Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout

Transcription

Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 38
Nikola Tietze
Soziologie und Verschwörung
Plädoyer für die konflikttheoretische Erweiterung der Soziologie der
Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik
Mittelweg 36 4/2013
In John Le Carrés Roman Marionetten stellt der deutsche Nachrichtendienstler Günther Bachmann für sich und seine Kollegen aus
der Spezialeinheit »Hintergrund« fest: »Wir sind keine Polizisten, wir
sind Spione. Wir nehmen unsere Zielperson nicht fest.« Und mit Blick
auf eine solche Zielperson erklärt er dann: »Wenn Abdullah nicht zu
einem bekannten Netzwerk gehört, sorge ich persönlich dafür, daß er
sich einem anschließt. Und wenn es sein muß, erfinde ich ein Netzwerk ganz für ihn alleine.« 1 Das Zitat spielt auf die Verschwörung an,
von der in Le Carrés Marionetten die Rede sein wird und die sich nach
den Terroranschlägen von 9/11 in Hamburg angesiedelt findet. Wie
man an diesem Spionageroman zeigen kann, besteht eine Verschwörung in aller Regel darin, dass ein Kollektiv – bei Le Carré die Berufsgruppe der staatlichen Geheimdienstler – in verdeckter Weise eine
Wirklichkeit konstruiert, um dadurch Einfluss auf die Ordnung der
gesellschaftlichen Beziehungen auszuüben.
Verschwörungen und die ihr korrespondierenden Wirklichkeitskonstruktionen zu thematisieren, ist – wie Luc Boltanski in seinem
jüngsten Buch Énigmes et complots. Une enquête à propos d’enquêtes darlegt – konstitutiv für das Genre des Spionageromans. 2 Es führt vor,
dass eine offizielle und sichtbare, wiewohl ungesicherte Wirklichkeit
mit einer verdeckten, aber tatsächlich erfahrenen Wirklichkeit konkurriert. 3 Laut Boltanski stellt der Spionageroman im Hinblick auf
diese Konkurrenz mit literarischen Mitteln vergleichbare Fragen wie
die Soziologie mit sozialwissenschaftlichen Mitteln: Wo wird Wirklichkeit tatsächlich konstruiert? Wer handelt wie, um Wirklichkeit aufrechtzuerhalten? Bei wem liegt die Macht, die dafür sorgt, dass die
Wirklichkeit so ist, wie sie ist?
Der Spionageroman bearbeitet diesen Fragekatalog mithilfe des
Topos der Verschwörung: Indem er konkurrierende Wirklichkeiten enthüllt und die Protagonisten derartiger Wirklichkeitskonstruktionen
1
John Le Carré, Marionetten, Berlin 2009, S. 281.
2
Luc Boltanski, Énigmes et complots. Une enquête à propos d’enquêtes, Paris 2012; siehe
auch Désirée Waibel, »Wir sind doch alle Detektive. Luc Boltanski ermittelt über die Politik
der Ermittlung«, in: Süddeutsche Zeitung, 4.2. 2013, S. 12.
3
Boltanski, Énigmes et complots, S. 179.
38 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 39
Mittelweg 36 4/2013
benennt, identifiziert er wirklichkeitskonstruierende Mächte. 4 Inwieweit arbeitet auch die Soziologie mit dem Topos der Verschwörung,
wenn sie Wirklichkeitskonstruktionen als mögliche oder unmögliche
Ordnungen gesellschaftlicher Beziehungen untersucht und die Macht
oder Ohnmacht solcher Wirklichkeitskonstruktionen wie ihrer Protagonisten enthüllt? Aber gerät die Soziologie hierbei nicht in ein verschwörungstheoretisches Dilemma? Ein Dilemma, das darin besteht,
entweder eine Verschwörungstheorie wissenschaftlich zu bestätigen
und zu entlarven, wie bestimmte Gruppen eine herrschende Ordnung
unterlaufen, oder aber die sichtbare, offizielle Wirklichkeitskonstruktion zu reproduzieren und damit die herrschende Ordnung zu stabilisieren.5
Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen, indem ich die
französische Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der
Kritik – die sozialtheoretischen Ansätze, in deren Horizont Boltanskis
Arbeiten seit den 1980er Jahren stehen – in den Blick nehme. Meine
Betrachtung wird zu dem Schluss kommen, dass sich das verschwörungstheoretische Dilemma, in das soziologische Untersuchungen geraten können, nur auflösen lässt, wenn ein Konflikt den analytischen
und methodologischen Ausgangspunkt einer soziologischen Untersuchung bildet – und nicht das Problem der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Ordnung, dem die Soziologie der Konventionen,
der Rechtfertigung und der Kritik ihre Aufmerksamkeit schenkt.
Seit den 1980er Jahren haben die Soziologie der Konventionen,
die Soziologie der Rechtfertigung und die Soziologie der Kritik eine
pragmatischeWende in der französischen Gesellschaftswissenschaft eingeleitet, die bis dato maßgeblich sowohl durch einen – mit Raymond
Boudon wie auch Michel Crozier verbundenen – methodologischen
Individualismus als auch durch den – mit Pierre Bourdieu assoziierten – genetischen Strukturalismus geprägt wurde. Die pragmatischen
Soziologen gehen davon aus, dass es weder Strukturen noch Kapitalverteilungen oder individuelle Rationalitäten sind,die Handlung determinieren, sondern Situationen in ihrer Unbestimmtheit. Darüber
hinaus weisen diese pragmatischen Ansätze die Bourdieu’sche Unterscheidung zwischen praktischem Wissen (savoir pratique) und soziologischem Wissen (savoir savant) zurück. Sie setzen vielmehr voraus, dass
jede Person über die Kompetenz verfügt, die Angemessenheit (justesse)
einer Handlung bezüglich einer Situation selbst einzuschätzen, die
4
Vgl. das Interview »Théorie du complot, romans policiers, livres d’espionnage, paranoïa:
comment notre époque en est-elle venue à douter de la réalité? Le sociologue Luc Boltanski
a creusé la question«, in: Les Inrockuptibles, 5. Dezember 2012.
5
Siehe zum Verhältnis zwischen Verschwörungstheorie und Soziologie Boltanski, Énigmes
et complots, S. 319.
39 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 40
Gerechtigkeit beziehungsweise Legitimität (justice) einer Handlung zu
beurteilen und eine Interaktion zu kritisieren.6 Ihre Vorannahmen teilt
die Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik
weitgehend mit der Akteur-Netzwerk-Theorie, für die Autoren wie
Bruno Latour und Michel Callon stehen. Gleichwohl folgt die pragmatisch gewendete Soziologie weder der Hybridisierung der AkteurNetzwerk-Theorie von Natur und Gesellschaft, noch schließt sie sich
deren eindimensionaler Konzeptualisierung von Interaktion an.7 »Auf
der Basis einer strikt netzförmigen Beschreibung«, merkt Boltanski
kritisch an, »wird es schwierig, zwischen einem Arbeitslager und einem
Ferienlager zu unterscheiden«. 8
Inwieweit die Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung
und der Kritik in ihren Untersuchungen auf den Topos der Verschwörung verwiesen ist und deshalb Gefahr läuft, in ein verschwörungstheoretisches Dilemma zu geraten, soll in drei Schritten überprüft
werden: Der erste Schritt besteht darin, sich der Grundannahmen dieser pragmatischen Ansätze zu vergewissern und ihr Verständnis von
Wirklichkeitskonstruktion nachzuzeichnen. Es geht hier darum, die
zentrale Problemstellung der Konventions- und Rechtfertigungssoziologie wie auch der Soziologie der Kritik – nämlich die Frage nach möglicher beziehungsweise unmöglicher Ordnung – herauszuarbeiten. Im
zweiten Schritt werden drei Konzepte dieser Ansätze – namentlich die
interpretative Rationalität, die Konvention beziehungsweise Rechtfertigungsordnung und die Prüfung (épreuve) – eingehender betrachtet,
um den Mehrwert und die Grenzen dieser Ansätze auszuloten. Im dritten und abschließenden Schritt ist der Frage nachzugehen, ob eine
konflikttheoretische Erweiterung der pragmatischen Ansätze dem Verschwörungsproblem soziologischer Untersuchungen Herr zu werden
vermag.
I. Verschwörungstheorie und Wirklichkeitskonstruktion
Mittelweg 36 4/2013
Schon Karl Popper hatte in seiner Kritik am Historismus eine
Verbindung zwischen Verschwörung und Soziologie hergestellt. Diese
Verbindung, mit der sich Boltanski in Énigmes et complots unter anderem kritisch auseinandersetzt, 9 geht nach Poppers Urteil aus zwei
Eigenheiten der Soziologie hervor: Erstens würde die Soziologie ihre
6
Vgl.Marc Breviglieri/Claudette Lafaye /Danny Trom (Hrsg.), Compétences critiques et sens
de la justice. Colloque de Cerisy, Paris 2009.
7
Vgl. Frédéric Vandenberghe, »Structures, grandeurs et platitudes dans la nouvelle sociologie française«, in: Breviglieri/Lafaye/Trom (Hrsg.), Compétences, S. 375–387.
8
Boltanski, Énigmes et complots, S. 345 (Übersetzung NT).
9
Ebd., S. 325–332.
40 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 41
Mittelweg 36 4/2013
Untersuchungsobjekte totalisieren; sie postuliere Gruppen, Kollektive
und andere abstrakte Entitäten,ohne die Einzelhandlungen der Individuen und ihre Beziehungen untereinander zu berücksichtigen.Dadurch
verlöre die Soziologie die nicht intendierten, gleichwohl aber Gesellschaft formierenden Folgen des Handelns aus dem Blick. Zweitens bestünde in der Soziologie die Tendenz, gesellschaftliche Phänomene wie
Ungleichheit, Arbeitslosigkeit oder Krieg aus den Intentionen mächtiger Individuen oder Gruppen zu erklären. Folglich beruhe die soziologische Untersuchung auf der – nach Popper – falschen Vorannahme,
dass Individuen über die nötigen Ressourcen verfügten, um Kollektive
zu bilden und ihre Interessen und Bedürfnisse aufeinander abzustimmen. Exakt diese Vorannahme bezeichnet Popper als die »Verschwörungstheorie der Gesellschaft«.10 Es sind nun im Wesentlichen zwei
Punkte, die Boltanski gegen Poppers Kritik der soziologischen Methode
ins Feld führt: Die Fixierung des Blicks auf das individuelle Handeln
verschließe der Soziologie erstens die Möglichkeit, gesellschaftlichen
Wandel zu verstehen und zu erklären. Zweitens verkürze eine solche
Fixierung die Einigung zwischen Akteuren auf eine Form der Koordination, die ausschließlich den Prinzipien von Angebot und Nachfrage gehorcht. Demgegenüber beruhen Handlungskoordinationen,
so Boltanski, tatsächlich auf einer Vielfalt von Ordnungsvorstellungen
und nicht nur auf Marktlogiken und einer strategischen Antizipation wechselseitiger Interessen. 11
In Boltanskis Einspruch gegen die von Popper der Soziologie zugeschriebenen »Verschwörungstheorie der Gesellschaft« spiegeln sich
mehrere Prämissen der Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und Kritik wider. Worin bestehen diese Prämissen? Nach den hier
betrachteten pragmatischen Ansätzen vollzieht sich gesellschaftliches
Handeln stets in Situationen und im Kontext einer radikalen Unsicherheit. Es kommt aus der Koordination zwischen Akteuren zustande, die
ihrerseits über verschiedene Handlungsregime – man könnte auch
sagen Handlungsmuster – sowie über vielfältige Ordnungsvorstellungen verfügen. Je nachdem, wie die Akteure eine Situation definieren,wählen sie ein Handlungsregime.Boltanski unterscheidet zwischen
dem Handlungsregime der Gewalt, dem der Agape, dem der technischen Passung und dem der Rechtfertigung. Laurent Thévenot hingegen
110 Karl R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, München 1975, S. 119. Popper
definiert die Verschwörungstheorie wie folgt: »Diese Theorie behauptet, daß die Erklärung
eines sozialen Phänomens in dem Aufweis der Menschen und Gruppen besteht, die am Eintreten dieses Phänomens ein Interesse haben (dieses Interesse ist manchmal verborgen und
muß erst enthüllt werden) und die zum Zwecke seiner Herbeiführung Pläne gemacht und
konspiriert haben« (ebd.).
11 Vgl. Boltanski, Énigmes et complots, S. 330; Luc Boltanski/Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg 2007.
41 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 42
Mittelweg 36 4/2013
differenziert zwischen verschiedenen Regimes des Engagements, mit
denen sich die Akteure in eine Situation einbringen: im Engagement
des Vertrauten, der Planerfüllung oder der Rechtfertigung.12 Jedes
Handlungsregime beziehungsweise jedes Engagementregime impliziert für den Akteur bestimmte, gleichwohl vielfältige kognitive und
normative Maßstäbe. Die Soziologien der Konventionen, Rechtfertigung und Kritik gehen folglich davon aus, dass jeder Koordination
eine Pluralität ideeller Bezüge, Interessen und Bedürfnisse zugrunde
liegt. 13 Individuen verfügen – anders als Popper meint – also durchaus
über Ressourcen, dank derer sie sich jenseits von Marktlogiken und
strategischem Interessenkalkül einigen und Einzelhandlungen in kollektive Handlungen übersetzen. Über solche Ressourcen für die Handlungskoordination zu verfügen, heißt zugleich auch, dass Individuen
über Urteilskraft verfügen. 14 Sie besitzen die Kompetenz, Ideen zu
bewerten und zu hierarchisieren, sie können zwischen gegebenen
Ideen auswählen oder sie miteinander auf neue Weise kombinieren.
Es ist dieses Vermögen, das gesellschaftlichen Wandel ermöglicht und
begründet.15
In der deutschen Rezeption der Soziologie der Konventionen, der
Rechtfertigung und der Kritik wurde wiederholt angemerkt, dass die
pragmatischen Ansätze der französischen Soziologie die symbolische,
im Habitus der Akteure eingeprägte Gewalt gesellschaftlicher Machtstrukturen und institutionalisierter Ordnungen nicht berücksichtigten.
Folglich verlören die französischen Soziologen den Zwang und die Disziplinierung aus den Augen, die Machtstrukturen und Institutionen
auf die Urteilskraft und die Handlungen der Akteure ausüben.16 Nach
meinem Dafürhalten missachtet dieser Einwand allerdings das Verständnis von Wirklichkeitskonstruktion, auf dem der soziologische
Pragmatismus in Frankreich aufbaut.
12 Vgl. Luc Boltanski, L’amour et la justice comme compétences. Trois essais de sociologie de
l’action, Paris 1990; Laurent Thévenot, L’action au pluriel. Sociologie des régimes d’engagement, Paris 2006; Laurent Thévenot, »Die Person in ihrem vielfachen Engagiertsein«, in: Rainer Diaz-Bone (Hrsg.), Soziologie der Konventionen. Grundlagen einer pragmatischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2011, S. 231–253; Laurent Thévenot, »Organized Complexity.
Conventions of Coordination and the Composition of Economic Arrangements«, in: European Journal of Social Theory 4/4 (2001), S. 405–425. Luc Boltanski/Laurent Thévenot, »Die Soziologie der kritischen Kompetenzen«, in: Rainer Diaz-Bone (Hrsg.), Konventionen, S. 43–68.
13 Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung; François Eymard-Duvernay/Olivier Favereau/
André Orléan/Robert Salais/Laurent Thévenot, »Werte, Koordination und Rationalität: Die
Verbindung dreier Themen durch die ›Economie des conventions‹«, in: Rainer Diaz-Bone
(Hrsg.), Konventionen, S. 203–230.
14 Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung.
15 Luc Boltanski/Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003.
16 Vgl. Axel Honneth, »Verflüssigungen des Sozialen. Zur Gesellschaftstheorie von Luc
Boltanski und Laurent Thévenot«, in: WestEnd 5/2 (2008), S. 84–103, hier S. 94, 100–101; Lothar
Peter, »Soziologische Kapitalismuskritik ›back in‹«, in: Soziologische Revue 34/2 (2011), S. 145–
152, hier S. 151.
42 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 43
Mittelweg 36 4/2013
Die Frage, wie Wirklichkeit konstruiert wird, hat Boltanski vor allem
in seinen Büchern Soziologie und Sozialkritik und Énigmes et complots
bearbeitet.17 Hier bezieht er die skizzierten Grundannahmen der pragmatischen Ansätze auf das Problem der Macht und der Ordnung in
der Gesellschaft sowie auf die Rolle des Staates und die der Institutionen insgesamt. Seine Argumentation ist folgende: Die Wirklichkeit
muss der von sich aus unstrukturierten Welt ebenso abgerungen werden
wie die Handlungskoordinationen radikal unsicheren Situationen.
Es gilt also, die Wirklichkeit entgegen den Unwägbarkeiten und Unberechenbarkeiten der Welt zu definieren und zu konstruieren. Dies
geschieht, indem Ordnungen in der Gestalt von Konventionen (Regeln,
Institutionen, Recht und Kodierungen) festgelegt und abgesichert
werden. Die Wirklichkeitskonstruktion kommt Boltanski zufolge einer
übergeordneten und grundsätzlichen Handlungskoordination gleich,
in der die Zuständigkeitsbereiche von Handlungsregimes wie auch
der Bedeutungshorizont möglicher kognitiver und normativer Maßstäbe abgesteckt werden. Die daraus folgende Ordnung etabliert eine
Semantik, die festlegt, dass das, was ist, so ist, wie es ist.18 Diese semantische Funktion übt bei Boltanski, wie Tanja Bogusz gezeigt hat, die
Bourdieu’sche symbolische Gewalt aus, die zudem, wie geschlussfolgert werden kann, einer Foucault’schen Disziplinarmacht entspricht.19
Zugleich erlaubt diese Semantik, einem Sachverhalt, einem Ereignis,
einer Gruppe, einem Kollektiv oder einer abstrakten Entität Sinn zuzuschreiben. Insofern stellt die Wirklichkeit konstruierende Ordnung
für die Akteure kognitive und normative Formate bereit, die ihnen erlauben, Situationen zu definieren und Handlungen zu koordinieren.
In mancher Hinsicht erinnert Boltanskis Konzeptualisierung der
Wirklichkeit an Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von
Peter Berger und Thomas Luckmann.20 Wie die beiden Klassiker des
Sozialkonstruktivismus begreift auch Boltanski die Herstellung von
Wirklichkeit als einen permanenten Prozess, in dem Wissensordnungen objektiviert und stabilisiert werden. Allerdings versteht Boltanski
die Wirklichkeitskonstruktion insofern als einen im engeren Sinne
gesellschaftlichen Vorgang, als er den andauernden Objektivierungsund Stabilisierungsprozess von Wissensordnungen sowohl auf den
17 Vgl. Luc Boltanski, Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008,
Berlin 2010; Boltanski, Énigmes; Klaus Dörre/Tine Haubner, »Luc Boltanski, Soziologie und
Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008«, in: Soziologische Revue 34/3 (2011),
S. 395–400.
18 Vgl. Boltanski, Soziologie und Sozialkritik; Luc Boltanski, »Individualismus ohne Freiheit. Ein pragmatischer Zugang zur Herrschaft«, in: WestEnd 5/2 (2008), S. 133–149.
19 Vgl.Tanja Bogusz, Zur Aktualität von Luc Boltanski. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden
2010, S. 139.
20 Peter L.Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit [1966],
Frankfurt am Main 2001.
43 Soziologie und Verschwörung
Mittelweg 36 4/2013
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 44
Nationalstaat als auch auf die Mächte bezieht, die den Nationalstaat
infrage stellen.21 Auf der einen Seite etablieren und kontrollieren nationalstaatliche Institutionen, also etwa die Verwaltung und die Rechtsetzung, die gesellschaftsrelevantenWissensordnungen. Dadurch legen
sie letztendlich einen Rahmen für die möglichen (legitimen) kognitiven und normativen Formate fest, mit denen die Akteure Situationsdefinitionen vornehmen und ihre Interaktionen koordinieren können.
Von daher steht der Nationalstaat nach Boltanski für die offizielle und
sichtbare Wirklichkeit. Auf der anderen Seite vergegenständlichen
und verfestigen aber auch nationalstaatlich nicht eingehegte Mächte,
wie etwa der globalisierte Kapitalismus, finanzkapitalistische Netzwerke, Menschenrechtsbewegungen, religiöse Vereinigungen oder internationale Politikinteressen, mögliche Wissensordnungen in ihrem
kognitiven und normativen Potential. Diese Mächte konstruieren, so
Boltanski, eine verdeckte, dennoch aber erfahrbare Wirklichkeit. Aus
zwei Gründen bleibt die Wirklichkeitskonstruktion, für die der Nationalstaat einsteht, Boltanski zufolge prinzipiell ungesichert: erstens,
weil die Wirklichkeitskonstruktion die Welt in ihren Unwägbarkeiten
und Unberechenbarkeiten keineswegs vollständig aus sich verbannen
kann, und zweitens, weil sie von staatlich nicht einzuhegenden, aus
innerstaatlicher Perspektive betrachtet also verdeckten Wirklichkeitskonstruktionen herausgefordert wird.
Dass nationalstaatlich nicht kodifizierte Wirklichkeitskonstruktionen gleichermaßen ungesichert sind, interessiert Boltanski weder
in Soziologie und Sozialkritik noch in Énigmes et complots. Doch gilt
natürlich auch für die verdeckte Wirklichkeit, dass sie den Ungewissheiten der Welt abgerungen werden muss und durch die offizielle
Wirklichkeit bedroht wird. Das Bedrohungsszenario, das sich aus der
beidseitigen Unsicherheit ergibt, verweist auf Konflikte, die zwischen
konkurrierenden Wirklichkeitskonstruktionen entstehen können, und
damit auf das mögliche Legitimationsproblem jeder Wirklichkeitskonstruktion.
Die Spannungen zwischen staatlicher Wirklichkeit, verdeckter
Wirklichkeit und Welt lassen sich an Le Carrés Marionetten veranschaulichen: Das Projekt des eingangs zitierten Nachrichtendienstlers
Bachmann, einen gewissen Abdullah als Informanten in ein Netzwerk
einzuschleusen, konkurriert mit den Anstrengungen des britischen
und US-amerikanischen Geheimdienstes, eigene Wirklichkeitskonstruktionen durchzusetzen. Bei der Absicherung der nationalstaatlich
gesetzten Wirklichkeiten sind Bachmann wie seine Kollegen mit nationalstaatlich nicht eingehegten Wirklichkeiten konfrontiert – etwa
21
Vgl. Boltanski, Éngimes et complots.
44 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 45
mit dem globalisierten Finanzkapitalismus in der Figur des Privatbankiers Tommy Brue oder auch mit der überstaatlichen Geltung der
Menschenrechte, wie sie sich in der Figur der Anwältin Annabel Richter
verkörpert. Darüber hinaus gefährdet die unberechenbare Welt die Absicherung der staatlichen (deutschen, britischen und amerikanischen)
Wirklichkeitskonstruktionen – zum Beispiel in Gestalt der Gesundheit
des Flüchtlings Issa, den Bachmann als Köder für den potentiellen Informanten Abdullah einsetzt, oder in Gestalt der Emotionen, die sich
in der Dreiecksbeziehung zwischen Privatbankier, Anwältin und Flüchtling entwickeln.22 So kann Le Carré anhand des Plots, den er aus seinen
Romanfiguren komponiert, die Frage aufwerfen, wie sich eine Semantik zur Beschreibung der Welt (in Wittgensteins Worten, der Gesamtheit aller bestehender Sachverhalte) durchsetzt oder nicht durchsetzt.
Die am Ende etablierte Semantik entscheidet darüber, ob ein Sachverhalt überhaupt existiert oder nicht existiert, also zum Beispiel auch
darüber, ob Le Carrés Romanfigur Issa ein tschetschenischer Flüchtling, ein Muslim, ein islamistischer Terrorist oder der Anspruchsberechtigte auf ein dubioses Vermögen ist, das eine britische Privatbank
in Hamburg verwaltet und gegenüber der staatlichen Bankenaufsicht
verheimlicht. Dort, wo sich eine bestimmte Semantik durchsetzt und
Wirklichkeit konstruiert, entsteht eine kollektiv verbindliche Ordnung.
Und in dieser Hinsicht thematisiert Le Carré in Marionetten das Problem der Möglichkeit respektive Unmöglichkeit, Ordnung herzustellen
und durchzusetzen.
Mittelweg 36 4/2013
II. Die Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik
Die Möglichkeitsbedingungen sozialer Ordnung sind ebenfalls
zentraler Gegenstand der Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik. Doch um welche Art von Ordnungen geht es
diesen Handlungssoziologien? Um die Ordnungen der offiziellen und
sichtbaren Wirklichkeit oder um diejenigen einer verdeckten, wenngleich durchaus erfahrbaren Wirklichkeit? Enthüllen sie die Gründe
für die vorläufige und prekäre Natur von Ordnungen? Nehmen sie
implizit und ungewollt auf den Topos der Verschwörung Bezug, indem
sie Gruppen, Kollektive oder abstrakte Entitäten postulieren? Oder
stabilisieren ihre Analysen die offizielle staatliche Wirklichkeitskonstruktion? Bekräftigen sie gar die symbolische Gewalt und Disziplinarmacht staatlicher Wirklichkeitskonstruktion? Indem drei grundlegende
Konzepte der Soziologie der Konventionen, Rechtfertigung und Kritik – die interpretative Rationalität, die Konvention beziehungsweise
22
Vgl. Le Carré, Marionetten.
45 Soziologie und Verschwörung
Mittelweg 36 4/2013
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 46
die Rechtfertigungsordnung und die Prüfung (épreuve) – erläutert werden, soll diesen Fragen jetzt nachgegangen werden.
Die Gründe der vorläufigen und prekären Natur gesellschaftlicher
Ordnung aus handlungssoziologischer Perspektive zu enthüllen, fordert zunächst einmal dazu auf, die Rationalitäten derjenigen Akteure
zu untersuchen, die Ordnungen etablieren oder deren semantisches
Regelwerk befolgen. Die klassische Handlungssoziologie differenziert – soweit sie Max Weber folgt – zwischen zweckrationalen und
wertrationalen Handlungen. Zweckrationalität und Wertrationalität
werden dabei als alternative Orientierungen verstanden, die vor dem
Vollzug einer Handlung über deren jeweilige Ausrichtung entscheiden. Dieser Konzeption widersprechen die hier zur Rede stehenden
pragmatischen Ansätze. Sie gehen davon aus, dass die Handlung aufgrund radikaler situativer Unsicherheit auf interpretativer Rationalität basiert. Eine solche Interpretation strukturiert und evaluiert die
Unwägbar- und Unberechenbarkeiten einer Situation. Sie ist gewissermaßen das Deutungsinstrument, mit dem im Sinne des Pragmatismus
JohnDeweys Ziele und Mittel im Handlungsprozess ausgewählt werden.
Weder sozialisationsbedingtes Rollenverhalten und Habitus noch ein
der Handlung vorausgeschicktes strategisches Kalkül und normkonformes Verhalten entbinden den Akteur davon, die interpretative Rationalität einzusetzen. Deren Aufgaben sind: erstens eine Situation zu
definieren, zweitens im Hinblick darauf Personen und Objekte zu
qualifizieren sowie drittens in der Koordination den – vor dem Hintergrund der Gesamtheit bestehender Sachverhalte – zwangsläufig unvollständigen Sinn von Ordnungen zu ergänzen. Von daher leistet die
interpretative Rationalität, mit Thévenot gesprochen, eine Forminvestition (investissement de forme), die die Handlungskoordination erst ermöglicht. Dort, wo Akteure zudem die Gerechtigkeit (justice) oder Angemessenheit (justesse) einer Situationsdefinition, einer Qualifikation
oder einer Ordnung thematisieren, bringen sie ihre kritische Urteilskompetenz zum Ausdruck. Folgt man der Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik, macht sich Webers dualistische
Konzeption von Handlungsrationalität einer fragwürdigen Vereinfachung schuldig. Sie blendet aus, dass die Akteure eine Situation
deutlich komplexer auffassen und nach einem viel reicheren Kriterienapparat definieren.23 Situationsinterpretationen sowie -definitionen,
Personen- wie auch Objektqualifikationen und Sinnergänzungen von
Ordnungen sind vielmehr abhängig von unterschiedlichen Regimes,
die die Akteure für ihr Handeln (Boltanski) oder ihr Engagement in
der Welt (Thévenot) benutzen. Zwar spiegelt sich Webers Dualismus
23
Thévenot, L’action au pluriel, S. 91–92.
46 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 47
Mittelweg 36 4/2013
von Zweck- versus Wertrationalität auch in diesen Regimes wider, etwa
im industriellen Gemeinwesen oder im häuslichen Gemeinwesen des
Regimes der Rechtfertigung, doch verschwindet sie als eine prinzipiell
binäre Handlungsklassifizierung aus der soziologischen Betrachtung.24
Insofern durchbrechen die Soziologien der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik dank des Konzepts der interpretativen Rationalität
die problematische Verengung der soziologischen Untersuchungsperspektive auf die Nutzenmaximierung einerseits und auf die Absicherung normativer Integrität andererseits.25 Die Wirtschaftssoziologie
zum Beispiel gewinnt mit diesem Modell ein Untersuchungskriterium,
das wirtschaftliches Handeln, kulturelle Praxis und die sozialen Funktionen von Institutionen aufeinander verweist.26 Und für die Institutionssoziologie erschließt dieses Konzept einen Ansatz, der die normativen Erwartungen der Akteure und ihre Effizienzanforderungen an die
Ordnung gesellschaftlicher Beziehungen in einen Zusammenhang
bringen kann.
So gesehen braucht eine soziologische Analyse, sofern sie auf die
interpretative Rationalität ausgerichtet ist, den Topos der Verschwörung nicht. Die ausschließlich mikrosoziologische Fokussierung auf
die situationsbezogene Interpretation der Akteure und ihre Handlungskoordination kann die Konkurrenzen zwischen nationalstaatlicher
Wirklichkeitskonstruktion und verdeckten, nationalstaatlich nicht eingehegten Wirklichkeitskonstruktionen ausblenden. Sie muss derartige
Konkurrenzen nicht enthüllen. Allerdings verliert sie mit dem Topos
der Verschwörung auch die Tatsache aus dem Blick, dass die interpretative Rationalität der Akteure stets zeitlich und räumlich verortet ist.
Damit verschwindet im Fall der mikrosoziologischen Analyse von Situationsinterpretation und Handlungskoordination die Gesellschaft als
Bezugspunkt und Objekt der wissenschaftlichen Beobachtung von
Gesellschaft. 27
Unter konventions-, rechtfertigungs- und kritiksoziologischen
Gesichtspunkten wird Gesellschaft faktisch nur dort greifbar, wo Konventionen oder Rechtfertigungsordnungen die individuelle Situationsdefinition und lokale Handlungskoordination kollektiv vermitteln.
24 Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung; Danny Trom, »De la justification: un tournant
dans la sociologie compréhensive«,in: Breviglieri/Lafaye/Trom (Hrsg.),Compétences, S.392–393.
25 Zum Verhältnis zwischen Konventionssoziologie und dem Weber’schen handlungssoziologischen Ansatz vgl. Rainer Diaz-Bone, »The Methodological Standpoint of the ›économie des conventions‹«, in: Historical Social Research 36/4 (2011), S. 43–63.
26 Vgl. Rainer Diaz-Bone/Robert Salais, »Economics of Convention and the History of
Economies. Towards a Transdisciplinary Approach in Economic History«, in: Historical Social Research 36/4 (2011), S. 7–39; François Eymard-Duvernay, »Les enfants des cités en économie«, in: Breviglieri/Lafaye/Trom (Hrsg.), Compétences, S. 173–185.
27 Vgl. Boltanski, Énigmes et complots, S. 343.
47 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 48
Mittelweg 36 4/2013
Dabei sind Konventionen historisch herausgebildete und in jeder
Interaktionssituation sich weiterentwickelnde Muster oder Formate
für die Koordination. Sie bieten den Akteuren Lösungen für den Umgang mit der Unsicherheit einer Interaktionssituation an. Zugleich
werden sie ständig verändert, indem sie in der Handlungskoordination
zur Anwendung kommen.28 Es sind Regeln, die sich mit und durch
ihre Anwendung wandeln oder bestätigen können. Als solche sind
sie in Verhaltenskodizes und in bereits bestehenden Qualifikationen
sowie Wertmaßstäben eingelagert, freilich auch in Organisationsformen und in Institutionen wirksam. Demgegenüber enthalten Rechtfertigungsordnungen historisch und ideengeschichtlich sedimentierte
Vorstellungen über das Gemeinwesen, das die jeweils fokussierten
gesellschaftlichen Beziehungen bilden sollen. Sie fundieren die Prinzipien der kritischen Urteilskraft der Akteure. Ihren Ausdruck finden
sie im staatlich gesetzten Recht, in staatlichen Institutionen oder auch
in der Organisation der Betriebsstrukturen eines Wirtschaftsunternehmens ebenso wie in Ideologien, die die offizielle und sichtbare
Wirklichkeitskonstruktion hinterfragen. Konventionen und Rechtfertigungsordnungen stellen also insgesamt kognitive und normative
Muster für die Verarbeitung sowie Bewertung von Informationen, Ereignissen und Erlebnissen bereit. Dergestalt reduzieren sie die notorische Unsicherheit der Handlungskoordination.
Mit dem Konzept der Handlungskoordination durch Konvention
und Rechtfertigungsordnung zielen die pragmatischen Ansätze darauf, die klassisch soziologische Gegenüberstellung von individueller
und kollektiver Handlungsebene zu durchbrechen. Im Lichte dieses
soziologischen Konzepts verweisen die Einzelhandlungen der lokalen
Koordination notwendigerweise auf ein Kollektiv und das Kollektiv
seinerseits auf die lokale Koordination der Einzelhandlungen. Insofern stellen Konvention wie Rechtfertigungsordnung einen Transmissionsriemen dar, der zwischen dem individuellen Akteur mit seiner
Kompetenz zum kritischen Urteil und dem Kollektiv in seiner Macht,
Wirklichkeit zu konstruieren und Ordnung zu setzen, ständig vermittelt. Diese wechselseitige Vermittlung der individuellen und kollektiven Handlungsebene ist etwa im Feld der Wirtschaftssoziologie
insofern interessant, als sie auch die Konstitution und Funktionsweise von Märkten erhellen kann, wie Rainer Diaz-Bone am Beispiel
des Finanzmarkts verdeutlicht hat. 29 Die französischen Wirtschaftswissenschaftler Michel Aglietta und André Orléan zeigen denselben
28 Diaz-Bone/Salais, »Economics of Convention«, S. 9 u. S. 13f.
29 Vgl. Rainer Diaz-Bone, »Die Autoreferentialität der Finanzmärkte. Die Perspektive der
›Economie des conventions‹ auf die Börsenwelt«, in: Herbert Kalthoff/Uwe Vormbusch (Hrsg.),
Soziologie der Finanzmärkte, Bielefeld 2012, S. 63–85.
48 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 49
Mittelweg 36 4/2013
Vermittlungsmechanismus am Geld auf, das in ihren Augen die Konventionen und die Rechtfertigungsordnung marktgesellschaftlicher
Beziehungen festlegt, indem es via Nachahmungszwang und der Unverzichtbarkeit von Vertrauen die individuelle Handlung an ein Kollektiv bindet.30 Und in der Organisations- und Institutionssoziologie
führt der Blick auf die wechselseitige Vermittlung von individueller
mit kollektiver Handlungsebene vor Augen, dass die Organisationsstrukturen und institutionalisierten Ordnungsmuster eines Kollektivs
darauf angewiesen sind, in der lokalen Koordination von Einzelhandlungen bestätigt zu werden.31 Für die politische Soziologie lässt sich
schließlich festhalten, dass Kritik machtlos bleibt, falls sie nicht an die
Institutionen eines Kollektivs gebunden wird, und dass ein Kollektiv
seine etwaige Macht verwirkt, schirmt es seine Institutionen gegen
Kritik ab.32
Gerade mit Blick auf den historischen Wandel, dem die Konventionen und Rechtfertigungsordnungen aufgrund ihrer Vermittlungsfunktion zwischen individueller und kollektiver Handlungsebene
unterliegen, wird die Notwendigkeit deutlich, sie zeitlich und räumlich zu situieren. Dieser Notwendigkeit kommt die pragmatisch gewendete Soziologie insofern nach, als ihre Vertreter die Genese einzelner
Konventionen – etwa Berufskategorien, Maßstäbe zur Bemessung von
Produktqualität – oder auch die Genese einzelner Rechtfertigungsordnungen – etwa die projektförmige Polis – nachvollziehen und auf
bestimmte nationalstaatliche Kontexte beziehen.33 Sie erklären allerdings nicht die spatiotemporalen Verflechtungen, die die Konventionen und Rechtfertigungsordnungen zu verschiedenen Zeitpunkten
auf unterschiedlichen Handlungsebenen und an differenten Orten
miteinander eingehen. Dass solche Verflechtungen multiple sichtbare
wie verdeckte Wirklichkeiten konstruieren und dadurch Erfahrungen
etwa mit Rassismus, Krieg, Gewalt, Diskriminierung, vorenthaltenen
30 Vgl. Michel Aglietta/André Orléan, La monnaie entre violence et confiance, Paris 2002;
André Orléan, »La monnaie, opérateur de totalisation. Entretien avec André Orléan realisé
par Françoise Bourdarias«, in: Journal des anthropologues 90–91 (2002), S. 331–352.
31 Vgl. Peter Wagner, »Handlung, Institution, Kritik. Materialien zur immer noch notwendigen Erneuerung der Gesellschaftstheorie«, in: Soziologische Revue 34/3 (2011), S. 270–276;
ders., »Die Soziologie der Genese sozialer Institutionen–theoretische Perspektiven der ›neuen
Sozialwissenschaften‹ in Frankreich«, in: Zeitschrift für Soziologie 22/6 (1993), S. 464–476.
32 Vgl. Nikola Tietze, Imaginierte Gemeinschaft. Zugehörigkeiten und Kritik in der europäischen Einwanderungsgesellschaft, Hamburg 2012.
33 In der Reihenfolge der zitierten Beispiele vgl.Claire Judde de Lavrivière/Georges Hanne,
»Occupational Naming Conventions: Historicity, Actors, Interactions«, in: Historical Social
Research 36/4 (2011), S. 82–102; Bert De Munck, »Guilds, Product Quality and Intrinsic Value.
Towards a History of Conventions?«, in: Historical Social Research 36/4 (2011), S. 103–124; Boltanski /Chiapello, Geist; Robert Salais, »Labour-Related Conventions and Configurations of
Meaning: France, Germany and Great Britain prior to the Second World War«, in: Historical
Social Research 36/4 (2011), S. 218–247.
49 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 50
Mittelweg 36 4/2013
Rechtsansprüchen oder verweigerter Lebensqualität bewirken, führen
hingegen andere historische und soziologische Untersuchungen eindrücklich vor Augen.34
Indem die Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und
der Kritik dank ihres Konzepts der Konvention und Rechtfertigungsordnung individuelle und kollektive Handlungsebene miteinander
vermittelt, kann sie ganz unterschiedliche soziale Gruppen (etwa die
Statistiker, die Führungskräfte), Kollektive (etwa die Künstler, die Manager) oder auch abstrakte Entitäten (etwa den Staat, das Unternehmen, den Kapitalismus) adressieren und zum Gegenstand ihrer Analyse machen. Damit werden »totalisierte« Objekte – um mit Popper
zu sprechen – zu relevanten Erklärungsgrößen in der soziologischen
Untersuchung. Arbeiten die pragmatischen Ansätze deshalb mit dem
Topos der Verschwörung? Nach Boltanski geht es den pragmatischen
Ansätzen um die Rekonstruktion von Kollektivbezeichnungen, die
die jeweils mikrosoziologisch untersuchten Akteure selbst verwenden.
Derartige Kollektivbezeichnungen seien gesellschaftlich performativ,
weil sie die Handlungskoordination bestimmen. Eine solche performative Dynamik haben Boltanski und Ève Chiapello in ihrer Studie
Der neue Geist des Kapitalismus vor Augen geführt. Indem die beiden
Autoren die moralischen Grundlagen des individuellen wirtschaftlichen Handelns – die Rechtfertigungen der Akteure und ihre Kritik –
auf langfristige Entwicklungen beziehen, zeichnen sie die Herausbildung und Transformation von Gruppen, Kollektiven sowie abstrakten
Entitäten nach. Gleich einem Roman über Konkurrenz- und Industriespionage enthüllen sie, doch nach sozialwissenschaftlichen Regeln und
im soziologischen Sprachduktus, einerseits die makrosoziologischen
Auswirkungen mikrosoziologisch fundierter Handlungen. Andererseits
beleuchten sie die mikrosoziologischen Effekte makrosoziologischer
Machteinwirkung hinsichtlich der entsprechenden Wirklichkeitskonstruktion. So wird die Verflechtung individueller mit kollektiven,
mikro- mit makrosoziologischen Handlungsebenen sichtbar. Es wird
gezeigt, dass und wie die sogenannte Sozialkritik der Akteure im
gegenwärtigen Kapitalismus an Wirkung einbüßt und das neoliberale
Management die sogenannte Künstlerkritik der Akteure für sich vereinnahmt. Dabei arbeitet Boltanskis und Chiapellos soziologische Rekonstruktion keineswegs der neoliberalen Wirklichkeitskonstruktion
in die Hände. Vielmehr demonstrieren sie, dass diese neoliberale Wirk34 Vgl. zum Beispiel François Dubet /Olivier Cousin /Eric Macé /Sandrine Rui, Pourquoi
moi? L’expérience des discriminations, Paris 2013; Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; Bénédicte Zimmermann, Ce que travailler veut dire. Une sociologie des capacités et des parcours professionnels,
Paris 2011.
50 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 51
Mittelweg 36 4/2013
lichkeitskonstruktion in dem Maße »kritisierbar« wird, wie es gelingt,
die normativen Grundlagen einer solchen Wirklichkeitskonstruktion
aufzudecken.35
Boltanski und Chiapello geraten, sofern sie die Prüfungen der Akteure – ihre épreuves – nachvollziehen, durchaus nicht in ein verschwörungstheoretisches Dilemma. Die Prüfung – in der Rechtfertigungssoziologie auch »Beweisführung« genannt – besteht eben darin, ein
lokales Problem in der Handlungskoordination, eine Unangemessenheit oder Ungerechtigkeit, auf Konventionen oder Rechtfertigungsordnungen zu beziehen und dadurch zu einer Bewertung des Problems und gegebenenfalls zu dessen Lösung zu gelangen.36 Sie steht
mithin für den kritischen Umgang der Akteure (nicht der Soziologen)
mit sozialen, politischen oder auch ökonomischen Phänomenen, die
die Akteure ihrerseits mitunter auch als Verschwörungen interpretieren. Indem die Handelnden eine Unangemessenheit oder Ungerechtigkeit prüfen, übertragen sie den mikrosoziologischen Einzelfall, der
die Koordination behindert oder die staatliche Wirklichkeitskonstruktion hinterfragt, auf makrosoziologisch etablierte Konventionen und
Rechtfertigungsordnungen.37 Die Prüfung besteht mit anderen Worten in Verallgemeinerungen sowie Kategorisierungen, die ein lokales
Problem in die Sprache der Gerechtigkeit, des Rechts und der Legitimität übersetzen.38 Von dieser Form der Prüfung, die sie auch als Größenprüfung (épreuve de grandeur) bezeichnen, unterscheiden Boltanski
und Chiapello die Kraftprobe (épreuve de force). Diese wiederum zielt
darauf, zu verhindern, dass ein Einzelfall in seiner Situiertheit auf
Konventionen und Rechtfertigungsordnungen übertragen und insofern verallgemeinert wird. Mit einer Kraftprobe umgehen die Handelnden die Bezugnahme auf transsituative Konventionen und Rechtfertigungsordnungen. Sie »verschieben«, anders gesagt, das Problem
einer Interaktion auf punktuelle und praktische Zwänge.39
Den Soziologen der Konventionen, Rechtfertigung und der Kritik
gelingt es dank des Konzepts der Prüfung (épreuve de grandeur und
épreuve de force) die klassisch soziologische Gegenüberstellung von
Mikro- und Makroebene zu überwinden. In den prüfenden Verschiebungen von der Mikro- auf die Makroebene und umgekehrt werden
Institutionen, Rechte, Maßstäbe, Ideen und Interessen bestätigt oder
35 Siehe Jörg Potthast, »Der Kapitalismus ist kritisierbar. Le Nouvel Esprit du Capitalisme
und das Forschungsprogramm der ›Soziologie der Kritik‹«, in: Berliner Journal für Soziologie
11/4 (2001), S. 551–562.
36 Vgl. Boltanski/Thévenot, »Die Soziologie der kritischen Kompetenzen«, in: Diaz-Bone
(Hrsg.), Konventionen, S. 56.
37 Vgl. Boltanski/Thévenot, Über die Rechtfertigung.
38 Boltanski /Chiapello, Geist, S. 362ff.
39 Ebd.
51 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 52
Mittelweg 36 4/2013
verändert. Die pragmatischen Ansätze identifizieren in dieser Hinsicht Anknüpfungspunkte für Fragestellungen der politischen Soziologie und für Sondierungen zur Legitimität staatlicher Ordnung.40
Die Prüfung stellt den Ort dar, an dem die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Ordnung thematisiert wird. In ihr wird die Legitimität
bestehender Ordnungen hinterfragt oder deren Wandel durchgesetzt.
Folglich bildet die Prüfung die vergesellschaftenden Wechselwirkungen ab, die im Sinne Georg Simmels der Konflikt über die Ordnung
sozialer Beziehungen produziert.
In Der neue Geist des Kapitalismus arbeitet die Kritik mit Größenprüfungen. Sie bezieht Einzelfälle aufeinander, verallgemeinert und
kategorisiert die jeweils spezifischen Probleme der Einzelfälle, um sie
mit Fragen nach der Gerechtigkeit, dem Recht und der Legitimität zu
verbinden. Die Kraftprobe hingegen ist nach Auskunft des Buches der
Operationsmodus des netzwerkökonomischen Managements. Diese
Gegenüberstellung von Größenprüfung und Kraftprobe ruft ohne
Zweifel den Topos der Verschwörung auf, weil sie verdeckt gehaltene
Wirklichkeitskonstruktionen von sozialen Gruppen – etwa des Managements in der Netzwerkökonomie – freilegt. Boltanski und Chiapello zielen mit dieser Gegenüberstellung darauf, die Bedingungen
für die Kritik am Management zu erhellen. Allerdings stellt sich die
Frage, ob ihre soziologische Untersuchung hier in ein verschwörungstheoretisches Dilemma gerät. Ist mit der Gegenüberstellung von Größenprüfung und Kraftprobe das Verhältnis zwischen Kritik, Macht
und Herrschaft allgemein und ausreichend erfasst? Verweist die Kritik
qua Definition auf Größenprüfungen? Ist sie zu Kraftproben unfähig?
Rekurrieren diejenigen, die über die Macht verfügen, Wirklichkeit zu
konstruieren, ausschließlich auf Kraftproben? Sind Größenprüfungen
zwangsläufig kritisch und Kraftproben zwangsläufig Mittel der Machtdurchsetzung oder Herrschaftsausübung? Treten Größenprüfung und
Kraftprobe in der gleichen Zuordnung auf, wenn Kritik, Macht und
Herrschaft nicht im Hinblick auf das netzwerkökonomische Management, sondern zum Beispiel im Hinblick auf die Wohlfahrtsstaatlichkeit, auf die Gleichstellung der Geschlechter, auf den Nationalismus
oder auch auf die Europäisierung betrachtet werden?
Boltanski greift in Soziologie und Sozialkritik das Beziehungsgefüge
zwischen Kritik, Macht und Herrschaft erneut auf und führt eine
neue Unterscheidung zwischen Wahrheitsprüfungen (épreuves de vérité),
Realitätsprüfungen (épreuves de réalité) und existentiellen Prüfungen
40 Vgl. zum Beispiel Jörg Potthast, »Politische Soziologie technischer Prüfungen. Das Beispiel Straßenverkehrssicherheit«, in: Leviathan 40/4 (2012), S. 536–562; Robert Salais, »Europe and the deconstruction of the category unemployement«, in: Archiv für Sozialgeschichte
47 (2007), S. 371–401.
52 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 53
(épreuves existentielles) ein. Die Wahrheitsprüfungen dienen dazu, die
offizielle und sichtbare Wirklichkeitskonstruktion zu bestätigen. Deshalb sind sie als ein nationalstaatliches Mittel der Machtdurchsetzung
und Herrschaftsausübung zu verstehen. Realitätsprüfungen wiederum
stellen einen Modus dar, in dem entweder eine reformistische Kritik
formuliert wird oder die Herrschenden einer solchen Kritik entgegentreten. Die existentiellen Prüfungen dagegen bringen radikale Kritik
zum Ausdruck, die die Legitimität der Herrschenden in Frage stellt.
Sie bestehen darin, subjektive Erfahrungen zu äußern und den Prüfungsformaten entgegenzuhalten, die unter bestimmten Herrschaftsbedingungen als legitim und gerecht gelten. Anders formuliert, bringen existentielle Prüfungen jene Welt ins Spiel, die die sichtbaren und
verdeckten Wirklichkeitskonstruktionen aus sich zu verbannen suchen.41 Mit der Unterscheidung dieser drei Prüfungsformate lässt
Boltanski freilich Kontingenz, Unwägbarkeiten und Ambivalenzen
aus dem Konflikt über die Legitimität und Durchsetzung einer Ordnung verschwinden. Er verdichtet, mit Michael Dellwing und Michèle
Spohr gesprochen, die »offene Welt« des Konflikts zu einer »feste[n]
Struktur« und setzt »das Bild einer festen Ordnung« in Szene.42
III. Plädoyer für eine konflikttheoretische Erweiterung
Mittelweg 36 4/2013
Der Konflikt ist nach Georg Simmel Medium einer vergesellschaftenden Wechselwirkung zwischen Menschen.43 Diese Wechselwirkung
hat per se keine Funktion – es sei denn, die soziologische Untersuchung
des Konflikts ordnet ihr eine solche zu. Lewis A. Coser beispielsweise
betrachtet den Konflikt ausgehend von der Funktion, gesellschaftliche
Beziehungen zu integrieren.44 Die Konventions-, Rechtfertigungs- und
Kritiksoziologen wiederum begreifen den Konflikt über die Funktion,
Ordnungen zu prüfen und im Falle der Realitätsprüfung »eine begründete und legitime Einigung zu erreichen«, wie Boltanski und Thévenot
schreiben.45 Solche funktionalisierenden Lesarten des Konflikts erfassen meines Erachtens die vergesellschaftende Wechselwirkung des
41 Vgl.Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, S.155ff.; ders., »Individualismus ohne Freiheit«,
S. 138ff.
42 Vgl. Michael Dellwing /Michèle Spohr, »Zur Feier des lärmenden Durcheinanders. Boltanskis und Thévenots ordentliche Soziologie der Unordentlichkeit«, in: Soziologische Revue
34/3 (2011), S. 277–283, hier S. 279 u. S. 283.
43 Georg Simmel, »Der Streit«, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der
Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 1992, S. 284–382. »Wenn jede Wechselwirkung unter
Menschen eine Vergesellschaftung ist, so muß der Kampf, der doch eine der lebhaftesten
Wechselwirkungen ist, der in der Beschränkung auf ein einzelnes Element logisch unmöglich
ist, durchaus als Vergesellschaftung gelten« (ebd., S. 284).
44 Lewis A. Coser, Theorie sozialer Konflikte [1956], Wiesbaden 2009.
45 Boltanski/Thévenot, »Die Soziologie der kritischen Kompetenzen«, in: Diaz-Bone (Hrsg.),
Konventionen, S. 56.
53 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 54
Mittelweg 36 4/2013
Konflikts insofern nicht erschöpfend, als sie die Konfliktpraxis
ausschließlich unter der Perspektive des zu erreichenden Zieles analysieren und beurteilen. Die unter dieser Hinsicht dysfunktionalen
Elemente der Konfliktpraxis werden entweder pathologisiert oder verschwörungstheoretisch in die funktionalisierenden Lesarten eingeordnet. Nimmt die soziologische Untersuchung jedoch den Konflikt als
solchen zum Ausgangspunkt, kann sie neben den Versuchen, den
Konflikt mithilfe von Integration und Ordnung zu interpretieren, auch
die Dynamik und Wirkung der Konfliktpraxis, die diesen Versuchen
entgegensteht, zum Objekt der Analyse machen. Sie ist dadurch in der
Lage, einerseits die funktionalen und dysfunktionalen Aspekte der
Konfliktpraxis in ein Verhältnis zueinander zu setzen und andererseits den Kampf oder Streit über das, was Integration oder Ordnung
leisten soll, zu reflektieren. Vor diesem Hintergrund gilt es, die Soziologie der Konventionen, Rechtfertigung und Kritik konflikttheoretisch
zu erweitern, auch wenn dadurch »das Bild einer festen Ordnung« des
Konflikts aus den Fugen gerät und Ambivalenzen von Kritik, Macht
und Herrschaft sichtbar werden.46
Konflikte, in denen die Legitimität einer Ordnung geprüft, über
den Wandel einer Ordnung entschieden oder über den Sinn einer
Ordnung gestritten wird, entfalten sich als historische Prozesse. Folglich sind die Konzepte der Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik zeitlich wie räumlich zu verorten. Die interpretative Rationalität, mit der die Handelnden ein Handlungsregime
oder ein Regime des Engagements mit der Welt wählen, Situationen
definieren, Personen und Objekte qualifizieren wie auch den Sinn
von Ordnungen ergänzen, baut auf Erfahrungen auf, die die Handelnden mit den Handlungs- beziehungsweise Engagementregimes,
mit vorausgehenden Situationsdefinitionen, Personen- und Objektqualifikationen wie auch mit in anderen Kontexten vollzogenen Sinnergänzungen gemacht haben.47 Eine prozessuale Betrachtung, wie sie
die konflikttheoretische Erweiterung in die pragmatisch gewendete
soziologische Untersuchung einführt, kann zudem den Wechsel der
Handelnden zwischen den verschiedenen Handlungsregimes beziehungsweise Regimes des Engagements wie auch die sich wandelnden
Ausrichtungen der interpretativen Rationalität besser in der Analyse
berücksichtigen. Erfahrung und Erinnerung beeinflussen ebenfalls die
Prüfungen, mit denen Akteure ein lokales Problem in der Handlungskoordination auf Konventionen oder Rechtfertigungsordnungen beziehen.48 In dieser Hinsicht vermitteln die Konventionen und Recht46
47
48
Dellwing /Spohr, »Zur Feier …«, S. 283.
Vgl. Dubet/Cousin/Macé/Rui, Pourquoi moi?
Vgl. Zimmermann, Ce que travailler veut dire.
54 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 55
Mittelweg 36 4/2013
fertigungsordnungen die unterschiedlichen Handlungsebenen nicht
nur auf lineare Weise, vielmehr können zum Beispiel im Rahmen kolonialistischer, nationalistischer oder totalitärer Wirklichkeitskonstruktionen Ungleichzeitigkeiten und divergierende Raumbezüge in die
Handlungskoordination aufgenommen werden.49 Sie ermöglichen
nicht nur die etwaige Inklusion in eine Handlungskoordination, sondern legitimieren unter Umständen auch Exklusionen. Im Übrigen
belehrt die Geschichte darüber, dass Konflikte über den Sinn und die
Legitimität einer wirklichkeitskonstruierenden Ordnung mit der Etablierung des demokratischen und auf das Handlungsregime der Rechtfertigung verwiesenen Nationalstaats mitnichten endgültig eingehegt
sind.50 Tatsächlich hat die Nationalstaatlichkeit ganz im Gegenteil erbitterte Kämpfe produziert und das Handlungsregime der Gewalt
immer wieder aufgewertet, ja explizit legitimiert.
Die mit einer konflikttheoretischen Erweiterung identifizierbaren
Ambivalenzen von Kritik, Macht und Herrschaft verlangen über die
historisierende Untersuchung hinaus nach einer differenzierten Betrachtung dessen, was mit Kritik, Macht und Herrschaft eigentlich soziologisch bezeichnet wird. Kritik, die anprangert, »was subjektiv als
ungerecht empfunden und erfahren wird«,51 wird ja nicht nur im Hinblick auf die Angemessenheit und Gerechtigkeit von Ordnungen geäußert, sondern auch in der Absicht vorgebracht, zu den Mächtigen
oder denjenigen der herrschenden Mehrheit dazuzugehören, Macht
zu sichern oder zu gewinnen. Sie findet ihren Ausdruck nicht nur in
der kritischen Urteilskraft diskursiver Akteure, sondern mitunter auch
in der Ausübung von Gewalt. Wie Jan Philipp Reemtsma für den
Machtbegriff erläutert hat, ist zwischen Machtgewinn, -nutzung und
-erhalt ebenso zu unterscheiden wie zwischen den Handlungen, die
Macht gewähren, entziehen oder Gewalt ausüben.52 Vor dem Hintergrund eines solchermaßen abgestuften Machtbegriffs kann sich die
soziale Praxis der Macht verdeckter, aber erfahrbarer Wirklichkeitskonstruktionen nicht auf Kraftproben beschränken. Vielmehr schließt
sie zwangsläufig auch Größenprüfungen ein und (wie die Kritik) den
immer möglichen Wechsel zwischen den von Boltanski unterschiedenen Handlungsregimes der Rechtfertigung, der technischen Passung
und der Gewalt oder zumindest der Androhung von Gewalt. Herrschaftspraxis unterscheidet sich von der Praxis der Macht im Allge49 Vgl. Jureit, Das Ordnen von Räumen.
50 Vgl. Michael Mann, Die dunklen Seiten der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung, Hamburg 2007.
51 Danny Trom, »Zwei Tropismen. Die Krise der Gesellschaftskritik aus Pariser und Frankfurter Sicht«, in: Mittelweg 36 19/2 (2010), S. 57.
52 Jan Philipp Reemtsma,Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation
der Moderne, Hamburg 2008, S. 141ff.
55 Soziologie und Verschwörung
Hauptdoku_finale_413_musterdokument neues layout 05.08.13 08:33 Seite 56
meinen nur insofern, als sie auch auf Wahrheitsprüfungen angewiesen ist, die den Legitimitätsglauben der Beherrschten im Sinne Max
Webers sicherstellen sollen. Geht man von dem Konflikt aus, in dem
über den Sinn sowie die Legitimität einer Ordnung und die dadurch
eingeführten asymmetrischen Gesellschaftsbeziehungen gestritten und
gekämpft wird, verschwimmen folglich die Grenzen zwischen offizieller sowie sichtbarer Wirklichkeitskonstruktion, die Boltanski in
Énigmes et complots dem Nationalstaat zuweist, und verdeckter, aber
tatsächlich erfahrener Wirklichkeitskonstruktion, die er den staatlich
nicht eingehegten Mächten zuschreibt. Die eine wie die andere Wirklichkeitskonstruktion ist ungesichert, und die Protagonisten beider
Wirklichkeitskonstruktionen rekurrieren sowohl auf die Gültigkeit von
Normen als auch auf Zwang – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Konflikt. Angesichts
dessen erscheint es wenig überzeugend, staatlichen Institutionen per
se die Rolle zuzuordnen, die zwischen Kritik und Macht vermittelt
und Defizite in der gewährleisteten Gerechtigkeit und Angemessenheit der Ordnung kompensiert.
Eine konflikttheoretische Erweiterung der Soziologie der Konventionen, der Rechtfertigung und der Kritik hat zur Konsequenz,
dass die Eindeutigkeit verlorengeht, mit der die Vertreter dieser pragmatischen Ansätze die Ermöglichungsbedingungen von Kritik und
gesellschaftlicher Ordnung identifizieren. Sie kann stattdessen stärker die Unwägbarkeiten und Ambivalenzen von Kritik, Ordnungsdurchsetzung und -gewährleistung wie auch gelungener oder misslungener Handlungskoordination thematisieren. Sie hebt dabei das
Verschwörungsdilemma der soziologischen Untersuchung auf, gerade
weil das Verschwörungsproblem als Konflikt zum genuinen Gegenstand soziologischer Untersuchung avanciert.
Mittelweg 36 4/2013
Summary
With their conceptualization of the preconditions for orders of social
relations, the sociologies of conventions, justification, and critique have introduced a pragmatic turn in French sociology. But have they, in doing so,
also solved the conspiracy problem in sociological method identified by Karl
Popper? This contribution discusses the basic assumptions of pragmatic
approaches in sociology and three of their elementary concepts (interpretative
rationality, conventions or orders of justification, and the test) and explores
their usefulness as well as their limitations. It is argued here that extending
pragmatic sociology to incorporate aspects of conflict theory offers opportunities for analysis of society that avoid the pitfalls of conspiracy theory.
56 Soziologie und Verschwörung

Documents pareils