INTERVIEW

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27. Januar 2012
Interview
«Die Menschheit
hat 1001 Gründe,
Sex zu haben»
Ein Gespräch mit der Sexologin Esther Elisabeth Schütz über
den umstrittenen Aufklärungsunterricht in Basel und über das,
was ein gesundes Sexualleben von Mann und Frau ausmacht.
Interview: Monika Zech, Fotos: Mara Truog
D
Esther Elisabeth Schütz
arbeitet seit über
dreissig Jahren auf dem
Gebiet der Sexologie.
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ie Aufregung um den Sexualkundeunterricht in den Basler Schulen
reisst nicht ab. Angefangen hatte sie mit
Medienberichten über die sogenannten
Sexboxen, die im Unterricht als Lehrmittel eingesetzt werden sollen. Besonders die Information, dass diese Boxen
nebst Büchern auch Holzpenisse und
Plüschvaginas enthalten, erregte die
Gemüter. Selbst als von den Schulverantwortlichen klargestellt wurde, dass
diese Geschlechtsteile ausschliesslich
in der Oberstufe zum Einsatz kommen
würden, riss die Kritik nicht ab.
Für ebenso grosse Empörung sorgte
und sorgt weiterhin der in einem Leitfaden formulierte Beschluss, die
Sexualpädagogik auch in den Lehrplan
für Kindergarten und Primarstufe aufzunehmen. Das sei viel zu früh und
wenn, dann Sache der Eltern, liessen
sich die Gegner vernehmen. Unlängst
sind drei Elternpaare vor dem Basler
Verwaltungsgericht abgeblitzt, die ihre
Kinder vom Sexualkundeunterricht
dispensieren lassen wollten. Gemäss
einem Bericht des Regionaljournals
von Radio DRS 1 sind die Eltern bereit,
bis vor Bundesgericht zu gehen.
Wir wollten von der Sexologin Esther Elisabeth Schütz (63) wissen, wie
sie diese Auseinandersetzung beurteilt.
Schütz war eine der ersten Lehrpersonen in der Schweiz, die in den 1970erJahren Sexualkunde unterrichtete, sie
schrieb umfassende Bücher zum Thema, unter anderem mit Theo Kimmich
das Standardwerk zur Sexualpädagogik
«Sexualität und Liebe». 1998 gründete
Schütz gemeinsam mit anderen Fach-
leuten das Institut für Sexualpädagogik
und Sexualtherapie ISP in Uster – eine
Institution, die sich der Forschung und
Lehre zur sexuellen Gesundheit verschrieben hat.
Esther Elisabeth Schütz empfing
uns im Therapieraum des Instituts –
einem stilvoll möblierten Raum mit
Blick auf grüne Wiesen. Schütz selber
ist eine Frau, bei deren Anblick einem
sofort die Attribute «reif und attraktiv» in den Sinn kommen. Oder: So
schön kann eine Frau altern.
Frau Schütz, wenn Eltern ihre
Kinder aufklären, soll sich die
Schule da noch engagieren?
Eltern und Lehrpersonen haben verschiedene Rollen. Eltern sind emotional sehr nah beim Kind und dadurch
haben sie eine andere Aufgabe als die
Schule – auch in der Förderung der
sexuellen Gesundheit. Sie können zum
Beispiel von ihrer eigenen Geschichte,
als sie verliebt waren, erzählen. Lehrpersonen vermitteln Wissen, reden
nicht über die eigene Sexualität und
begleiten den Dialog zwischen Mädchen und Jungen.
Was halten Sie davon, dass es
Eltern gibt, die nicht wollen, dass
ihre Kinder mit dem Thema Sex
konfrontiert werden?
Eltern möchten – in jeder Gesellschaft
– alles gut machen für ihr Kind. Sie
haben es gern und wollen, dass es ihm
gut geht. In jeder Gesellschaft haben
wir kulturelle Normen, und innerhalb
dieser hat jede Familie ihre eigenen
Werte. Das gibt dem Kind ein Dach,
eine Sicherheit.
Egal welche Norm?
Grundsätzlich vermittelt jede Norm
dem Kind eine Orientierung. Es gibt
Eltern, die wollen ihre Kinder nicht
mit Sexualität und all diesen Geschichten «belasten». Sie wollen ihren
Kindern sozusagen eine glückliche,
unbeschwerte Kindheit schenken; andere wiederum sagen, es sei wichtig,
dass ihre Kinder über ihren Körper
Bescheid wissen und sich dadurch
schützen können. Das ist wie eine andere Nahrung. Für mich ist nicht per
se das eine besser oder schlechter.
Das sagen Sie als eine, die Wissen
über Sexualität vermittelt?
Ja, denn auch Eltern, die mit ihren
Kindern nicht über Sexualität reden,
vermitteln ihnen etwas über Sexualität und Liebe. Wir teilen alle ja viel
mehr nonverbal mit als verbal. Über
Zärtlichkeiten, wie Eltern dem Kind
begegnen, wie Frau und Mann miteinander kommunizieren und so weiter.
All dies prägt später den Zugang zu
Sexualität und Liebe mehr, als was die
Schule an Wissen vermitteln kann.
Das heisst, auch jene, die ihre
Kinder nicht aufklären, geben
ihnen deutliche Botschaften zur
Sexualität mit?
Natürlich. Letzthin haben vorwitzige
Jugendliche eine Liste gemacht mit
folgenden Kriterien: Welcher Lehrer,
welche Lehrerin in unserem Schul-
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bewusst wahr. Frauen werden körperlich kurz vor dem Eisprung hormonell
angeregt. Also einmal im Monat.
haus hat guten Sex? Bei der Beantwortung waren sie sich einig: Alle
«vertröchneten Typen» fielen in der
Ministudie durch. Die humorvollen,
beweglichen, die oft gut drauf sind, erhielten Bestnoten. Interessant ist, dass
ihre Bewertungen auf Beobachtungen
beruhten, die mit Sex oder Gesprächen
über Sex nichts zu tun hatten.
Das ist bedeutend weniger.
Ja, es besteht zwischen den Geschlechtern auf der hormonellen Ebene ein deutlicher Unterschied. Allerdings sind die Lernschritte, die Frauen
und Männer für eine erfüllte Sexualität machen können, von zentraler
Bedeutung.
Was schliessen Sie als Sexologin
daraus?
Das Beispiel zeigt, dass die Jugendlichen eine gute Wahrnehmung haben.
Sie haben intuitiv festgestellt, dass der
Kieferbereich ein Spiegel ist zur Muskelspannung im Beckenbereich. Beim
Geniessen der Sexualität ist es zentral,
dass das Becken sich bewegt und die
Muskelspannung im Beckenboden
nicht zu hoch ist.
Dann stimmt das, was man immer
wieder hört: Sex ist für den Mann
viel wichtiger als für die Frau?
Sagen wir es so: Die Identität des
Mannes ist gekoppelt an seine Potenz.
Ein Bub sagt, ich bin ein Bub, weil er
ein männliches Geschlecht hat, das er
sieht und berühren kann. Der Penis
wird steif, und das ist die Formel für
Potenz. Ein Mann der Erektionsprobleme hat, hat immer ein Identitätsproblem. Er fühlt sich nicht mehr
als Mann. Das sagen alle, die wegen
Erektionsstörungen zu mir in die
Beratung kommen.
In den 1970er-Jahren gehörten
Sie zu den Ersten, die Weiterbildung für Lehrpersonen in
Sexualunterricht erteilten. Wurden diese freiwilligen Kurse von
vielen belegt?
Ja, sehr viele Lehrpersonen zeigten
Interesse, Kinder und Jugendlichen
Wissen über Sexualität zu vermitteln.
Ist es denn nicht so, dass die Frau
auch Lust haben muss, um erfüllten Sex zu haben?
Aus sexologischer Sicht sind Frauen
im Archetyp Gebärende. Um uns fortpflanzen zu können, müssen Frauen
nicht zwingend sexuell erregt sein. Bei
Frauen, die ein Kind haben wollen und
keines bekommen, wird deutlich, wie
sehr ihre Identität an die Gebärfähigkeit gekoppelt ist. Selbstverständlich
ist es besser, wenn Frauen die Fähigkeit der sexuellen Lust haben.
Weshalb sorgt das Thema Sexualaufklärung heute noch für so viel
Auf regung? Sind wir wieder prüder geworden?
Ich sehe das eher als Gegenbewegung,
die den Diskurs nochmals eröffnet.
Dieser wird zeigen, dass in der heutigen Zeit der medialen Welten ein grosser Bedarf an entscheidungskompetenten Jugendlichen besteht. Eine
Studie aus Deutschland zeigt zum Beispiel, dass Jugendliche, die Informationen zu Sex an den Schulen erhalten,
sich heute viel besser schützen als solche, denen dieses Wissen fehlt.
Wie wichtig ist Sex überhaupt?
Eine gut funktionierende Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau besteht
aus zwei Säulen: aus der Liebe und der
Sexualität. Ein Liebespaar, das keine
Sexualität mehr pflegt, riskiert, dass
die Beziehung auseinandergeht. Wenn
man Liebe erhalten will, wird sie genährt von der Sexualität, und die
Sexualität wird genährt von der Liebe.
Es braucht beides.
Was heisst Sex? Geht auch Streicheln als Sex durch?
Wenn ich von Sexualität rede, von
Erotik, hat es für mich immer einen
Bezug zum Erregungsreflex. Zärtlichkeiten wie Streicheln und Küssen können den Erregungsreflex auslösen,
sodass das Blut bei der Frau in die
Schwellkörper der Klitoris und deren
umliegende Schwellkörper fliesst
und es beim Mann zu einer Erektion
kommen kann.
Haben Männer mehr Lust auf Sex
als Frauen?
Hormonell wird das sexuelle Begehren
des Mannes täglich sowie in der Nacht
etwa im Vier-Stunden-Rhythmus angeregt. Er nimmt es allerdings nicht
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Esther Elisabeth Schütz
Esther Elisabeth Schütz (63) ist eine echte «Sexpertin»:
Sie ist klinische Sexologin ISI, Sexualtherapeutin und
Sexualpädagogin und leitet das 1998 von ihr mitgegründete Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie ISP
in Uster. Das ISP ist ein parteipolitisch und konfessionell
neutraler Verein und gemäss eigener Beschreibung
«humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen
verpflichtet». Schütz publizierte mehrere Bücher zum
Thema Sexualpädagogik und Sexualität.
Wie können sich die beiden so
unterschiedlichen Geschlechter
einander annähern?
Frauen sehen ihr Geschlecht nicht,
ausser wenn sie einen Spiegel nehmen.
Sie sind deshalb gefordert, hineinzuhorchen. Das heisst, über Gefühle einen Zugang zu den Empfindungen zu
schaffen. Diese Kompetenz des Einfühlens wird auf die Sexualität übertragen. Deshalb spielen für Frauen
Gefühle wie die Romantik und die
Erotik eine grosse Rolle. Im Gegensatz
dazu sehen Männer ihr Geschlecht
täglich, was ihnen einen direkten Zugang ermöglicht. Dies ist auch in der
sexuellen Erregung so. Für Männer ist
deshalb das Visuelle eine wichtige
Kompetenz, die sie auch nutzen im
sexuellen Begehren.
Was heisst das konkret?
Das bedeutet, Frauen haben die Aufgabe, sich mehr mit ihrem weiblichen
Geschlecht auseinanderzusetzen, und
Männer sind gefordert, sich mehr mit
den Gefühlen zu beschäftigen.
Früher hielten die Frauen einfach
hin, wenn der Mann wollte, auch
wenn sie selber keine Lust hatten.
Sie sagen dem herhalten, ich bewerte
das nicht so. Und die Frauen selbst
machten das vielleicht auch nicht. Sie
haben vielleicht einfach gemerkt, dass
Sex für ihre Männer wichtig ist und
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haben das aus Liebe gemacht. Ich
kann mir durchaus vorstellen, dass es
Urgrossmütter gab, die das aus Liebe
zu ihrem Mann gemacht haben.
Dann hat uns Frauen der im Feminismus proklamierte «Orgasmuszwang» keinen Gefallen getan?
Sagen wir so: Das half den Frauen,
sich in ihrer Sexualität weiter zu
entwickeln.
Aber heute wird Frauen die Wertung vermittelt: Ich mache nur
Sex, wenn ich Lust habe. Alles andere empfindet die Frau als Benutztwerden.
Die Menschheit hat auch heute noch
1001 Gründe, um Sex zu haben. Um
Kinder zu kriegen, weil die Stimmung
schön ist, um etwas zu erhalten? Ich
will damit nicht sagen, Ziel sei, dass
Frauen wieder herhalten sollten, sondern sich gestatten, dass es eine Vielfalt von Gründen gibt, Sex zu haben.
Als Sexologin wünsche ich mir, dass
Frauen, aus welchem Grund auch immer, aktiv in die Sexualität einsteigen,
die Fähigkeit haben, ihre sexuelle Lust
zu geniessen. Und das ist lernbar.
Wie?
Gehen wir zurück zu der Sexualpädagogik, das war ja der Anlass zu diesem
Interview. Zuerst zu den Mädchen. Sie
wissen eher wenig über ihr eigenes
Geschlecht, und nicht wenige Mädchen haben ihr erstes Mal Sex ohne
Kenntnis von ihrem eigenen weiblichen Körper. Deshalb ist wichtig, dass
sie über Lernschritte einen achtsamen
Bezug zu ihrem Geschlecht erhalten.
Im Sinne von: Was ich schätzen kann,
das kann ich auch schützen. Wie ich
vorhin erklärt habe, ist der visuelle
Reiz für männliche Jugendliche und
Männer sehr bedeutend. Heute wachsen Jugendliche mit den vielen Möglichkeiten im Internet auf und haben
nebst spannenden Informationen auch
leichten Zugang zu expliziten Darstellungen von sexuellen Handlungen.
Finden Sie das nicht schlimm?
Ich mache gerne den Vergleich mit der
Vielfalt der Angebote in Supermärkten. Als ich Kind war, hatten wir zwei
«Bei häufigem
Pornokonsum im
Internet besteht
die Gefahr, dass
Männer in einer
Liebesbeziehung
ohne diese
Reizquellen weniger
erregt werden. »
Äpfel, einen zum Kochen und einen
zum Essen. Als grosse neue Errungenschaft kam die Kokosnuss; mein
Grossvater wusste zunächst nicht, wie
man sie aufmacht. Heute ist das Angebot an Früchten derart gross, dass wir
oft vieles gar nicht kennen. Immer
wieder kommen neue Sachen aus fernen Ländern dazu. Ähnlich wie bei
den Früchten ist es auch völlig normal
in unserer Zeit, dass es im Internet
auch zu Sex immer mehr Angebote
gibt. Deshalb rede ich von der Vielfalt
an Möglichkeiten, ohne Bewertung.
Allerdings braucht es im Dschungel
der Sex-Angebote dringend entscheidungskompetente Jugendliche und
Männer. Vor allem auch, weil ihnen
auf diesem Gebiet kein Label zur Verfügung steht im Sinne von Fairtrade.
Sind die Pornokonsumenten eher
männlich?
Ja, Buben, männliche Jugendliche und
Männer. Sie sehen Bilder, und das fasziniert und erregt sie. Sie wachsen mit
diesen Möglichkeiten auf. Das heisst,
ihre Selbstbefriedigung wird von An-
fang an an diese Bilder gekoppelt. In
der Sexologie stellen wir uns heute die
Frage, welche Wirkung das auf ihr
späteres Sexualleben hat.
Und, gibt es schon Erkenntnisse?
Generell gilt: Bilder in hohen emotionlen Zuständen wie Freude und Trauer
werden nachhaltiger gespeichert. Wir
wissen, das dies auch in der hohen sexuellen Erregung geschieht. Wenn nun
männliche Jugendliche oder Männer
in der Selbstbefriedigung immer vor
dem Netz sitzen, koppeln sie die Bilder
an ihre Fähigkeit, die Erregung zu steigern. Da dies heute in der Regel vor
Filmen passiert, wird ihre eigene sexuelle Fantasie nicht mehr oder viel weniger aktiviert. Bei häufigem Pornokonsum im Internet besteht die
Gefahr, dass Männer später in einer
Liebesbeziehung ohne diese programmierten Reizquellen viel weniger sexuell erregt werden und allenfalls der Sex
mit der Partnerin langweilig wird.
Haben bereits junge Männer
sexuelle Probleme deswegen?
Es gibt heute junge Männer, die bereits früh entdecken, dass sie eine Art
Sucht entwickelt haben. Aber es freut
mich, dass inzwischen junge Männer
auch den Mut haben, in die Sexualtherapie zu kommen.
Was sagen Sie ihnen?
Sie lernen über die Wahrnehmung
ihrer Sinnesempfindungen im Geschlecht viel Neues über ihre Männlichkeit kennen und sie neu zu definieren. Langsam nutzen sie wieder
vermehrt ihre eigenen Fantasien nebst
den visuellen Reizen. Und sie werden
ihre sexuelle Selbstsicherheit stärken.
Das wird den Männern auch Neues ermöglichen im Austausch mit ihren
Partnerinnen. Werden kleine Lernschritte und Informationen bereits in
der Sexualpädagogik vermittelt, unterstützt das Jungen und Mädchen als
zukünftige Männer und Frauen, ihre
Liebesbeziehungen erfüllt zu gestalten. Ich gehe davon aus, dass es der
Wunsch aller Eltern ist, dass ihre
Söhne und Töchter dereinst in einer
glücklichen Beziehung leben.
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