„Mein Herz“: Else Lasker-Schüler und ihr - Exil

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„Mein Herz“: Else Lasker-Schüler und ihr - Exil
„Mein Herz“: Else Lasker-Schüler und ihr „Liebesroman mit Bildern und
wirklich lebenden Menschen“.1
Hast Du je daran gezweifelt, daß ich Bandit bin im allerhöchsten Schmerz, im
tollsten, tollkühnsten Sinne?
[12. August 1910. KA, Bd. 6, Nr. 255.]2
Das schreibt Else Lasker-Schüler an den Engländer Jethro Bithell in einem erzürnten
Brief, der eine einjährige Korrespondenz beendet. Was war geschehen?
Im Sommer 1909 hatte sich der Literaturwissenschaftler und Übersetzer an Else
Lasker-Schüler gewandt mit der Bitte um Gedichte, die er übersetzen und in eine
englische Anthologie zeitgenössischer deutscher Literatur stellen wollte. Else LaskerSchüler reagiert schnell und bereitwillig, schickt ihm drei noch unveröffentlichte
Gedichte und lässt ihm bei der Auswahl weiterer, bereits gedruckter, freie Hand.
Diesen durchaus sachlichen geschäftlichen Vorgang kleidet die Dichterin in ihrem
Antwortbrief in einen Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Französisch:
Dear Sire.
I can't more speak englisch, all is fly out my head eway. But I understand Jour
card something and I send 3 poems for Jour Antologie. I hope Jou love them [...].
The other I have not understand, what Jou have written, will Jou encore une fois
(still once) written me in German la même chose, dear Sire?
[...]
Sire, ich grüße Sie mit lauter Sternen.
Else Lasker-Schüler
[...]
Jou know doch, – I am the prinzessin von Bagdad. [...]
[1. August 1909. KA, Bd. 6, Nr. 171.]
Die „Prinzessin von Bagdad“ – das ist eine Figur aus Else Lasker-Schülers zweitem
Prosabuch „Die Nächte Tino von Bagdads“ (1907), und es ist Else Lasker-Schüler
selbst. Seitdem sie sich um 1900 vom bürgerlichen Leben ab- und der sogenannten
Boheme zugewandt hatte, trug Else Lasker-Schüler neben dem bürgerlichen
mindestens noch einen weiteren Namen. Diese Namen finden sich immer in ihren
Prosatexten wieder, es sind also auch die Namen der ‚Helden‘ ihrer Bücher. Aus
„Tino“, wie auch die Protagonistin ihres „Peter Hille-Buchs“ (1906) heißt, wurde ab
Mitte 1906 „Tino, Prinzessin von Bagdad“.3 Diese Benennungen sind streng von
Pseudonymen zu unterscheiden, die sich Künstler oftmals zulegen, um ihre reale
Existenz hinter dem angenommenen Namen zu verbergen. Für Else Lasker-Schüler
dagegen sind ihre Namen ein Mittel, ihre Existenz ins Fiktionale zu erweitern und
zugleich ihren Fiktionen eine – freilich diffuse – Wirklichkeit zu verleihen.
Dieses ungewöhnliche und in aller Konsequenz lebenslang betriebene Spiel Else
Lasker-Schülers mit Wirklichkeit und Fiktion lässt sie nun auch in ihrem Brief an den
englischen Wissenschaftler Bithell anklingen. Ihr wird klar gewesen sein, dass der
Übersetzer gut Deutsch spricht, obwohl er seine Bitte auf Englisch vorgebracht hatte.
Dennoch ist ihre Antwort babylonisch, sie spielt poetisch mit drei Sprachen und ihren
mangelnden Kenntnissen des Englischen und Französischen. Indem sie
Versatzstücke verschiedener Sprachen spielerisch verwirbelt, bietet sie Bithell ein
Spiel an, prüft den unbekannten Briefpartner auf seine Mitspielbereitschaft und –
fähigkeit: Wie wird er darauf reagieren? Ihr Versuch ist recht unverfänglich, die
Sprachspielerei ist sachlich begründbar und ließe sich von Bithell einfach beenden,
indem er ihr den nächsten Brief in nüchternem, klarem Deutsch schreibt. Else
Lasker-Schüler bietet ihm sozusagen zwei Lesarten an: Eine – einigermaßen –
sachliche und eine verspielte. Sie unterschreibt ihren ersten Brief an „Sire“ Jethro
Bithell mit ihrem realen Namen und versucht im Nachsatz noch einmal, ihn zum Spiel
zu locken: „Jou know doch – I am the prinzessin von Bagdad“ ...
Die Briefe Jethro Bithells an Else Lasker-Schüler sind leider nicht erhalten, doch
scheint er den ihm zugeworfenen Ball aufgefangen und zurückgespielt zu haben, wie
Else Lasker-Schülers neuerliche Antwort nahe legt:
Lieber Dichter and Sire <über dem S ein Stern>!
Jou are a king! But I am also a princess – Jou said it – wenn auch meine Paläste
zerfallen sind meine Dromedarheerden verhungert – auch meinen Tauben sind
die Corallen ausgestochen. I have been ill but that is a malady from a bird – eine
malady eine Flatterkrankheit without a Ziel. Eine schmerzliche Krankheit.
Vielleicht it es a Verkommenheit, keinem Herumtreiber hängen die dresses so
zerrissen herab wie mir mein <Herz> – Sie sind ein feiner und großer Dichter, ich
bin ganz entzückt und ich freue mich der Auswahl. [...]
[12. August 1909. KA, Bd. 6, Nr. 172.]
Nicht nur mit und in Worten spielt Else Lasker-Schüler jetzt, sondern auch im Bild:
Das „Sire“ in ihrer Anrede trägt einen Stern auf dem S wie eine Krone, weitere neun
gezeichnete Sterne schickt sie Bithell als Dank – wohl für seine Übersetzungen ihrer
Gedichte, die er ihr geschickt hatte. Auch das zerrissene Herz, von dem sie spricht,
steht nicht im Wort da, sondern als Zeichen. Zu dieser Zeit etwa fängt Else LaskerSchüler überhaupt an, ihre Briefe mit kleinen Zeichnungen, oder besser: Zeichen zu
versehen, die oft eng an das Wort geknüpft sind, es schmücken oder es auch
ersetzen.
In den folgenden Monaten schreibt und zeichnet „Tino“ etliche lange Briefe an den
„duc“, „king“ und „earl von manchester“ Jethro Bithell in düsterem Humor. Einsamkeit
und Erschöpfung sprechen aus ihnen; auch wird deutlich, dass Else Lasker-Schüler
häufig krank ist, nicht allein seelisch. Immer wieder fällt das Wort „Angst“, wie in
einem Brief von Ende September 1909:
Ich habe oft Angst, wahnsinnige Angst und fühle den Stern darauf wir leben und
sterben sich bewegen.
[Etwa 22. September 1909. KA, Bd. 6, Nr. 184.]
Konkret berichten die Briefe wenig von ihrer Lebenssituation um 1909/10: Else
Lasker-Schüler lebt mit ihrem zweiten Mann, dem Komponisten und Redakteur
Herwarth Walden in Berlin-Charlottenburg, sie ist als Schriftstellerin längst anerkannt
und muss dennoch um jede Buchveröffentlichung kämpfen, kaum können beide den
Lebensunterhalt für sich und, was ihnen mehr noch zu schaffen macht, für Else
Lasker-Schülers Sohn Paul aufbringen. Paul besucht zu dieser Zeit ein privates
Landerziehungsheim, für das monatlich 100 Mark aufgebracht werden müssen, was
etwa 13% ihres Gesamtbedarfs ausmacht.4 Der tägliche Kampf ums finanzielle
Überleben und beider künstlerischer Idealismus scheinen zu den letzten Dingen zu
gehören, die Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler noch verbinden. In der
Korrespondenz mit Jethro Bithell spricht die Dichterin von ihrem Wunsch zu fliehen:
2
Wie gerne möcht ich flüchten, wohin weiß ich nicht von allen Menschen fort, die
kein Gewissen haben und so pflichttreu sind nicht trauern können nur jammern
nicht jubeln können und lachen und keine Feste geben, die wie in Bagdad 3
Tage und 3 Nächte dauern. <rechteckiges Gebäude mit Palme> hier mein Palast
und eine Hand voll <fünfzehn Sterne>
[Etwa 22. September 1909. KA, Bd. 6, Nr. 184.]
Feste, die drei Tage dauern und drei Nächte, „wie in Bagdad“ – und im Märchen. Im
gleichen Brief, der dieses Fluchtszenario entwirft und in dem das Fiktive als
Refugium erscheint, schließt Else Lasker-Schüler kategorisch jede geschlechtlicherotische Motivation der Korrespondenz zwischen dem Engländer und ihr selbst aus:
Sind Sie, wie ich es bin, ewig 14 jährig? und ein Knabe? Eckelhaft sind Frauen
und Männer.
[Ebd.]
Mit der Vorstellung von zwei halbwüchsigen Knaben, die sich in brüderlicher Liebe
zugetan sind „wie in der Bibel ‚Jakob und Esau‘“ [etwa Ende Juni 1910. KA, Bd. 6,
Nr. 246.], wie sie an anderer Stelle schreibt, steckt Else Lasker-Schüler weiter das
Spielfeld ab. In Bithell scheint sie einen Partner zu gefunden zu haben, der sie bei
dem Entwurf und der Ausgestaltung ihrer Identitäten begleitet und inspiriert. In der
Selbstdarstellung als Knabe bereitet sich die Wandlung der Ich-Figuration5 Else
Lasker-Schülers von „Tino, Prinzessin von Bagdad“ zu ihrer letzten und wichtigsten
vor, zu „Prinz Jussuf von Theben“, die unmittelbar bevorsteht, wie sich zeigen wird.
Die Figur Jussufs, wie Joseph auf arabisch heißt, entwickelt Else Lasker-Schüler aus
dem alttestamentlichen Josephs-Mythos. In ihrem nächsten Brief spricht sie Bithell
als „Dear fourteenjährigen boy“ an und fährt fort:
Ich sagte Ihnen ja immer, ich bin Jussuf aus Egypten, schon der mageren Kühe
wegen; auch trage ich den lammblutenden Rock, auch warfen mich meine Brüder
in die Grube und ich kenne Potiphars Weib, das mich mißbrauchte und
Träumedeuten ist meine besondere Begabung. Und nachts trage ich den
königlichen Turban im Schlaf und schenke Waizen aus.
[1. Oktober 1909. KA, Bd. 6, Nr. 188.]
Hier, in diesem Brief an Jethro Bithell vom 1. Oktober 1909, stellt sich Else LaskerSchüler erstmalig als „Jussuf von Egypten“ vor,6 eine Figuration, die sie, geringfügig
gewandelt zu „Jussuf, Prinz von Theben“, ihr Leben lang beibehalten wird. Dennoch
unterschreibt sie zunächst weiterhin als „Tino“, und es wird noch über anderthalb
Jahre dauern, bis „Jussuf“ „Tino“ wirklich ablöst.7
Jethro Bithell muss Else Lasker-Schüler nun als tauglicher Spielgefährte
vorgekommen sein, denn sie entwickelt in ihren Briefen an ihn nun fast vorbehaltlos
fiktive Szenarien und bizarre Wirklichkeiten voller Poesie. So berichtet sie von einer
Lesung, bei der alle „gegeneinander, hintereinander, zueinander verliebt“ gewesen
seien [15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199], sie gesteht, dass sie, als sie in
vornehmen Bürgerhäusern zu Gast war, Pelze und einen Läufer habe mitgehen
lassen [vgl. Brief vom 21. April 1910. KA, Bd. 6, Nr. 238] und dass sie, die Jüdin, „die
Christenhunde immer mit Steinen geworfen [hätte] bei den großen Festen in Cairo“
[15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199]. Solcherlei mag Bithell mitunter befremdet
haben, so dass auch Else Lasker-Schüler nach einem Schweigen von ihm fürchtet,
„mein letzter Brief war nun doch zu bunt“ [18. Januar 1910. KA, Bd. 6, Nr. 210] und
3
ihm vielleicht zu recht das Urteil über sie in den Mund legt:„sie ist doch eine
leichtsinnige, oberflächliche Prinzessin“ [ebd.].
Gerade die räumliche und persönliche Distanz zwischen der Dichterin und dem ihr
unbekannten Wissenschaftler aus England scheint Else Lasker-Schüler poetisch zu
beflügeln, so dass sie sagen kann: „ich schreib Ihnen alles, das Meer liegt zwischen
uns wie ein rauschender Schacht“ [5. bis 6. November 1909. KA, Bd. 6, Nr. 191].
Dennoch entwickelt Else Lasker-Schüler den Gedanken, Jethro Bithell in London zu
besuchen, dort Lesungen zu halten und ihr Varietéprojekt vorzuführen, an das sie in
dieser Zeit verzweifelt glaubt und an dem sie wütend arbeitet, das aber nie zustande
kommen wird. In vielen Briefen schmückt sie aus, wie sie sich ihre Begegnung
vorstellt – etwa:
ich wohn dann wo Sie wohnen, ich mag keine englischen Gespenster kennen
lernen. Denn sind wir beide wie zwei Studenten, zwei Prinzen – ich bin wie ein
Junge auf Ehrenwort.
[5. bis 6. November 1909. KA, Bd. 6, Nr. 191]
Bald darauf schreibt sie ihm:
Wir werden uns sicher mal bis zur Bewußtlosigkeit küssen. Sag es Niemandem.
[15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199.]
Allerdings hatte sie wenige Sätze vorher in dem Brief die Liebe aus dem Bereich der
Körperlichkeit ins Metaphysische gehoben mit der Aussage, alle Künstlermenschen
müssten sich bis zur Bewußtlosigkeit lieben. Dennoch: während solche Vorstellungen
Else Lasker-Schüler entzücken, scheinen sie Bithell zu beunruhigen, obwohl die
Dichterin ihr Verhältnis als „das Keuscheste auf der Welt“ bezeichnet [19. Januar
1910. KA, Bd. 6, Nr. 211] und ihm einmal sogar versichert, sie sei „in Wirklichkeit
blödsinnig blöde“ [15. Dezember 1909. KA, Bd. 6, Nr. 199], womit sie „schüchtern“
meint, das Wort „blöde“ wie zu Schillers Zeiten verwendend. „Vielleicht sehn wir uns
nie“ [7. Mai 1910. KA, Bd. 6, Nr. 240], schreibt sie ihm auch wie zur Beruhigung.
Tatsächlich rückt das Ende der brieflichen Beziehung näher. Am 21. April 1910
schreibt Else Lasker-Schüler fünf Briefe an Bithell (von denen allerdings nur drei
erhalten sind), in denen sie eine frühere Vorstellung wieder aufgreift, sich mit ihm,
wie sie sagt „bigamieähnlich trauen zu lassen“ und der „Gefängnißstrafe des
Bürgers“, die auf die Doppelehe steht, zu trotzen [19. Januar 1910. KA, Bd. 6, Nr.
211]. In dem letzten der fünf Briefe vom selben Tag schließlich fragt Else LaskerSchüler ihren Briefpartner „Liebst Du schon jemand in London? Oder liebst Du mich
nur?“ [21. April 1910. KA, Bd. 6, Nr. 239]
Bithell scheint ausweichend geantwortet zu haben, dann meldet er sich gar nicht
mehr, so dass seine Briefpartnerin besorgt fragt, ob er krank sei – „Oder haben Sie
Sich verliebt? [...] Darum dürfen Sie mich nicht vergessen, ich bin doch ein boy.“ [28.
Juli 1910. KA, Bd. 6, Nr. 250.] Die Verwendung der Anrede „Sie“ zeigt, dass Else
Lasker-Schüler ihr Spiel teilweise aufgibt, offenbar ahnt sie, dass ihr Briefpartner es
nicht versteht. Ihre Befürchtungen müssen sich beim Eintreffen der Antwort Bithells
bestätigt haben. In diesem Brief teilt er ihr wohl mit, dass er sich verheiratet habe.
Nicht der Inhalt, sondern die Art der Eröffnung muss Else Lasker-Schüler tief verletzt
haben, denn der Brief legt offen, dass Bithell ihre Korrespondenz nicht wie sie als
Spiel mit Wirklichkeit und Phantasie verstanden hat. Nun schreibt und zeichnet Else
Lasker-Schüler ihren letzten Brief an ihn:
4
<großer Komet, dessen Schweif sich durch den Text zieht; im Stern
Schriftzeichen ähnlich hebräischen Buchstaben>
Dear Earl.
O!!!!
Du also auch? Oder glaubst Du die Flucht nehmen zu müssen vor der Bigamie?
Indem ich das schrieb, ging ich sie ein. Denn nichts geschieht wirklicher als in
meinem Kopf. O!!!!! Hast Du mich so wenig verstanden? Sieh mal mein Bild an –
bin ich nicht so ernst, das ich jeden Augenblick ein August, ein Gauckler werden
muß – und doch, wäre ich nicht Fakir würde ich Antinous sein. Aber Du bist kein
Hadrian. O!!!!! Oder ist Dein Weib ein Riff oder eine Möwe oder einer der weißen
Kalkfelsen in Dover? – <Stern> Denn hätte sie Mond und Sterne in Dir funkeln
lassen, aber in Deinem Brief ist kaum eine Dunkelheit untergegangen. Willst Du
Bürger werden, Earl of England? Du hast mich belogen, Earl of England. Aus
welchem Grund? Wie nennst Du die Liebe? Rufst Du sie an wie der Bürger? Hast
Du je daran gezweifelt, daß ich Bandit bin im allerhöchsten Schmerz, im tollsten,
tollkühnsten Sinne? Ich reiße es der neugierigen Mittagsstunde aus dem Munde
und lasse es zergehen zum Zeitvertreib in die Nacht hinein. Enough! <Kreuz,
darunter ein horizontales, schlangenartiges Ornament mit züngelndem Kopf (in
einer Windung Beischrift:) Eva> [...]
Ich habe immer geglaubt, wir hätten uns oft in London unterhalten – Du hättest
Wunder erlebt – ich bin meiner Gesichte sicher – wer so oft begraben war und
auferstanden ist! Zweifelst Du daran? Aber Du hast mich belogen – kein Weib
soll zwischen unserer Freundschaft (?) Königsschaft kommen – nicht? In meinen
grimmigsten Stunden bin ich selbst der Fakir von Theben (Jaques the Ripper.)
Schaudere! Du hast mich belogen – so beschreibt man nicht sein Weib – das ist
psychologisch unrichtig. Aber ein Unwissender, ein Sklave hat Dich gewarnt vor
dem einzigen Menschen in Berlin, der phantasieren kann. Herr, ich, die ich mich
nicht verwöhnte mit Anerkennung, erwähle mich heute Abend zum Tanze nur ich
darf mit mir tanzen. Wie hast Du mich falsch verstanden!
Tino Waly aus Bagdad,
Dichterin vom Tigris.
(Else LSchüler)
[12. August 1910. KA, Bd. 6, Nr. 255.]
So stolz und poetisch beendet Else Lasker-Schüler, gleichzeitig im Spiel bleibend
und es aufgebend, am 12. August 1910 diesen Briefwechsel mit Jethro Bithell. Der
erste Versuch der Dichterin, brieflich mit einem Partner einen Raum zu schaffen, in
dem Wirklichkeit und Fiktion Hand in Hand gehen, ist gescheitert. Im Winter 1910/11
versucht sie noch einmal, ein ähnliches Spiel zu eröffnen, mit dem Kunsthistoriker
Eduard Plietzsch. Diesmal scheitert das Unterfangen bereits nach zwei Briefen; im
dritten beschimpft Else Lasker-Schüler den Vierundzwanzigjährigen, ein ebenso
„verfluchter Philister“ [26. Januar 1911. KA, Bd. 6, Nr. 276] wie alle anderen zu sein
und bricht den schriftlichen Kontakt ab. Auch die Briefe, die sie bald darauf an den
Dichter Kurt Wolfskehl zu richten beginnt, suchen ein Spiel, das bedingt zwar glückt,
doch sich nicht recht entfalten will. Immerhin kommt es hier nicht zum Affront. Erst in
Franz Marc, den sie Ende 1912 kennenlernen wird, wird sie einen Briefpartner
finden, mit dem sie eine außergewöhnliche, künstlerisch-spielerische Korrespondenz
führen kann, doch einstweilen, erkennt „Tino Waly aus Bagdad“, muss sie alleine
gaukeln, allein als Bandit auf Raub ausgehen und mit sich selbst tanzen. Was von
ihrer Beziehung zu Jethro Bithell bleibt (und sich glücklicherweise erhalten hat), sind
24 Briefe, die zu den schönsten gehören, die Else Lasker-Schüler geschrieben hat.8
5
Ein Jahr später, im August 1911, tritt Else Lasker-Schülers Mann Herwarth Walden
eine Erholungsreise an. Das kann er sich nur leisten, weil ihn sein Freund, der
Rechtsanwalt Kurt Neimann, eingeladen hatte, ihn zu begleiten. Trotzdem scheitert
es fast daran, dass Herwarth Walden nicht genug Geld für seine Frau zurücklassen
kann. Nichts hat sich gebessert an ihrer finanziellen Situation, im Gegenteil. Das
Ringen um Einkünfte, ohne Zugeständnisse an bürgerliche Lebensmodelle zu
machen, die tägliche Verteidigung ihrer unabhängigen Künstlerexistenz, kosten
beider Kraft. Ihre Ehe steht kurz vor ihrem offiziellen Ende, im November werden sie
sich scheiden lassen; dennoch setzt sich jeder entschieden für den anderen als
Künstler ein.
In dieser Situation reist Herwarth Walden also für zwei Wochen nach Norwegen.
Else Lasker-Schüler nutzt den realen Anlass, um den beiden Reisenden Briefe zu
schreiben. Diese schickt sie allerdings nicht ab, sondern veröffentlicht sie im „Sturm“,
jener heute legendären „Wochenschrift für Kultur und die Künste“, die Herwarth
Walden 1910 gegründet hatte. Woche für Woche erscheinen dort nun Else LaskerSchülers „Briefe nach Norwegen“, während Herwarth Walden und Kurt Neimann
längst schon wieder in Berlin sind. Schnell entwickelt Else Lasker-Schüler den Plan,
die Briefe, die zum Teil auch einfarbige Zeichnungen enthalten, auch als Buch zu
veröffentlichen, und nachdem sie einen Verleger gefunden hat, erscheinen ihre
„Briefe nach Norwegen“ schon im November 1912 unter dem Titel „Mein Herz. Ein
Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen.“9
Die Briefe an Jethro Bithell oder Eduard Plietzsch sind Teil einer tatsächlichen
Korrespondenz, wurden wirklich abgeschickt und waren nicht zur Veröffentlichung
vorgesehen. Es handelt sich bei ihnen also um nichtfiktionale Literatur, trotz ihres oft
fiktionalen Inhalts. Dagegen handelt es sich bei „Mein Herz“ wie der Untertitel
ausweist, um einen Roman. Damit, könnte man meinen, sei das Spielgebiet
zwischen Wirklichkeit und Fiktionalität von Else Lasker-Schüler verlassen und
eindeutig der Bereich der Fiktion, der Dichtung, betreten worden. Doch genau um
dieses Spiel ist es Else Lasker-Schüler auch hier wieder zu tun, um das Spiel, das
Kunst und Leben so unzertrennbar macht wie das Yin und das Yang. Deswegen
schreibt sie einen „Liebesroman mit [...] wirklich lebenden Menschen“. Damit dreht
sich das Prinzip, wie es erstmals in den Briefen an Jethro Bithell zu finden ist,
zunächst um: Während dort Fiktionalität in reale Briefe eindringt, stellen nun reale
Personen aus dem Umfeld Else Lasker-Schülers Teile des Romanpersonals.
Die Erzählerin – oder treffender Briefschreiberin – im Buch heißt wie die Autorin
auf dem Buchdeckel, gleich im ersten Brief erwähnt sie, „daß ich Else Lasker-Schüler
heiße“ [Mein Herz S. 10]. Zugleich betont die Briefschreiberin, dass sie eine
Geschichte erzählen möchte, ihre „neue Liebesgeschichte“ [Mein Herz S. 9]. Nach
der Abreise der „lieben Jungens“ Herwarth und Kurtchen habe sie niemanden, „dem
ich meine Abenteuer erzählen kann außer Peter Baum“, worauf sie Herwarth und
Kurtchen die Liebesgeschichte schriftlich liefert. Sie erzählt:
Wenn es Euch interessiert: Vorgestern war ich mit Gertrude Barrison in den
Lunapark gegangen, leise in die egyptische Ausstellung, als ob wir so etwas
süßes vorausahneten. Gertrude erweckte dort in einem Caféhaus die
Aufmerksamkeit eines Vollbartarabers; mit ihm zu kokettieren, auf meinen
Wunsch, schlug sie mir entsetzt ab, ein für alle mal. Ich hätte nämlich gerne den
Lauf seiner sich kräuselnden Lippen beobachtet, die nun durch die Reserviertheit
meiner Begleiterin gedämmt wurden. Ich nahm es ihr sehr übel. Aber bei den
Bauchtänzerinnen ereignete sich eines der Wunder meines arabischen Buches;
6
ich tanzte mit Minn, dem Sohn des Sultans von Marokko. Wir tanzten, tanzten
wie zwei Tanzschlangen, oben auf der Islambühne, wir krochen ganz aus uns
heraus, nach den Locktönen der Bambusflöte des Bändigers, nach der Trommel,
pharaonenalt, mit den ewigen Schellen. Und Gertrude tanzte auch, aber wie eine
Muse, nicht muselhaft, wie wir, sie tanzte mit graziösen, schalkhaften Armen die
Craquette, ihre Finger wehten wie Fransen. Aber er und ich verirrten uns nach
Tanger, stießen kriegerische Schreie aus, bis mich sein Mund küßte so sanft, so
inbrünstig, und ich hätte mich geniert, mich zu sträuben. Seitdem liebe ich alle
Menschen, die eine Nuance seiner Hautfarbe an sich tragen, an sein Goldbrokat
erinnern. Ich liebe den Slawen, weil er ähnliche braune Haare hat, wie Minn; ich
liebe den Bischof, weil der Blutstein in seiner Krawatte von der Röte des
Farbstoffs ist, mit der sich mein königlicher Muselmann die Nägel färbt. Ich kann
gar nicht ohne zu brennen an seine Augen denken, schmale lässige Flüsse,
schimmernde Iris, die sich in den Nil betten. Was soll ich anfangen? Die
Verwaltung des Lunaparks hat mir verboten, wahrscheinlich hat sie Verdacht
bekommen, den Park zu betreten. Ich brachte nämlich gestern morgen meinem
herrlichen Freund einen großen Diamant – Deinen, Herwarth; bist Du böse? –
und eine Düte Kokosnußbonbons mit. Wenn ich überhaupt jetzt Geld hätte? Und
ich habe an den Lunapark einen energischen Brief geschrieben, daß ich diese
mir angetane Beleidigung der Voß mitteilen würde, daß ich Else Lasker-Schüler
heiße und Gelegenheitsgedichte dem Khediven lieferte beim Empfang
europäischer Kronprinzen. Was nützt mirs, daß sie mich wieder einlassen –
immer geht ein Detektiv hinter mir, aber Minn und ich treffen uns bei den Zulus,
die leben schwarz und wild am Kehrricht der egyptischen Ausstellung, wo kein
Weißer hinkommt. Die ganze Geschichte hat mir der Impresario eingebrockt, der
behandelt die Muselleute wie Sklaven, und ich werde ihn ermorden mit meinem
Dolch, den ich mir erschwang im Lande Minns. Er ist der Jüngste, den der
Händler nach Europa brachte, er ist der ben, ben, ben, ben, ben des
jugendlichsten Vaters im egyptischen Lunagarten. Er ist kein Sklave, Minn ist ein
Königssohn, Minn ist ein Krieger, Minn ist mein biblischer Spielgefährte. Er trägt
ein hochmütiges Atlaskleid und er träumt nur von mir, weil er mich geküßt hat.
Kurtchen, Freund Herwarths, wärst Du doch hier, kein Mensch will mit mir nach
Egypten gehn, gestern war eine Hochzeit dort angezeigt an allen Litfaßsäulen.
Sollt er sich verheiratet haben?
[Mein Herz S. 9-11.]
Eine wirklich abenteuerliche Geschichte, die jeden Leser in Verwirrung stürzen muss.
Die Dichterin Else Lasker-Schüler mag tatsächlich mit ihrer Bekannten Gertrude
Barrison, einer damals sehr bekannten Tänzerin, im Lunapark gewesen sein. Der
1910 eröffnete Park in Berlin war einer der größten Vergnügungsparks Europas, in
orientalisierender Phantasiearchitektur erbaut, zu Else Lasker-Schülers Entzücken.
Dort wurden unter anderem Völkerschauen geboten, wie sie damals sehr beliebt
waren: Angehörige ‚fremder‘, ‚exotischer‘ Völker wurden dort zur Schau gestellt, und
im September 1911, zur Zeit der „Briefe nach Norwegen“, wurde im Lunapark eine
sicher sehr frei nachempfundene „Straße von Cairo“ als Attraktion geboten. Es
könnte dort durchaus Bauchtänzerinnen gegeben haben, auch die Begegnung mit
dem „Vollblutaraber“ kann einen realen Bezug haben. Doch dann taucht mit „Minn,
der Sohn des Sultans von Marokko“ eine Figur auf aus einem gleichnamigen Kapitel
von Else Lasker-Schülers Buch „Die Nächte Tino von Bagdads“. Mit ihm, einer
Fiktion in der Fiktion, tanzt die Briefschreiberin, wie Tino in Else Lasker-Schülers
7
Erzählung es in einer „heiligen Tanznacht“10 mit Minn tut, wahrlich, wie die
Briefschreiberin sagt, „ein Wunder“.
Ohne jeden Bezug, weder zur außerliterarischen Realität noch zur Fiktion der
Prosa oder Dichtung Else Lasker-Schülers, sind die Figuren des Slawen und des
Bischof, die die Briefschreiberin ebenfalls liebt, weil die beiden sie an Minn erinnern.
Die meisten Figuren aus „Mein Herz“ aber haben gleichnamige ‚Paten‘ in der
Realität, und so lässt sich, wenn man will, „Mein Herz“ wie ein ‚Who is who der
Avantgarde‘ lesen. Es treten auf: Peter Altenberg, Paul Cassirer, Alfred Döblin,
Leonhard Frank, Stefan George, Peter Hille, Jakob van Hoddis, Hugo von
Hofmannsthal, Siegfried Jacobsohn, Oskar Kokoschka, Karl Kraus, Adolf Loos, Karin
Michaelis, Emil Nolde, Max Oppenheimer, Max Reinhardt, Karl Schmidt-Rottluff und
viele, viele andere, über die und von denen Wahrheiten und Unwahrheiten,
Wichtiges und Belangloses in bunter Melange erzählt wird, ob sie wollen oder nicht.
Ich erinnere noch einmal daran, dass „Mein Herz“ in der ersten Fassung als „Briefe
nach Norwegen“ in Fortsetzungen im „Sturm“ erschien, der Zeitschrift, die Else
Lasker-Schülers Mann Herwarth Walden ins Leben gerufen und schnell zur Plattform
der literarischen und künstlerischen Avantgarde Deutschlands gemacht hat. Deren
Berliner Abteilung traf sich zu dieser Zeit jeden Tag im „Café des Westens“ am
Ku’damm, und auch Else Lasker-Schüler war nahezu täglich da. Auch die
Briefschreiberin im Roman „Mein Herz“ besucht exzessiv das Café, es ist der
Hauptschauplatz des Romans. Es liegt nahe, dass die wöchentlichen Folgen des
„Sturm“, welche „Briefe nach Norwegen“ enthielten, von deren unfreiwilligen
Protagonisten mit Spannung erwartet wurden. Wie andere Zeitschriften auch lag „Der
Sturm“ im Café aus bzw. wurde vom „Zeitungskellner“ verwaltet, so dass man sich
vorstellen muss, dass jede Woche beim Erscheinen des „Sturm“ die Caféhausszene
im Caféhaus saß und las, wie die Caféhausszene im Caféhaus sitzt.
Diese Situation macht sich Else Lasker-Schüler für ihre „Briefe“ zunutze: da sie
diese nicht nur Woche für Woche veröffentlicht, sondern auch Woche für Woche
verfasst, kann sie Reaktionen der Leserschaft im Café auf frühere Folgen in späteren
Folgen berücksichtigen. Als erstes meldet sich Peter Baum, oder „Pitter Boom“, wie
Else Lasker-Schüler ihren Freund, den Schriftsteller aus Elberfeld, auch nennt – oder
ist auch seine Reaktion Fiktion, erdichtet von Else Lasker-Schüler? Das ist nicht zu
entscheiden. Wie auch immer: Die Briefschreiberin hatte den „Lieben Jungens“
geklagt, dass Peter Baum nicht verfügbar sei für sie:
Der Peter Baum ist ein Schaf, er grast immer auf der Wiese bei seiner Mutter und
immer kann er nicht loskommen von Hans oder von einem andern Cousin des
Wuppertals. Oder seine Schwester läßt ihn nicht fort, oder Maja, sein Weib, ist
zurückgekehrt von der Reise. Ohne Peter Baum kann ich nicht leben. Er rügt
mich nie, er findet, alles paßt zu mir, was ich tu.
[Mein Herz S. 19f.]
In einer späteren Folge der „Briefe“ heißt es:
Liebe Brüder!
Ich bin außer mir, der Pitter Boom, den ich berühmt im Sturm gemacht habe,
schreibt mir folgende wörtliche Ansichtskarte: Liebe Tino! Herwarth hat recht.
Wenn ich finde, daß zu Ihnen alles paßt, so paßt mir doch nicht alles. Sehr muß
ich bitten, endlich meine Familie aus dem Spiel zu lassen. Ich lese wöchentlich
den Sturm. Großen Dank für den plattdeutschen Brief darin. Ich bleibe noch
8
etwas hier, fern von der Caféhausglocke. Die norwegischen Briefe sind ja
wunderschön, Herzliche Grüße aus Hiddensee. Peter Baum.
Habt Ihr Worte – vielleicht irgendwelche Nordpollaute? Ich brauche sie, meinen
Zorn abzukühlen.
[Mein Herz S. 34f.]
Solche und ähnliche ‚Reaktionen‘ auf die „Briefe“ werden zum Motiv des Romans:
Die einen möchten gerne im Roman eine Rolle bekommen, andere dagegen
verwahren sich gegen ihren ‚Auftritt‘. In „Mein Herz“ heißt es:
Gestern hat sich Dein Doktor stirnrunzelnd [...] beklagt über sein Vorkommen in
meinen Briefen an Euch. Da war ich ja nun platt. Ferner will sich ein Urenkel
Bachs das Leben nehmen, [...], falls ich ihn erwähnte in meiner Korrespondenz.
[Mein Herz S. 61.]
Indem die Briefschreiberin aber von der Drohung des „Urenkels“ erzählt, erwähnt sie
ihn, woraufhin er sich das Leben nehmen müsste. Bedauernd fügt die
Briefschreiberin daher an: „Schade um ihn“. Paradoxerweise hat sie ihm aber das
‚Leben‘ mit seiner Nennung wohl überhaupt erst geschenkt, denn wahrscheinlich hat
diese Figur kein außerliterarisches Pendant in der Wirklichkeit und existiert nur in
dieser kurzen Epsiode im Roman.
Die „wirklich lebenden Menschen“ des Romans „Mein Herz“ treten nicht nur im Wort
auf, sondern auch im Bild. Die erste einer Reihe von Zeichnungen, mit denen Else
Lasker-Schüler ihre literarischen Briefe illustriert, ist ein Bild Peter Baums mit
Hasenohren. Es ist eine krakelige Umrisszeichnung, eine – anscheinend sehr
treffende – Karikatur Peter Baums. Die Briefschreiberin hat ihn „in der Katerstimmung
als Langohr gemalen“, heißt es in „Mein Herz“. Dass selbst die langen Hasenohren,
mit denen die Briefschreiberin „Pitter Boom“ ausstattet, einen realen Bezug haben,
wird erst deutlich, wenn man eine Bemerkung des Malers Oskar Kokoschka über
Peter Baum aus seinen Memoiren kennt:
Er litt immer an Zahnschmerzen und trug ums Gesicht ein großes Taschentuch,
dessen Zipfel hoch über seinen Kopf ragten; deshalb sah ich ihn immer als
Kaninchen [...].11
Weitere, wie die Briefschreiberin sagt, „dilettantisch gezeichnete“ [Mein Herz S. 48]
Karikaturen zeigen Oskar Kokoschka, Herwarth Walden, Samuel Lublinski, Kurt
Neimann und andere. Es sind die ersten öffentlichen Zeichnungen von Else LaskerSchüler überhaupt, deren Werk fortan von einem engen Zusammenspiel von Text
und Bild gekennzeichnet sein wird.
In der Regel bleibt, ganz im Sinne Else Lasker-Schülers, die Frage offen, ob die
Reaktionen auf die Briefe, welche die Briefschreiberin mitteilt, wirklichen,
außerliterarischen Ursprungs oder Teil der Fiktion sind. Denn damit entsteht wieder
einen Raum aus Fiktion und Wirklichkeit, in dem ein Spiel zustandekommen kann.
Karl Kraus allerdings, das ist bekannt, war tatsächlich nicht amüsiert von ‚seinem
Vorkommen‘ in den „Briefen“. Er bittet Herwarth Walden, er möge Einfluss auf seine
Frau nehmen, Karl Kraus als Figur in „Mein Herz“ nicht mehr auftreten zu lassen.
Herwarth Walden spricht mit Else Lasker-Schüler, deutet aber rücksichtsvoll Karl
Kraus’ Unmut nur an. Im Roman reagiert die Briefschreiberin, außerhalb des Romans
9
wendet sich Else Lasker-Schüler an Karl Kraus, darüber rätselnd, worüber dieser
sich gegenüber Herwarth Walden beklagt haben könnte:
[Herwarth Walden] riet [...] mir wenn es nicht künstlerisch nötig sei, Sie in
meinem Buch: Briefe nach Norwegen, nicht mehr zu erwähnen. Wie kommt das
alles, werter Minister? [...] Ich kann mir ja nur denken, daß Sie nicht über meine
Dichtung etwas schrieben, nur, daß ich allerlei Figur mitspielen lasse. Allerdings
wie in einem Schauspiel wo der Herr neben dem Knecht geht der König seine
Untertanen küßt, der Prophet das Volk segnet. [...] Jedenfalls liebe ich nach
meiner Sehnsucht die Leute alle zu kleiden, damit ein Spiel zu Stande kommt.
Ich bin überzeugt daß Friedrich von Schennis (ein König) darüber Freude hat,
liest er sich in der jetzigen Nummer des Sturms. Und Peter Baum hat laut
aufgelacht, als er sein Bild im Manuscript sah mit den Eselsohren. Spielen ist
alles. Sie, Minister, der am aller Entzücktesten wären, würden Sie wirklich mal
die Spiele erleben, die ich noch spielen könnte, beklagen Sich über endlich,
endlichen Frühling der Dichtung. Sie haben Sich beklagt, das ist klar. Und ich
werde die beiden Briefe dennoch nicht Zurückziehen und Herwarth ist verpflichtet
Sich, Ihnen und mir <drei Sterne>, die Briefe weiter zu drucken. Ich hoffe,
Minister, Sie freuen Sich darüber, daß Sie so anständige nicht aus ihrer
Empfindung aus ihrer Kunstrichtung sich bringen lassende Freunde haben, Sie
können auf uns bauen wie wir auf Sie.
[8. November 1911. KA, Bd. 6, Nr. 313.]
Dieser Brief an Karl Kraus zeigt, wie ernst Else Lasker-Schüler ihr Spiel ist. „Spielen
ist alles“, heißt es dort. Kunst muss demnach Spiel sein, muss wie dieses aus Freude
an sich selbst geschehen, darf nicht von praktischen Zielsetzungen bestimmt werden
– und gehört zum Leben. „Mein Herz“ ist „ein Massenlustspiel [...] – allerdings mit
ernsten Ergüssen“, wie die Briefschreiberin einmal sagt [Mein Herz S. 55f.].
Als Lustspiel kommt „Mein Herz“ in der Tat daher, etwa wenn die Briefschreiberin als
Bär verkleidet ins Café kommt und nur erkannt wird, weil sie unter ihrem Fell „eine
ganze Wupper“ schwitzt [Mein Herz S. 54], oder wenn sie von einem Schillerschen
Räuber bedroht wird, der ihr die Unwahrheit ihrer „Briefe nach Norwegen“ vorwirft
[vgl. Mein Herz S. 57]; ein andermal wird sie fast von dem Freund ihres
Dienstmädchens überfallen, weil diese ihrem Freund Briefe wie die nach Norwegen
geschrieben hat, was jener gar nicht lustig findet [Mein Herz S. 22]. „O, ich scherze
nicht, ich will Dich und Euch nicht amüsieren, aber mich immer retten mit Tyll
Eulenspiegel Spielen“, beteuert die Briefschreiberin einmal [Mein Herz S. 73]. Wie
der Held des Volksbuchs von 1515 berichtet die Briefschreiberin in einzelnen
Episoden von ihren Abenteuern, mit denen sie sich mehr schlecht als recht durchs
Leben schlägt und anderen einen Spiegel vorhält – „Mein Herz“ ist ein
avantgardistischer Schelmenroman.
„Ernst“ dagegen wird es beispielsweise, wenn die Briefschreiberin – oder ist es die
Autorin? – eine flammende Rede gegen eine Theateraufführung hält. Im Dezember
1911 wurde unter der Regie Max Reinhardts Hugo von Hofmannsthals Spiel
„Jedermann“ in einem Zirkus uraufgeführt, in einer gigantischen und aufwendigen
Inszenierung. In „Mein Herz“ wird das Stück Hofmannsthals geschmäht wegen seiner
gestelzten Sprache und seines didaktischen Anspruchs als „charakteristisches
Gähnen mit noch entsetzlicheren, unechten Reimereien eines ‚Verbesserers‘“ [Mein
Herz S. 106. Die Briefschreiberin Else Lasker-Schüler belässt es nicht bei solchen
Invektiven gegen den damals schon sehr anerkannten und berühmten Hugo von
Hofmannsthal, sondern sie wendet sich auch gegen den ebenso bekannten und
10
schon damals legendären Regisseur Max Reinhardt, der das
„Riesenkasperle“ [Mein Herz S. 106], wie sie sagt, inszeniert habe:
Stück
als
Die Aufführung des Jedermann ist eine unkünstlerische Tat, eine schmähliche –
von ihm zumal, der im Publikum für unfehlbar gilt [...]. Hat Reinhardt Geld nötig?
[Mein Herz S. 107.]
Else Lasker-Schüler nimmt kein Blatt vor den Mund, was deswegen besonders heikel
ist, weil sie zu dieser Zeit hofft, Max Reinhardt werde ihr Drama „Die Wupper“
uraufführen (was er übrigens auch tat, allerdings erst im Jahr 1919). Die
Briefschreiberin zögert nicht, ihre Meinung kundzutun, ist sich aber bewusst, dass
ihre geharnischte Kritik undiplomatisch ist:
Nun wird mein Schauspiel eine Geisel sein in Reinhardts Händen, er wird meine
Dichtung ins Feuer werfen oder sie mir mit ein paar Phrasen seiner Sekretäre
wiedersenden lassen. Gleichviel, ich will keine Rührung noch Sentimentalität
aufkommen lassen, Herwarth, ich muß meine Dichtung opfern der Wahrheit, dem
„Ehrgeiz“ zum Trotz. Der Prinz von Theben wirft die letzte Fessel von sich.
[Mein Herz S. 107.]
Der „Prinz von Theben“ – „Mein Herz“ ist, das soll zum Schluss nicht vergessen
werden, auch sein Roman. Er wird im Trubel der Ereignisse um das Café des
Westens zum Regenten des Reichs Theben. Die Briefschreiberin, die sagt, dass sie
„verdorren“ muss „in der Nüchternheit Berlins“, wenn man nicht mit ihr spielt [Mein
Herz S. 24f.], findet zuletzt nur noch als „Prinz Jussuf“ willige Spielgefährten:
Ich werde in meiner Stadt erwartet, kostbare Teppiche hängen von den Dächern
bis auf die Erdböden hernieder und rollen sich auf und wieder zusammen. Meine
Neger liegen schon seit Sonnenaufgang vor mir auf den schwarzen Bäuchen und
werden am Abend unter die Leute gehen, sie das Wort „Hoheit“ lehren, bis das
Wort tanzt in ihren Mündern. Ich bin Hoheit. Merkt Euch das, betont es Jedem,
der Euch in den Weg läuft. Aber mich schmerzt diese Ehrung, denn ich kann
nicht in meine Stadt zurück, ich habe kein Geld. Und die Morgenländer lieben
den Glanz; sie greifen Sterne aus den Wolken, und ihre Herzen sind
aufgespeichert mit dem goldenen Weizen des Himmels. Hier gibt es keine
Sterne, kleine Streukörnchen glitzern zur Erde. O, wie arm diese Abendlande,
hier wächst kein Paradies, kein Engel, kein Wunder.
Wie hat mich diese Armut so beschämt, Eure Armut; ich habe nicht einmal einen
Damastmantel; meine elenden Schuhe sind zerrissen – ich sehe selbst mit
Verachtung auf meine eigene Hoheit herab. Aber die Neger sind feinfühlig, sie
haben ein Spiel erfunden, wir spielen zur Probe schon hier Volk und König. Sie
stellen
sich
zu
meinen
beiden
Seiten
scharenweise
auf,
hunderttausendabermillionen Köpfe in Turbanen, die schreien und kreischen,
Allah, machâh! Und trampeln mit den Füßen und klatschen in die Hände – ich
lächle mit meiner Hand, werfe gnädige Küsse unter das Volk. Ich bin ganz in
Gold gekleidet wie der allerleuchtendste Mond, meine Haare funkeln, die Nägel
meiner Finger sind Perlen; ich werde in den Palast getragen und gebe meinem
teuren Volk die Verfassung.
[Mein Herz S. 121f.]
11
Das Spiel mit „wirklich lebenden Menschen“ führt die Briefschreiberin also als
gescheitert vor, gescheitert – wie im Falle der Briefe Else Lasker-Schülers an Jethro
Bithell – an der „Armut“ ihrer Mitspieler. Auch die Möglichkeit der Flucht aus dem
Zwischenreich von Wirklichkeit und Fiktion ‚nach Theben‘ scheitert, denn auch der
Prinz von Theben ist „zu arm“, um in seine Hauptstadt reisen zu können. Doch die
Briefschreiberin gibt ihre Hoffnung nicht auf, bald nach Theben kommen zu können
und kündigt trotzig in ihrem letzten Brief an Herwarth und Kurtchen, die „lieben
Gesandten“, an, demnächst in Theben gefeiert zu werden [vgl. Mein Herz S. 126, S.
128] – wie die Dichterin Else Lasker-Schüler „Bandit im allerhöchsten Schmerz“.
1
Vortrag, gehalten am 10. Juni 2005 im Literarischen Café, Wuppertal-Elberfeld.
Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Im Auftrag des Franz RosenzweigZentrums der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bergischen Universität Wuppertal und des
Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta
Shedletzky. Bd. 6: Briefe 1893-1913. Bearbeitet von Ulrike Marquardt. Frankfurt am Main: Jüdischer
Verlag im Suhrkamp Verlag, 2003. (Zitiert als KA, Bd. 6.)
3
Es ist kaum möglich, dieses In- und Nebeneinander von Else Lasker-Schülers Leben und ihrem
Werk zu beschreiben, denn man kann weder sagen, dass sie in die Rollen der Figuren ihrer Bücher
schlüpfte, noch, dass sie ihr Leben durch Schreiben fiktionalisierte, und doch ist beides nicht falsch.
Wie bei keinem anderen vermischen sich die Ebenen von außerliterarischer Wirklichkeit und
Fiktionalität bei Else Lasker-Schüler, die immer autobiographisch, weil immer „über sich“ schreibt,
obwohl das Geschriebene vielleicht wahr, selten aber wirklich ist.
4
Vgl. einen Brief von Herwarth Walden an Karl Kraus vom 6. Juni 1910. In: George C. Avery (Hg.):
Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. Karl Kraus – Herwarth Walden. Briefwechsel
1909-1912, Göttingen 2002. (Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung,
Nr. 79.) Nr. 340.
5
Der Begriff hat sich seit Meike Feßmanns wegweisender Arbeit zu Else Lasker-Schülers „Spiel mit
der Autorrolle“ durchgesetzt. Vgl. dies.: Spielfiguren. Die Ich-Figurationen Else Lasker-Schülers als
Spiel mit der Autorrolle. Ein Beitrag zur Poetologie des modernen Autors. Stuttgart 1992.
6
Die Annäherung Else Lasker-Schülers an ihre Jussuf-Figuration lässt sich brieflich verfolgen: In
einem Brief an Hermann Beuttenmüller von vermutlich August 1909 schreibt Else Lasker-Schüler,
dass sie „den lammblutenden Rock Jussufs“ trage (KA, Bd. 6, Nr. 170); am 22. August 1909 an Karl
Kraus, dass eine Zauberin in Bagdad ihr einmal gesagt habe, sie sei „nicht mehr und nicht weniger als
Joseph“, und sie sei genauso traurig wie er (KA, Bd. 6, Nr. 179).
7
In einem Brief an Karl Kraus vom 2. Februar 1910 findet sich die Unterschrift „Tino = Jussuf von
Egypten. / (Kornverweser)“ (KA, Bd. 6, Nr. 220.); ab dem Frühsommer 1911 erst setzt sich die
Unterschrift „Jussuf“ endgültig durch.
8
Im Februar 1920 nimmt Else Lasker-Schüler den Kontakt zu Jethro Bithell wieder auf, nicht aber
den Ton, wie die Briefe an den „Dear Mr. Professore Bithell“ zeigen. Vgl. KA, Bd. 7, Nrr. 334, 411,
416, 418, 514.
9
Im Folgenden zitiert nach: Else Lasker-Schüler: Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und
wirklich lebenden Menschen. Herausgegeben von Ricarda Dick. Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag 2003. [Mit Anmerkungen und einem Nachwort.] (Zitiert als Mein Herz)
10
KA, Bd. 3.1: Prosa 1903-1920. Bearbeitet von Ricarda Dick. S. 76.
11
Oskar Kokoschka: Mein Leben. München 1971, S. 113. Zit. nach: Mein Herz, Anmerkungen, S.
150.
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