„Morgen tanzt die ganze Welt“

Transcription

„Morgen tanzt die ganze Welt“
I
mag
sonnabend/sonntag, 14./15. september 2002
Fortgesetzte Notaufnahme. Barbara Bollwahn über den Fall eines Simulanten aus Hilflosigkeit SEITE IV und V
Anwalt der Ohnmächtigen. Ulrike Winkelmann über das Phänomen Schill
SEITE VI
Unter das Eisen setzen. Heide Oestreich über einen neuen Film zur Beschneidung von Frauen
SEITE VII
37. woche
nr. 259
„Ich bin open-minded – ihr seid es
nicht!“ Blick in das Berliner Atelier von
Norbert Bisky FOTO: FRANK WEGNER
„Morgen tanzt
die ganze Welt“
Interview von NIKE BREYER
S-Bahn-Station Humboldthain im Berliner Arbeiterbezirk Wedding. Wie verabredet, kommt Norbert Bisky im Auto
vorbei, um den Weg ins Atelier abzukürzen, der durch Bronx-ähnlich verwinkelte Straßenzüge in einen alten Industriehof führt. Biskys Atelier ist ein großer, heller, sauberer Raum. Bilder stehen an die Wand gelehnt. Die bemalte
Seite ist weggedreht. Ein Hawaiihemd
hängt zum Trocknen im Badezimmer
am Ende des Flurs. Mit dem blondem
Kurzhaarschnitt wirkt Norbert Bisky
jungenhaft, ist entwaffnend gut erzogen. Einer, dem man schwer die faustische Künstlerexistenz zutraut, dagegen
problemlos jeden Tag eine gute Tat.
taz: Herr Bisky, den bühnenreifen
Zwischenfall im Mai auf Ihrer Vernis-
sage im Brandenburgischen Kunstverein in Potsdam haben Sie mitbekommen?
Norbert Bisky: Dass das eine Bild runtergefallen ist?
Ja, das mit dem Jungen, der den
Arm zum „deutschen Gruß“ erhoben
hat. War das jetzt symbolisch?
Ich kenne die Geschichte so, dass jemand so lange dagegengestoßen hat,
bis das irgendwann runtergekommen
ist.
Gerüchte.
Sie standen daneben, na gut. Also, ich
weiß nicht, warum das Bild von der
Wand gekommen ist. Am Bild kann es
nicht liegen. Wahrscheinlich lag’s an
den Energien, die die Leute dagegengeschickt haben. Ich finde, man muss sich
da jetzt mal ein bisschen beruhigen. Die
Medien – oder wer auch immer – rennen durch so eine Ausstellung und suchen etwas, woran sie sich hochziehen
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Manche Kritiker
wittern bei diesem
Maler Nazifolklore,
andere sichten
sozialistische
Propaganda. An
Norbert Biskys Pop
Art blauäugiger,
blonder Jugend
scheiden sich die
Geister
können. Das ist aber, glaube ich, ein völlig harmloses Bild. Der Junge könnte genauso gut nach hinten zeigen. Der Arm
verlängert sich eben in der Diagonalen.
Das glaub ich eher nicht, dass der
auch auf ein Flugzeug oder eine Libelle zeigen könnte.
Na gut. Ich hab mir ja auch was dabei
gedacht. Warum hängt dieses Bild nun
in dieser Ausstellung in Potsdam, in
Brandenburg.
Warum?
Kunst hat ja mit Kommunikation zu
tun. Ich fahre viel in Brandenburg herum, und da ist es in den so genannten
neuen Ländern nun so, dass die Kids,
wenn sie auf der Suche sind nach einer
Geste, nach einem Zeichen, mit dem sie
die gesamte andere Welt maximal verschrecken können, die Welt ihrer Eltern,
also alle, die älter sind als achtzehn und
damit Feinde, dann beziehen sie sich
halt auf diese ganze alte Nazischeiße.
12. September 2002, 15:16 Uhr
Hm.
Ich habe da erst mal keine Berührungsängste. Da ist auch mein kultureller
Hintergund. Ich komme ja aus dieser
russischen Kolonie. Aber ich finde es erschreckend, wenn Sie durch diese Orte
fahren, wie dort Leute mit kahl rasiertem Kopf Patrouille fahren, in ihren tiefer gelegten Autos. Ich hab’s grad wieder erlebt. Vielleicht (lacht) drehen sie
auch nur ihre Kreise, weil sonst gar
nichts los ist.
Das ist bedrohlich?
Auf mich wirkt es sehr bedrohlich. Ich
will jetzt gar nicht irgendwelche Klischeetüren aufstoßen. Aber das sind
Dinge, wo ich sage, da ist was nicht in
Ordnung. Da war bis gestern so ein
Pseudosozialismus, und jetzt rennen
die Leute mit doch sehr rechten, vielleicht nicht Ansichten, aber nach außen
Fortsetzung nächste Seite
tazmag
Fortsetzung
getragenem Gebaren herum. Darauf reagiere ich. Ich betone das nochmal, das
ist kein faschistisches Bild. Das ist auch
keine Ausflucht. Das zum einen. Das andere ist: Wir haben eine kranke, ungesunde Situation, in der jeder, der versucht, sich mit der deutschen Geschichte, also mit diesen beiden Diktaturen,
durch die wir gegangen sind, zu beschäftigen – und ich fühle mich geradezu genötigt, mich damit zu beschäftigen, weil ich in dieser einen Dikatatur
groß geworden bin –, sofort in eine
rechte nationalistische Ecke gedrückt
wird. Es gibt da diesen türkischen
Schauspieler, der fährt durch die neuen
Bundesländer mit einem Tourneeprogramm und liest aus „Mein Kampf“ vor.
Das ist eine ganz großartige Sache. So
muss man das machen. Man muss die
Sachen erst mal auspacken: Was haben
die da gemacht? Woher kommt diese
Faszination?
Das fehlt weitgehend.
Und das ist schlimm. Schlimm für unsere Kultur. Ich bin durch meine Herkunft, durch die Art, wie ich lebe, durch
das, was ich tue, durch und durch antifaschistisch und in meiner Existenz von
dieser Form der Ideologie auch bedroht,
dass ich der Erste bin, der jedes Interesse hat, gegen die Gefahren dieser Ideologie zu kämpfen. Nur – man muss anders damit umgehen. Und das versuche
ich. Die britischen Chapman-Brüder
etwa können sich ganz frei, dabei auf
sehr interessante Weise mit dem Phänomen Nationalsozialismus beschäftigen. Wenn Sie das als deutscher Künstler tun, kriegen Sie sofort Probleme.
Prinzipiell stimme ich zu. Aber sind
Ihre Bilder nicht besonders offen?
Kann die nicht jeder lesen, wie er will?
Ich bin ganz sicher, diese Bilder kann
man nicht mehr missbrauchen als andere auch. Das ist unmöglich.
Warum reibt sich die Kritik dann so
sehr an diesem Punkt?
Ich kratze an den Türen. Und dahinter
ist das Zimmer, in das man nicht reingehen darf. Nehmen wir die Achtundsechziger. Da haben sich Leute einer Generation in ein ganz bestimmtes Wertesystem begeben und sind jetzt auf ganz
totalitäre Weise in ihrem eigenen Denkmuster drin. Ich bin in einer Diktatur
großgeworden. Mir ist das alles sehr
vertraut. Wenn jemand nicht die Freiheit aufbringt, Dinge auch einfach mal
zuzulassen, registriere ich das sofort.
Ich lebe aus dem Bewusstsein, ich bin
jetzt in einer freien offenen Gesellschaft und kann mich auch frei und offen bewegen – und das tue ich.
Sie halten wenig davon, dass ein
Künstler mitverantwortlich ist für die
Weise, in der er wirkt.
(Energisch) Ich bin hundertprozentig
verantwortlich für meine Bilder. Dabei
ist das offensichtlich eine Frage, die
schrecklich interessant ist. Denn sie
II
morgen tanzt die ganze welt
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wird mir immer wieder gestellt: Was ist,
wenn die Rechten so ein Bild kaufen?
Nun bin ich in der komfortablen Situation, dass die das einfach noch nie gemacht haben. Und dafür gibt’s auch
Gründe. Das glaubt mir nur keiner.
Dafür gibt’s Gründe?
Sie haben mich fürchterlich beschimpft in ihrem Szenezentralorgan
Junge Freiheit, wie dumm und uninteressant das alles ist, was ich mache.
Interessant.
Da könnte ich mich zurücklehnen und
sagen, damit ist das Problem für mich
erledigt. So ist es aber gar nicht. Wenn
diese Leute anfangen, sich mit meinen
Sachen auseinander zu setzen, dann
setze ich mich auch mit diesen Leuten
auseinander. Ich lehne es ab, von vornherein zu sagen, diese Leute dürfen
kein Bild von mir kaufen. Und wissen
Sie, warum ich das ablehne? Wegen der
totalitären Art, diese Dinge zu denken.
Wie auch immer, sie machen’s nicht. Sie
können mich nicht leiden. Ich kann die
auch nicht leiden. Das wissen wir also
gegenseitig.
Können wir auf Ihre Bilder schauen? Auf dem einen, das Sie mir eben
gezeigt haben, löst sich der Körper des
Jungen so eigenartig auf. Die Form des
Arms erinnert an eine Kaulquappe.
Das stört die Feier des schönen, gesunden Körpers.
Das ist ein Bild, an dem ich sehr sehr
lange gemalt habe. Das habe ich vor
zwei Jahren begonnen und erst Ende
letzten Jahres fertig gestellt. Es ist durch
vier verschiedene Ateliers getragen
worden, also ein Bild, mit dem ich rumgereist bin. Vielleicht hat es dem Bild
gut getan. Vielleicht sieht man einfach
diese Zeit, die sich darin abgehangen
hat wie bei einem guten Schinken.
Und das Motiv? Das grenzt an Morphing, an bildtechnische Veränderung der natürlichen Morphologie.
(Nachdenklich): Na ja, es gibt ja so linkische Bewegungen, die ganz sicher sein,
ganz sicher aussehen sollen, die dabei
aber furchtbar missglücken.
Sie sehen es weniger vom Malerischen.
Mehr vom Motiv. Zum Malerischen
kann ich sagen, was ich vorher auch
schon zu diesem falschen Hitlergruß
gesagt habe, dass die Bewegung hier relativ genau in die Diagonale reingeht.
Das ist etwas, was ich gut finde und oft
benutze. So ein Bild hat vier Kanten. Da
sind die Möglichkeiten, das Geschehen
zu dynamisieren, begrenzt. Und diese
wenigen (lacht) muss man nutzen.
Es geht also um eine missglückte
Bewegung, vielleicht um eine missglückte Pose?
Posen sind ja der Körper als Zeichen,
nicht wahr. Der Körper macht ein Zeichen. Und Zeichen sind toll, weil sie relativ universell sind.
Innerhalb eines Kulturraums.
Ja, oder in einem anderen Kulturraum
anders aussehen. Letztes Jahr habe ich
in Portugal ausgestellt. Da sagen die
Leute, na ja gut, das ist ein deutscher
Maler, und finden das gar nicht ungewöhnlich, dass die Figuren alle blond
sind. Das entspricht deren Vorstellung
vom Norden Europas. Die sehen auch
gar nicht diese Bezüge zum Osten, die
zu Anfang hier immer so herausgestellt
wurden, den Bezug zur Tradition der
russischen Bilder oder den Bildern aus
den russischen Kolonien. Die Leute in
Portugal haben solche Bilder noch nie
gesehen. Deshalb stellen sie andere Zusammenhänge her. Dann reden Sie mit
einem Biologen, und der sagt Ihnen
dann, na ja, das ist ja klar, hier sind die
Möglichkeiten thematisiert, die durch
die Genomentschlüsselung und die
Möglichkeiten des Klonens entstehen.
Der meinte, die Figuren sähen aus wie
aus einer Pro7-Nachmittagsserie, wo
Außerirdische auf der Erde landen, die
alle gleich aussehen und komisch gucken.
So was läuft nachmittags auf Pro7?
(Lacht): Keine Ahnung. Ansonsten kann
ich dazu nur sagen: Klischees sind so
eine Sache. Man kann sich gegen Klischees überhaupt nicht wehren. Das ist
ein verlorener Kampf. Man kann da nur
so rangehen, dass man sie absolut übererfüllt. Indem man den Erwartungen so
sehr entspricht, dass es ins Leere läuft.
Das ist der Umgang, den ich am besten
finde.
Pose befindet sich ja in direkter
Nachbarschaft zum Klischee. Beides
befreit das Individuum vom authentischen Ausdruck. Geschieht das auf Ihren Bildern bewusst?
Absolut bewusst! Gehen Sie doch einmal auf die Straße: Die Leute sehen alle
gleich aus. Es wird zwar erzählt, dass alles immer individueller wird. Aber ich
habe eher den gegenteiligen Eindruck.
Früher haben die Leute die gleichen
Klamotten gekauft. Jetzt rennen sie in
die Fitnessstudios und versuchen alle,
den gleichen Körper zu kriegen. Das ist
absurd.
Die Menschen betrachten ihren
Körper als ein Kleid, an dem sie herumschneidern können.
Eine groteske Situation. Es gibt ja auch
Menschen, die haben Visionen und
bauen an ihrem Leben, die versuchen
etwas zu schaffen, ein Haus, ein Bild.
Dagegen steht diese Ichbezogenheit:
Ich bau nur noch an meinem Körper
rum.
Ihre Bilder entwerfen in gewisser
Weise das Ideal dieses modernen
Gleichheitswahns: makellose, weitgehend identische Körper. Dabei haben
die Figuren, malerisch gesehen, oft
auch etwas Ornamentales.
Da entsteht was. Das ist alles bei mir
noch nicht fertig. Das sind dann vielleicht irgendwann Fleischberge. Oder
wenn Sie das Bild umdrehen (lacht),
sind’s Hühner. Da geht es überhaupt
nicht mehr um einen einzelnen Körper.
Das ist ja auch ein abstraktes Bild.
Trotzdem nimmt man das Erzählerische meist stärker wahr. Irgendwo
war in Bezug auf Ihre Figuren sogar
mal von „blonden Bestien“ die Rede.
Dabei wird oft vergessen, dass es sich
um Leinwand und Ölfarbe handelt, dass
das eine ganz langsame Sache ist, die
aus der Tradition der Bilder lebt und
auch daraus erwachsen ist. Dass das
überhaupt nichts angelegt Spektakuläres ist.
Also keine blonden Bestien.
Das habe ich schon ein paar Mal gesagt:
Holen Sie doch die Nazibilder hervor!
Das Probem ist: Man sieht sie nicht.
Sie denken an Arno Breker?
Der war ja Bildhauer. Von Skulpturen
verstehe ich überhaupt nichts. Ich weiß
überhaupt nicht, was das ist, so komische dreidimensionale Sachen. Ich bin
(lacht) ein vollkommen flacher Mensch.
Aber wenn man diese Bilder der Dreißigerjahre daneben hält, dann sieht man
ganz klar, wie anders meine Bilder sind.
Da der Vergleich fehlt, wird immer eine
falsche Vergleichbarkeit konstruiert.
Ihre grellen Candyfarben erinnern
tatsächlich eher an Bubblegum und
Pop Art als an die NS-Bildsprache.
Dieses Bild ist viel näher an Jeff Koons
dran als an Arno Breker. Im Übrigen
habe ich mich auch ein bisschen mit
diesen Sachen beschäftigt. Es gibt ja diese Sportlerbewegung seit Ende des 19.
Jahrhunderts, mit diesen „Spartakiaden“ und Arbeitersportfestspielen.
Im sozialistischen Russland.
Nö, überall, auch in Deutschland. Es gab
eine Unmenge von lebensreformerischen Ansätzen. Das war eine Reaktion
auf den Körper, den die Industriegesellschaft produziert hat, und der ganz
schrecklich aussieht irgendwann. Dabei
begrüßen sich die Sportler mit erhobenem Arm. Die Nazis haben das nicht erfunden, sie haben benutzt, was es vorher schon gab. Weil sie so eine gewalttätige Kultur hervorgebracht haben, haben sie das alles vereinnahmt. Vielleicht muss man ihnen das einfach wieder wegnehmen, es aushöhlen und entleeren, dass es ihnen nicht mehr gehört.
Sie haben Jeff Koons erwähnt.
Koons kommentiert unsere Welt als
eine Warenwelt. Auch Ihre Bilder zeigen Ähnlichkeiten zur Bildsprache
der Werbung.
Die Werbewelt ist ja vor allem eins: Sie
ist ganz fantastisch funktionierende
Propaganda. Sie schafft das, was diese
armselige kommunistische Kulturwelt
nie erreicht, aber immer versucht hat:
Propaganda und Werbung für ihr eigenes System so zu machen, dass die Leute ganz glücklich und überzeugt davon
durch die Gegend laufen. Das schaffen
diese Werbestrategen für ihre Produkte
auf eine ganz grandiose Weise: Die Leute identifizieren sich mit ihrem Auto
oder mit ihrer Waschmaschine. Da ich
von außen komme, hab ich dafür einen
besonderen Blick. Nicht zuletzt ist die
„Es ist die Frage,
ob man Kunst
und Moral immer
in einem Atemzug nennen
muss.“ Norbert
Bisky vor Öl auf
Leinwand FOTO:
FRANK WEGNER
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12. September 2002, 15:16 Uhr
Mauer wegen dieser bunten Filmchen
gefallen. Man soll die Kraft dieser Werbebotschaften nicht unterschätzen. Das
ist das eine. Das andere ist: Es ging vorhin um den Kommentar, den Jeff Koons
zur Gesellschaft formuliert. Also mir
wurde zehn Jahre lang immer gesagt,
du kommst aus einer Welt, die ganz unterdrückt war. Von der bist du geprägt.
Du hast keine freien Gedanken im Kopf.
Du kannst dich gar nicht frei bewegen.
Du musst das erst mal lernen.
Sagten die Wessis.
Damit wurde man jahrelang bombardiert. Ich habe nun den ganz starken
Impuls, mit meiner Arbeit aufzuzeigen:
Nein, ich bin ganz tolerant. Ich bin
open-minded, ihr seid es nicht. Mit
zwei, drei kleinen Griffen führe ich
euch an eure Grenzen und sage euch, da
geht ihr nicht weiter. Über diese Brücke
geht ihr nicht. Da habt ihr ganz intolerante Gedanken. Da werdet ihr sofort
ganz undemokratisch. Das ist mein Impuls. Das wird sich wahrscheinlich irgendwann erledigt haben.
Aber macht diese tolle Propaganda
der Werbung, wie Sie sagen, nicht
auch dumm und krank?
Also, Propaganda ist für mich ganz negativ besetzt. Wenn man sich vorstellt,
was sich da abspielt: Die Leute sagen,
ich gehe zwar wie ein Idiot jeden Tag in
den falschen Job, aber damit verdiene
ich das Geld, um mir Dinge zu kaufen,
von denen mir gesagt wird, dass ich sie
kaufen muss. Dieses „Shoppen“ hat ja
nichts Freiwilliges, sondern die Leute
müssen sich bestimmte Dinge anschaffen, damit sie weiter in der Gesellschaft
drin sind. Ich finde es schlimm, dass es
ausschließlich irgendwelcher Autound
Produktwerbung
überlassen
bleibt, die Sehnsüchte der Menschen zu
visualisieren. Dass sich die Künste immer mit dem Dreck und den Problemen
beschäftigen müssen. Man muss auch
der Werbung die Utopien wieder wegnehmen, diese ganz alte Sehnsucht der
Menschen nach einem guten, schönen
Leben.
Vielleicht nimmt man aber der Werbung mit den utopischen Motiven
auch den Mechanismus der Entmündigung. Muss man da nicht Widerhaken in die eigene Arbeit einbauen?
Ich bin ganz sicher, dass die Widerhaken, die andere in Bilder eingebaut haben, blöde sind und überhaupt nicht
funktionieren. Es gibt ja in den Neunzigerjahren diese Soz-Art. Da wird dann
eine heile Welt gemalt, um dann einen
roten Pinsel zu nehmen und das alles
wieder durchzustreichen oder irgendwas drüberzuschreiben. Das finde ich
dümmlich. Auf der andern Seite soll
man so ein Bild auch nicht überschätzen. Man kann dort keine Konflikte klären. Das kann man mit Worten machen.
Man kann die Bilder verrätseln?
Man kann auch das Gegenteil machen.
Und ich glaube, dass das Gegenteil auch
zum Erfolg führt. Ich führe ein Bild vor,
wo die Leute denken können: Das habe
ich sofort erfasst und das ist ja so dumm
und platt und flach. Dann ist das Bild
aber immer noch da und auch noch
nach zehn Jahren. Da sehen sie, dass es
so nicht funktioniert. Denn dann muss
man sich immer noch damit beschäftigen.
Wie erfolgt Ihre Bildfindung? Gibt
es bevorzugte Tageszeiten, besondere
Zustände, Träume?
(Lacht): Ich führe ein relativ normales
Leben.
Verstehe, no sex, no drugs, no rock
’n’ roll.
(Lacht): Nein, nein, keine Drogen. Wenn
ich zwei Gläser Wein getrunken habe,
kann ich schon nichts mehr machen.
Ich muss ausgeschlafen sein, einen klaren Kopf haben, dann kann ich arbeiten.
Was hat am schlechtesten funktioniert von allen Drogen?
Alkohol.
Schlechter als Kokain?
Kokain hat gar nichts gebracht. Da hätte
ich auch einen Kasten Cola trinken können. Was bei Drogen noch eine Rolle
spielt, ist, dass ich die meisten der Zustände, in die sich die Leute da hineinbegeben, auch ohne Drogen erreiche.
Dass ich ohnehin schon immer damit
zu tun habe, dass mich irgendwelche
Visionen packen.
Wo, wann?
Ich finde, dass, wenn man nachts wach
ist und arbeitet, so ein endloser Raum
vor einem liegt. Man ist alleine auf der
Welt. Da kann man unglaublich viele
Dinge erleben.
Und im richtigen Leben?
Mir kommen viele Ideen beim Fahrradfahren oder wenn ich schwimme.
morgen tanzt die ganze welt
Treiben Sie Sport?
Ich bin gerne in Bewegung. Das ist aber
nicht Bewegung, die als Selbstzweck
und auf der Stelle passiert wie bei diesen Laufbändern. Ich kann Sachen nicht
besonders leiden, die mir unproduktiv
vorkommen. Ich mag auch keine Kartenspiele. Weil ich immer denke: Jetzt
sitze ich hier und spiele Karten und was
mache ich eigentlich? Das ist wahrscheinlich der falsche Gedanke. Aber
das ist ein Gedanke, den ich habe.
Auf Ihren Bildern sieht man ständig Menschen bei Sport und Spiel. Verlegen Sie das Wohlgefallen an der
sinnlosen Bewegung in Ihre Bilder?
Ja ja, ganz sicher. (lacht) Meine Bilder
sollen’s mal besser haben als ich. Klar,
Sachen, die ich nicht mache und die in
meinem Leben nicht stattfinden, die
kommen auf die Bilder. Das ist in sich
logisch. So wie in diesem Schlager von
Udo Jürgens: „Was ich im Leben nicht
habe und das alles in Farbe“.
Das bieten bekanntlich auch die
Medien, Werbung und Zeitschriften.
Also, das ist verrückt. Mir werden ja immer Sachen nachgesagt wie Gewalttätigkeit und dass ich diese verherrliche
in meinen Bildern. Kaufen Sie sich eine
x-beliebige Modezeitung und schlagen
Sie eine beliebige Fotostrecke auf und
Sie werden viel mehr von diesen Dingen, die mir unterstellt werden, in diesen Szenarien finden. (Lacht auf, greift
zu der auf dem Tisch liegenden „Vogue
Homme“, blättert): Hier – da hantieren
Gewaltverbrecher. Gucken Sie sich das
mal an, ich erzähl doch keinen Blödsinn. In diesen Bildern sind Gewaltgelüste dargestellt, mit denen ich überhaupt nichts am Hut habe. Ich hinke da
ganz, ganz weit hinter dem her, was an
Produktwerbung entworfen wird, für
blöde Unterwäsche oder solche Sachen,
um das Zeugs zu verkaufen.
Hm.
Heiner Müller hat das mal so formuliert, sinngemäß, als er in New York
durch die Kaufhäuser gerannt ist:
„Zehntausend rosa Unterhosen bejahen nicht das Leben, sondern sehen
nach Tod und Verwesung aus.“
Eine zentrale Figur, die die Werbefotografen bis heute beerben, ist Leni
Riefenstahl. Haben Sie Arbeiten von
ihr in der DDR gesehen oder war das
im Giftschrank weggesperrt?
Überhaupt nicht. Das Ulkige ist, ich
habe mit sechzehn Jahren angefangen,
Fotos zu machen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dieser Ästhetik haben. Und
ich hab’s nie vorher gesehen. Die Frage
ist, wo kommt das her? Vielleicht aus
den Eisenstein-Filmen.
Die konnte man sehen.
Ja. Sergej Eisensteins berühmter Film
„Panzerkreuzer Potemkin“ wurde 1927
ein Kassenschlager in Berlin. Da hat ihn
die Riefenstahl auch gesehen. Also Riefenstahl gab’s nicht, aber Eisenstein
gab’s und Muchina gab’s, diese russische Bildhauerin. Die hat dieses Paar
für die Weltausstellung gestaltet, den
Arbeiter mit der Faust, die Frau mit der
Sichel. Das ist Bildergedächtnis geworden, was ich so im Hinterkopf abgespeichert habe, alle diese Russen, Alexander
Deineka und solche Sachen.
Sie meinen den Sozialistischen Realismus.
Ja, das ist eine vergleichbare Bildsprache, und da hab ich’s halt her.
Riefenstahl haben Sie dann im Westen kennen gelernt.
Die ist mir irgendwann in Salzburg
während der Sommerakademie untergekommen. Da gab’s Bücher, Fotos.
Dann wurde auch ein Film gezeigt. In
der Diskussion habe ich dann gesagt,
das ist ja ungefähr dasselbe, was
Mapplethorpe macht, derselbe Blick.
Da wurde ich böse angegriffen, wie ich
das in einen Topf werfen könne. Der
würde doch schwarze Körper fotografieren, das wäre etwas völlig anderes.
Aber ich sage, wenn man behauptet, das
wäre ein faschistoider Blick auf den
Körper, was man sicher machen kann,
dann muss man sagen, Mapplethorpe
guckt auch faschistisch auf den Körper.
Und die Werbestrategen und Fotografen gucken auch faschistisch auf den
Körper, und die Fitnessstudios gucken
auch faschistisch auf den Körper. Wenn
man diese Dinge strapazieren will,
dann muss man sie generalisieren. Leni
Riefenstahl muss man nicht mehr bekämpfen.
Das ist halt einfacher.
Aber es ist die Frage, ob man Kunst und
Moral immer so in einem Atemzug sehen muss. Oder ob man sich selbst auch
die Möglichkeit gibt, diese Dinge zu
trennen. Ich war gerade in Ägypten.
Wenn Sie diese fantastischen Kunstwerke sehen, die vor Jahrtausenden geschaffen wurden, diese Pyramiden und
vor allem die Malerei in den Gräbern.
Wenn Sie sich vorstellen, was für eine
Barbarei das gewesen sein muss, wie
viele Leute dabei draufgegangen sind,
die das geschaffen haben, dann muss
man aber trotzdem sagen können: Es ist
wahrscheinlich eine absolute Sauerei
gewesen, was dort stattgefunden hat,
aber das Bild ist trotzdem ein gutes Bild.
Darüber denken Sie nach?
Ja, und ich bin noch zu keinem Ergebnis
gekommen. Sehen Sie, in der DDR gab’s
ganz beschissene Künstler, die sich aber
moralisch auf der richtigen Seite gefühlt haben. Deshalb waren ihre Bilder
aber nicht klasse. Dann gab’s Leute, die
moralisch tolle integre Charaktere waren und trotzdem keine besonders guten Zeichnungen gemacht haben. Beim
Sportler ist es einfach. Da sagen Sie, na
gut, der hat jetzt den Weltrekord über
hundert Meter abgeräumt, (lacht) egal
ob er ein Schwein ist oder nicht. Bei der
Kunst wird’s verwickelter.
Manche Leute sagen ja, am 11. September haben die Bilder zurückgeschlagen. Hat das den Umgang mit
den Bildern verändert?
Ich glaube, da passieren zwei ganz fatale Sachen. Das eine ist, dass seitdem in
der Kunst wieder ein Trend zu moralischer Aussage- und Bekenntniskunst
spürbar wird. Da artikulieren sich
übelste Lemuren, die direkt dem Sozialistischen Realismus entstiegen sein
könnten. Man beschäftigt sich mit moralischen, politischen Fragen, aber auf
dumme, platte Weise. Das andere ist:
Ich entstamme ja nun nicht hundertprozentig diesem Kulturkreis. Bin
durch meine Herkunft auch ein bisschen fremd hier. Und das ist gut. Das ermöglicht mir, diese hemmungslose Arroganz, mit der eine bestimmte Form
von Zivilisation der restlichen Welt gegenübertritt, stärker zu fühlen. Man hat
ja gesehen, dass das schon in Deutschland eine relativ komplizierte Sache ist,
wenn man einen bestimmten Teil der
Bevölkerung über mehrere Jahre kulturell demütigt. Also den Menschen sagt:
Wo ihr herkommt, ist Scheiße, euer Leben ist Scheiße, eure Bilder waren
Scheiße, eure Musik ist Scheiße.
Schlimm.
Ist alles nichts wert. Aber wir sind gut.
Dass das schon nicht funktioniert und
zu schweren Aggressionen führt, zu
brennenden Dörfern, zu Leuten, die –
Amok laufen. Dass sich da ganz schlimme Sachen ablagern, im Gedächtnis der
Menschen. Dass das nicht gut ist, sowas
zu tun, das kapiert man vielleicht irgendwann auch in Bezug auf andere
Kulturen und andere Religionen.
Kommen wir bitte nochmal zu Ihren Bildern: Waffen spielen immer
wieder eine Rolle.
sonnabend/sonntag, 14./15. september 2002
Ich hab da ganz platt ein Tabu verletzt,
soweit ich mich auskenne in den alten
Ländern, wie es so schön heißt (lacht).
Aber ich habe als Kind auch einfach viel
mit Kriegsspielzeug gespielt. Das waren
allerdings harmlose Plastikwasserpistolen und solche Sachen. Ich habe damit die Helden imitiert, die ich im Fernsehen in irgendwelchen russischen
Knalliballipartisanenfilmen gesehen
habe. Ich beschäftige mich ja immer
wieder mit Bildern aus meiner Kindheit. Es sind im Übrigen nie Waffen, die
man in irgendeiner Weise benutzen
kann.
Das liegt im Auge des Betrachters.
Also ich fühle mich in keiner Weise zu
Waffen hingezogen. Gar nicht.
Wenn man Ihnen zuhört, scheinen
Künstler und Bild nichts miteinander
zu tun zu haben. Wer hat denn nun
diese Waffenbilder gemalt?
(Lacht): Ich habe diese Bilder gemalt.
Gut. Ich sehe ja nun viel mehr elektronische Bilder als gemalte Ölbilder im Museum, und da spielten Waffen nun mal
eine ganz große Rolle. Aber auch in der
Kunst sind die ersten Bilder Jagdbilder
in Höhlen gewesen. Waffen gehören zu
den Bildern, seit es Bilder gibt.
Sie sind jetzt knapp über dreißig.
Das macht (lachend) fünfzig Jahre, in
denen Sie als Künstler weiter tätig
sein möchten.
(lacht): Sagen wir sechzig!
Okay. Wohin soll die Reise noch gehen? Ich sehe gegenwärtig einen gewissen Widerstreit zwischen der Tendenz, Körper naturgetreu darzustellen, und dem gegenläufigen Hang, es
„falsch“ zu machen. Wo eine Schulter
plötzlich merkwürdig flach, ein Fuß
grob und klumpig aussieht.
Ich bin ganz glücklich, dass ich immer
noch einen falschen Fuß malen kann.
Das ist das Problem, das die Realisten irgendwann haben, dass sie gar nichts
mehr falsch malen können. Das ist ein
ganz schrecklicher unfreier Zustand:
Da haben Sie als Maler echt ein Problem. Ich male eben auch einen Ballonfuß, also einen völlig absurden Fuß.
Dieser Fuß, den Sie da meinen, der
spielt keine Rolle für das Bild und ist relativ scheißegal. Der hängt da unten so
dran, und ich finde, der muss genau so
aussehen, wie er da ist.
Verstehe. Falsch ist richtig.
Manierismus ist nun eine Sache, die
mir sehr nahe ist, denn da beginnt ja die
Kunst. Zumindest die für mich interessante. Die beginnt mit dem Manierismus. Die Leute leben in katastrophalen
Zeitumständen, es gibt Mord und Totschlag, Naturkatastrophen, Seuchen
und die Pest, und sie fangen an, ganz
überdrehte künstliche komische Sachen mit den Bildern zu machen. Die
fangen an, freizudrehen. Das ist was
ganz Interessantes. Dann gibt es ja in
der Malerei auch die Bedeutungsperspektive, wo man nicht mit so einer blöden Zentralperspektive kommt, sondern die wichtigen Sachen malt man
groß und die Sachen, die unwichtig
sind, malt man klein.
In den Kirchen im Mittelalter.
Ganz tolle Sache. Ich habe das Bedürfnis, das in diesem Sinne immer wieder
von Bild zu Bild neu zu entscheiden. Ein
Stil ist da eher hinderlich.
Stil ist hinderlich?
Ja, sehen Sie, das ist ein Wechselspiel.
Ich glaube, dass die Bilder das einerseits
brauchen, dass eine gewisse Annäherung an eine optische Wirklichkeit
stattfindet. Auf der anderen Seite will
ich das Bild auch immer wieder wegzerren von einer zu starken Nähe an eine
reale Widergabe. Ich will auch immer
wieder sagen, nein, das ist ein Bild. Das
ist was ganz Flaches. Das ist Farbe auf
Leinwand.
III
„Morgen tanzt die ganze Welt“: harter
Titel für ein harmloses Bild oder harmloser Titel für ein hartes Bild?
FOTO: KATALOG „ESSIG UND BLUT“
Die Spannung zwischen Bild und
Titel ist bei Ihnen sehr wichtig. Da
heißt es zum Beispiel „Alle wollen den
Führer sehen“ oder „rechts um“. Ein
elektrisches Motiv wie das mit dem
ausgestreckten Arm hat dann wiederum den lieben Titel …
„Morgen tanzt die ganze Welt“.
(lachend): Kann doch nicht bös gemeint sein, denkt man sich da als Betrachter.
„Morgen tanzt die ganze Welt“ klingt,
finde ich, sehr bedrohlich!
Finden Sie?
Es gibt ja diese schöne Zeile, also diese
schreckliche Zeile aus dem NS-Lied „…
und morgen die ganze Welt“. Da ist das
hier wie ein schlechter Robert-Gernhardt-Pseudoreim darauf. Das ist der
Titel, den ich also gar nicht haben muss.
First we take Manhattan …
… then we take Berlin.
Wie auch immer, bei „Morgen tanzt
die ganze Welt“ denkt man doch eher
an die Love Parade.
Ich finde den Titel relativ hart, weil,
wenn die ganze Welt tanzt, dann wird
sie ja dazu auch genötigt. Da stecken
solche perversen Allmachtsfantasien
dahinter. Man kann ja auch die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Im Übrigen
ist „Morgen tanzt die ganze Welt“ ein
tschechischer Film aus den Fünfzigerjahren. Kann ich relativ genau sagen,
tschechisch oder ungarisch. Den Titel
zu meinem Bild gab’s also vorher schon.
Ich hab den nur …
Apropriiert.
Geklaut.
Warum überhaupt so starke Titel?
Also es gibt ja Leute, die nennen ihre Sachen so … hm, Gott … also so was wie
„Schrägraum, Strich, unendlich“. So in
der Art.
Schwer mysteriös.
Pseudoscheiße. Wo sich die Künstler auf
der sprachlichen Ebene weit hinter
dem bewegen, was sie im Bildnerischen
machen, auf Töpferkursniveau. Das versuche ich zu umgehen. So nehme ich
eben Sachen aus diesem Kulturmüllhaufen, den diese Diktaturen hinterlassen haben, und spiele damit. Ich hab
ganz viel Zeug aus meiner DDR-Kindheit im Kopp. Ich kann Ihnen sofort
zwanzig Pionierlieder vorsingen. Absoluter Müll. Wenn mein Gehirn eine
Festplatte wäre, müsste man das löschen. Stattdessen benutze ich diese Sachen. Wenn es gelingt, dann zieht ein
Titel ein Bild nochmal in eine andere
Richtung. Wenn die also auf dem Bild
alle nach links laufen, dann sorgt der
Titel vielleicht dafür, dass sie eigentlich
doch auf dem Weg in die andere Richtung sind.
Der Titel als der letzte Pinselstrich?
Gewissermaßen. Neulich zum Beispiel
habe ich mit einer Freundin telefoniert,
als sie in einer Kneipe war. Da hörte ich
im Hintergrund jemanden den Satz sagen „Schweinefilet wird alle sein“. Das
habe ich aufgeschrieben und dachte,
passt wunderbar zu diesem Bild.
Um so was zu schätzen, muss man
eigentlich Gedichte lesen.
Ich habe tatsächlich ein paar Jahre lang
sehr viel Gedichte gelesen. Gottfried
Benn zum Beispiel. Ich finde auch, Gedichte sind Bildern vergleichbar.
NIKE BREYER lebt als freie Autorin in München
und interessiert sich gerade für die ästhetischen Koordinaten des „faschistischen Blicks“
Marke Deutsch-Pop
Norbert Bisky wurde 1970 in Leipzig geboren. Sein
Vater Lothar Bisky ist der heutige PDS-Fraktionschef
im brandenburgischen Landtag. 1980 zieht die Familie mit den drei Söhnen nach Ostberlin, wo Norbert
Bisky eine typische DDR-Kindheit verlebt: dreizehnter Stock im Plattenbau, FDJ-Mitgliedschaft, singen,
spielen, marschieren.
Nach Schulabschluss und dem Fall der Mauer hört
Bisky Vorlesungen in Germanistik und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität, bevor er sich
an der Berliner Hochschule der Künste bewirbt und
wunschgemäß in die Klasse Georg Baselitz aufgenommen wird. Anfangs hat Bisky keinen Zugang
zum Gegenständlichen. Auf der Sommerakademie
Salzburg 1994/95 entdeckt er in der Klasse von Jim
Dine, dass figuratives Arbeiten ihn doch interessiert.
Als er 1995/96 als Stipendiat für ein Jahr nach Madrid geht, findet er zu seiner Form – gegen die hämischen Kommentare seiner Westkommilitonen und
in produktiver Auseinandersetzung mit Baselitz.
2001 zeigt der Berliner Galerist Michael Schultz die
erste Bisky-Einzelausstellung. Sie zeitigt kontroverse
Reaktionen bei Kritik und Publikum. Während man
sich im Ausland für die Qualität seiner Bilder interessiert und Respekt zollt, konzentriert sich die Kritik
hierzulande immer wieder auf den Aspekt anrüchiger Botschaften, sprich den Ideologieverdacht gegenüber dem Maler. Ausnahme von der Regel ist der
bekennende Bisky-Fan und FDP-Parteivorsitzende
Guido Westerwelle.
S03-mag-07
Natürlich sind die schmalen Knaben, die sich auf Norbert Biskys Bildern vor immerblauem Himmel tummeln, extrem blond und, wenn sie den Blickkontakt
zum Betrachter suchen, extrem blauäugig. Die grafischen Nasen, die im Nacken ausrasierten Kurzhaarschöpfe, auch mit Seitenscheitel, wirken sehr
deutsch. Auch wenn sie damit weniger einem realen
als einem idealen Phänotypus entsprechen, wie ihn
die Propaganda der Dreißiger- (NS-Zeit) bis Sechzigerjahre (DDR) kultivierte.
Doch der tapetenhafte Bildaufbau, der farbige Flächen bildrauschhaft gegeneinander stellt und keine
Tiefe zulässt, die manipulierten Horizonte drehen
Biskys Leinwandspektakel in eine andere Richtung.
Hier werden nicht Erinnerungen verklärt, hier wird
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Gegenwart angerichtet, zugegebenermaßen mit
Versatzstücken aus dem kulturellen Bildarsenal Mittel- und Osteuropas. Aber in der lauten Willkür der
Farben, der plakativen bis absurden Anmutung der
Motive greift Bisky auf die programmatische Formensprache von Werbung und Produktdesign zurück, die hier nichts verkaufen will als sich selbst.
Bisky-Einzelausstellungen in den nächsten Monaten: Museum für Junge Kunst, Frankfurt (Oder):
17. November 2002 bis 19. Januar 2003; Galerie Michael Schultz, Berlin, Mai 2003. Im Dezember 2002
erhält Norbert Bisky einen Raum in der Ausstellung
„Kopf und Figur. Die neue intensive figurative Malerei“ in der Galleria d’Arte Moderna, Bologna, Italien.
NIKE BREYER
tazmag
IV
obdach
sonnabend/sonntag, 14./15. september 2002
Fortgesetzte Notaufnahme
Jahrelang ließ sich Marcus P. in
Dutzenden von Kliniken aufnehmen –
ohne krank zu sein. Die Geschichte eines
Simulanten aus Hilflosigkeit
aus Witten BARBARA BOLLWAHN
DE PAEZ CASANOVA
Marcus P. ist leicht zu erkennen. Am Telefon hat er sich beschrieben. 1,99 Meter Körpergröße, 120 Kilogramm Gewicht. Wie verabredet, wartet er mittags
um zwölf in der Eingangshalle des
Bahnhofs in Witten, einer hunderttausend Einwohner zählenden Stadt an der
Ruhr, zwischen Bochum und Dortmund. Sein Händedruck ist nicht sehr
kräftig, sein Lächeln nett, schüchtern.
Seine Kleidung – Sweatshirt, Hose und
Turnschuhe – trägt er in XXL. Die Schultern hängen leicht nach vorn. Die Arme
schlenkern beim Laufen unbeholfen an
ihm herum. Die Beine scheinen ihm
nur schwer zu folgen. Der Schnauz- und
Kinnbart des 27-Jährigen ist mehr jugendlicher Flaum denn Erwachsenenstatus. Die Augenlider hängen etwas
tief, sodass er immer betrübt wirkt.
V
iel Grund zum Lachen hat Marcus P. ohnehin nicht. Bei der
Staatsanwaltschaft Hagen läuft
ein umfangreiches Ermittlungsverfahren gegen den nicht vorbestraften jungen Mann wegen einer Vielzahl von Betrugs- und Diebstahlsdelikten. Anderthalb Jahre lang ließ er sich
in Kliniken kreuz und quer durch Nordrhein-Westfalen als Patient aufnehmen
– ohne wirklich krank zu sein. In Düsseldorf, Neuss, Köln, Wetter, Hagen,
Mönchengladbach, Solingen, Krefeld,
Bottrop, Wuppertal, Duisburg, Recklinghausen, Witten und einer Reihe anderer Städte.
Er hat Patienten bestohlen und in Internetcafés gesurft, ohne zu bezahlen.
Es sind so viele Einzelfälle, dass die
Staatsanwaltschaft noch eine Weile
brauchen wird, bis die Anklage steht.
Anfang Juni wird Marcus P. in einem Internetcafé in Witten festgenommen. Er
kann die Rechnung nicht bezahlen. Bei
der polizeilichen Vernehmung fliegt
der Krankenhausbetrug auf. Weil Marcus P. davon erzählt. „Ich wollte, dass es
zu Ende ist“, sagt er auf dem Weg vom
Bahnhof zum Stadtzentrum.
„Das ist ein ganz armer Hund, bei
dem irgendwann etwas aus dem Ruder
gelaufen ist. Der gehört nicht ins Gefängnis“, sagt Richter Bernd Grewer
vom Amtsgericht Witten, der den Haftbefehl aufhob. Seitdem muss sich Marcus P. zweimal in der Woche bei der Polizei melden und für Ämtergänge und
Wohnungssuche regelmäßig die Beratungsstelle für Wohnungslose in Witten
aufsuchen.
Für das Gespräch wählt Marcus P. ein
italienisches Eiscafé. Nicht, weil es ihm
besonders gut gefällt. Aber es liegt in
Sichtweite zur Polizei, wo er später noch
hin muss. Die Stadt ist ihm nur wenig
vertraut. „Am besten kenne ich hier die
Krankenhäuser“, sagt er und braucht einige Sekunden, bis er die unfreiwillige
Komik bemerkt. Lachen kann er darüber nicht.
An die genaue Zahl der Kliniken, bei
denen er sich Kost und Logis erschlichen hat, kann sich Marcus P. nicht
mehr erinnern. „So ungefähr zweihundert“, sagt er, während er sich die erste
von vielen Zigaretten dreht. Nein, sagt
er, stolz ist er nicht auf das, was er getan
hat. „Ich schäme mich.“ Der Satz klingt
nicht nach aufgesetzter Reue. Seinen
Nachnamen will er nicht in der Zeitung
gedruckt sehen. „Wegen der Schande
für meine Eltern.“
Vor der Festnahme von Marcus P. war
Witten durch zwei Dinge über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Durch die
Universität Witten-Herdecke, die erste
deutsche Universität in privater Trägerschaft, und durch ein junges Paar, das
angeblich auf „Befehl des Satans“ einen
Bekannten mit 66 Messerstichen und
Hammerschlägen regelrecht massakrierte. Und nun Marcus P.
„Ein Wohnungsloser hat in Nordrhein-Westfalen den Aufstieg zum Simulant des Jahres geschafft“, schrieb
die Nachrichtenagentur dpa und sparte
nicht mit Spott. „Zum Verdruss des
Gauners erließ ein Richter Haftbefehl,
setzte ihn aber unter Auflagen außer
Vollzug.“ Auf der Internetseite von Yahoo wurde die Meldung unter „Skurrile
Nachrichten“ platziert. In dieser Rubrik
wird von Menschen berichtet, die auf
Geldautomaten pinkeln oder ein Chamäleon bei der Einreise als Hut tarnen.
In der Wittener Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen hieß es: „Simulant
lässt sich’s gut gehen im Krankenbett“.
D
ie Geschichte von Marcus P. ist
eine traurige Geschichte. Er ist
kein gerissener Betrüger, der
sich einen Jux daraus machen
wollte, das Gesundheitswesen vorzuführen. Dass er in Krankenhäusern ein
Obdach suchte, ist Ausdruck von Verzweiflung, Hilflosigkeit und Unwissen.
Marcus P. ist von Geburt an Epileptiker.
Seine Eltern waren mit seiner Krankheit offenbar so überfordert, dass sie jeden Kontakt zu ihrem Kind abgebrochen haben. Seit Jahren schon. Die
Mutter, so ist zu erfahren, war kühl und
abweisend, als sie über die Festnahme
ihres Sohnes informiert wurde. „Ich
kann den aber nicht nehmen“, hat sie
gesagt.
Diese Ablehnung macht Marcus P.
am meisten zu schaffen. Mehr noch als
der bevorstehende Prozess. Für seine
Krankenhaustour hat er eine simple Erklärung. „Ich brauchte ein Dach über
dem Kopf und habe nur an mich gedacht“, sagt er beim Milchkaffee und
blickt auf den Tisch. „Ich habe nie den
Gedanken gehabt, dass es ein großartiger Betrug ist.“ Die Diebstähle – Geld,
Handtaschen und Telefonkarten von
Patienten – erwähnt er nicht. Erst auf
Nachfrage. „Das tut mir Leid“, sagt er
mit leiser Stimme. „Ich hatte kein
Geld.“ Hört man Marcus P. zu, erscheint
sein Tun logisch und normal – aus seiner Sicht. Er hat eben keinen einfacheren Weg gefunden, sich zu helfen.
Nach seiner Festnahme bekam Marcus P. diverse Anfragen von privaten
Fernsehsendern, die ihm Geld für seine
Geschichte boten. Er hat abgelehnt. „Ich
will meine Geschichte nicht verkaufen“,
sagt er. Er will sie aber erzählen. Er
überlegt kurz, wo er beginnen soll. „Am
Anfang schuf Gott Himmel und Erde“,
scherzt er. Beim nächsten Satz wird er
Der Schwindel flog auf, weil er selbst der Polizei davon erzählte; „ich wollte, dass
es zu Ende ist“: Marcus P. in seiner ersten eigenen Wohnung FOTO: WICIOK/LICHTBLICK
ernst. „Seit meiner Geburt bin ich Epileptiker. Die Nabelschnur war um den
Hals. Die ersten drei Jahre war ich nur
im Krankenhaus.“ Seit zweieinhalb Jahren aber, sagt er, ist er anfallsfrei.
Die Fakten seiner Schilderungen, ergibt die Recherche, stimmen im Großen und Ganzen. Aufgewachsen ist
Marcus P. in Kempen, in Krefeld besuchte er eine Integrationsklasse der
Montessori-Grundschule. „Bis zum
dritten Schuljahr konnte ich nicht lesen
und hatte starke Konzentrationsschwächen“, erzählt er. Nach sechs Jahren
wurde er nach Bielefeld, in Europas
größte diakonische Einrichtung, die
von Bodelschwingh’schen Anstalten
Bethel, überwiesen. Dort werden mehr
als 14.000 Menschen in Kliniken, Heimen, Schulen, Kindergärten und Wohngruppen betreut. Für Epileptiker gibt es
in Bethel – das Wort kommt aus dem
Hebräischen und heißt „Haus Gottes“ –
ein eigenes Zentrum mit Berufsbildungswerk und Internat.
Marcus P. erzählt gerne und viel von
seiner Zeit in Bethel. In einem Haus
dort hatte er seine „beste Zeit“, lebte behütet und trotzdem relativ selbstständig. In einem anderen Haus war es ihm
zu locker. „Dort vermisste ich das familiäre Gefühl.“ Der Hauptschulabschluss, sagt er, ist ihm leicht gefallen.
„Wupp, weg, das ging ratzfatz.“ In seiner
Freizeit ging er in Diskos, spielte Minigolf, fuhr mit dem Mountainbike durch
Wälder, ging schwimmen oder in den
nahe gelegenen Safaripark. Und hat viel
gelesen, nachdem seine Leseschwierigkeiten überwunden waren. Karl May,
Robinson Crusoe, Steven King, Superman, Batman.
Alle zwei Wochen fuhr er nach Hause
zu seinen Eltern. Mit der Mutter, Zentralistin einer Taxizentrale, und dem Vater, einem Bergmann, beide mittlerweile im Ruhestand, hat er sich gut verstanden. „Und jetzt sitze ich hier. Na, Prost
Mahlzeit“, sagt Marcus P. und versucht
zu lächeln. Einen Satz wiederholt er immer wieder. „Ich hänge noch immer an
meinen Eltern.“ Der gute Draht zu den
Eltern endet abrupt, als Marcus seine
Freundin, die auch in Bethel lebt, zu
Hause vorstellt. „Weiß Gott nicht die
erste, aber die erste ernstzunehmende
Beziehung“, sagt er, und es klingt etwas
altklug. Die Mutter schimpft. „Wie
kannst du so was anschleppen?“ Und:
„Wir machen uns zum Gespött.“
Die Freundin zog seit einem Autounfall ein Bein nach. „Damit“, sagt Marcus
P., „kam meine Mutter nicht klar.“ Für
den Vater war es „Jacke wie Hose“. Doch
zu Hause war das, was die Mutter sagt,
„Gesetz“. Als die Eltern Silberhochzeit
feiern, erlaubt die Mutter nicht, dass
Marcus die Freundin mitbringt, beschimpft das Mädchen in Briefen. „Wir
haben uns tierisch in die Köppe gekriegt“, sagt Marcus P. Weil er nicht ohne
seine Freundin zu der Feier gehen wollte, ging er gar nicht hin. „Da warf mich
meine Mutter raus.“ Immer wieder
schüttelt er den Kopf. Wie soll man anderen das Verhalten der eigenen Mutter
erklären, wenn man es selbst nicht versteht?
Der Rauswurf bleibt nicht ohne Folgen. „Ich fühlte mich nicht mehr so
munter, war schlecht gelaunt, wurde eigenbrötlerisch.“ Durch einen Mitschüler gerät er „auf die schiefe Bahn“, sagt
Marcus P. „Er hat mich zum Trinken verführt. Das hat ausgeartet. Junge, Junge.“
Die Leistungen an der Berufsschule gehen „wupp, in den Keller“. Schließlich
reichen die Noten nicht für eine Ausbildung, sein Wunsch, Verkäufer zu werden, rückt in unerreichbare Ferne.
A
ls Marcus P. Anfang zwanzig ist,
zieht er aus dem Internat aus. Er
sagt, dass er vorher mit Mitarbeitern in Bethel über seine Probleme gesprochen hat. „Ich hatte gehofft, dass sie Kontakt zu meinen Eltern
aufnehmen.“ Der Leiter des Stiftungsbereiches Behindertenhilfe, Reinhard
Hinz, will aus Datenschutzgründen
nichts zu Marcus P. sagen. Doch er betont: „Wenn die Angehörigen nicht wollen, können wir nichts machen. Wir
sind ja keine geschlossene Einrichtung.“
In seinen Erzählungen erwähnt Marcus P. eine Person, die sich offenbar so
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obdachlos
um ihn gekümmert hat, wie er es
brauchte. Es ist sein ehemaliger Klassenlehrer in der Grundschule in Krefeld, der bei der Überweisung nach
Bethel behilflich war. Der 54-jährige
Gregor W. kann sich noch gut an seinen
ehemaligen Schüler erinnern. Am Telefon reagiert er „erschüttert und traurig“,
als er von dem Ermittlungsverfahren
gegen seinen früheren Schüler erfährt.
„Als Marcus noch in Krefeld war, wirkte
er wegen der Medikamente oft etwas
verschlafen. Nach sechs Jahren ging er
bei mir noch an der Hand.“
Später, sagt Gregor W., besuchte ihn
Marcus einmal in der Schule, da muss
er etwa neunzehn und noch in Bethel
gewesen sein. „Ich freute mich über die
gute Entwicklung.“ Marcus sei „kein gerissener Kerl“, sagt der Lehrer. „Aufgrund seines Schicksals stolpert er von
einer Falle in die nächste.“ Kommt zwar
irgendwie durchs Leben, sei aber „leicht
manipulierbar“. Zum Elternhaus sagt
Gregor W. vorsichtig: „Die Verhältnisse
sind schwierig. Ich vermute, die Mutter
hatte Schwierigkeiten, die Krankheit zu
akzeptieren.“ Dieser Fall, meint der Lehrer, „zeigt ganz typisch, wie jemand aufgrund seiner Lebensgeschichte durch
alle sozialen Netze fallen kann.“
Z
eitweise wohnt Marcus P. bei seiner Freundin im Internat in
Bethel, zeitweise in der kleinen
Wohnung, die sie im Haus ihres
Vaters in Köln hat. Und eine Zeit lang
jobbt er. „Der Vater meiner Freundin
hatte mir was besorgt.“ Regelmäßig
fährt er nach Dortmund und Hagen,
um Freunde zu besuchen. Das Leben
plätschert so dahin. „Bis sie mir fremdgegangen ist.“
Marcus P. beendet die Beziehung zu
seiner Freundin, da ist er 23 oder 24. Er
kommt bei einem Kumpel unter, den er
aus Bethel kennt und der in einer Kleinstadt zwischen Wuppertal und Hagen
lebt. Dort meldet er sich polizeilich an
und bezieht Sozialhilfe. Als die Freundin seines Kumpels schwanger wird,
muss er das Zimmer räumen. Und sowieso, erzählt er, hat der Vermieter
auch „Terror“ gemacht.
So steht Marcus P. von einem Tag auf
den anderen auf der Straße. „Das muss
im November 2000 gewesen sein“, versucht er sich zu erinnern. „Mit paar
Mark und einer großen Reisetasche mit
dem Gröbsten. Es war dunkel und
arschkalt.“ Wo und wie soll er die Nacht
verbringen? Beim Überlegen fällt ihm
eine Begegnung mit einem Mann in
Bielefeld ein. „Das war ein Kiffer“, sagt
er, „der hat mir erzählt, wenn du nicht
weißt, wohin, dann geh in ein Krankenhaus, markier einen Epilepsieanfall,
und schon hast du ein Dach über dem
Kopf.“ Er hat gesehen, wie der Typ einfach so in ein Krankenhaus reinmarschierte und ein leichtes Taumeln markierte. „Ein bisschen schockiert“ war er
schon, sagt Marcus P., dass das so einfach sein soll. Doch der leichte Schock
hielt nicht lange an. „Da dachte ich,
dann machste das auch mal.“
In dem kleinen Ort, wo Marcus P. zuvor bei seinem Freund gewohnt hat,
gibt es kein Krankenhaus. Also fährt er
in das zehn Kilometer entfernte Hagen,
dort gibt es mehrere Kliniken. „Ich bin
einfach rein, habe meine Versicherungskarte abgegeben und erzählt, ich
hätte einen Anfall gehabt und Kopfschmerzen und würde etwas verschwommen sehen.“ Eigentlich will er
nur eine Nacht bleiben, wird aber gleich
für drei Tage zur Beobachtung dabehalten. Er wird untersucht, Blut wird ihm
abgenommen, die Hirnstromkurven
gemessen, Tabletten verordnet. Marcus
P. mag jemand mit beschränkten Fähigkeiten sein. Doch seine Klinikaufnahmen hat er durchaus geschickt bewerkstelligt. Denn er hat nicht nur gelogen.
Wahrheitsgemäß hat er oft gesagt: „Ich
bin Epileptiker.“
Kaum wird Marcus P. entlassen, geht
er zum Sozialamt. „Ich wollte eine Wohnung.“ Als er auf der Behörde sein Anliegen vorträgt, erfährt er, dass das Sozialamt nicht mehr für ihn zuständig ist.
Der Vermieter hat ihn bei seinem Kumpel abgemeldet. Er solle sich doch bei
seinen Eltern anmelden, wird ihm geraten. Drei bis vier Jahre hatte Marcus P.
von seinen Eltern nichts gehört. Als er
sonnabend/sonntag, 14./15. september 2002
deren Telefonnummer wählt, meldet
sich eine Stimme vom Band. „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“
M
arcus P. versteht nicht. Er ruft
die Auskunft an und erfährt,
dass seine Eltern keinen Eintrag mehr im Telefonbuch
haben. „Bin nicht doof, Jung, rufste bei
der Knappschaft an“, beschreibt er seinen nächsten Gedanken. Doch die Versicherung seines Vaters gibt aus Datenschutzgründen die Nummer nicht raus.
Er versucht es bei der Schwester seiner
Mutter. „Die sagte mir, dass meine Eltern innerhalb von Kempen umgezogen sind und meine Mutter keinen Kontakt will.“
Eltern verzogen, kein Eintrag bei der
Telekom, kein Amt zuständig. Marcus P.
fährt wieder zu seinem Kumpel und
kommt mit Ach und Krach für einige
Nächte unter. Er hat kein Geld, sein
Kumpel kann ihm nichts leihen. Erneut
geht Marcus zum Sozialamt. Dort bekommt er den Satz zu hören, den er
schon oft gehört hat: Wir sind nicht zuständig. „Da stand ich wie der Ochs
vorm Berg und wusste nicht vor und zurück.“
Wieder ist es Nacht, wieder hat er
kein Dach über dem Kopf, wieder fährt
er nach Hagen. Diesmal in eine Klinik
mit neurologischer Abteilung. „Ich
habe dasselbe wie beim ersten Mal erzählt und wurde zwei Wochen dabehalten.“ Er hat nichts dagegen, länger zu
bleiben. „Ich habe versucht, einen klaren Kopf zu kriegen und zu überlegen,
was ich machen kann.“ Er beschließt,
sich „über Krankenhäuser meinen Eltern zu nähern“. Etwa zehn Kliniken hat
er auf der Strecke von Hagen nach Kempen ausgemacht.
So schlägt er sich bis Krefeld durch.
Von dort sind es nur noch wenige Minuten mit der Regionalbahn nach Kempen. Auf dem dortigen Sozialamt erfährt Marcus P. endlich die Adresse seiner Eltern. Die Telefonnummer nicht.
„Ich schrieb ihnen einen Brief, dass ich
zurzeit keine Wohnung habe, in Krankenhäusern wohne und eine Meldeadresse brauche“, erzählt er. Als Absender gibt er die Adresse seines Kumpels
an, bei dem er vorher gewohnt hat.
Um zu erfahren, ob seine Eltern ihm
antworten, macht er sich wieder auf
den Weg zu seinem Freund – von Krankenhaus zu Krankenhaus. Sicher wäre
es einfacher gewesen, bei seinem Kumpel anzurufen. Doch manchmal liegt
das Naheliegendste in weiter Ferne.
Vielleicht will er auch nur schwarz auf
weiß sehen, was ihm seine Eltern
schreiben.
An Details der vielen, vielen Kliniken
kann sich Marcus P. kaum noch erinnern. Aufnahmestationen, Flure, weiße
Kittel, Blutentnahmen, Tabletten, Aufenthaltsräume – die Bilder gleichen
sich. „Die einen machten einen tierischen Heckmeck, die anderen beobachteten nur.“ Besonders gut in Erinnerung geblieben sind ihm zwei Krankenhäuser. „In Witten waren wir ein ganz
schön hartes Trüppchen. Abends haben
wir Pizza bestellt und im Raucherzimmer gesessen.“ Und in Wetter, wo er
über Silvester Patient war, seien die
Schwestern „extrem nett“ gewesen. „Es
gab Sekt und war sehr familiär.“
Als er bei seinem Kumpel ankommt,
liegt dort Post von seinen Eltern. „Sie
schrieben, ich soll zusehen, wie ich zurechtkomme, und dass sie nichts mehr
mit mir zu tun haben wollen.“ Marcus P.
guckt traurig. „Ich dachte mir, dass meine Mutter so reagiert.“ Wieder sieht er
keinen anderen Ausweg, als sich krank
zu stellen. Nach einiger Zeit hat er es
satt, Epilepsieanfälle vorzutäuschen.
„Das wurde mir irgendwann zu bunt.
Ich kam mir vor wie ein Versuchskaninchen. Ständig neue Tabletten.“
Also verlegt er sich auf eine andere
Krankengeschichte und gibt an, beim
Renovieren von der Leiter gefallen zu
sein. Das brachte zwischen einem Tag
und einer Woche wegen Verdacht auf
Gehirnerschütterung. „Die haben die
und die Untersuchung gemacht, Hauptsache …“ Marcus P. reibt Daumen und
Zeigefinger der rechten Hand. „Hauptsache, das Geld stimmt.“ Marcus P.
wirkt bedrückt, wenn er von der anderthalbjährigen Klinikodyssee spricht.
„Man wird depressiv“, sagt er. „Keine
Menschenseele kümmert sich um einen.“ Einmal, in einer anthroposophischen Klinik in Herdecke, sagt er, vertraut er sich einer Ärztin im Praktikum
an. „Ich hatte gehofft, dass der Scheiß
endlich aufhört.“ Sie versucht, ihm bei
der Wohnungssuche zu helfen. Leider
ohne Erfolg. Als er entlassen wird,
bricht er den Kontakt ab. Und dann?
„Ich weiß nicht mehr, wo ich dann hin
bin. Das war doch immer das Gleiche. Es
waren zu viele Krankenhäuser.“
Das Wort „obdachlos“ kommt Marcus P. nicht ein einziges Mal über die
Lippen. Aber er spricht von Obdachlosigkeit, als er den Bruder seines Vaters
erwähnt. „Der lebt in Düsseldorf auf der
Straße.“ Marcus P. will nicht so enden
wie sein Onkel.
Die Angst davor bringt ihn schließlich hinter Gitter. Die Nacht auf der Wache nach seiner Festnahme findet er
„hart“. Kein Fernseher, kein Radio,
Haftrichter, Fingerabdrücke, zählt er
die Unannehmlichkeiten auf. Die
nächsten Nächte verbringt er in einer
Unterkunft für Wohnungslose der Diakonie in Witten. „Erst da habe ich erfahren, dass es so etwas gibt“, sagt Marcus P.
und guckt dabei, als wisse er nicht, ob er
sich für diese Wissenslücke schämen
soll.
S
S05-mag-07
eit Ende Juni hat er eine eigene
Wohnung, etwas außerhalb vom
Stadtzentrum. In einem dreistöckigen rosafarbenen Haus mit 84
Einzimmerwohnungen, die Appartements heißen und vom Sozialamt bezahlt werden. Er bewohnt Appartement
Nummer siebzig. Die Wohnung im
zweiten Stock geht zu einer stark befahrenen Straße raus. Mehr als die Autogeräusche stört Marcus P. das laute Klingeln von „Kartoffel Thomas“ auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Das
geht mir auf den Sack“, sagt er. Das
Wohnzimmer ist mit graubraunem
Teppich ausgelegt. Die Einrichtung be-
steht aus einem Schrank, einem Sofa,
einem kleinen Tisch, einem Radiowecker, einigen Fantasybüchern und einer
Glühbirne an der Decke.
Dass hier wirklich jemand wohnt, ist
nur daran zu erkennen, dass auf dem
Tisch Stifte, zwei Würfel und mehrere
Zettel liegen, auf denen Begriffe wie
Zwerg, Amazone, Mut, Körperkraft, Jähzorn und Aberglaube stehen. „Das sind
Rollenspiele, die ich mit einem Kollegen aus der Obdachloseneinrichtung
mache“, erklärt Marcus P. Zwischen dem
Wohnzimmer und einem kleinen, fensterlosen Bad, wo zwei Plastiktüten mit
schmutziger Wäsche einen unangenehmen Geruch verbreiten, ist eine winzige Kochnische. Marcus P. hat sie noch
nie benutzt.
Sein neues Zuhause nennt er
„Schweinchenhaus“. Wegen der Farbe.
Früher, erzählt er, hat es „Zur blutigen
Nase“ geheißen. Wegen der Schlägereien, die es dort unter den Mietern gegeben haben soll. Jetzt wirkt das Gebäude
mit seinen langen Fluren und der Stille
eher steril. Es sind die ersten eigenen
vier Wände in seinem Leben. Freut er
sich? „Ja, schon. Aber es wäre schön,
wenn mich meine Eltern besuchen
würden“, sagt er. „Oder wenigstens telefonieren.“ Aber er glaubt nicht daran.
„So wie ich den Dickkopf meiner Mutter
kenne.“
Seit einigen Wochen lässt sich Marcus P. nicht mehr bei der Wohnungslosenberatungsstelle blicken. Vergeblich
versuchten die Mitarbeiter, über das Sozialamt und den Hausmeister Kontakt
zu ihm aufzunehmen. Sie sind jedoch
froh, über drei Ecken erfahren zu haben, dass er sich in seiner Wohnung aufhalten soll. Auch die Polizei beklagt,
dass Marcus P. seinen Meldeauflagen
nicht so nachkommt, wie er das sollte.
Selbst durch diese Netze kann ein
Mensch fallen.
BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA, 38,
ist Reporterin der taz
12. September 2002, 15:16 Uhr
Seinen Nachnamen will er nicht in der
Zeitung gedruckt sehen, „wegen der
Schande für meine Eltern“: Marcus P.,
inzwischen 27 Jahre alt
FOTO: WICIOK/LICHTBLICK
V
tazmag
Kalkuliert blamiert
Ronald Barnabas Schill kam mit seiner
Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO)
bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen
am 23. September 2001 auf 19,4 Prozent.
Auf diese Weise verhalf er der seit über
vierzig Jahren oppositionellen CDU, der
zuvor kaum existenten FDP und seiner eigenen Organisation zur gemeinsamen
Übernahme des Senats.
Im Juli dieses Jahres beschloss die PRO
gegen den Wunsch Schills, auch zur Bundestagswahl anzutreten. Ob sie jedoch
Ende kommender Woche mehr als anderthalb Prozent erzielt, ist nach Kenntnis
sämtlicher Meinungsforschungsinstitute
zu bezweifeln.
Alles, was man von den hastig aufgezäumten Gründungsakten der Landesverbände gehört hat, klang nach Desaster.
Schills Anhänger stellten sich ungeschickt
an: Der frisch gewählte Vorstand in Mecklenburg-Vorpommern musste im Juli wieder zurücktreten, weil die Parteisatzung
falsch ausgelegt worden war. Die Gründung des Berliner Landesverbands ist im
August geplatzt, eine Vorstandswahl wurde auf Oktober verschoben.
Um überregional in die Schlagzeilen zu
kommen, leistete Schill sich Ende August
im Bundestag einen geradezu bizarr unpassenden Auftritt. In seiner Rede als Mitglied des Bundesrates warf er der Regierung vor, das Geld, das für die Fluthilfe benötigt werde, „in der Vergangenheit verfrühstückt“ zu haben, vor allem für Flüchtlings- und Katastrophenhilfe in aller Welt.
„Wir haben die tüchtigsten Menschen,
ohne Zweifel, aber sicherlich die unfähigsten Politiker“, sagte Schill.
Als Bundestagsvizepräsidentin Anke
Fuchs ihn wegen Überziehung der Redezeit von fünfzehn Minuten mahnte, sagte
Schill, seine Redezeit sei „unbegrenzt“,
und fuhr an die Adresse von Fuchs fort:
„Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Aber
Bruch der Verfassung ist Ihnen ja nichts
Neues.“ Fuchs drehte im schließlich das
Mikrofon ab.
Ob Schill seine Strategie des so genannten kalkulierten Tabubruchs eingehalten
hat, steht dahin. In Hamburg jedenfalls titelte die Welt, sonst grundsätzlich auf seiner Seite: „Schill blamiert Hamburg im
Bundestag.“ Nur mit Mühe gelang es
Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust
(CDU), seine Koalition zu retten – vorerst.
Erstes Aufsehen hatte Amtsrichter Schill
1996 in Hamburg erregt, als er eine psychisch kranke Frau zu zweieinhalb Jahren
Haft ohne Bewährung verurteilte, weil sie
den Lack von zehn Autos zerkratzt hatte.
Schill pflegte fortan Journalisten zu seinen
Urteilsverkündungen einzuladen. Ab
1997 erklärte er in Interviews, Hamburgs
Justiz habe „ein Herz für Verbrecher“.
1999 begann er bei Veranstaltungen von
CDU-Ortsgruppen zu referieren – ehe die
Hamburger CDU-Spitze sich dies verbat.
Im Juli 2000 gründete Schill mit ein paar
Dutzend Anhängern seine Partei: die
PRO. Weil es um das Kürzel Ärger gab (mit
der Anti-Euro-Partei „PRO DM“), firmiert
man nur noch als Schill-Partei. UWI
VI
populismus
sonnabend/sonntag, 14./15. september 2002
Anwalt der Ohnmächtigen
von ULRIKE WINKELMANN
Immer dieser gepflegte Dreiteiler, in
dem der Mann massig, aber nicht dick
wirkt. Die Haare wirken stets etwas flusig gekämmt. Frauen über vierzig mögen ihn. Ein Mann, der sich eine gewisse
Jungenhaftigkeit bewahrt hat. Sein
Hamburger Akzent ist gerade so stark,
dass er seiner schneidigen Rhetorik
eine gewisse Heimeligkeit verleiht, die
Hanseaten so mögen. Seine Sätze sind
vom Zweifel frei. Und er scheut sich
nicht, Räume in einem Knastneubau
höchstselbst auszumessen, um hinterher zwölf Quadratmeter Einzelzelle als
„puren Luxus“ zu bezeichnen.
R
onald Barnabas Schill hat vor einem Jahr die Bürgerschaftswahlen in Hamburg gewonnen und
verkauft seither den Bruch all
seiner Wahlversprechen als pragmatische Realpolitik, die, wenn schon nicht
in der Sache akkurat, so doch im Prinzip
richtig ist. Mit der Halbierung der Kriminalitätsrate binnen hundert Tagen –
das war wohl nichts. Hauptsache, die
Bürger denken, dass etwas getan wird.
Das Thema innere Sicherheit – es ist
Schills einziges Thema – legt es nahe,
von der Rolle der Medien zu sprechen.
Kriminalität taugt insoweit zum Politikum, als sich mit der Rede von ihr die
Ängste der Bevölkerung schüren lassen.
Jeder weiß, dass die reale Verbrechenshäufigkeit nichts damit zu tun hat, wie
gut sich die Menschen auf der Straße,
am Bahnhof und in der S-Bahn fühlen.
Im Jargon heißt das, die „objektive“ und
die „subjektive“ Sicherheitslage klaffen
auseinander.
So richtig es ist, Schill als Medienhelden zu begreifen – zur Erklärung des
Phänomens Schill reicht es nicht. Es
stimmt, dass eine von der Sozialdemokratie unendlich gelangweilte Presse in
Hamburg das Thema Kriminalität so
hoch gezogen hat, dass zwanzig Prozent
der Bevölkerung glaubten, Schills Vorschläge – geschlossene Heime für Jugendliche sowie eine unbedingte Förderung des Autoverkehrs – seien die Lösung ihrer Probleme.
Aber es stimmt nicht, dass der Erfolg
Schills der vorwiegend zustimmenden
Berichterstattung über ihn geschuldet
ist. Zwar kommt keine Reportage ohne
die Beschreibung des begeisterten Zuspruchs aus, den er beim durchschnittlich frustrierten Kleinbürger erntet.
Aber Schill ist mehr als seine Wirkung,
er ist nicht nur Talkrundensieger und
Schrecken aller Rot-Grünen.
Die Person Schill hat eine Herkunft,
und die Hamburger Gemengelage hat
eine Geschichte. Beide Faktoren sind
bislang in die Bemühungen der Populismusanalysten kaum eingegangen.
Zunächst zur Person Schill. Der
Mann ist in Hamburg geboren, aufgewachsen und hat dort erst ein paar Semester Psychologie, dann bemerkenswerte acht Jahre lang, bis 1988, Jura studiert. Bis 1991 arbeitete er am Fachbereich auch als Lehrkraft für Strafrecht.
Im Mai 1993, damals war die als liberal
bekannte Lore Maria Peschel-Gutzeit
noch Justizsenatorin, wurde er zum
Richter ernannt.
Fast alles Weitere bleibt im Ungefähren. Kaum etwas weiß man über seine
Eltern. Niemand in dieser Stadt, wo
doch sonst irgendwie jeder jeden kennt,
S06-mag-07
gibt Auskunft. Weder ein Schill-Kommilitone noch ein Schill-Kollege oder ein
Schill-Student. Und wie er Richter werden konnte, ist ebenso fragwürdig. In
Hamburg ist es besonders schwer, Richter zu werden. Die Zahl der Anwärter
auf einen dieser Jobs in Hamburg ist
groß, denn erstens wollen Hamburger
sowieso immer in Hamburg bleiben,
und zweitens wollen viele hierher.
Mehrere lange Gespräche mit Richtern und Leuten aus der Justizbehörde,
die menschliche und fachliche Eignung
prüfen, macht der Bewerber mit, ehe er
angenommen wird. Anwalt werden
kann jeder. Richter aber müssen sich
besonders durch eines auszeichnen:
Maß. Also durch die Fähigkeit, abzuwägen. Ist Schills auffälligstes Merkmal –
sein Mangel an eben dieser Tugend –
denn nie jemandem aufgefallen?
Zu der Zeit, als Schill studierte und
lehrte, gab es in Hamburg noch zwei
Fachbereiche Juristerei – mit je konträrer Hausideologie. Jura I, das größere
Institut, galt als konservativ, Jura II als
links. Dieser Ruf hatte gar nicht einmal
so viel mit den Professoren zu tun –
Rechtsausleger waren bei Jura I nur die
wenigsten –, half jedoch, dass sich die
Studentinnen und Studenten größtenteils selbst einsortieren konnten.
Am Sitz von Jura I, dem Rechtshaus,
gab es einen teils wohl-, teils böswollend gemeinten Witz für Leute, die sich
aufregten über Burschenschaftler, über
Jungunionisten und darüber, dass viele
von ihnen den Freund-Feind-Theoretiker Carl Schmitt als wichtigen Denker
bezeichneten: „Geh doch nach drüben.“
Im Rechtshaus herrschte eine selbstbewusste Trutzburgstimmung: „Wenn irgendwo in der Stadt offen konservativ
geredet werden darf, dann hier. Und
wenn irgendwer gesellschaftliche Konflikte letztgültig entscheidet, dann wir,
die Juristen.“
Könnte es also sein, dass Schill einfach ein normaler Hamburger Jurist ist?
Könnte es sein, dass das Schill-typische
Zweifrontendenken – „Hier die laschen
Jugendrichter, da die harten Rechtsschützer“ – auch ein Produkt der unglückseligen Juristenausbildung der
Hamburger Art ist? Und: Wäre es möglich, dass auch die Schill-Opponenten
in diesem Denkmuster verharren?
Auch ein zentrales Ereignis im Hamburg der Neunzigerjahre bedürfte im
Hinblick auf Schill noch neuerer Beachtung: der örtliche Polizeiskandal. 1994
kam heraus, dass Ausländer in Hamburger Polizeiwachen systematisch
misshandelt, die Taten systematisch
durch Kameraderie gedeckt worden waren. Ein Innensenator musste gehen,
ein Untersuchungsauschuss mit dem
dazu gehörenden Wissenschafts- und
Öffentlichkeitsapparat wurde in Gang
gesetzt, um die Hamburger Polizei zu
durchleuchten.
Eine 1997 vorgelegte Studie von Bielefelder Soziologen kam zu den Ergebnis, dass die Hamburger Polizei unter
mangelnder Kommunikation zwischen
oben und unten litt. Der Korpsgeist, den
sie ebenso wie eine erschreckend starre
Law-and-Order-Mentalität feststellten,
fand bei ihnen eine Begründung: Die
Beamten hatten das Gefühl, dass ihre
Arbeit weder von ihren Chefs noch in
der Öffentlichkeit gewürdigt wurde.
„Wer sich zu Beginn seines Dienstes
noch als Repräsentant staatlicher
Macht fühlte, dann aber tagtäglich die
Vor knapp einem
Jahr wurden die
Rechtspopulisten
um Ronald Schill in
Hamburgs
Regierung
gewählt. Ihre Lawand-Order-Erfolge
sind zwar kaum
messbar – aber
ihrer Beliebtheit
hat das keinen
Schaden zugefügt
staatliche Ohnmacht etwa im Kampf
gegen Drogenkriminalität erfährt, errichtet unbewusst Schutzmauern gegen diese deprimierenden Enttäuschungen und flüchtet ins konservativautoritäre Wertlager“, formulierten die
Autoren kühl. Wer sich nun Schills
Sprüche anschaut, erkennt, dass sie
eins zu eins die populärsten Vorstellungen der durch frustrierende Arbeit und
den Skandal doppelt gedemütigten Beamten wiedergeben.
Schill traf, alles in allem, den Nerv
der meisten Hamburger. Indem er für
die Hamburger Polizei focht, machte er
sich nicht nur zum Fürsprecher von
Ruhe und Ordnung. Könnte es sein,
dass Schill damit auch einem ganz normalen gesellschaftlichen Bedürfnis
nach Integration entsprach, danach,
dass die Repräsentanten der Staatsmacht wieder dazugehören sollten?
Könnte es sein, dass es nicht eigentlich
der Ruf nach dem Rechtsstaat, sondern
das Verlangen nach Teilhabe, nach Integration hinter dem überwältigenden
Zuspruch steht, den Schill geerntet hat?
Dass die Schill-Wähler sich aus dem rotgrünen Hamburg ebenso ausgeschlossen fühlten wie die Polizisten?
Trostlos, aber wahr: Genauso wenig,
wie sich Schill von der Presse zum Innensenator schreiben ließ, lässt er sich
nun aus der doch einstmals so gemütlich linksliberal eingerichteten Hansestadt wieder wegschreiben. So gesehen,
ist zum Beispiel das erste Buch über Ronald Schill zwar eine hervorragende
Materialsammlung, bleibt aber in der
Analyse recht schnell stecken.
Die Journalisten Marco Carini und
Andreas Speit haben in „Ronald Schill.
Der Rechtssprecher“ sicherlich alles zitiert, was über Schill bislang geschrieben wurde. Aber sie haben erkennbar
weder mit ihm selbst noch mit Menschen aus seinem Umfeld gesprochen,
und sie haben ihre Kollegen Lokalreporter auch nicht gefragt, warum es
denn so erlösend war, mit der Berichterstattung über Schill und seine Fans
endlich in die Zeitungen schreiben zu
können, womit ihnen Volkes Stimme
schon lange in den Ohren lag.
P
opulisten, das haben wir aus den
Erfolgen eines Jörg Haider, eines
Pim Fortyun, eines Ronald Schill
gelernt, haben Erfolg, weil die
Menschen sich nicht mehr durch eigene Herkunft, Stand und Milieu einer
Volkspartei zugehörig fühlen. Sie wählen die neuen Typen, die sich kantiger
geben und wohl auch sind, also die Personen mit den besonders einfachen Lösungen. Dass auch ein Gerhard Schröder mal mit dem Satz „Wegsperren, und
zwar für immer“ auftrumpft, gilt ihnen
dann nur als Bestätigung. Dass so ein
sozialdemokratischer Kanzler ansonsten aber leidliche, sagen wir, Gesundheitspolitik macht, ist in diesem Kontext ganz einerlei.
Gegen Populismus gibt es keine
simplen Lösungen. Sicher aber hilft es
wenig, im Wir-Ihr-Schema zu denken:
wir Sauberen, ihr Schmutzigen. Es
bleibt auch dies populistisch.
Hamburgs Ronald Barnabas Schill
im Innenministerzirkel: Sicherheitsversprecher und für manche selbst
ein Sicherheitsrisiko FOTO: AP
12. September 2002, 15:16 Uhr
Marco Carini/Andreas Speit: „Ronald Schill. Der
Rechtssprecher“, Konkret Literatur Verlag,
Hamburg 2002, 200 Seiten, 15 Euro
ULRIKE WINKELMANN, 31, ist Redakteurin im
Inlandsressort der taz
der die das
sonnabend/sonntag, 14./15. september 2002
VII
von HEIDE OESTREICH
Selbstverständlich ist Djeneba Diabaté
für die Beschneidung von Mädchen.
„Ich habe sechs Kinder. Alle meine
Töchter habe ich beschneiden lassen.
Und ich habe seitdem keine Schwierigkeiten bei ihnen festgestellt“, erklärt sie
seelenruhig. Djeneba ist Griotte, eine
traditionelle Festsängerin in Mali. Beschneidung. Es heißt doch genitale Verstümmelung?
Nennen wir es „Exzision“, das ist der
medizinische Fachbegriff für das Herausschneiden von Organen. Djeneba erklärt, dass die Exzision „viele Vorteile“
hat. Man wird von der zweiten Frau des
Ehemannes nicht verhöhnt. Die Geburten sollen leichter sein. Die Frau geht
nicht so oft fremd. Und sie ist einfach
schöner, wenn der hässliche, männliche Teil entfernt ist. Die Initiation.
Ebenso wie die Jungen sollten die Mädchen einen Schmerz erleiden, ohne zu
klagen. „Wenn du das bestehst, erträgst
du den ganzen Rest“, erklärt Djeneba
stolz in die Kamera.
U
nd? Schnitt, Krankenschwester
erklärt, wie viele Frauen an den
Folgen der Genitalverstümmelung gestorben sind? Aufklärungskampagne mit Unterstützung der
deutschen Regierung? Die Kamera
schwenkt über ein häusliches Idyll, Djeneba badet ihre Kinder. Dann folgt der
Film der Frau zur Arbeit. Ein Fest in Mali, Straßenszenen. Alltag? Ach ja, Beschneidung ist Alltag in Mali. „Ainsi va
la vie“, sagt eine der Frauen, so ist das Leben. So heißt dieser Film über Exzision.
Gedreht von zwei Frauen, die lange in
Mali waren. Svenja Cussler, Kamerafrau
und Cutterin, und Edda Brandes, Ethnomusikologin, lebte zwölf Jahre in Mali
und sammelte Musik, zuletzt Beschneidungsmusik.
Aufklärung. Die Dinge beim Namen
nennen. Zu dem aufgeklärten Blick allerdings gehört eine tremolierende
Sprache: „Allein an einem Tag erleiden
in circa dreißig afrikanischen Ländern
etwa sechstausend Mädchen dieses
grausame Schicksal“, schreibt die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie
Wieczorek-Zeul in einem Buch über
weibliche Genitalverstümmelung, herausgegeben von Terre des Femmes.
Eine Menschenrechtsverletzung, die
„eingedämmt“ werden muss.
In Mali, wo fast alle Ethnien die Frauen exzidieren lassen, sitzt Djeneba und
erklärt den Autorinnen des Films „Ainsi
va la vie“: „Ich habe die Beschneidung
bereits vorgefunden, als ich auf die Welt
kam.“ Die Riten der Alten ändert man
nicht mal eben, heißt das. „Schädliche
traditionelle Praktik“, nennt es die Sprache der Aufklärung.
Das Entwicklungshilfeministerium
schickt ein Filmteam nach Mali und
lässt auch einen Film drehen, den Aufklärungsfilm „Bolokoli“, so heißt Beschneidung in Mali. Beschneidungstänze, große ängstliche Mädchenaugen.
Dann verstummt der Film und man
sieht viele Frauen mit einem nackten
Mädchen hantieren. Zeitlupe. Was genau passiert, sieht man nicht. Die Aufklärer halten uns die Augen zu. Dann
sehen wir Exbeschneiderinnen, denen
ein Projekt das Führen einer Hühnerfarm ermöglicht. Die Exbeschneiderin
sagt, dass Genitalverstümmelung eine
Menschenrechtsverletzung ist. Das
Hühnergeld reicht nicht zum Leben,
heißt es im Kommentar. Womit die Exbeschneiderinnen ihren Lebensunterhalt noch verdienen, darüber schweigt
der Film.
„Diese Initiativen sind meines Wissens alle wieder verschwunden“, sagt
Edda Brandes. „Der Bedarf an Beschneidungen ist nicht gesunken“, sagt sie.
„Die Aufklärung war nicht tief genug.“
„Wenn du das bestehst, erträgt du den ganzen Rest“. Djeneba Diabaté, Festsängerin
in Mali FOTO: SZENE AUS DEM FILM „AINSI VA LA VIE“
Unter das Eisen setzen
Was ist tiefe Aufklärung? Wann verändert jemand sein Verhalten? Und was
kann jemand, der von außen mit neuen
Werten kommt, eigentlich tun?
Edda Brandes hat ihre Freunde und
Freundinnen gefragt, ob sie sie zum
Thema Beschneidung befragen dürfe.
Djeneba Diabaté sagte Ja. Fatou Sacko
Touré ebenfalls. „Aber nur weil du es
bist.“ Fatou macht im Nationalmuseum
Führungen und verkauft vor ihrem
Haus Fettgebackenes. „Meine Schwester fragte mich, wie mein Eheleben laufe“, erzählt sie. „Ich sagte, ich weiß nicht.
Wo ist das Vergnügen der Liebe? Ist es
am Anfang? Ist es am Schluss?“ Fatou ist
gebildet, sie fängt an zu lesen. Über Beschneidung und Lust. Mit ihrem Mann
redet sie nicht darüber. Aber eines Tages, sagt sie, sei aus der „kleinen Töpferei meiner Erfahrungen eine große Vase“ geworden. „Ich fragte meinen
Mann: ‚Was ist Ekstase?‘ Er antwortete:
‚Du kennst Ekstase? Das ist sehr gut.‘“
W
ährend sie Teigstückchen
im Fett brät und an Kinder
verteilt, spricht sie von der
ersten Geburt. Fatou war zugenäht, „infibuliert“, sagt das Fachwort.
Ihre Tochter erstickte in ihrem Bauch,
weil die Krankenschwestern nicht
wussten, wie die Geburt einer infibulierten Frau zu bewerkstelligen ist. „Ihr
hättet sie in den OP bringen müssen“,
sagte der Arzt am Ende. Zu spät. „Deshalb bin ich gegen die Beschneidung“,
sagt Fatou.
Der Film belässt es nicht dabei. Er begleitet Fatou, ins Museum, auf den
Markt. Er zeigt Männer in der Moschee,
Kinder auf der Straße, das langsame Leben, wie es in Mali eben läuft. Über Beschneidung redet man nicht. Den Film
dürfe sie auf keinen Fall in Mali zeigen,
sagte Fatou zu Edda Brandes. Niemand
dürfe solche Details wissen. „Wenn man
mich so reden hört, denkt man, ich
Schmerz erleiden, um
erwachsen zu werden?
Die Beschneidung von Genitalien ist der älteste chirurgische Eingriff der Menschheitsgeschichte – was
der amerikanische Medizinhistoriker David Gollaher
in seiner Studie zum Thema eindrücklich nachweist.
In erster Linie waren (und sind) es Männer, die diese
Prozedur über sich ergehen lassen müssen – die der
Entfernung der Penisvorhaut, der Zirkumzision.
Für Söhne jüdischer Familien ist Vorhautbeschneidung aus religiösen Gründen zwingend vorgeschrieben; für die männlichen Kinder aus muslimischen ist
sie üblich. Hinter der religiösen verbarg sich die me-
glaube nicht mehr an Gott. Ich darf
nicht so reden.“ Auch Salia Malé will
nicht, dass jemand in Mali seine Qualen
sieht. Schwitzend sitzt der ehemalige
Vizedirektor des Nationalmuseums der
Hauptstadt Bamoko in seinem Wohnzimmer. Manchmal kriecht ein Töchterchen auf seinen Schoß und möchte
gestreichelt werden.
Erst als es zu spät war, erfuhr er überhaupt, dass seine erste Tochter von der
Familie des älteren Bruders beschnitten worden ist – während seines Ethnologiestudiums in Europa. „Durch meine
Ausbildung im Westen weiß ich, was Beschneidung bedeutet.“ Langsam und
umständlich kommen die Worte aus
seinem Mund: „Es ist ein Angriff auf die
Integrität des Individuums.“ Salia Malé
blinzelt in die Kamera. „Ich habe mich
positioniert“, sagt er. „Das ist nicht einfach, das ist überhaupt nicht einfach.“
Sein älterer Bruder nämlich frage
schon ungeduldig, wann er denn endlich seine anderen vier Töchter beschneiden ließe. „Das wird schon noch
kommen“, hat er geantwortet.
Wenn der Bruder aber entscheidet,
die Mädchen beschneiden zu lassen –
„dann ist seine Entscheidung die meine“. Mit dem Sozialsystem Familie zu
brechen, das ist in einem Land wie Mali
bestenfalls ein Traum. Von der Familie
ist man abhängig, „das ist eine Frage
von Leben und Tod“, sagt Edda Brandes.
Salia Malé spricht von der Initiation:
„Das zeichnet einen Menschen für sein
Leben. Das Mädchen ist erst nach der
Beschneidung vollständig.“ Wieder der
Blick in die Kamera: „Wie werden meine
Töchter mit dem Status derer, die nicht
beschnitten sind, zurechtkommen?“
Dieser Status lautet im Moment außerhalb der hauptstädtischen Oberschicht
Malis: Unfrau. „Das Essen, das eine
nicht Beschnittene gekocht hat, darf
man nicht essen“, bebildert es Svenja
Cussler. Das „unter das Eisen setzen“ ist
dizinische Idee: Zu verhindern, dass die Sekrete, die
sich zwischen Vorhaut und Eichel ablagern, eine Entzündung des Genitals bewirken können.
In Ländern, in denen Wasser zum Waschen knapp
war (wie im Nahen Osten), war insofern die Operation ein Fall geschlechtlicher Hygiene. Der erlittene
Schmerz – der Akt findet ohne Betäubung statt – galt
(und gilt häufig noch) als wichtige Voraussetzung,
um als erwachsen zu gelten.
Vom Mittelalter an wurde der Eingriff auch sexualmoralisch begründet: Eine Zirkumzision mache den
S07-mag-07
Der Film „Ainsi va la
vie“ provoziert. Weil
er versucht, die
Beschneidung von
Frauen in Afrika
überhaupt zu
verstehen. Zeigen will
die Dokumentation
niemand: Sie
widerspreche
deutschen
Sehgewohnheiten
eine absolute Notwendigkeit, wenn
man heiraten will. Ein Muslim in Mali
heiratet keine Unbeschnittene. Das
Nichtschneiden, sagt drastischer die
Berliner Ethnologin Anni Peller, die
eine Feldforschung zum Thema in Südäthiopien machte, „bedeutet mit Sicherheit den gesellschaftlichen Tod“.
Kann man Menschen, für die Beschneidung nicht nur Normalität, sondern Gebot ist, mit dem Wort Genitalverstümmelung weiterhelfen? „Der Begriff ist eine Anklage“, sagt Brandes,
„damit kann man keine gleichberechtigte Auseinandersetzung über ein Problem führen.“ Muss man es aber nicht
benutzen, um daran die Grausamkeit
des Rituals deutlich zu machen?
Achtzig Prozent der Müttersterblichkeit sei auf die Exzision zurückzuführen, heißt es bei Terre des Femmes. „De
Eichelschaft weniger empfindlich für Reizungen und
damit für sexuelle Sehnsüchte. In Nordamerika zählt
die Vorhautentfernung bei siebzig Prozent aller
männlichen Säuglinge zu den Routineeingriffen kurz
nach deren Geburt.
Inzwischen hat sich in den USA ein Selbsthilfenetzwerk gegründet, dessen (meist männliche) Mitglieder den Eingriff kritisieren: Viele Babys hätten Verletzungen erlitten; ihre Geschlechtsorgane seien irreversibel von nachlässigen Beschneidern und Medizinern verletzt worden. Gegen eine Vorhautverengung, argumentieren sie, helfe ohnehin kein Chirurgenbesteck – sondern häufigere Selbstbefriedigung.
Einige Kliniken (auch in Deutschland) bieten inzwi-
12. September 2002, 15:16 Uhr
facto gibt es keine Untersuchung über
Folgeschäden der Exzision“, sagt Anni
Peller. Aids würde über Beschneiderinnen verbreitet, heißt es ebenfalls. Die
Daten sagen das Gegenteil: In Gebieten,
in denen exzidiert wird, ist die Verbreitung von Aids geringer als in Vergleichsgebieten, hat Peller in den Statistiken gefunden – „wahrscheinlich wegen der strengen Sexualmoral“.
D
ie Aufklärungskampagnen, so
Pellers Beobachtung, führten „in
manchen Fällen genau zum Gegenteil ihres eigentlichen Zieles“: Gegen die „westliche Einmischung“ wird die Exzision etwa von islamischen Fundamentalisten zu einer urislamischen Tradition stilisiert. Der Dialog über die Exzision würde dadurch
unmöglich, sagt die Ethnologin. Sie fordert, Exzisionen in abgeschwächter
Form in Krankenhäusern anzubieten –
ein Ansinnen, das etwa die WHO strikt
zurückweist.
Ein „Ersatzritual“ müsse mindestes
her, meinen die Filmemacherinnen
Edda Brandes und Svenja Cussler. Um
solche Ideen überhaupt im Westen verständlich zu machen, müsste der Westen erst einmal verstehen wollen, worum es bei der Exzision eigentlich geht.
Man könnte den Film von Brandes und
Cussler im Fernsehen zeigen. Doch es
fand sich kein Sender, der ihn zeigen
wollte. Er entspreche nicht den deutschen Sehgewohnheiten, hieß es, oder,
wie vom Bayerischen Rundfunk: „zu irritierend“.
HEIDE OESTREICH, 33, ist Redakteurin im Inlandsressort der taz
Auf Initiative der taz wird der Film „Ainsi va la vie“
morgen, am 15. September, um 14 Uhr, exklusiv
im Kino Arsenal gezeigt. Potsdamer Straße 2,
10785 Berlin. Fon (030) 2695510. Die Regisseurinnen sind anwesend. www.ainsi-va-la-vie.de
schen Operationen an, die die weggeschnittene Vorhaut rekonstruieren.
Die Sexualität von beschnittenen und unbeschnittenen Männern wird verschieden beurteilt. Viele Frauen (und Männer) haben mit Männern ohne Vorhaut
bessere Erfahrungen gemacht, andere schätzen aus
ästhetischen Gründen die naturbelassene Variante.
Literatur: David Gollaher: Das verletzte Geschlecht.
Die Geschichte der Beschneidung, aus dem Amerikanischen von F. Florian Marzin, Aufbau Verlag, Berlin 2002, 316 Seiten, 22,50 Euro.JAF

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