Paper zum Vortrag an den Schweizerischen Geschichtstagen 2013 im
Transcription
Paper zum Vortrag an den Schweizerischen Geschichtstagen 2013 im
Die transnationale Ikonographie des Föderalismus Paper zum Vortrag an den Schweizerischen Geschichtstagen im Rahmen des Pannels „Föderale Raummetaphern. Zur (Bild-)Semantik intermediärer Räume des Politischen“ Elisabeth Barbara Haas Einleitung The Political See-Saw. So lautet der Titel einer im Jahr 1802 erschienenen Karikatur (vgl. Abb. 1). Auf einer Wippe zwei Figuren. Die eine, blau uniformiert, trägt einen Zweispitz mit Federschmuck in grün, gelb und rot; um die Taille hat sie ein Band in denselben Farben geschlungen – den Farben der Helvetischen Republik. Sie schwebt hoch oben in der Luft. Ein verzerrter Mund, überlange Nase. Etwas krampfhaft ihre Haltung und der Griff um die Schaukel. Mit grossen Augen schaut sie hinunter auf den wohl älteren Kontrahenten: einen Mann mit weisser Lockenperücke und schwarzem Umhang. Diese Attribute – Perücke und Umhang – kennzeichnen die Figur unten auf der Wippe als Patrizier. Den Zeitgenossen muss es ein Leichtes gewesen sein, diesen Mann als Föderalisten zu identifizieren, denn die Patrizier waren in aller Regel dem helvetischen Zentralstaat abgeneigt und machten sich stark für lokale Eigenartigkeit und kantonale Souveränität. Der Gegenspieler des Föderalisten auf der anderen Seite der Wippe muss daher den Befürworter des zentralistischen Einheitsstaats darstellen. – Auch dies eine für den zeitgenössischen Bildbetrachter nur allzu schlüssige Deutung, hat er doch erlebt, wie sich der Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern der Helvetischen Republik in sehr kurzer Zeit verhärtet hat, ja, wie Unitarier und Föderalisten in den Jahren 1800 bis 1802 wechselseitig die Übermacht erlangten, um bald darauf wieder an Einfluss einzubüssen – gerade als sässen sie auf einer Schaukel. Auf dieses politische Hin und Her verweist denn auch die Inschrift auf der Wippe: „Hodie mihi, cras tibi“. –Nichts als ein kleines Spiel um Macht, dieses Auf und Ab. Und Föderalisten wie auch Unitarier sind dabei nichts als winzige Spielfiguren. Die Wippe mit ihren beiden Reitern nämlich liegt in ihrer Mitte auf dem locker ausgestreckten rechten Zeigefinger eines lächelnden, in lässiger Pose dastehenden und annähernd die gesamte Bildhöhe einnehmenden Napoleon Bonapartes auf. In Wahrheit also, so die Botschaft des Karikaturisten, ist er es, der Erste Konsul der Franzosen, der letzten Endes darüber entscheidet, welche der beiden gegnerischen Figuren heute oben auf der Wippe sitzt. Momentan hat er den Blick auf den Föderalisten gerichtet. Dieser grinst seinerseits hoffnungsvoll zurück. –Noch. Denn noch scheint weder der Föderalist noch 1 der Unitarier bemerkt zu haben, dass, während sie miteinander um die politische Organisation der dereinstigen Schweiz ringen, Frankreich schon wieder politische Fakten geschaffen hat. Breitbeinig nämlich steht Napoleon auf einer aufgerollten Landkarte, seine Füsse beide auf dem Wallis ruhend. Die Karikatur verweist so auf die Ereignisse des Oktobers 1801, wo die Unitarier zum wiederholten Mal mithilfe Frankreichs Unterstützung in einem Staatsstreich die Macht erlangt hatten. In etwa zur gleichen Zeit besetzten napoleonische Truppen den Kanton Wallis. Verweisen möglicherweise die dunkeln Wolken, die sich hinter Napoleons Rücken aufzutürmen beginnen, auf die endgültige Abtrennung des Wallis von der Helvetischen Republik als eigenständiger Staat durch Frankreich?1 Abb. 1: Hess David, The Political See-Saw (1802) Sie mögen sich jetzt vielleicht fragen, was diese Karikatur mit dem Tagungsthema „global – lokal“ zu tun haben soll. Nun, weshalb trägt das Flugblatt eine englische Überschrift? Ist doch erstaunlich, zumal politische Diskurse weder in der Helvetischen Republik geschweige 1 Vgl. Dettwiler Walter, Von linken Teufeln und heuchlerischen Pfaffen. Der Weg zur modernen Schweiz im Spiegel der Karikatur (1798-1848), Basel 1998, S. 21. 2 denn in Frankreich in englischer Sprache ausgetragen wurden. Die Bedeutung der Überschrift könnte man leicht übersehen, ist doch der Titel in der Fusszeile ebenfalls auf Deutsch aufgeführt. Ferner aber steht unten rechts im Flugblatt – den Erscheinungsort und das Datum betreffend – „London, Cheapside, Misery Street, January 1802“. Ja, nicht nur dies und die Überschrift verweisen nach England, sondern auch der Künstler. Signiert ist das Bild nämlich von „Gillray junior“. James Gillray (1757–1815) war um die Wende zum 19. Jahrhundert ein bei seinen Zeitgenossen äusserst beliebter Karikaturist.2 Insbesondere für seine NapoleonKarikaturen war er in ganz Europa bekannt. Einen Sohn, also einen Gillray junior, gab es allerdings nicht. So stammt die Karikatur in Wirklichkeit nicht aus der Feder Gillrays. Urheber war vielmehr der Zürcher Künstler David Hess (1770–1843).3 Wieso zeichnete er unter diesem Pseudonym? Und wieso ausgerechnet bei einem helvetischen Bildthema? Möglich, dass Hess sich so in eine grössere, hoch angesehene satirische Tradition einschreiben wollte. Denn folgt man Remigius Brückmanns Ausführungen, traute man der Bildsatire in den deutschsprachigen Gegenden Europas weder was ihren künstlerischen Wert noch was ihren moralischen Stellenwert anbelangt viel zu.4 Möglich aber auch, dass gerade das Pseudonym zum Bildwitz dazugehört. So könnte die Botschaft, die Hess in seiner Karikatur dem Bildbetrachter zu vermitteln sucht, lauten: „Sieht einmal her, ihr Schweizer, die ihr euch unentwegt um die helvetische Staatsform streitet: Die Franzosen führen euch an der Nase herum und die Briten amüsieren sich darob!“ –Wie dem auch sei, spannend ist doch, dass ein nationales Anliegen in einen weitaus globaleren Kontext gestellt wird, als es dies den politischen Tatsachen nach war. Fragestellung und Quellen The Political See-Saw ist nicht die einzige Karikatur der Zeit, die sich an überregionalen, ja, übernationalen Elementen bedient. Im Folgenden gehe ich nun anhand von sechs weiteren satirischen Druckgraphiken der Frage nach, welches mögliche Formen der Bezugnahme auf einen übernationalen Kontext in der politischen Karikatur sind. Es interessiert ferner, ob die Bezugnahme durch den Künstler bewusst oder unbewusst erfolgt. Und ist der übernationale 2 Vgl. Konversations-Lexikon zum Handgebrauch oder encyklopädisches Realwörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Leipzig 1846, S. 338 (der Verweis darauf findet sich in Brückmann Remigius, „Fremde Federn. Nachahmung und Kopie englischer und französischer Vorbilder in der deutschen politischen Karikatur des Vormärz und von 1848/49“, in: Philippe Kaenel, Reichardt, Rolf (Hg.), Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert = The European print and cultural transfer in the 18th and 19th centuries, Olms 2007, S. 502). 3 Vgl. Dettwiler (1998), S. 21. 4 Brückmann (2007), S. 499f. 3 Bezug in den jeweiligen Karikaturen relevant für das Bildverständnis? Respektive wie fliesst er in die Bildbotschaft mit ein? Die Druckgraphiken, anhand derer diese Fragen beantwortet werden sollen, stammen allesamt aus dem deutschsprachigen Raum, also aus Deutschland, der Schweiz und Österreich. Entstanden sind sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Gemein ist diesen Druckgraphiken, dass sie mit Raummetaphern spielen: Jede dieser Graphiken ist eine Stimme im Aushandlungsprozess neuer politischer Ordnungen. In den Bildern wird über Räume und Grenzen, über die Beziehungen unterschiedlicher Räume zueinander, kurz, über zustimmungsfähige Rechtsordnungen gestritten. Dabei erscheint der Föderalismus wenn nicht als politische Realität, so doch als eine mögliche Form der Raumgliederung. Analyse Umworbene Frau Nation An einer Kreuzung ein Wegweiser und zwei gestikulierende Männer (vgl. Abb. 2). Links im Bild steht der ältere der beiden Männer. Den dunkeln Mantel trägt er zugeknöpft, darunter ein weisses Rüschenhemd mit Stehkragen, ferner trägt er dunkle Hosen und Stiefel. Einen Zylinder über dem kurz geschnittenen Haar, Brille. Mit seiner rechten Hand zeigt er zum linken Bildrand hin, in die Richtung, in der es laut Wegweiser zur „Klösterherstellung“ führt, und macht Anstalten, mit bestimmtem Schritt in diese Richtung fortzugehen. Der junge Herr mit Schnurrbart in der rechten Bildseite präsentiert sich ein leichtes Bisschen moderner. Er trägt seinen Gehrock offen, darunter ein Hemd mit einfachem Kragen und Weste. Helle Hosen, Halbschuhe. Seinen Strohhut sowie einen Stock hält er in der linken Hand und damit weist er seinerseits über den rechten Bildrand hinaus. Gemäss Wegweiser ist das Ziel dieses Pfades die „Iesuitenaustreibung“ (sic.). Auch der jüngere Herr hat schon einen grossen Schritt in die von ihm vorgeschlagene Richtung getan. Zwischen ihnen eine scheinbar nachdenkliche alte Dame. Auf ihrer Brust trägt sie das Schweizerkreuz, welches sie als die Allegorie der Eidgenossenschaft, als Helvetia kennzeichnet. Die Säume ihres Rüschenrockes werden von Kantonswappen geziert: Es handelt sich also um eine klar föderale Darstellung der Helvetia. Die arme Dame steht barfuss in einem von Fröschen bevölkerten Sumpf. Den Kopf hält sie gesenkt. Mit der Linken hält sie einen Schal fest um sich geschlungen; ihre rechte Hand dagegen hat sie unter dem Kinn leicht an die Brust gelehnt, gerade, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Kein Wunder: Mit einem Blick nämlich, der sie zum Mitgehen auffordert, schaut jeder der beiden Männer die unschlüssige 4 Helvetia eindringlich an. Und beide versuchen sie, die Dame in die von ihnen vorgeschlagene Wegrichtung zu ziehen. „Wie kommen wir [aus diesem Sumpf] heraus?“, scheint sich Helvetia zu fragen, während sie darauf wartet, dass sich die beiden Männer über den mit Vorliebe einzuschlagenden Weg einigen. Wenn sich auch Helvetia nicht zu entscheiden weiss, der Karikaturist scheint seinerseits klar Stellung zu beziehen: Der Mann, der Helvetia in Richtung „Iesuitenvertreibung“ (sic.) ziehen möchte, erscheint nicht nur jünger, sondern auch dynamischer. Er repräsentiert den liberalen Politiker, der für eine „Neue Schweiz“ eintritt; eine Schweiz, die liberaldemokratisch organisiert ist5. Seine wegweisende Geste ist leicht himmelwärts gerichtet – vielversprechend. Sie vermittelt im Gegensatz zur Handbewegung des älteren – konservativen – Herrn das Gefühl, dass dieser Weg zu einer erfrischenden Zukunft hin führt. Der Konservative dagegen erscheint mit seinem Ideal der „Alten Schweiz“ als einem christlich-autoritären Staat rückwärtsgewandt. Abb. 2: Anonym, Wie kommen wir heraus? (1847) Helvetia erscheint in der Szene als unschlüssig, ja, als unfähig, eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Ob sie ihre Passivität vielleicht gerade ihrer föderalen Struktur verschuldet? Einer Struktur, die sich als nicht handlungsfähig erweist, solange die politischen Kräfte untereinander uneins sind und die Entscheidungshoheit nicht einem einzigen obliegt? 5 Vgl. Dettwiler (1998), S.64. 5 Die Karikatur beschäftigt sich mit einem Konflikt, den lediglich die eidgenössischen Orte betreffen. Dabei stellen die Kantone die kleinräumigen, lokalen Einheiten dar. Durch den Diskurs um die Art und Weise, wie sich die politischen Beziehungen zwischen den Orten gestalten soll, wird eine grossräumigere Dimension geschaffen. Die Karikatur verfügt aber auch über eine übernationale Dimension. Allerdings erst dann, wenn man sie mit anderen Druckgraphiken in Verbindung bringt. Es können nämlich ähnliche Bildelemente, wie sie in dieser eidgenössischen Darstellung Verwendung finden, auch in deutschen Karikaturen der Zeit festgemacht werden: Abb. 3: Anonym, Germania und ihre Freier (1849) Eine vergleichbare, rund zwei Jahre später veröffentlichte Karikatur zum Beispiel trägt den Titel Germania und ihre Freier (vgl. Abb. 3). Auch hier steht die Nation – in diesem Fall eine jungfräuliche Gestalt in schlichtem Kleid und mit einem Kranz aus Eichenlaub auf dem langen Haar – mit gesenktem Blick inmitten von Männern, die sie hin- und herreissen: Links im Bild steht ein pummeliger Mann mit Pickelhaube und einem Umhang, auf dem der Reichsadler aufgenäht ist. Sein rundes Gesicht und der lange, buschige Backenbart weisen darauf hin, dass dies der Preussische König Friedrich Wilhelm IV. ist, der Germania die Hände mit einem Stück Tau auf den Rücken bindet. Ihm gegenüber zerrt ein Mann mit aller Kraft am Ausschnitt der wehrlosen Germania: Ein Mann mit schmalem Gesicht, Geheimratsecken und spitzer Nase: Fürst Metternich. Hinten im Bild ein dümmlich aussehender Junge mit Zipfelmütze. Der Text zum Bild verrät, dass es sich hierbei um den deutschen Michel handelt. Er 6 versucht, seine „Mume Germania“, wie im Dialog zum Bild steht, aus den Händen der anderen beiden Verehrer zu retten und droht ihnen mit einer Gefängnisstrafe. Doch vergeblich: Es gilt das Recht der Stärkeren.6 Und das deutsche Volk in der Personifikation des Michels muss machtlos zusehen, wie der Nation von den konservativen Kräften Gewalt angetan wird. Genau wie beim vorgängig betrachteten Bild findet sich hier die Nation, verkörpert als Frau, inmitten von miteinander uneinigen Freiern und muss passiv ausharren, bis man sich entschieden hat, wie ihr künftiges Schicksal aussehen soll. Im Unterschied zur Darstellung aus der Schweiz, wo der Umgang mit der alten Dame Helvetia gesittet zu sein scheint, handelt es sich hier im Prinzip um einen Akt der Vergewaltigung. Auch ist Germania im Gegenteil zur Helvetia nicht ausdrücklich als föderale Nation dargestellt. Abb. 4: Monogrammist EB, Germania – sich befreiend (1848) Doch auch für Deutschland findet sich ein Bild, in dem über ein Wappenkleid darauf verwiesen wird, dass die Allegorie der Nation für eine Vielheit unterschiedlicher und bis zu einem gewissen Grad auch eigenständiger Räume steht. So etwa auf einer Lithographie von 1848 mit dem Titel Germania – sich befreiend. Im Zentrum dieses Bildes sieht man eine Germania mit zerbrochenen Handschellen und zum Kampf erhobenem Schwert vor Soldaten fliehen, die aus einem düsteren Wald hervorgetreten sind. Über den Tannenwipfeln und aus dem Wald heraus schwirren Fledermäuse und Eulen. Am Himmel ein fahler, mürrisch drein- 6 Vgl. Brandt Bettina, Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Gögttingen 2010, S. 278. 7 schauender Mond. Im Gegensatz dazu strahlt der fliehenden Germania in der linken Bildhälfte eine lachende Morgensonne entgegen. Sie ist gerade im Aufgehen begriffen, über einer saftiggrünen Hügellandschaft. Dort, am Horizont eine Burg, von der eine weiss-rot-blaue Fahne weht. Diese Hügellandschaft – Frankreich – wird durch einen Fluss – den Rhein – von der Gegend, in der sich die Fluchtszene abspielt, getrennt. So kommentiert der Künstler die beginnende Revolution von 1848 mit dem Versprechen, Deutschland könne es nun Frankreich gleich tun und sich aus der Bevormundung durch die deutschen Fürsten befreien. Entsprechend weist Germania denn auch mit der rechten Hand auf eine junge Eiche, die mit Bändern geschmückt ein Freiheitsbaum darstellt. Am Fuss dieses Freiheitsbaumes liegen zerbrochen eine Fessel und eine Schere. Letztere wohl die Zensurschere. Ebenfalls am Fuss der Eiche ein aufgeschlagenes Buch: Eine Verfassung. Darauf verweisen die Wappen der fünf deutschen Staaten, die bereits vor 1830 zu konstitutionellen Staaten geworden sind.7 Für die Analyse der oben aufgeworfenen Fragen spannend ist nun insbesondere die Feststellung, dass diese Germania, ganz ähnlich wie die im Sumpf stehende Helvetia, einen Umhang trägt, auf dem die Wappen der deutschen Staaten angebracht sind. Ein paar vereinzelte Wappen fehlen. Es fehlen die Wappen all jener Staaten, die bereits vor 1830 eine Verfassung erhalten haben, für die die hier dargestellte Germania also nicht zu kämpfen braucht.8 Insofern ist dieses Wappenkleid im Unterschied zum Wappenrock der Helvetia nicht ein föderales Motiv in der Hinsicht, als es die staatliche Einheit der verschiedenen, durch die Wappen symbolisierten Räume darstellt. Diese Germania hier vereint vielmehr die verschiedenen deutschen Staaten in ihrem je individuellen Kampf um eine eigene Verfassung. Die drei Karikaturen überschneiden sich teilweise thematisch: Sie befassen sich mit der Zukunft der Nation und damit, dass ihr Schicksal grösstenteils fremdbestimmt wird. Insbesondere aber finden sich Berührungspunkte zwischen den drei Graphiken über die Bildmotive, die sie verwenden: Einerseits handelt es sich hierbei um das Motiv der Nation als einer von unterschiedlichen Männern begehrte Frau, andererseits um das Wappenkleid, das die Vielheit der Einheit symbolisiert. In allen drei Fällen geschieht die Bezugnahme auf übernationale Bildelemente unbewusst. Dem entsprechend ist der Bezug für das Bildverständnis an sich nicht relevant. Einzig in der letzten der drei eben beschriebenen Graphiken erfolgt eine bewusste, die Bildinterpretation beeinflussende Anlehnung an übernationale Elemente. Nämlich durch den Vergleich der Situation, in der sich Deutschland im März 1848 befindet, mit 7 8 Brandt (2010), S. 272. Vgl. Brandt (2010), S. 272. 8 der Situation, in der sich Frankreich rund fünfzig Jahre zuvor wiederfand. Sollte der Betrachter nicht erkennen, dass hier die Sonne in Frankreich aufgeht, wird er das Bild nicht entschlüsseln können. Abb. 5: Anonym, Alle unter Einem Hut (1849) Alle unter einen Hut Ein weiteres, ebenfalls föderales Bildmotiv, das verschiedentlich anzutreffen ist, ist das Motiv des Hutes. Wir finden es beispielsweise auf einer Karikatur, die 1849 im schweizerischen Postheiri erschienen ist (Abb. 5): Auf der Karikatur dargestellt ist ein untersetzter Herr in Frack. Mit seinen dünnen, kurzen Beinen und den kleinen Füssen balanciert er auf einer Kugel. Fester Halt fehlt ihm also. Sein Oberkörper wird von einem Wolkenkranz verborgen. Ein Wolkenkranz, aus dem ein übergrosser Kopf mit Hut hervorlugt. Das Gesicht des Mannes aber trägt keine eindeutigen Züge. Vielmehr ist es zusammengesetzt aus den zweiundzwanzig Kantonswappen, die ihrerseits Fratzen schneiden: Bern und Zürich strecken sich gegenseitig die Zunge raus, darob scheint Luzern schwer seufzen zu müssen; Schwyz kneift Augen und Mund zusammen, Zug trägt eine Augenbinde, und der Urner Stier macht riesig grosse Augen. Angesichts all dieser Fratzen mag der Text zum Bild ironisch klingen, lobt er doch die eidgenössische Einheit und Eintracht mit den Worten „… kein Bern, kein Zürich mehr, sondern eine freie, starke, einige Schweiz.“ Frei mag sie wohl sein, diese Schweiz, aber stark und ei9 nig? Momentan scheint dieser wacklig wirkende kleine Mann sein Gleichgewicht zwar gefunden zu haben. Doch wie lange wird er so balancieren können? Fehlen ihm doch der klare Blick und unter den Füssen der starke Boden. Abb. 6: Schröder Ferdinand, Rundgemälde von Europa im August MDCCCXLIX (1849) Eine andere, sehr bekannte Karikatur aus Deutschland, die in der Zeit nach den Revolutionen von 1848/49 und als Kommentar hierzu entstanden ist, spielt ihrerseits mit dem Motiv der Mütze (Abb. 6). Es handelt sich um eine Landkarte Europas, auf der kleine Figuren agieren und so das Geschehen auf dem Kontinent darstellen. Lassen Sie uns bloss einen kleinen Ausschnitt daraus betrachten, nämlich die Darstellung der Schweiz. Auf der Fläche der Eidgenossenschaft steht eine Gruppe von Menschen. Die Gestalten sind bedeutend kleiner als die meisten anderen auf dieser Landkarte Europas dargestellten Figuren. Allerdings zeigen sie dem Bildbetrachter lediglich ihre Beine; Brust und Kopf halten sie versteckt unter einer einzigen grossen phrygischen Mütze. Auch diese Figuren sehen also nichts, genau wie der auf der Kugel balancierende Herr in Frack von vorher. Es ist, als genügten sie sich selbst, inmitten des Chaos‘, das um sie herum in Europa herrscht. Tatsächlich sind sie wohl zu sehr mit sich selbst beschäftigt: „Helvetia“ steht in Grossbuchstaben auf der Mütze geschrieben. Darüber zwei im Kreuz übereinander liegende Liktorenbündel. Diese verweisen darauf, dass die eidgenössischen Orte im Jahr zuvor einen Bundesstaat gegründet und sich auf eine gemeinsame demo- 10 kratische Verfassung geeinigt haben.9 Zwischen den beiden Liktorenbündel ist eine kleine phrygische Mütze abgebildet: Eine Mütze auf der Mütze. Die phrygische oder Jakobinermütze als politisches Bildmotiv kann auf die republikanisch-demokratische Ordnung des jungen Staates verweisen. Mag sein, dass die Mütze auf der Mütze also ikonographische Darstellung der Föderalismusidee ist. Jedenfalls verweist die Karikatur, indem sie alle Schweizer unter einer Mütze versammelt, klar auf die föderale Struktur des jungen Staates. Die Jakobinermütze steht in der politischen Ikonographie überdies für Freiheit. So fliehen denn auch die deutschen Aufständischen, die der preussische König Friedrich Wilhelm IV. mit dem Besen aus Deutschland wegfegt, unter die Schutz bietende helvetische Mütze. „Alle unter die Pickelhaube“ – so müsste das deutsche Pendant zur Darstellung des eidgenössischen Hutes betitelt sein (Abb. 7). Interessanterweise findet man diese Karikatur nicht in Deutschland; publiziert wurde sie vielmehr als Kommentar zu den deutschen Verhältnissen im Wiener Satireblatt Kikeriki. Über den rechten Bildrand stülpt eine Hand zahlreichen kleinen Figuren eine einzige grosse Pickelhaube über. Unter dem Helm lugen so nur noch kleine Füsse hervor. Die Pickelhaube wird über dem Augenschirm von einem Reichsadler geziert. Als „Helm mit Spitze“ wurde die Pickelhaube 1843 in der preussischen Armee eingeführt. Und obwohl andere Armeen diese Art Helm ebenfalls übernahmen, ist die Pickelhaube bis heute Symbol des aggressiven preussischen Militarismus und – so wie in der vorliegenden Karikatur – des Anspruchs Preussens auf Hegemonie. Spannend bei dieser Karikatur ist nicht bloss, dass hier, wie auch in den beiden davor analysierten Druckgraphiken, das Motiv der Vereinigung unterschiedlicher Einheiten unter einem Hut bemüht wird. Spannend ist darüber hinaus vor allem, dass es sich hierbei um einen von einer einzigen Macht und mit militärischer Gewalt vollführten Akt handelt. Bei diesen drei Karikaturen findet sich überall das Motiv des „Alles unter einen Hut bingen“. So wird ein übernationaler Bezug unter den Bildern geschaffen. Und dennoch sind die Karikaturen gänzlich unterschiedlich, trägt das im Grunde genommen verbindende Bildmotiv einen jeweils ganz spezifischen Charakter: Während das erste Bild die Vielheit betont, wird im zweiten die Einheit hervorgehoben. Während die erste Karikatur die Stärke des föderalen Konstrukts anzweifelt, wird in der dritten Karikatur die Einheit und Stärke der deutschen Länder durch die eiserne Hand Preussens erst herbeigeführt. 9 Vgl. Bauerkämper Arnd, „Die Revolution von 1848/49. Gemeinsames Erleben und Scheitern in Europa?“, in: Hohls Rüdiger, Schröder Iris, Siegrist Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005, S. 182-187. 11 Abb. 7: Anonym, Deutschlands Zukunft (1870) Während in der ersten Karikatur der Künstler wohl eine Parodie auf sein eigenes Land macht, haben wir es im zweiten Bild mit einer Fremdwahrnehmung der Schweiz durch einen deutschen Künstler zu tun. Und bei der dritten Karikatur handelt es sich um einen österreichischen Kommentar zu den Ereignissen im deutschen Ausland, wobei unterschwellig die Erleichterung mitschwingt, dass Österreich nicht mehr am Prozess der deutschen Reichsbildung mit beteiligt ist und so gewissermassen auch den Machtansprüchen Preussens entwischen kann. Schluss Jede dieser Druckgraphiken, die ich Ihnen heute vorgestellt habe, ist als Kommentar zu einem Thema zu verstehen, das, wenn auch nicht bloss auf lokaler, so doch im Wesentlichen auf nationaler Ebene beschäftigt. Hier werden Fragen aufgeworfen, wie: Ist die Schweiz als föderal organisierte Struktur handlungsfähig? Muss das deutsche Volk macht- und tatenlos 12 zusehen, wie die reaktionären Kräfte das Los der Nation bestimmen? Sind wir Österreicher nicht doch froh, nichts mit dem deutschen Reichsbildungsprozess am Hut zu haben? Die im Einzelnen behandelten Konflikte erweisen sich als gar nicht so unterschiedlich, geht es doch stets um ein Aushandeln von Machtstrukturen im Raum. Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch bezüglich ihrer Bildsprache stehen die Karikaturen zu einander in Verbindung. Wieso diese Bezugnahmen auf ausländische Vorbilder? Diverse Autoren stellen für das 19. Jahrhundert ein künstlerisches Gefälle fest zwischen der französischen und englischen politischen Druckgraphik auf der einen Seite und der Druckgraphik in den deutschsprachigen Gebieten auf der anderen. Ist die Art der Bezugnahme auf ausländische Vorbilder, wie sie in den hier aufgeführten Beispielen erfolgt, etwa ein Beweis fehlender künstlerischer Qualität und nationaler Eigenständigkeit der Karikatur im deutschsprachigen Raum? In der Sekundärliteratur wird diese Frage grösstenteils bejaht.10 Glücklicherweise bleibt es dem Historiker erspart, ein Urteil über den künstlerischen Wert solcher Darstellungen abgeben zu müssen. Und so kann er sich guten Gewissens mit schweizerischen und deutschen Druckgraphiken auseinandersetzen, auch falls sie tatsächlich minderen künstlerischen Werts sein sollten: Für den Historiker ist es spannend, festzustellen, dass in den germanophonen Gebieten Europas anscheinend ein Interesse an der ausländischen Druckgraphik bestanden hat. Ich wage zu behaupten, dass für dieses Interesse nicht bloss die allfällige Erkenntnis der künstlerischen Rückständigkeit der Schweizer und der deutschen Karikaturisten ausschlaggebend gewesen ist. Das Medium der Karikatur birgt nämlich ein unheimliches politisches Interventionspotential: In einer Verquickung von Bild und Text und überdies auf witzige Art verleiht es Überlegungen und Empfindungen Ausdruck, die in rein sprachlicher Form nur schwer veranschaulicht werden könnten. Der Karikaturist vollzieht also mit der Stellungnahme über das Bild einen politischen Akt. Dass in diesem Prozess die Verständlichkeit der Bildsprache höher gewertet werden muss als die Ästhetik ihrer Umsetzung, liegt auf der Hand. Daher darf gerade im Bereich der politischen Ikonographie und im Speziellen im Bereich der satirischen Druckgraphik eine bewusst geschaffene transnationale Dimension erwartet werden. Denn einerseits wurde der Föderalismusdiskurs in der Eidgenossenschaft wie in Deutschland (und übrigens ebenfalls in Frankreich oder in den nordamerikanischen Kolonien) immer auch in Anlehnung an und in Reaktion auf ausserhalb dieser Räume 10 Vgl. z. B. Brückmann (2007), S. 497 ; Kaenel Philippe, „La géographie de l’imagerie politique vers 1848“, in: Les révolutions de 1848. L’Europe des images, Zürich 1998; Pilz Georg, Geschichte der europäischen Karikatur, Berlin 1980; Reichardt Rolf, „Reproduktion und Transformation. Französisch-deutsche Wechselspiele in der politischen Bildpublizistik 1789-1830“, in: Jansen Isabelle, Kitschen Friederike, Dialog und Differenzen. 1789-1870. Deutsch-französische Kunstbeziehungen. Les relations artistiques franco-allemandes (=Passagen/Passages, Bd. 34), Berlin 2010, S. 203. 13 entstandene Referenzen geführt.11 Andererseits bestehen gerade in Bezug auf Bildprogramme sowie Sinn- und Bedeutungssysteme Bestrebungen zur Anlehnung an bereits Bestehendes,12 sei es durch bewusste Bezugnahme auf ausländische Vorbilder (wie etwa bei der Politischen Schaukel) oder durch die unbewusste Übernahme möglicherweise übernationaler Bildmotive (wie jenes des Hutes). So standen deutsche Karikaturisten in regem Austausch mit wichtigen Zentren der Karikatur wie London und New York, die Eidgenossen schauten nicht nur nach Berlin, sondern auch nach Paris.13 Umgekehrt etwa kommentierte man in Wien oder in London die deutsche Karikatur. Kann also von einer übernationalen politischen Bildsprache die Rede sein? Die im Rahmen dieses Vortrages analysierten Druckgraphiken scheinen dies zu bestätigen: Alle behandeln sie ein quasi lokales Thema mit einer global verständlichen Sprache, auf jeweils ganz individuelle Art und Weise. Bibliografie Artikel Bauerkämper Arnd, „Die Revolution von 1848/49. Gemeinsames Erleben und Scheitern in Europa?“, in: Hohls Rüdiger, Schröder Iris, Siegrist Hannes (Hg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005. Brückmann Remigius, „Fremde Federn. Nachahmung und Kopie englischer und französischer Vorbilder in der deutschen politischen Karikatur des Vormärz und von 1848/49“, in: Philippe Kaenel, Reichardt, Rolf (Hg.), Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert = The European print and cultural transfer in the 18th and 19th centuries, Olms 2007. Kaenel Philippe, „La géographie de l’imagerie politique vers 1848“, in: Les révolutions de 1848. L’Europe des images, Zürich 1998. Reichardt Rolf, „Interkulturelle Wechselbeziehungen der historischen Bildpublizistik als Forschungsaufgabe“, in: Kaenel Philippe / Reichardt Rolf, Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert, Hildesheim 2007, S. 316. Reichardt Rolf, „Reproduktion und Transformation. Französisch-deutsche Wechselspiele in der politischen Bildpublizistik 1789-1830“, in: Jansen Isabelle, Kitschen Friederike, Dialog und Differenzen. 1789-1870. Deutsch-französische Kunstbeziehungen. Les relations artistiques francoallemandes (=Passagen/Passages, Bd. 34), Berlin 2010, S. 203-222. Monografien Brandt Bettina, Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne (Historische Semantik, Bd. 10), Gögttingen 2010. 11 Kaenel 2009, S. 207f.; Reichardt 2007, S. 3. Kaenel (1998); vgl. auch Brückmann 2007. 13 Lammel, Gisold, Deutsche Karikaturen. Vom Mittelalter bis heute, Stuttgart 1995; Kaenel Philippe, Reichardt Rolf (Hg.), Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. Und 19. Jahrhundert, Hildesheim 2007; Reichardt (2010), S. 219. 12 14 Dettwiler Walter, Von linken Teufeln und heuchlerischen Pfaffen. Der Weg zur modernen Schweiz im Spiegel der Karikatur (1798-1848), Basel 1998. Kaenel Philippe, Reichardt Rolf (Hg.), Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. Und 19. Jahrhundert, Hildesheim 2007. Lammel Gisold, Deutsche Karikaturen. Vom Mittelalter bis heute, Stuttgart 1995. O. A., Konversations-Lexikon zum Handgebrauch oder encyklopädisches Realwörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Leipzig 1846. Pilz Georg, Geschichte der europäischen Karikatur, Berlin 1980. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Hess David, The Political See-Saw / Die politische Schaukel (1802), erschienen als Flugblatt, o. O., in: gallica.bnf.fr/ark:12148/bvt1b6953513h (Bibliothèque Nationale de France; 20.09.2012). Abb. 2: O. A., Wie kommen wir heraus? (1847), erschienen in: Der Postheiri. Illustrierte Blätter für Gegenwart, Oeffentlichkeit und Gefühl, Sohlothurn, in: Dettwiler Walter, Von linken Teufeln und heuchlerischen Pfaffen. Der Weg zur modernen Schweiz im Spiegel der Karikatur (1798-1848), Basel 1998, S. 65. Abb. 3: O. A., Germania und ihre Freier (1849), erschienen in: Eulenspiegel, Bd. 2, Nr. 42, in: Brandt Bettina, Germania und ihre Söhne. Repräsentation von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne (Historische Semantik, Bd. 10), Göttingen, 2010, Abb. 33. Abb. 4: Monogrammist EB, Germania – sich befreiend (1848), erschienen als Flugblatt, Leipzig, in: Brandt Bettina, Germania und ihre Söhne. Repräsentation von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne (Historische Semantik, Bd. 10), Göttingen, 2010, Tafel 19. Abb. 5: O. A., Alle unter Einem Hut (1849), erschienen in: Der Postheiri. Illustrierte Blätter für Gegenwart, Oeffentlichkeit und Gefühl, Solothurn, in: Dettwiler Walter Von linken Teufeln und heuchlerischen Pfaffen. Der Weg zur modernen Schweiz im Spiegel der Karikatur (1798-1848), Basel 1998, S. 69. Abb. 6: Schröder Ferdinand, Rundgemälde von Europa im August MDCCCXLI, in: http://www.europa.clio-online.de/site/lang__deDE/ItemID__83/mid__12048/40208233/Default.aspx (27.01.2013). Abb. 7: O. A., Deutschlands Zukunft (1870), erschienen im Kireriki, Wien, in: http://www.preussen-chronik.de/bild_jsp/key=bild_dollinger230.html (PreussenChronik; 20.09.2012) 15