Laban-Bewegungsstudien in der Psychomotorik
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Laban-Bewegungsstudien in der Psychomotorik
Grundlagen Laban-Bewegungsstudien in der Psychomotorik Ein Beitrag zur behandlungsbegleitenden Diagnostik Bettina Rollwagen r rei Jungen im Alter von 7 - 9 Jahren schlagen auf eine Trommel - grob gesehen die gleiche Aktion. Doch wie FREUD damals in der Entwicklung der Psychoanalyse gerade auf das Nichtintendierte, auf das scheinbar Nebensächliche schaute und darin die Manifestation des ganz Persönlichen, oft Unbewußten fand, so kann auch der/die Psychomotoriker/in, Motopäde/in eine Weise der genauen Bewegungsbeobachtung für die individuellen Details entwikkeln. Die Unterschiede lassen sich u.a. in der Bewegungsqualität, in Schattenbewegungen und in Nebenaktionen wahrnehmen. Rudolf LABAN hat eine Bewegungsanalyse entwickelt, die (in dieser Hinsicht) in der Psychomotorik angewendet werden kann. Die drei trommelnden Jungen, nach LABAN gesehen: Martin1: schlägt den Klöppel mit der Hand gerade, direkt und kräftig auf das Fell, während er im Rumpf und in den Beinen angespannt ist (kontrollierter Fluß nach R. LABAN) und Rumpf, Kopf, Augen sich ständig hin und her in verschiedene Richtungen bewegen (indirekte oder multifocus Bewegung nach Laban), als suche er etwas oder schaue, ob er beobachtet wird. Die ganze Aktion wird von einem direkten, geraden, kontrollierten Lächeln begleitet. Außerdem Arm 1 Die Namen der Kinder sind zur Wahrung der Anonymität verändert. und der Hand ist nichts an der Aktion „Trommeln" beteiligt. Hannes: besteht von oben bis unten aus Trommelschlägen. Angefangen vom breitbeinigen festen Stand vor der Pauke über das aktivierte Gewicht im Becken bis hin zu den kräftigen, direkten Schlägen im kontrollierten Fluß, Schlagen mit beiden Klöppeln auf das Fell. Dabei wird jeder Schlag von einem kräftigen, direkten „Ha!" begleitet. Man's languages and äs such must be consciously mastered." Rudolf Laban LABANS hauptsächliches Interesse galt dem Tanz als Form der Bewegung, die das Zusammenwirken der Verstandes-, Gefühls- und Geisteskräfte ausdrückt. Hierauf bezogen entwickelte er seine Studien und Theorien, in denen der Prozeß der Bewegung im Mittelpunkt stand. Diesen wollte er inhaltlich und formal beschreiben können. Felix: hält in jeder Hand einen Klöp- Mit Hilfe der Kategorien, die er durch pel und schlägt mit beiden Ar- Beobachtung fand, lassen sich das men gleichzeitig auf das Fell. Das Was (Körper/Aktion), das Wo Auffallendste ist: Es ist fast ein (Raum) und das Wie (AntriebsqualiWunder, daß die Klöppel auf dem tät/-Formqualität) von Bewegungen Fell landen, so indirekt im unkon- beschreiben und mit seiner „Labantrollierten freien Fluß sausen die notation" aufzeichnen. Arme nach oben und unten durch die Luft... Dabei hält er trotzdem Speziell in der Untersuchung von schwierige, selbst ausgedachte Arbeitsbewegungen konnte Laban Rhythmen in den Händen bei, feststellen, daß die gleiche Bewewährend er polyzentrisch in den gungsaufgabe von verschiedenen Füßen den Takt umsetzt, indem Individuen in unterschiedlichen Beer alternierend vom rechten auf wegungsqualitäten gelöst wird. In den linken Fuß tritt. Leicht ist sei- seiner durch den Tanz und Alltagsne Bewegung - er scheint fast beobachtungen entwickelten „Anüber dem Boden zu schweben - triebslehre" wurde deutlich, daß jeleicht und frei ist auch sein Lä- der Mensch biographisch und durch die Situation bedingte Präferenzen cheln. (Vorlieben) für funktionale und expressive Bewegungsorganisation Bewegungsstudien nach besitzt. Rudolf Laban Seine Antriebslehre ist nicht zu tren(* 1879 in Bratislava, 11958 in Lon- nen von seinen umfassenden Undon) tersuchungen über den Körperein„Movement is first and fundamental satz. Weiter entwickelte er eine in what comes forth from a human Raumharmonielehre, in der er Gebeing äs an expression of bis inten- setze der Anatomie und der Schwertions and experiences. It is one of kraft mit Erkenntnissen über geoPraxis der Psychomotorik • Jg.19(1) • Februar1994 19 Grundlagen Bewegungsfaktor und Antriebselemente (ankämpfend)! (erspürend) Subjektive Empfindung (Stimmung) einteilbarer Aspekt Objektive Funktion (Beobachtung) meßbarer Aspekt SCHWE RKRAFT Leichtigkeit leicht (oder mindere Grade bis schwer) Widerstand stark (oder mindere Grade bis schwach) Dauer lang (oder mindere Grade bis kurz) Geschwindigkeit schnell (oder mindere Grade bis langsam) Ausbreitung biegsam (oder mindere Grade bis fädig) Richtung gerade (oder mindere Grade bis wellig) metrische Formen und Beobachtungen über die Affinitäten der Raumnutzung in Verbindung brachte. Wenngleich ich auch in meiner Ausbildung erlebt habe, daß die Antriebslehre in ihrer Komplexität, aber auch in ihrer Alltagsnähe, erst in der eigenen bewußten, körperlichen und emotionalen Erfahrung durch die Bewegung nachvollziehbar und dann bei anderen beobachtbar wird, möchte ich sie dennoch in einer knappen Übersicht und damit in der Idee wiedergeben. fest zart ZE IT plötzlich allmählich RA JM direkt flexibel FLL SS gebunden frei Flüssigkeit flüssig (oder mindere Grade bis pausierend) Kontrolle stoppend (oder mindere grade bis nachlassend) Tabelle LABAN 1988, S. 84 Die Antriebslehre Die Antriebsqualität, innere Motivation oder Haltung wird in der Ausprägung der äußeren Bewegungsfaktoren (Schwer-)Kraft / Gewicht, Raum, Zeit, Fluß sichtbar. Dabei stellen die Faktoren Raum und Zeit die körperäußeren, Fluß und Kraft die inneren Faktoren dar. Die sichtbare Ausprägung verläuft graduell auf einer Skala von einer eher spürenden, sich hineinbegebenden Haltung bis zu einer komprimierten Ausprägung oder ankämpfenden Haltung zu dem Bewegungsfaktor. LABAN unterscheidet eine objektiv meßbare und eine subjektiv, psychosomatisch empfundene Komponente in den Bewegungsqualitäten: Die zwei Aspekte des Antriebs Diese acht Grundqualitäten tauchten in den verschiedensten Kombinationen auf, die dann die „Farbschattierungen" der Antriebsqualität verändern; z.B. eine kräftige, frei fließende Bewegung hat eine andere Qualität als eine Kräftige im gebundenen Fluß. Unvollständige Antriebsaktionen und drives Von den vier Bewegungsfaktoren ausgehend mit ihren jeweils zwei Polaritäten sind sechs unv. Antriebs- Bewegungsfaktor: erspürend hineingebend ankämpfend Kraft / Gewicht zart / leicht kräftig Zeit allmählich plötzlich Raum multifocus / flexibel einfocus / direkt frei/ fließend gebunden / kontrolliert Fluß 20 Wenn in einer Bewegung zwei Antriebsqualitäten ausgeprägt sind, nannte LABAN diese Bewegung und die dazugehörige innere Stimmung eine unvollständige Antriebsaktion (engl. state). Unvollständig (im folgenden abgekürzt: unv.) nannte er sie im Vergleich zu einer Bewegung, in der drei Antriebsqualitäten aktiviert sind, einem „Trieb" (engl. drive)1. Drives als sehr expressive Bewegungen mit starker innerer Beteiligung kommen im Alltag nicht ständig vor. In der Bewegungsbeobachtung wird man fließende Übergänge von einzelnen Antriebsqualitäten zu drives, zu unv. Antriebsaktionen und so fort sehen2. Die Anzahl der gleichzeitig aktivierten Antriebsqualitäten spiegelt die Intensität der inneren/ äußeren Bewegung wieder. Praxis der Psychomotorik • Jg.19(1) • Februar 1994 aktionen mit je vier Konfigurationen möglich und vier drives mit je acht Konfigurationen. LABAN hat die unv. Antriebsaktionen und drives nach ihrer Grundstimmung benannt, die durch die beteiligten Bewegungsfaktoren (Schwer-) Kraft/Gewicht, Raum, Zeit, Fluß geprägt wird. Kraft - Fluß: träumerisch (dream state) Zeit-Fluß: mobil (mobil state) Raum - Fluß: fern/distanziert (remote state) Zeit - Raum: wach (awake state) Kraft- Raum: stabil (stabil state) Kraft - Zeit: nah (near state) Am Beispiel „wach" möchte ich die innere Differenzierung in den vier Konfigurationen verdeutlichen, wie sie für alle unv. Antriebsaktionen zutrifft: 1 Da der Begriff „Trieb" veraltet und zum Teil durch andere Theorien besetzt ist, behalte ich im folgenden den Ausdruck „drives" in englischer Schreibweise bei. 2 In der Notation werden die wechselnden unvollständigen Antriebsaktionen und drives in einer Bewegungsphrase mit einem Bogen zusammengefaßt. Grundlagen umgeworfen wurde, wich er zurück, lächelte verspannt und trat seinerseits nach den Kissen. wach (Zeit - Raum) kann sein: - plötzliche und umfassende1 plötzliche konzentrierte2 allmähliche umfassende allmähliche konzentrierte Bewußtheit (eine sichere oder unsichere) (zitiert aus LABAN, 1988, S. 86, wo auch die anderen inneren Zustände zu finden sind) Die drives hat LABAN wie folgt benannt: Raum - Zeit - Kraft Aktions-drive (Fluß ist nicht bedeutend) Raum -Zeit - Fluß Visions-drive (Gewicht ist nicht bedeutend) Raum - Kraft - Fluß Zauber-drive (Zeit ist nicht bedeutend) Zeit - Kraft - Fluß Leidenschafts-drive (Raum ist nicht bedeutend) Laban-Analyse Das auffälligste Bewegungsmerkmal war die Bewegungsqualität gebundener oder kontrollierter Fluß, öfter auch kombiniert mit Kraftfaktor kräftig ( = träumerisch). Martin steht ständig unter Kontrolle und hält sich von dem „geballten freien / unkontrollierten Fluß" der übrigen Gruppe fern. Mit Hilfe dieser Matrix aus sechs inneren Zuständen (mit je vier Konfigurationen) und vier drives (mit je acht Konfigurationen) lassen sich alle Bewegungen in ihrer Antriebsqualität beschreiben. von Irmgard BARTENIEFF (1962), Veronica SHERBORNE (1990), Janet HAMBURG (1988) und Marion NORTH (1972). Laban in der Praxis Über zehn Wochen habe ich eine Gruppe mit acht Kindern und einem Therapeuten mit der Methode der LABANSchen Bewegungsanalyse beobachtet, um ihren Nutzen als behandlungsbegleitende Diagnostik zu überprüfen. Als nicht-teilnehmende Beobachterin ist es einfacher, einen Prozeß systematisch und vollständig zu protokollieren. Aus den Protokollen greife ich hier nur Martin als Beispiel heraus. Seine Schülerinnen haben die Bewegungsstudien je nach ihrer Anwendung in den Bereichen Tanz, Theater, Physiotherapie, Tanztherapie, Bewegungserziehung und Sport, Ethnologie, Teamsupervision weiterentwickelt und vertieft3. Speziell zum Bereich der Psychomotorik und der Arbeit mit psychisch und körperlich behinderten Kindern liegen wichtige Ergebnisse vor, u.a. Martin im Prozeß 1. Stunde 1 „umfassend" entspricht hier dem RaumAntrieb „multi-focus" 2 „konzentriert" entspricht hier dem RaumAntrieb „ein-focus" 3 Die bekanntesten Schülerinnen sind u.a. Mary WIGMANN, Kurt JOST, Lisa ULMANN, Valerie PRESTON DUNLOP, Irmgard BARTENIEFF. Irmgard BARTENIEFF (1900- 1981), emigrierte als Jüdin 1933 aus Deutschland nach New York, wo sie die Bewegungsanalyse auch für den therapeutischen Bereich umsetzte. 1977 gründete sie das Laban Institute of Movements Studies, in dem seitdem 400 CMAs (Certificated MovementAnalysists) ausgebildet wurden. Als alle Kinder nacheinander in die Hängematte wollten und die Reihenfolge über einen Abzählreim bestimmten, war er der einzige, der „Nein" sagte und damit nicht in der Matte schaukeln wollte. In der ersten Beobachtungsstunde, Martins dritter Stunde in der neuen Gruppe, waren folgende Handlungen/Aktionen festzustellen: Er hielt sich meistens im freien Raum außerhalb der Gruppe auf. Er fuhr viel mit dem Rollbrett, indem er sich, rücklings sitzend, mit beiden Beinen von der Wand abstieß und sich ausrollen ließ. Anschließend trommelte er auf der Pauke, nachdem er Hannes hatte trommeln sehen. Er baute aus Kissen eine Art Turm. Als dieser von einem anderen Kind Ich interpretiere, daß ihn ihre „Unberechenbarkeit" ängstigt. Mit stabiler Färbung in der Stimme (kräftig-direkt ) bringt er vor allem sein „Nein" zu etwas vor. In der Verweigerung ist seine Intention gegenüber anderen sicher und eindeutig. Auf die Aggression eines anderen Kindes, nämlich die Zerstörung des Turmes, reagiert er mit Rückzug und Unsicherheit (kontrollierter Fluß indirekt = distanziert). Hier ist die Formveränderung: zurückweichen (retreat) als Antwort dominanter als die Antriebsqualität. Nach Beobachtung von Marion NORTH beweisen Kinder, die sich viel im träumerischen Zustand bewegen, oftmals hohe Kreativität (NORTH 1972, S. 196). Das trifft auf Martin insoweit zu, als er für sich allein aus Kissen ein Phantasiegebäude konstruiert. Auch in späteren Stunden hat er am meisten Spaß an der Konstruktion mit Materialien, aber immer für sich allein. Weiter fiel auf, wie lange er sich immer wieder von der Wand abstieß mit dem Rollbrett. Diese Aktion wird unter dem Aspekt eines homologusSchubs gesehen: In der Reihenfolge der Bewegungsmuster in der kindlichen Entwicklung sind die homologen Schübe, Praxis der Psychomotorik • Jg.19(1) • Februar 1994 21 Grundlagen „push-patterns"1 Vorbedingung zu den späteren kontralateralen „reachpatterns"2 (vgl. zu der Abhängigkeit B.B. COHEN 1984, S. 30ff). In unserem Zusammenhang ist diese Musterabfolge in der Verbindung mit der Etablierung oder Erfahrung der eigenen Kinesphäre3 wichtig. In den „push-patterns" (auch den homolateralen, die den homologen folgen) wird die Bewegung distal initiiert (Hände oder Füße), und der Abdruck wird zur Körpermitte geleitet, trifft die Körpermitte und schiebt so den ganzen Körper vorwärts: Neben der wichtigen propriozeptiven Rückmeldung, daß das Kind seinen Körper spürt (Knochen, Muskeln etc.), erfährt es auch die Peripherie der Kinesphäre als fest/stabil und den Abstand von der Peripherie zur Körpermitte. Beides trägt zur Etablierung des Selbst incl. des persönlichen Umraumes bei. Ist die eigene Kinesphäre etabliert, kann das Kind sicherer aus dieser herausreichen zu Objekten und Personen, die sich außerhalb der Reichweite aufhalten. Wenn Martin die homologen „push-patterns" aufsucht, befindet er sich in seiner Entwicklung bei der Etablierung seiner Kinesphäre. Martin muß sich noch viel selbst spüren, bevor er den Kontakt mit den anderen aufnehmen kann. Das Trommeln als eine direkte, kräftige Bewegung (= stabil) mit lautem Effekt macht ihm Spaß. Doch gleichzeitig sichert er sich in seinen indirekten, kontrollierten (= distanziert) Oberkörperbewegungen ab, im multi-focus den Raum beobachtend. Erwartet er von irgendwo einen Eingriff, ein Verbot? Nach dieser ersten Stunde werde ich besonders darauf achten, in welchen Situationen Martin in den freien Fluß gelangt, bzw. in innere Zustände und drives, die für ihn neu sind. Es ist nicht Ziel, daß jedes Kind alle unv. Antriebsaktionen und drives ständig aktiviert, denn die verschiedenen Charaktere haben verschiedene Vorlieben und Stärken. Dennoch ist die Erfahrung: Je weiter die Palette der möglichen Kombinationen ist, desto vielseitiger und angemessener kann ein Kind in verschiedenen Situationen agieren und reagieren, und desto integrierter sind seine verschiedenen Emotionen (vgl. BARTENIEFF 1986, S. 53). 2. Stunde Zu Beginn der zweiten Stunde regte der Therapeut ein Spiel an, in dem es galt, in Bauchlage vom Rollbrett einen Ball vom eigenen Spielfeld (Hälfte des Raumes) an die gegenüberliegende Wand zu werfen, was die vor der Wand rollende zweite Mannschaft im gegnerischen Feld verhindern mußte. Hier trat zum ersten Mal freier Fluß und aktivierter Zeitantrieb in Martins Bewegungen auf. Jeden Treffer beantwortete Martin mit einem plötzlichen kräftigen Schütteln der Hand im freien Fluß (= Leidenschafts-drive) und begleitete diese kleine Bewegung mit einem plötzlichen, kräftigen, freien „Ja!" in der Stimme (= Zeit, Kraft, Fluß = Leidenschaftsdrive). Auch das Auftauchen eines drives, einer Kombination von drei Antriebsfaktoren, die eine intensive innere Partizipation an der Situation / Bewegung und hohe Expressivität bedeuten, war bei Martin neu. 1 In diesen „push-patterns" drückt sich das Kind mit den Füßen oder Händen von einem Widerstand, zuerst meist der Fußboden, ab. 2 In den „reach-patterns" reicht das Kind zu einem Objekt hin, daß außerhalb seiner eigenen Kinesphäre liegt und eine Person oder ein Gegenstand sein kann. 3 Die anatomische Kinesphäre ist nach LABAN der persönliche Umraum, den eine Person mit Händen und Füßen erreichen kann, ohne ihren Standort zu verlassen. 22 Nach einer Weile modifizierte der Therapeut das Spiel. Es wurde ohne Rollbretter (festgelegter Umraum) und im aufrechten Stand nach den gleichen Spielregeln gespielt. Jedes Kind durfte hin- und herlaufen, nur das eigene Spielfeld nicht verlassen. Martin bewegte sich direkt im eigenen Feld, aber auch im extrem kontrollierten Fluß (= fern/distanziert). Praxis der Psychomotorik • Jg.19(1) • Februar 1994 War er im Ballbesitz und in der Möglichkeit eines Wurfes, zögerte er sehr lange, mit Seitenblicken auf den Therapeuten, ob er nicht den Ball abgeben sollte, was er auch öfter tat. Wenn er warf, dann nicht im Aktions-drive (= plötzlich, kräftig, direkt), was funktional das Beste für einen Wurf wäre, sondern direktkontrolliert (= fern/distanziert). Es traten auch keine plötzlich-direkten (= wacher Zustand) Fangbewegungen zum Ball gewendet auf. Jeder Treffer der eigenen Mannschaft (selten durch ihn) beantwortete er jetzt mit einer ganzkörperlichen Homologus-Bewegung, indem er mit beiden Füßen absprang und dabei beide Arme im Leidenschaftsdrive hochriß, wieder von einem „Ja!" begleitet. Doch diesmal war der Leidenschafts-drive in Konfiguration mit gebundenem statt mit freiem Fluß. Der Kontakt mit anderen war über den geordneten Raum und die Regeln möglich. Aber im Gegensatz zu den anderen Kindern, denen der Spaß an dem Spiel und den Bewegungen Werfen, Fangen, Laufen selbst wichtig und im freien Fluß deutlich war, war für Martin der Treffer das deutliche Ereignis, das er im Leidenschafts-drive genoß. In den großräumigen Bewegungen selbst, in der Möglichkeit eines Wurfes und damit eines Treffers oder Fehlwurfes blieb er eher zurückhaltend, distanziert. Im weiteren Verlauf der Stunde holte sich Martin auf dem Rollbrett wieder seine „pushs" von der Wand, so oft er konnte. Dabei interessierte ihn nicht, was die anderen derweil machten. Im letzten Teil der Stunde nahm er wieder insoweit Kontakt auf, als er aufmerksam leicht-direkt (= stabiler Zustand) die Kinder beobachtete, die in dem Gurtpendel4 über einen Seitgalopp als Anlauf in ein kreisendes Fliegen gelangten. Bei seinem Versuch, es ihnen nachzu- 4 Ein elastischer Polstergurt ist an einem stabilen Haken an der Decke befestigt. Mit Anlauf können die Kinder, wenn sie sich in den doppelten Gurt setzen, im Kreis schwingen-fliegen. Grundlagen Das Gewicht des Jungen ist nicht richtig aktiviert. Der gebundene Fluß ist stärker. Gebunden multifocus, plötzlich ist diese Bewegung im Visionsdrive. Aber sein Lachen ist plötzlich kräftig, frei im Leidenschaftsdrive. tun, scheiterte er mehr oder weniger, da er den Seitgalopp (eine homolaterale Bewegung) nicht beherrschte und sein Gewicht nicht in das elastische Band gab. Insgesamt dominierte in dieser Stunde immer noch der kontrollierte Fluß in seinen Bewegungen. In der Gruppeninteraktion war für ihn Wettkampf und Erfolg das Wichtigste. rapeut spielte, reagierten die Kinder auf die verschiedenen Tempi und Farben mit großräumig unterschiedlichen Bewegungen. Martin federte/ wippte jeweils leicht/frei-gebunden mit dem Fuß oder der Hand im Takt mit (= träumerischer Zustand). Anschließend durften alle Kinder selbst auf dem Akkordeon spielen. Martin hatte ein leichtes, freies Lächeln (= träumerisch) auf den Lippen, als er leicht, direkt, plötzlich oder direkt, plötzlich (= Aktions-drive, wach, Aktions-drive) mit dem Finger die Tasten anschlug. So tauchte zum ersten Mal der wache innere Zustand in der Konfiguration direktplötzlich auf, der in der letzten Stunde auch beim Ballspiel nicht aktiviert worden war. Hier wurde er im Zusammenhang mit dem Element Musik möglich. Nach Musik im Walzertakt kreiselten die Kinder bäuchlings auf dem Rollbrett liegend. Martin stieß sich mit dem gewohnten „push" jeweils mit einer Hand ab, bis er plötzlich kräftig, fragend-indirekt rief: „Mir ist schwindelig?" Als der Therapeut mit ihm sprach, ob sich das schlimm anfühlt, wußte er nichts zu sagen. Aber kurz darauf, als der Therapeut zur nächsten Übung musizierte, ließ Martin sich rückwärts mehrmals hintereinander auf ein Kissen fallen. Neu in der Stunde war, daß er Ablehnungen nicht mehr als stabile Antriebsaktion in der Konfiguration: kräftig-direkt, sondern in einem indirekten-leichten „No" vorbrachte und sich auch umstimmen ließ. Dagegen erfolgte zweimal eine Zustimmung im direkten-kräftigen „Ja". Auf dem Rollbrett bewegte sich Martin mit einer anderen Phrasierung von kräftigem, direktem Abstoß mit den Armen und indirekter freier Schwungphase der Arme (= stabil/ distanziert). Als er in der Hängematte schaukelte, die er in seiner dritten Stunde kategorisch abgelehnt hatte, wippte sein Fuß, der aus dem Tuch hing, im freien Fluß, ein Zeichen dafür, daß er das Schaukeln jetzt genießen kann. Am Ende der Stunde fragte Martin, ob er einen Witz erzählen darf. Er steht vor der ganzen Grup- 3. Stunde In der dritten Stunde brachte der Therapeut sein Akkordeon mit, auf das Martin sehr ansprach. Sofort, als dieser zu spielen begann, wippte er am Rand auf einer Bank sitzend mit einem Fuß in Flußfluktuation (gebunden-frei-gebunden-frei etc.) leicht mit (= träumerisch), während die anderen ihrem Tobe- und Bewegungsdrang nachgingen. Als der Therapeut ein Fangspiel mit Musik und einem Boot (Matte in der Mitte) vorschlug, ernannte sich Martin zum Kapitän des Bootes und nahm sogleich am Kopfende der Matte Platz. Das brachte ihn in die Lage, zum einen nicht mit den anderen in einem gemeinsamen Raum im freien Fluß laufen zu müssen, zum anderen in dem gemeinsamen Raum „Boot", in das alle beim Musikstop stürzten, Anweisungen geben zu können. Während der The- Das stehende Mädchen besitzt im Körper eine direkte kräftige, also stabile Antriebsaktion, doch Hand und Gesicht sind im gebundenen Fluß. Sie ist präsent im Raum, steht aber unter irgendeiner Anspannung. Das sitzende Mädchen hat nur passives Gewicht. Zeit, Raum, Fluß spielt keine Rolle. Sie ruht sich, in sich gekehrt, aus. Der hängende Junge hat passives Gewicht im freien Fluß, ist im träumerischen Zustand. Er genießt den passiven Schwung seines Körpergewichts. Sein Gesicht leicht frei spiegelt den gleichen träumerischen Zustand. Praxis der Psychomororik • Jg.19(1) • Februar 1994 23 Grundlagen wer jetzt den Schlegel haben will und übergibt leicht-direkt (= stabil) den Schlegel an ein Kind. Dann konstruiert er mit kräftigen direkten Bewegungen (= stabil), die sehr präzise sind, mit Matten und einem Trampolin einen Sprungparcours. Er läßt sich vom Trampolin in die Kissen fallen und neckt andere in leichtemdirektem Ton (= stabil) „Angsthase, Pfeffernase", wenn sie nicht springen mögen. Das Mädchen in rosa geht im zurückhaltenden, distanzierten Aktionsantrieb mit der Bank um. Im Gesicht und Körper ist die Bewegung gebunden, direkt. Das Mädchen in der Mitte ist in der Körperbewegung auch direkt und gebunden (distanziert). Aber ihr Lachen ist kräftig, direkt und gebunden=Zauberdrive. Das Mädchen im weißen T-Shirt schiebt im Aktionsdrive, kräftig, direkt, andauernd. Ihr Lachen ist leicht, frei, allmählich im Leidenschaftsdrive. Der Einfocus-Blick ist auf ihre Freundinnen gerichtet. pe und erzählt den anderen zwei Witze. Dabei hält er die rechte Hand im gebundenen Fluß in der Hosentasche oder schüttelt sie mit Flußfluktuation und plötzlich (= Zeit + Fluß = mobil!). kleinen Schritten ersetzt. Als er das Band verläßt und zur Trommel geht, pendeln seine Arme im freien Fluß. Er schlägt auf die Trommel, vor der er breitbeinig steht, direkt, kräftig, plötzlich (= Aktions-drive). Sein ganzer Körper ist an der Aktion ungeteilt beteiligt, und er ruft zu jedem Schlag „Ha!". Nach einer Weile dreht er sich zu den anderen um und fragt kräftig, direkt ( = stabil) in den Raum, Im letzten Teil der Stunde, in der gleichzeitig ein Ballspiel gespielt und das Gurtpendel von einzelnen Kindern benutzt wird, paßt Martin darauf auf, daß die anderen ihm den Platz lassen, den er zum kreisrunden Fliegen braucht. Aber als er fertig ist, fragt er, wer als nächstes schwingen will und beteiligt sich am Spiel der anderen. Beim Fliegen am Band hatte er die Augen geschlossen und lächelte frei-leicht (= träumerisch). Zusammenfassung der Beobachtungen In den zehn Stunden hat Martin andere als die ihm bekannten Antriebskonfigurationen, hat damit neue ReInsgesamt tauchen wesentlich mehr, aktions- und Handlungsmöglichkeiwenn auch kleine Bewegungen, im ten erfahren. Seine Präferenzen liefreien Fluß auf. Der wache und der gen eindeutig in den stabilen und mobile Zustand sind zum ersten Mal den träumerischen Antriebsaktioaktiviert worden. Ersterer im Zunen. Aber gerade im träumerisammenhang mit Musik, der anschen Zustand war er zu Beginn dere in einer Kontaktaufnahme vorwiegend in der Konfiguration zu den anderen, während des gebunden-kräftig verhaftet, was Witze-erzählens. Starke Stimulaeher einem unangenehm-düstetionen des Vestibulärsystemes ren Gefühl entspricht, während er sind nicht mehr angstbesetzt, sich nach zehn Stunden oft in der werden im Gegenteil lustvoll erKonfiguration frei-leicht (erhaben, lebt (schaukeln, drehen, fallen). froh) bewegt. Erfindet individuelle Schutzmaßnahmen, wenn er sich, wie auf Die Zunahme von freiem Fluß der Matte, mit den anderen eiging mit der wachsenden Lust an nen Raum teilen muß. der Stimulation des Vestibulärsystems einher. Freier Fluß und die 10. Stunde Fähigkeit, seine Kinesphäre in dem gemeinsam geteilten Raum Am Anfang der 10. Stunde läuft Martin im freien Fluß durch den zu behaupten, wuchsen parallel. In der Kommunikation mit den Raum und rangelt mit Hannes. Als erstes fliegen die Kinder mit anderen verwendete er öfter stabile als mobile Antriebsaktionen, dem Gurtpendel. Martin hat inin seiner eher dirigierenden, lenzwischen gelernt, sein Gewicht ins Gummiband hineinzuhängen. Dies Mädchen hat keinen Gewichts-, Raum-, kenden Art. Er stellte aber zuDen Seitgalopp hat er nicht er- Zeitantrieb. Sie reagiert auf ihre Angst mit nehmend gerne seine Fähigkeiten anderen zur Verfügung. lernt, sondern ihn durch Laufen in hoch gebundenem Fluß. 24 Praxis der Psychomotorik • Jg. 19(1) • Februar 1994 Grundlagen Ergebnis und Anwendung 1 Die BARTENiEFF -l_ABANSchen Beobachtungskriterien ermöglichten eine differenzierte Beschreibung auch schon kleiner Veränderungen. Die Kategorien des äußerlich Beobachtbaren deuten schon auf die Entwicklung des inneren Erlebens. Diese nicht-teilnehmende Beobachtung hat mir noch einmal deutlich gemacht, warum ich gern mit diesen Kriterien arbeite. Zum einen fasziniert es mich zu sehen, wie der Einsatz von Musik, die ja neben Melodie und Rhythmus auch „Antriebsqualität" und Farbe besitzt, die Kinder unterstützt. Verschiedene Musiken können die Antriebsqualitäten der Bewegungen erweitern und auch gezielt andere unv. Antriebsaktionen und drives aktivieren. Zum anderen kann ich mit dieser Theorie einfach beobachten, wie sich ein Kind bewegt, ohne ständig in die Polarität von richtig/falsch oder krank/-gesund zu geraten. In meinem Sportstudium (ausgenommen im Schwerpunktfach SpielMusik-Tanz) wurden wir in der Beobachtung immer auf die Abweichung von der „richtigen Norm" geschult, ohne sehen zu lernen, wie jedes Kind sich individuell organisiert. Mein Eindruck ist, daß auch in der Diagnostik als Teil unseres Gesundheitswesens die Sichtweise und das Vokabular des Fehlenden, des Krankhaften, der Dysfunktionen vorherrscht. In diesem Zusammenhang erlebe ich, daß mir die „Labanaugen" eine positive Sichtweise auf die Qualität, die da ist, und nicht nur auf das, was fehlt, eröffnet hat, und ich die Vielfältigkeit der kindlichen Ausdrucksweisen nebeneinander sehen kann. Dadurch eröffnen sich mir viele personenspezifische Interventionsmöglichkeiten. In meinen Gruppen wende ich die Laban-Bewegungsstudien in mehrfacher Weise an. 1 Irmgard Bartenieff, siehe Anm. oben S. 7. Sie ermöglichen mir zwischen den Bewegungsstunden, dem Prozeß des Kindes folgend, eine gezielte Auswahl von bekannten Kinderspielen, Übungen, Musikstücken zu treffen. Die Spiele etc. lassen sich mit Hilfe der Kriterien von Antrieb, Raum, Formung, Körperorganisation genauer analysieren, welchen Entwicklungsstand, welche Veränderungen sie direkt oder vermittelt unterstützen. Die LABAN-Notation, bestimmte Kürzel, ich nenne sie „Bewegungs-Steno", verwende ich, um Bewegungsbeobachtungen schnell zu notieren. Desweiteren kann ich mit Hilfe der Bewegungsstudien Spielideen der Kinder gezielter aufgreifen und mit ihren Bewegungspräferenzen arbeiten. Im Spiel äußern die Kinder direkt auf der Bewegungsebene ihre Bedürfnisse und Notwendigkeiten, wie ja auch Martin von sich aus den Homologus Schub und die Baumaterialien aufsuchte. Dazu ein anderes kurzes SituationsBeispiel aus meinem Unterricht, ohne hier auf den ganzen Zusammenhang einzugehen: Ein vierjähriges, hochaufgeschossenes Mädchen besitzt keine Antriebsqualität kräftig. Mit ihrer piepsigen Stimme bewegt sie sich diffus und fast schwebend, ohne Gefühl für ihre Kinesphäre, durch den Raum. Die anderen Kinder nennen sie schon die Fledermaus. Das Kind erzählt sehr gerne Märchen. Als sie mit mir Froschkönig spielen wollte, griff ich diese Idee auf. Der Froschsprung ist ein Homologus Schub, wie sie ihn u.a. dringend braucht: zur Verbesserung des Bodenkontakts, der Antriebsqualität kräftig und der Etablierung ihrer Kinesphäre. Hier konnte ich, aus dem Spiel heraus, mit ihr dieses Bewegungsmuster praktizieren. So gibt es ständig Situationen, in denen man auf dem Hintergrundwissen der LABAN-Bewegungsstudien, das Verhalten und die Bewegungen des Kindes besser verstehen und direkt darauf reagieren kann. Literatur Irmgard Bartenieff: Effort Observation and Effort Assessment in Rehabilitation, New York 1962 Irmgard Bartenieff/Doris Levis: Body Movements, Coping with Environment, New York 1986 Bonny B. Cohen: Perceiving in Action. On the Developmental Process underlying Perceptual-Motor-Integration, in: Contact Quarterly, Northhampton 1984, H. 1 Janet Hamburg: Laban Bases Movement Activities for Children with Sensiomotor Dysfunction, nur erhältlich als kommentiertes Videoband und in unveröffentlichten Manuskripten 1988 Rudolf Laban: Die Kunst der Bewegung, Wilhelmshaven 1988 Marion North: Personality Assessment through Movement, London 1972 Veronica Sherborne: Developmental Movement for Children, Mainstream, Special Needs and Preschool, Cambridge University Press 1990 Wer mehr über die Laban-BartenieffBewegungsstudien erfahren möchte oder an Fortbildungen interessiert ist, kann sich an folgende Adressen wenden: Eurolab, Verband für Laban/BartenieffBewegungsstudien e. V. Karl-Marx-Straße 58, 12043 Berlin Anschrift der Verfasserin Bettina Rollwagen, Dipl. Sportlehrerin, CMA Schwerpunkt: Rhythmik, Tanz, Psychomotorik, Primär- und Sekundärprävention im orthopädischen Bereich Glockenblumenweg 12 22529 Hamburg - Anzeigen - Urlaub Sommer 1994. Motopädin für 6-Jährigen mit Muskelhypotonie, Wahrnehmungsstörungen gesucht. Erfolge mit Sl. Haus mit Garten Nähe Wien. K. Zillinger, Bürgthalstr. 10, A-2215 Raggendorf, Österreich Fallschirm für Psychomotorik, Fallschirmkappe, weiß, rund, 7 m DM 345,00. Huhmann 0 40 / 7 35 47 15 Praxis der Psychomotorik • Jg. 19(1) • Februar 1994 25 L 2949 F Praxis der Psycho motorik Zeitschrift für Bewegungserziehung mit MOTOPÄDE - Organ des Dt. Berufsverbandes der Motopädinnen /Mototherapeutinnen DBM e. V. 19. Jahrgang (ISSN 0170-060X) Heft l Februar 1994 Gezielte Raumgestaltung ermöglicht die Anregung der Sinne Abenteuersport: „Wir holen den Urwald in die Turnhalle!" Raum als Erfahrungsfeld der Sinne