„Mein Herz“: Else Lasker-Schüler und ihr - Exil
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„Mein Herz“: Else Lasker-Schüler und ihr - Exil
„Mein Herz“: Else Lasker-Schüler und ihr „Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen“.1 Hast Du je daran gezweifelt, daß ich Bandit bin im allerhöchsten Schmerz, im tollsten, tollkühnsten Sinne? [12. August 1910. KA, Bd. 6, Nr. 255.]2 Das schreibt Else Lasker-Schüler an den Engländer Jethro Bithell in einem erzürnten Brief, der eine einjährige Korrespondenz beendet. Was war geschehen? Im Sommer 1909 hatte sich der Literaturwissenschaftler und Übersetzer an Else Lasker-Schüler gewandt mit der Bitte um Gedichte, die er übersetzen und in eine englische Anthologie zeitgenössischer deutscher Literatur stellen wollte. Else LaskerSchüler reagiert schnell und bereitwillig, schickt ihm drei noch unveröffentlichte Gedichte und lässt ihm bei der Auswahl weiterer, bereits gedruckter, freie Hand. Diesen durchaus sachlichen geschäftlichen Vorgang kleidet die Dichterin in ihrem Antwortbrief in einen Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Französisch: Dear Sire. I can't more speak englisch, all is fly out my head eway. But I understand Jour card something and I send 3 poems for Jour Antologie. I hope Jou love them [...]. The other I have not understand, what Jou have written, will Jou encore une fois (still once) written me in German la même chose, dear Sire? [...] Sire, ich grüße Sie mit lauter Sternen. Else Lasker-Schüler [...] Jou know doch, – I am the prinzessin von Bagdad. [...] [1. August 1909. KA, Bd. 6, Nr. 171.] Die „Prinzessin von Bagdad“ – das ist eine Figur aus Else Lasker-Schülers zweitem Prosabuch „Die Nächte Tino von Bagdads“ (1907), und es ist Else Lasker-Schüler selbst. Seitdem sie sich um 1900 vom bürgerlichen Leben ab- und der sogenannten Boheme zugewandt hatte, trug Else Lasker-Schüler neben dem bürgerlichen mindestens noch einen weiteren Namen. Diese Namen finden sich immer in ihren Prosatexten wieder, es sind also auch die Namen der ‚Helden‘ ihrer Bücher. Aus „Tino“, wie auch die Protagonistin ihres „Peter Hille-Buchs“ (1906) heißt, wurde ab Mitte 1906 „Tino, Prinzessin von Bagdad“.3 Diese Benennungen sind streng von Pseudonymen zu unterscheiden, die sich Künstler oftmals zulegen, um ihre reale Existenz hinter dem angenommenen Namen zu verbergen. Für Else Lasker-Schüler dagegen sind ihre Namen ein Mittel, ihre Existenz ins Fiktionale zu erweitern und zugleich ihren Fiktionen eine – freilich diffuse – Wirklichkeit zu verleihen. Dieses ungewöhnliche und in aller Konsequenz lebenslang betriebene Spiel Else Lasker-Schülers mit Wirklichkeit und Fiktion lässt sie nun auch in ihrem Brief an den englischen Wissenschaftler Bithell anklingen. Ihr wird klar gewesen sein, dass der Übersetzer gut Deutsch spricht, obwohl er seine Bitte auf Englisch vorgebracht hatte. Dennoch ist ihre Antwort babylonisch, sie spielt poetisch mit drei Sprachen und ihren mangelnden Kenntnissen des Englischen und Französischen. Indem sie Versatzstücke verschiedener Sprachen spielerisch verwirbelt, bietet sie Bithell ein Spiel an, prüft den unbekannten Briefpartner auf seine Mitspielbereitschaft und – fähigkeit: Wie wird er darauf reagieren? Ihr Versuch ist recht unverfänglich, die Sprachspielerei ist sachlich begründbar und ließe sich von Bithell einfach beenden, indem er ihr den nächsten Brief in nüchternem, klarem Deutsch schreibt. Else Lasker-Schüler bietet ihm sozusagen zwei Lesarten an: Eine – einigermaßen – sachliche und eine verspielte. Sie unterschreibt ihren ersten Brief an „Sire“ Jethro Bithell mit ihrem realen Namen und versucht im Nachsatz noch einmal, ihn zum Spiel zu locken: „Jou know doch – I am the prinzessin von Bagdad“ ... Die Briefe Jethro Bithells an Else Lasker-Schüler sind leider nicht erhalten, doch scheint er den ihm zugeworfenen Ball aufgefangen und zurückgespielt zu haben, wie Else Lasker-Schülers neuerliche Antwort nahe legt: Lieber Dichter and Sire <über dem S ein Stern>! Jou are a king! But I am also a princess – Jou said it – wenn auch meine Paläste zerfallen sind meine Dromedarheerden verhungert – auch meinen Tauben sind die Corallen ausgestochen. I have been ill but that is a malady from a bird – eine malady eine Flatterkrankheit without a Ziel. Eine schmerzliche Krankheit. Vielleicht it es a Verkommenheit, keinem Herumtreiber hängen die dresses so zerrissen herab wie mir mein <Herz> – Sie sind ein feiner und großer Dichter, ich bin ganz entzückt und ich freue mich der Auswahl. [...] [12. August 1909. KA, Bd. 6, Nr. 172.] Nicht nur mit und in Worten spielt Else Lasker-Schüler jetzt, sondern auch im Bild: Das „Sire“ in ihrer Anrede trägt einen Stern auf dem S wie eine Krone, weitere neun gezeichnete Sterne schickt sie Bithell als Dank – wohl für seine Übersetzungen ihrer Gedichte, die er ihr geschickt hatte. Auch das zerrissene Herz, von dem sie spricht, steht nicht im Wort da, sondern als Zeichen. Zu dieser Zeit etwa fängt Else LaskerSchüler überhaupt an, ihre Briefe mit kleinen Zeichnungen, oder besser: Zeichen zu versehen, die oft eng an das Wort geknüpft sind, es schmücken oder es auch ersetzen. In den folgenden Monaten schreibt und zeichnet „Tino“ etliche lange Briefe an den „duc“, „king“ und „earl von manchester“ Jethro Bithell in düsterem Humor. Einsamkeit und Erschöpfung sprechen aus ihnen; auch wird deutlich, dass Else Lasker-Schüler häufig krank ist, nicht allein seelisch. Immer wieder fällt das Wort „Angst“, wie in einem Brief von Ende September 1909: Ich habe oft Angst, wahnsinnige Angst und fühle den Stern darauf wir leben und sterben sich bewegen. [Etwa 22. September 1909. KA, Bd. 6, Nr. 184.] Konkret berichten die Briefe wenig von ihrer Lebenssituation um 1909/10: Else Lasker-Schüler lebt mit ihrem zweiten Mann, dem Komponisten und Redakteur Herwarth Walden in Berlin-Charlottenburg, sie ist als Schriftstellerin längst anerkannt und muss dennoch um jede Buchveröffentlichung kämpfen, kaum können beide den Lebensunterhalt für sich und, was ihnen mehr noch zu schaffen macht, für Else Lasker-Schülers Sohn Paul aufbringen. Paul besucht zu dieser Zeit ein privates Landerziehungsheim, für das monatlich 100 Mark aufgebracht werden müssen, was etwa 13% ihres Gesamtbedarfs ausmacht.4 Der tägliche Kampf ums finanzielle Überleben und beider künstlerischer Idealismus scheinen zu den letzten Dingen zu gehören, die Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler noch verbinden. In der Korrespondenz mit Jethro Bithell spricht die Dichterin von ihrem Wunsch zu fliehen: 2 Wie gerne möcht ich flüchten, wohin weiß ich nicht von allen Menschen fort, die kein Gewissen haben und so pflichttreu sind nicht trauern können nur jammern nicht jubeln können und lachen und keine Feste geben, die wie in Bagdad 3 Tage und 3 Nächte dauern. <rechteckiges Gebäude mit Palme> hier mein Palast und eine Hand voll <fünfzehn Sterne> [Etwa 22. September 1909. KA, Bd. 6, Nr. 184.] Feste, die drei Tage dauern und drei Nächte, „wie in Bagdad“ – und im Märchen. Im gleichen Brief, der dieses Fluchtszenario entwirft und in dem das Fiktive als Refugium erscheint, schließt Else Lasker-Schüler kategorisch jede geschlechtlicherotische Motivation der Korrespondenz zwischen dem Engländer und ihr selbst aus: Sind Sie, wie ich es bin, ewig 14 jährig? und ein Knabe? Eckelhaft sind Frauen und Männer. [Ebd.] Mit der Vorstellung von zwei halbwüchsigen Knaben, die sich in brüderlicher Liebe zugetan sind „wie in der Bibel ‚Jakob und Esau‘“ [etwa Ende Juni 1910. KA, Bd. 6, Nr. 246.], wie sie an anderer Stelle schreibt, steckt Else Lasker-Schüler weiter das Spielfeld ab. In Bithell scheint sie einen Partner zu gefunden zu haben, der sie bei dem Entwurf und der Ausgestaltung ihrer Identitäten begleitet und inspiriert. In der Selbstdarstellung als Knabe bereitet sich die Wandlung der Ich-Figuration5 Else Lasker-Schülers von „Tino, Prinzessin von Bagdad“ zu ihrer letzten und wichtigsten vor, zu „Prinz Jussuf von Theben“, die unmittelbar bevorsteht, wie sich zeigen wird. Die Figur Jussufs, wie Joseph auf arabisch heißt, entwickelt Else Lasker-Schüler aus dem alttestamentlichen Josephs-Mythos. In ihrem nächsten Brief spricht sie Bithell als „Dear fourteenjährigen boy“ an und fährt fort: Ich sagte Ihnen ja immer, ich bin Jussuf aus Egypten, schon der mageren Kühe wegen; auch trage ich den lammblutenden Rock, auch warfen mich meine Brüder in die Grube und ich kenne Potiphars Weib, das mich mißbrauchte und Träumedeuten ist meine besondere Begabung. Und nachts trage ich den königlichen Turban im Schlaf und schenke Waizen aus. [1. Oktober 1909. KA, Bd. 6, Nr. 188.] Hier, in diesem Brief an Jethro Bithell vom 1. Oktober 1909, stellt sich Else LaskerSchüler erstmalig als „Jussuf von Egypten“ vor,6 eine Figuration, die sie, geringfügig gewandelt zu „Jussuf, Prinz von Theben“, ihr Leben lang beibehalten wird. Dennoch unterschreibt sie zunächst weiterhin als „Tino“, und es wird noch über anderthalb Jahre dauern, bis „Jussuf“ „Tino“ wirklich ablöst.7 Jethro Bithell muss Else Lasker-Schüler nun als tauglicher Spielgefährte vorgekommen sein, denn sie entwickelt in ihren Briefen an ihn nun fast vorbehaltlos fiktive Szenarien und bizarre Wirklichkeiten voller Poesie. So berichtet sie von einer Lesung, bei der alle „gegeneinander, hintereinander, zueinander verliebt“ gewesen seien [15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199], sie gesteht, dass sie, als sie in vornehmen Bürgerhäusern zu Gast war, Pelze und einen Läufer habe mitgehen lassen [vgl. Brief vom 21. April 1910. KA, Bd. 6, Nr. 238] und dass sie, die Jüdin, „die Christenhunde immer mit Steinen geworfen [hätte] bei den großen Festen in Cairo“ [15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199]. Solcherlei mag Bithell mitunter befremdet haben, so dass auch Else Lasker-Schüler nach einem Schweigen von ihm fürchtet, „mein letzter Brief war nun doch zu bunt“ [18. Januar 1910. KA, Bd. 6, Nr. 210] und 3 ihm vielleicht zu recht das Urteil über sie in den Mund legt:„sie ist doch eine leichtsinnige, oberflächliche Prinzessin“ [ebd.]. Gerade die räumliche und persönliche Distanz zwischen der Dichterin und dem ihr unbekannten Wissenschaftler aus England scheint Else Lasker-Schüler poetisch zu beflügeln, so dass sie sagen kann: „ich schreib Ihnen alles, das Meer liegt zwischen uns wie ein rauschender Schacht“ [5. bis 6. November 1909. KA, Bd. 6, Nr. 191]. Dennoch entwickelt Else Lasker-Schüler den Gedanken, Jethro Bithell in London zu besuchen, dort Lesungen zu halten und ihr Varietéprojekt vorzuführen, an das sie in dieser Zeit verzweifelt glaubt und an dem sie wütend arbeitet, das aber nie zustande kommen wird. In vielen Briefen schmückt sie aus, wie sie sich ihre Begegnung vorstellt – etwa: ich wohn dann wo Sie wohnen, ich mag keine englischen Gespenster kennen lernen. Denn sind wir beide wie zwei Studenten, zwei Prinzen – ich bin wie ein Junge auf Ehrenwort. [5. bis 6. November 1909. KA, Bd. 6, Nr. 191] Bald darauf schreibt sie ihm: Wir werden uns sicher mal bis zur Bewußtlosigkeit küssen. Sag es Niemandem. [15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199.] Allerdings hatte sie wenige Sätze vorher in dem Brief die Liebe aus dem Bereich der Körperlichkeit ins Metaphysische gehoben mit der Aussage, alle Künstlermenschen müssten sich bis zur Bewußtlosigkeit lieben. Dennoch: während solche Vorstellungen Else Lasker-Schüler entzücken, scheinen sie Bithell zu beunruhigen, obwohl die Dichterin ihr Verhältnis als „das Keuscheste auf der Welt“ bezeichnet [19. Januar 1910. KA, Bd. 6, Nr. 211] und ihm einmal sogar versichert, sie sei „in Wirklichkeit blödsinnig blöde“ [15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199], womit sie „schüchtern“ meint, das Wort „blöde“ wie zu Schillers Zeiten verwendend. „Vielleicht sehn wir uns nie“ [7. Mai 1910. KA, Bd. 6, Nr. 240], schreibt sie ihm auch wie zur Beruhigung. Tatsächlich rückt das Ende der brieflichen Beziehung näher. Am 21. April 1910 schreibt Else Lasker-Schüler fünf Briefe an Bithell (von denen allerdings nur drei erhalten sind), in denen sie eine frühere Vorstellung wieder aufgreift, sich mit ihm, wie sie sagt „bigamieähnlich trauen zu lassen“ und der „Gefängnißstrafe des Bürgers“, die auf die Doppelehe steht, zu trotzen [19. Januar 1910. KA, Bd. 6, Nr. 211]. In dem letzten der fünf Briefe vom selben Tag schließlich fragt Else LaskerSchüler ihren Briefpartner „Liebst Du schon jemand in London? Oder liebst Du mich nur?“ [21. April 1910. KA, Bd. 6, Nr. 239] Bithell scheint ausweichend geantwortet zu haben, dann meldet er sich gar nicht mehr, so dass seine Briefpartnerin besorgt fragt, ob er krank sei – „Oder haben Sie Sich verliebt? [...] Darum dürfen Sie mich nicht vergessen, ich bin doch ein boy.“ [28. Juli 1910. KA, Bd. 6, Nr. 250.] Die Verwendung der Anrede „Sie“ zeigt, dass Else Lasker-Schüler ihr Spiel teilweise aufgibt, offenbar ahnt sie, dass ihr Briefpartner es nicht versteht. Ihre Befürchtungen müssen sich beim Eintreffen der Antwort Bithells bestätigt haben. In diesem Brief teilt er ihr wohl mit, dass er sich verheiratet habe. Nicht der Inhalt, sondern die Art der Eröffnung muss Else Lasker-Schüler tief verletzt haben, denn der Brief legt offen, dass Bithell ihre Korrespondenz nicht wie sie als Spiel mit Wirklichkeit und Phantasie verstanden hat. Nun schreibt und zeichnet Else Lasker-Schüler ihren letzten Brief an ihn: 4 <großer Komet, dessen Schweif sich durch den Text zieht; im Stern Schriftzeichen ähnlich hebräischen Buchstaben> Dear Earl. O!!!! Du also auch? Oder glaubst Du die Flucht nehmen zu müssen vor der Bigamie? Indem ich das schrieb, ging ich sie ein. Denn nichts geschieht wirklicher als in meinem Kopf. O!!!!! Hast Du mich so wenig verstanden? Sieh mal mein Bild an – bin ich nicht so ernst, das ich jeden Augenblick ein August, ein Gauckler werden muß – und doch, wäre ich nicht Fakir würde ich Antinous sein. Aber Du bist kein Hadrian. O!!!!! Oder ist Dein Weib ein Riff oder eine Möwe oder einer der weißen Kalkfelsen in Dover? – <Stern> Denn hätte sie Mond und Sterne in Dir funkeln lassen, aber in Deinem Brief ist kaum eine Dunkelheit untergegangen. Willst Du Bürger werden, Earl of England? Du hast mich belogen, Earl of England. Aus welchem Grund? Wie nennst Du die Liebe? Rufst Du sie an wie der Bürger? Hast Du je daran gezweifelt, daß ich Bandit bin im allerhöchsten Schmerz, im tollsten, tollkühnsten Sinne? Ich reiße es der neugierigen Mittagsstunde aus dem Munde und lasse es zergehen zum Zeitvertreib in die Nacht hinein. Enough! <Kreuz, darunter ein horizontales, schlangenartiges Ornament mit züngelndem Kopf (in einer Windung Beischrift:) Eva> [...] Ich habe immer geglaubt, wir hätten uns oft in London unterhalten – Du hättest Wunder erlebt – ich bin meiner Gesichte sicher – wer so oft begraben war und auferstanden ist! Zweifelst Du daran? Aber Du hast mich belogen – kein Weib soll zwischen unserer Freundschaft (?) Königsschaft kommen – nicht? In meinen grimmigsten Stunden bin ich selbst der Fakir von Theben (Jaques the Ripper.) Schaudere! Du hast mich belogen – so beschreibt man nicht sein Weib – das ist psychologisch unrichtig. Aber ein Unwissender, ein Sklave hat Dich gewarnt vor dem einzigen Menschen in Berlin, der phantasieren kann. Herr, ich, die ich mich nicht verwöhnte mit Anerkennung, erwähle mich heute Abend zum Tanze nur ich darf mit mir tanzen. Wie hast Du mich falsch verstanden! Tino Waly aus Bagdad, Dichterin vom Tigris. (Else LSchüler) [12. August 1910. KA, Bd. 6, Nr. 255.] So stolz und poetisch beendet Else Lasker-Schüler, gleichzeitig im Spiel bleibend und es aufgebend, am 12. August 1910 diesen Briefwechsel mit Jethro Bithell. Der erste Versuch der Dichterin, brieflich mit einem Partner einen Raum zu schaffen, in dem Wirklichkeit und Fiktion Hand in Hand gehen, ist gescheitert. Im Winter 1910/11 versucht sie noch einmal, ein ähnliches Spiel zu eröffnen, mit dem Kunsthistoriker Eduard Plietzsch. Diesmal scheitert das Unterfangen bereits nach zwei Briefen; im dritten beschimpft Else Lasker-Schüler den Vierundzwanzigjährigen, ein ebenso „verfluchter Philister“ [26. Januar 1911. KA, Bd. 6, Nr. 276] wie alle anderen zu sein und bricht den schriftlichen Kontakt ab. Auch die Briefe, die sie bald darauf an den Dichter Kurt Wolfskehl zu richten beginnt, suchen ein Spiel, das bedingt zwar glückt, doch sich nicht recht entfalten will. Immerhin kommt es hier nicht zum Affront. Erst in Franz Marc, den sie Ende 1912 kennenlernen wird, wird sie einen Briefpartner finden, mit dem sie eine außergewöhnliche, künstlerisch-spielerische Korrespondenz führen kann, doch einstweilen, erkennt „Tino Waly aus Bagdad“, muss sie alleine gaukeln, allein als Bandit auf Raub ausgehen und mit sich selbst tanzen. Was von ihrer Beziehung zu Jethro Bithell bleibt (und sich glücklicherweise erhalten hat), sind 24 Briefe, die zu den schönsten gehören, die Else Lasker-Schüler geschrieben hat.8 5 Ein Jahr später, im August 1911, tritt Else Lasker-Schülers Mann Herwarth Walden eine Erholungsreise an. Das kann er sich nur leisten, weil ihn sein Freund, der Rechtsanwalt Kurt Neimann, eingeladen hatte, ihn zu begleiten. Trotzdem scheitert es fast daran, dass Herwarth Walden nicht genug Geld für seine Frau zurücklassen kann. Nichts hat sich gebessert an ihrer finanziellen Situation, im Gegenteil. Das Ringen um Einkünfte, ohne Zugeständnisse an bürgerliche Lebensmodelle zu machen, die tägliche Verteidigung ihrer unabhängigen Künstlerexistenz, kosten beider Kraft. Ihre Ehe steht kurz vor ihrem offiziellen Ende, im November werden sie sich scheiden lassen; dennoch setzt sich jeder entschieden für den anderen als Künstler ein. In dieser Situation reist Herwarth Walden also für zwei Wochen nach Norwegen. Else Lasker-Schüler nutzt den realen Anlass, um den beiden Reisenden Briefe zu schreiben. Diese schickt sie allerdings nicht ab, sondern veröffentlicht sie im „Sturm“, jener heute legendären „Wochenschrift für Kultur und die Künste“, die Herwarth Walden 1910 gegründet hatte. Woche für Woche erscheinen dort nun Else LaskerSchülers „Briefe nach Norwegen“, während Herwarth Walden und Kurt Neimann längst schon wieder in Berlin sind. Schnell entwickelt Else Lasker-Schüler den Plan, die Briefe, die zum Teil auch einfarbige Zeichnungen enthalten, auch als Buch zu veröffentlichen, und nachdem sie einen Verleger gefunden hat, erscheinen ihre „Briefe nach Norwegen“ schon im November 1912 unter dem Titel „Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen.“9 Die Briefe an Jethro Bithell oder Eduard Plietzsch sind Teil einer tatsächlichen Korrespondenz, wurden wirklich abgeschickt und waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen. Es handelt sich bei ihnen also um nichtfiktionale Literatur, trotz ihres oft fiktionalen Inhalts. Dagegen handelt es sich bei „Mein Herz“ wie der Untertitel ausweist, um einen Roman. Damit, könnte man meinen, sei das Spielgebiet zwischen Wirklichkeit und Fiktionalität von Else Lasker-Schüler verlassen und eindeutig der Bereich der Fiktion, der Dichtung, betreten worden. Doch genau um dieses Spiel ist es Else Lasker-Schüler auch hier wieder zu tun, um das Spiel, das Kunst und Leben so unzertrennbar macht wie das Yin und das Yang. Deswegen schreibt sie einen „Liebesroman mit [...] wirklich lebenden Menschen“. Damit dreht sich das Prinzip, wie es erstmals in den Briefen an Jethro Bithell zu finden ist, zunächst um: Während dort Fiktionalität in reale Briefe eindringt, stellen nun reale Personen aus dem Umfeld Else Lasker-Schülers Teile des Romanpersonals. Die Erzählerin – oder treffender Briefschreiberin – im Buch heißt wie die Autorin auf dem Buchdeckel, gleich im ersten Brief erwähnt sie, „daß ich Else Lasker-Schüler heiße“ [Mein Herz S. 10]. Zugleich betont die Briefschreiberin, dass sie eine Geschichte erzählen möchte, ihre „neue Liebesgeschichte“ [Mein Herz S. 9]. Nach der Abreise der „lieben Jungens“ Herwarth und Kurtchen habe sie niemanden, „dem ich meine Abenteuer erzählen kann außer Peter Baum“, worauf sie Herwarth und Kurtchen die Liebesgeschichte schriftlich liefert. Sie erzählt: Wenn es Euch interessiert: Vorgestern war ich mit Gertrude Barrison in den Lunapark gegangen, leise in die egyptische Ausstellung, als ob wir so etwas süßes vorausahneten. Gertrude erweckte dort in einem Caféhaus die Aufmerksamkeit eines Vollbartarabers; mit ihm zu kokettieren, auf meinen Wunsch, schlug sie mir entsetzt ab, ein für alle mal. Ich hätte nämlich gerne den Lauf seiner sich kräuselnden Lippen beobachtet, die nun durch die Reserviertheit meiner Begleiterin gedämmt wurden. Ich nahm es ihr sehr übel. Aber bei den Bauchtänzerinnen ereignete sich eines der Wunder meines arabischen Buches; 6 ich tanzte mit Minn, dem Sohn des Sultans von Marokko. Wir tanzten, tanzten wie zwei Tanzschlangen, oben auf der Islambühne, wir krochen ganz aus uns heraus, nach den Locktönen der Bambusflöte des Bändigers, nach der Trommel, pharaonenalt, mit den ewigen Schellen. Und Gertrude tanzte auch, aber wie eine Muse, nicht muselhaft, wie wir, sie tanzte mit graziösen, schalkhaften Armen die Craquette, ihre Finger wehten wie Fransen. Aber er und ich verirrten uns nach Tanger, stießen kriegerische Schreie aus, bis mich sein Mund küßte so sanft, so inbrünstig, und ich hätte mich geniert, mich zu sträuben. Seitdem liebe ich alle Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an sich tragen, an sein Goldbrokat erinnern. Ich liebe den Slawen, weil er ähnliche braune Haare hat, wie Minn; ich liebe den Bischof, weil der Blutstein in seiner Krawatte von der Röte des Farbstoffs ist, mit der sich mein königlicher Muselmann die Nägel färbt. Ich kann gar nicht ohne zu brennen an seine Augen denken, schmale lässige Flüsse, schimmernde Iris, die sich in den Nil betten. Was soll ich anfangen? Die Verwaltung des Lunaparks hat mir verboten, wahrscheinlich hat sie Verdacht bekommen, den Park zu betreten. Ich brachte nämlich gestern morgen meinem herrlichen Freund einen großen Diamant – Deinen, Herwarth; bist Du böse? – und eine Düte Kokosnußbonbons mit. Wenn ich überhaupt jetzt Geld hätte? Und ich habe an den Lunapark einen energischen Brief geschrieben, daß ich diese mir angetane Beleidigung der Voß mitteilen würde, daß ich Else Lasker-Schüler heiße und Gelegenheitsgedichte dem Khediven lieferte beim Empfang europäischer Kronprinzen. Was nützt mirs, daß sie mich wieder einlassen – immer geht ein Detektiv hinter mir, aber Minn und ich treffen uns bei den Zulus, die leben schwarz und wild am Kehrricht der egyptischen Ausstellung, wo kein Weißer hinkommt. Die ganze Geschichte hat mir der Impresario eingebrockt, der behandelt die Muselleute wie Sklaven, und ich werde ihn ermorden mit meinem Dolch, den ich mir erschwang im Lande Minns. Er ist der Jüngste, den der Händler nach Europa brachte, er ist der ben, ben, ben, ben, ben des jugendlichsten Vaters im egyptischen Lunagarten. Er ist kein Sklave, Minn ist ein Königssohn, Minn ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spielgefährte. Er trägt ein hochmütiges Atlaskleid und er träumt nur von mir, weil er mich geküßt hat. Kurtchen, Freund Herwarths, wärst Du doch hier, kein Mensch will mit mir nach Egypten gehn, gestern war eine Hochzeit dort angezeigt an allen Litfaßsäulen. Sollt er sich verheiratet haben? [Mein Herz S. 9-11.] Eine wirklich abenteuerliche Geschichte, die jeden Leser in Verwirrung stürzen muss. Die Dichterin Else Lasker-Schüler mag tatsächlich mit ihrer Bekannten Gertrude Barrison, einer damals sehr bekannten Tänzerin, im Lunapark gewesen sein. Der 1910 eröffnete Park in Berlin war einer der größten Vergnügungsparks Europas, in orientalisierender Phantasiearchitektur erbaut, zu Else Lasker-Schülers Entzücken. Dort wurden unter anderem Völkerschauen geboten, wie sie damals sehr beliebt waren: Angehörige ‚fremder‘, ‚exotischer‘ Völker wurden dort zur Schau gestellt, und im September 1911, zur Zeit der „Briefe nach Norwegen“, wurde im Lunapark eine sicher sehr frei nachempfundene „Straße von Cairo“ als Attraktion geboten. Es könnte dort durchaus Bauchtänzerinnen gegeben haben, auch die Begegnung mit dem „Vollblutaraber“ kann einen realen Bezug haben. Doch dann taucht mit „Minn, der Sohn des Sultans von Marokko“ eine Figur auf aus einem gleichnamigen Kapitel von Else Lasker-Schülers Buch „Die Nächte Tino von Bagdads“. Mit ihm, einer Fiktion in der Fiktion, tanzt die Briefschreiberin, wie Tino in Else Lasker-Schülers 7 Erzählung es in einer „heiligen Tanznacht“10 mit Minn tut, wahrlich, wie die Briefschreiberin sagt, „ein Wunder“. Ohne jeden Bezug, weder zur außerliterarischen Realität noch zur Fiktion der Prosa oder Dichtung Else Lasker-Schülers, sind die Figuren des Slawen und des Bischof, die die Briefschreiberin ebenfalls liebt, weil die beiden sie an Minn erinnern. Die meisten Figuren aus „Mein Herz“ aber haben gleichnamige ‚Paten‘ in der Realität, und so lässt sich, wenn man will, „Mein Herz“ wie ein ‚Who is who der Avantgarde‘ lesen. Es treten auf: Peter Altenberg, Paul Cassirer, Alfred Döblin, Leonhard Frank, Stefan George, Peter Hille, Jakob van Hoddis, Hugo von Hofmannsthal, Siegfried Jacobsohn, Oskar Kokoschka, Karl Kraus, Adolf Loos, Karin Michaelis, Emil Nolde, Max Oppenheimer, Max Reinhardt, Karl Schmidt-Rottluff und viele, viele andere, über die und von denen Wahrheiten und Unwahrheiten, Wichtiges und Belangloses in bunter Melange erzählt wird, ob sie wollen oder nicht. Ich erinnere noch einmal daran, dass „Mein Herz“ in der ersten Fassung als „Briefe nach Norwegen“ in Fortsetzungen im „Sturm“ erschien, der Zeitschrift, die Else Lasker-Schülers Mann Herwarth Walden ins Leben gerufen und schnell zur Plattform der literarischen und künstlerischen Avantgarde Deutschlands gemacht hat. Deren Berliner Abteilung traf sich zu dieser Zeit jeden Tag im „Café des Westens“ am Ku’damm, und auch Else Lasker-Schüler war nahezu täglich da. Auch die Briefschreiberin im Roman „Mein Herz“ besucht exzessiv das Café, es ist der Hauptschauplatz des Romans. Es liegt nahe, dass die wöchentlichen Folgen des „Sturm“, welche „Briefe nach Norwegen“ enthielten, von deren unfreiwilligen Protagonisten mit Spannung erwartet wurden. Wie andere Zeitschriften auch lag „Der Sturm“ im Café aus bzw. wurde vom „Zeitungskellner“ verwaltet, so dass man sich vorstellen muss, dass jede Woche beim Erscheinen des „Sturm“ die Caféhausszene im Caféhaus saß und las, wie die Caféhausszene im Caféhaus sitzt. Diese Situation macht sich Else Lasker-Schüler für ihre „Briefe“ zunutze: da sie diese nicht nur Woche für Woche veröffentlicht, sondern auch Woche für Woche verfasst, kann sie Reaktionen der Leserschaft im Café auf frühere Folgen in späteren Folgen berücksichtigen. Als erstes meldet sich Peter Baum, oder „Pitter Boom“, wie Else Lasker-Schüler ihren Freund, den Schriftsteller aus Elberfeld, auch nennt – oder ist auch seine Reaktion Fiktion, erdichtet von Else Lasker-Schüler? Das ist nicht zu entscheiden. Wie auch immer: Die Briefschreiberin hatte den „Lieben Jungens“ geklagt, dass Peter Baum nicht verfügbar sei für sie: Der Peter Baum ist ein Schaf, er grast immer auf der Wiese bei seiner Mutter und immer kann er nicht loskommen von Hans oder von einem andern Cousin des Wuppertals. Oder seine Schwester läßt ihn nicht fort, oder Maja, sein Weib, ist zurückgekehrt von der Reise. Ohne Peter Baum kann ich nicht leben. Er rügt mich nie, er findet, alles paßt zu mir, was ich tu. [Mein Herz S. 19f.] In einer späteren Folge der „Briefe“ heißt es: Liebe Brüder! Ich bin außer mir, der Pitter Boom, den ich berühmt im Sturm gemacht habe, schreibt mir folgende wörtliche Ansichtskarte: Liebe Tino! Herwarth hat recht. Wenn ich finde, daß zu Ihnen alles paßt, so paßt mir doch nicht alles. Sehr muß ich bitten, endlich meine Familie aus dem Spiel zu lassen. Ich lese wöchentlich den Sturm. Großen Dank für den plattdeutschen Brief darin. Ich bleibe noch 8 etwas hier, fern von der Caféhausglocke. Die norwegischen Briefe sind ja wunderschön, Herzliche Grüße aus Hiddensee. Peter Baum. Habt Ihr Worte – vielleicht irgendwelche Nordpollaute? Ich brauche sie, meinen Zorn abzukühlen. [Mein Herz S. 34f.] Solche und ähnliche ‚Reaktionen‘ auf die „Briefe“ werden zum Motiv des Romans: Die einen möchten gerne im Roman eine Rolle bekommen, andere dagegen verwahren sich gegen ihren ‚Auftritt‘. In „Mein Herz“ heißt es: Gestern hat sich Dein Doktor stirnrunzelnd [...] beklagt über sein Vorkommen in meinen Briefen an Euch. Da war ich ja nun platt. Ferner will sich ein Urenkel Bachs das Leben nehmen, [...], falls ich ihn erwähnte in meiner Korrespondenz. [Mein Herz S. 61.] Indem die Briefschreiberin aber von der Drohung des „Urenkels“ erzählt, erwähnt sie ihn, woraufhin er sich das Leben nehmen müsste. Bedauernd fügt die Briefschreiberin daher an: „Schade um ihn“. Paradoxerweise hat sie ihm aber das ‚Leben‘ mit seiner Nennung wohl überhaupt erst geschenkt, denn wahrscheinlich hat diese Figur kein außerliterarisches Pendant in der Wirklichkeit und existiert nur in dieser kurzen Epsiode im Roman. Die „wirklich lebenden Menschen“ des Romans „Mein Herz“ treten nicht nur im Wort auf, sondern auch im Bild. Die erste einer Reihe von Zeichnungen, mit denen Else Lasker-Schüler ihre literarischen Briefe illustriert, ist ein Bild Peter Baums mit Hasenohren. Es ist eine krakelige Umrisszeichnung, eine – anscheinend sehr treffende – Karikatur Peter Baums. Die Briefschreiberin hat ihn „in der Katerstimmung als Langohr gemalen“, heißt es in „Mein Herz“. Dass selbst die langen Hasenohren, mit denen die Briefschreiberin „Pitter Boom“ ausstattet, einen realen Bezug haben, wird erst deutlich, wenn man eine Bemerkung des Malers Oskar Kokoschka über Peter Baum aus seinen Memoiren kennt: Er litt immer an Zahnschmerzen und trug ums Gesicht ein großes Taschentuch, dessen Zipfel hoch über seinen Kopf ragten; deshalb sah ich ihn immer als Kaninchen [...].11 Weitere, wie die Briefschreiberin sagt, „dilettantisch gezeichnete“ [Mein Herz S. 48] Karikaturen zeigen Oskar Kokoschka, Herwarth Walden, Samuel Lublinski, Kurt Neimann und andere. Es sind die ersten öffentlichen Zeichnungen von Else LaskerSchüler überhaupt, deren Werk fortan von einem engen Zusammenspiel von Text und Bild gekennzeichnet sein wird. In der Regel bleibt, ganz im Sinne Else Lasker-Schülers, die Frage offen, ob die Reaktionen auf die Briefe, welche die Briefschreiberin mitteilt, wirklichen, außerliterarischen Ursprungs oder Teil der Fiktion sind. Denn damit entsteht wieder einen Raum aus Fiktion und Wirklichkeit, in dem ein Spiel zustandekommen kann. Karl Kraus allerdings, das ist bekannt, war tatsächlich nicht amüsiert von ‚seinem Vorkommen‘ in den „Briefen“. Er bittet Herwarth Walden, er möge Einfluss auf seine Frau nehmen, Karl Kraus als Figur in „Mein Herz“ nicht mehr auftreten zu lassen. Herwarth Walden spricht mit Else Lasker-Schüler, deutet aber rücksichtsvoll Karl Kraus’ Unmut nur an. Im Roman reagiert die Briefschreiberin, außerhalb des Romans 9 wendet sich Else Lasker-Schüler an Karl Kraus, darüber rätselnd, worüber dieser sich gegenüber Herwarth Walden beklagt haben könnte: [Herwarth Walden] riet [...] mir wenn es nicht künstlerisch nötig sei, Sie in meinem Buch: Briefe nach Norwegen, nicht mehr zu erwähnen. Wie kommt das alles, werter Minister? [...] Ich kann mir ja nur denken, daß Sie nicht über meine Dichtung etwas schrieben, nur, daß ich allerlei Figur mitspielen lasse. Allerdings wie in einem Schauspiel wo der Herr neben dem Knecht geht der König seine Untertanen küßt, der Prophet das Volk segnet. [...] Jedenfalls liebe ich nach meiner Sehnsucht die Leute alle zu kleiden, damit ein Spiel zu Stande kommt. Ich bin überzeugt daß Friedrich von Schennis (ein König) darüber Freude hat, liest er sich in der jetzigen Nummer des Sturms. Und Peter Baum hat laut aufgelacht, als er sein Bild im Manuscript sah mit den Eselsohren. Spielen ist alles. Sie, Minister, der am aller Entzücktesten wären, würden Sie wirklich mal die Spiele erleben, die ich noch spielen könnte, beklagen Sich über endlich, endlichen Frühling der Dichtung. Sie haben Sich beklagt, das ist klar. Und ich werde die beiden Briefe dennoch nicht Zurückziehen und Herwarth ist verpflichtet Sich, Ihnen und mir <drei Sterne>, die Briefe weiter zu drucken. Ich hoffe, Minister, Sie freuen Sich darüber, daß Sie so anständige nicht aus ihrer Empfindung aus ihrer Kunstrichtung sich bringen lassende Freunde haben, Sie können auf uns bauen wie wir auf Sie. [8. November 1911. KA, Bd. 6, Nr. 313.] Dieser Brief an Karl Kraus zeigt, wie ernst Else Lasker-Schüler ihr Spiel ist. „Spielen ist alles“, heißt es dort. Kunst muss demnach Spiel sein, muss wie dieses aus Freude an sich selbst geschehen, darf nicht von praktischen Zielsetzungen bestimmt werden – und gehört zum Leben. „Mein Herz“ ist „ein Massenlustspiel [...] – allerdings mit ernsten Ergüssen“, wie die Briefschreiberin einmal sagt [Mein Herz S. 55f.]. Als Lustspiel kommt „Mein Herz“ in der Tat daher, etwa wenn die Briefschreiberin als Bär verkleidet ins Café kommt und nur erkannt wird, weil sie unter ihrem Fell „eine ganze Wupper“ schwitzt [Mein Herz S. 54], oder wenn sie von einem Schillerschen Räuber bedroht wird, der ihr die Unwahrheit ihrer „Briefe nach Norwegen“ vorwirft [vgl. Mein Herz S. 57]; ein andermal wird sie fast von dem Freund ihres Dienstmädchens überfallen, weil diese ihrem Freund Briefe wie die nach Norwegen geschrieben hat, was jener gar nicht lustig findet [Mein Herz S. 22]. „O, ich scherze nicht, ich will Dich und Euch nicht amüsieren, aber mich immer retten mit Tyll Eulenspiegel Spielen“, beteuert die Briefschreiberin einmal [Mein Herz S. 73]. Wie der Held des Volksbuchs von 1515 berichtet die Briefschreiberin in einzelnen Episoden von ihren Abenteuern, mit denen sie sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt und anderen einen Spiegel vorhält – „Mein Herz“ ist ein avantgardistischer Schelmenroman. „Ernst“ dagegen wird es beispielsweise, wenn die Briefschreiberin – oder ist es die Autorin? – eine flammende Rede gegen eine Theateraufführung hält. Im Dezember 1911 wurde unter der Regie Max Reinhardts Hugo von Hofmannsthals Spiel „Jedermann“ in einem Zirkus uraufgeführt, in einer gigantischen und aufwendigen Inszenierung. In „Mein Herz“ wird das Stück Hofmannsthals geschmäht wegen seiner gestelzten Sprache und seines didaktischen Anspruchs als „charakteristisches Gähnen mit noch entsetzlicheren, unechten Reimereien eines ‚Verbesserers‘“ [Mein Herz S. 106. Die Briefschreiberin Else Lasker-Schüler belässt es nicht bei solchen Invektiven gegen den damals schon sehr anerkannten und berühmten Hugo von Hofmannsthal, sondern sie wendet sich auch gegen den ebenso bekannten und 10 schon damals legendären Regisseur Max Reinhardt, der das „Riesenkasperle“ [Mein Herz S. 106], wie sie sagt, inszeniert habe: Stück als Die Aufführung des Jedermann ist eine unkünstlerische Tat, eine schmähliche – von ihm zumal, der im Publikum für unfehlbar gilt [...]. Hat Reinhardt Geld nötig? [Mein Herz S. 107.] Else Lasker-Schüler nimmt kein Blatt vor den Mund, was deswegen besonders heikel ist, weil sie zu dieser Zeit hofft, Max Reinhardt werde ihr Drama „Die Wupper“ uraufführen (was er übrigens auch tat, allerdings erst im Jahr 1919). Die Briefschreiberin zögert nicht, ihre Meinung kundzutun, ist sich aber bewusst, dass ihre geharnischte Kritik undiplomatisch ist: Nun wird mein Schauspiel eine Geisel sein in Reinhardts Händen, er wird meine Dichtung ins Feuer werfen oder sie mir mit ein paar Phrasen seiner Sekretäre wiedersenden lassen. Gleichviel, ich will keine Rührung noch Sentimentalität aufkommen lassen, Herwarth, ich muß meine Dichtung opfern der Wahrheit, dem „Ehrgeiz“ zum Trotz. Der Prinz von Theben wirft die letzte Fessel von sich. [Mein Herz S. 107.] Der „Prinz von Theben“ – „Mein Herz“ ist, das soll zum Schluss nicht vergessen werden, auch sein Roman. Er wird im Trubel der Ereignisse um das Café des Westens zum Regenten des Reichs Theben. Die Briefschreiberin, die sagt, dass sie „verdorren“ muss „in der Nüchternheit Berlins“, wenn man nicht mit ihr spielt [Mein Herz S. 24f.], findet zuletzt nur noch als „Prinz Jussuf“ willige Spielgefährten: Ich werde in meiner Stadt erwartet, kostbare Teppiche hängen von den Dächern bis auf die Erdböden hernieder und rollen sich auf und wieder zusammen. Meine Neger liegen schon seit Sonnenaufgang vor mir auf den schwarzen Bäuchen und werden am Abend unter die Leute gehen, sie das Wort „Hoheit“ lehren, bis das Wort tanzt in ihren Mündern. Ich bin Hoheit. Merkt Euch das, betont es Jedem, der Euch in den Weg läuft. Aber mich schmerzt diese Ehrung, denn ich kann nicht in meine Stadt zurück, ich habe kein Geld. Und die Morgenländer lieben den Glanz; sie greifen Sterne aus den Wolken, und ihre Herzen sind aufgespeichert mit dem goldenen Weizen des Himmels. Hier gibt es keine Sterne, kleine Streukörnchen glitzern zur Erde. O, wie arm diese Abendlande, hier wächst kein Paradies, kein Engel, kein Wunder. Wie hat mich diese Armut so beschämt, Eure Armut; ich habe nicht einmal einen Damastmantel; meine elenden Schuhe sind zerrissen – ich sehe selbst mit Verachtung auf meine eigene Hoheit herab. Aber die Neger sind feinfühlig, sie haben ein Spiel erfunden, wir spielen zur Probe schon hier Volk und König. Sie stellen sich zu meinen beiden Seiten scharenweise auf, hunderttausendabermillionen Köpfe in Turbanen, die schreien und kreischen, Allah, machâh! Und trampeln mit den Füßen und klatschen in die Hände – ich lächle mit meiner Hand, werfe gnädige Küsse unter das Volk. Ich bin ganz in Gold gekleidet wie der allerleuchtendste Mond, meine Haare funkeln, die Nägel meiner Finger sind Perlen; ich werde in den Palast getragen und gebe meinem teuren Volk die Verfassung. [Mein Herz S. 121f.] 11 Das Spiel mit „wirklich lebenden Menschen“ führt die Briefschreiberin also als gescheitert vor, gescheitert – wie im Falle der Briefe Else Lasker-Schülers an Jethro Bithell – an der „Armut“ ihrer Mitspieler. Auch die Möglichkeit der Flucht aus dem Zwischenreich von Wirklichkeit und Fiktion ‚nach Theben‘ scheitert, denn auch der Prinz von Theben ist „zu arm“, um in seine Hauptstadt reisen zu können. Doch die Briefschreiberin gibt ihre Hoffnung nicht auf, bald nach Theben kommen zu können und kündigt trotzig in ihrem letzten Brief an Herwarth und Kurtchen, die „lieben Gesandten“, an, demnächst in Theben gefeiert zu werden [vgl. Mein Herz S. 126, S. 128] – wie die Dichterin Else Lasker-Schüler „Bandit im allerhöchsten Schmerz“. 1 Vortrag, gehalten am 10. Juni 2005 im Literarischen Café, Wuppertal-Elberfeld. Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz RosenzweigZentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky. Bd. 6: Briefe 1893-1913. Bearbeitet von Ulrike Marquardt. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2003. (Zitiert als KA, Bd. 6.) 3 Es ist kaum möglich, dieses In- und Nebeneinander von Else Lasker-Schülers Leben und ihrem Werk zu beschreiben, denn man kann weder sagen, dass sie in die Rollen der Figuren ihrer Bücher schlüpfte, noch, dass sie ihr Leben durch Schreiben fiktionalisierte, und doch ist beides nicht falsch. Wie bei keinem anderen vermischen sich die Ebenen von außerliterarischer Wirklichkeit und Fiktionalität bei Else Lasker-Schüler, die immer autobiographisch, weil immer „über sich“ schreibt, obwohl das Geschriebene vielleicht wahr, selten aber wirklich ist. 4 Vgl. einen Brief von Herwarth Walden an Karl Kraus vom 6. Juni 1910. In: George C. Avery (Hg.): Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. Karl Kraus – Herwarth Walden. Briefwechsel 1909-1912, Göttingen 2002. (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Nr. 79.) Nr. 340. 5 Der Begriff hat sich seit Meike Feßmanns wegweisender Arbeit zu Else Lasker-Schülers „Spiel mit der Autorrolle“ durchgesetzt. Vgl. dies.: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart 1992. 6 Die Annäherung Else Lasker-Schülers an ihre Jussuf-Figuration lässt sich brieflich verfolgen: In einem Brief an Hermann Beuttenmüller von vermutlich August 1909 schreibt Else Lasker-Schüler, dass sie „den lammblutenden Rock Jussufs“ trage (KA, Bd. 6, Nr. 170); am 22. August 1909 an Karl Kraus, dass eine Zauberin in Bagdad ihr einmal gesagt habe, sie sei „nicht mehr und nicht weniger als Joseph“, und sie sei genauso traurig wie er (KA, Bd. 6, Nr. 179). 7 In einem Brief an Karl Kraus vom 2. Februar 1910 findet sich die Unterschrift „Tino = Jussuf von Egypten. / (Kornverweser)“ (KA, Bd. 6, Nr. 220.); ab dem Frühsommer 1911 erst setzt sich die Unterschrift „Jussuf“ endgültig durch. 8 Im Februar 1920 nimmt Else Lasker-Schüler den Kontakt zu Jethro Bithell wieder auf, nicht aber den Ton, wie die Briefe an den „Dear Mr. Professore Bithell“ zeigen. Vgl. KA, Bd. 7, Nrr. 334, 411, 416, 418, 514. 9 Im Folgenden zitiert nach: Else Lasker-Schüler: Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen. Herausgegeben von Ricarda Dick. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2003. [Mit Anmerkungen und einem Nachwort.] (Zitiert als Mein Herz) 10 KA, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920. Bearbeitet von Ricarda Dick. S. 76. 11 Oskar Kokoschka: Mein Leben. München 1971, S. 113. Zit. nach: Mein Herz, Anmerkungen, S. 150. 2 12