derer Konsumenten eine Beziehung zu ihm als Ding aufbauen können. Gleichzeitig stiftet der Automat Beziehungen zwischen Menschen: Kinder begreifen das Erlebnis des „Kaugummi-Ziehens“ als gemeinsamen Ausflug in die verruchten Domänen der Erwachsenen, Glücksspiel und ungesunde Konsumgüter. Erwachsene tauschen sich über Erinnerungen aus ihrer eigenen Kindheit aus, die den bis heute unveränderten Automaten anhaften und Jugendliche entwickeln in ihrem Drang, Grenzen auszuloten und den Zweck von Dingen zu unterlaufen, das Aufbrechen der Automaten untereinander zum allgemeinen Volkssport. Der Automat ist popkulturelles Ding für sich selbst, gleichzeitig konstituiert er einen aufwertenden Kontext für die popkulturellen Dinge, die er beinhaltet. Durch seine Eigenschaft, die Füllware durch Sichtfenster gleichzeitig zu präsentieren und zu entziehen, macht er diese interessant und generiert Begehren bei potentiellen Käufern. Das Mysterium um die Ware hinter Plexiglas, von der niemand weiß, wie lange sie im Automaten liegt, wer sie wie hinein gefüllt hat und welches Teil der Automat freigeben wird, lässt das einzelne Kaugummi im Ausgabefach erscheinen wie aus einer anderen Dimension ins Diesseits getreten. Unterstützt wird dieses Moment durch die fragwürdigen hygienischen Umstände, die im Inneren des Automaten herrschen, sodass das Interesse von Konsumierenden beständig zwischen Faszination und Ekel changiert. Darüber hinaus kann der Kaugummiautomat als ein Indikator gesellschaftlichen Umbruchs gedeutet werden, indem man ihn als ersten Vorboten anonymisierter Kaufvorgänge liest. Ebenso werden in ihm die sich verändernden „wants“ unserer Konsumgesellschaft offenbar, welche sich seit Mitte des letzten Jahrhunderts vermehrt für Waren interessiert, die ohne jegliche Langlebigkeit die Freude am Gimmick versprechen. Von Marleen Wolter