Operation Nächstenliebe
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Operation Nächstenliebe
magazin. 5. September 2015 Mit Freude und Inspiration bei der Arbeit in Afrika: Der Chirurg Guido Köhler im Operationssaal auf dem Krankenhausschiff (rechts) und zusammen mit einer Mutter und ihrem Kind, denen er helfen konnte. 35 Fotos: Mercy Ship Operation Nächstenliebe Die „Africa Mercy“ ist ein schwimmendes Krankenhaus. Als Arzt mit an Bord: Guido Köhler aus Tübingen. F so weit entwickeln“, sagt Köhler. In ast klingt er so euphoAfrika aber bilden sich gutartige Turisch wie der Fußballtraimore bisweilen zu ballgroßen Gebilner Pep Guardiola, wenn den aus, verkrüppeln Beine, wenn Guido Köhler in seiner Klinicht Einhalt geboten wird, machen nik hinauszeigt auf Blasen-Fisteln Frauen inkontinent Deutschland und sagt: „Die Kranund zu Ausgestoßenen. Zigtaukenhäuser super, die Versorgung sende bleiben zeitlebens blind, weil der Patienten super – super alles sie niemand vom grauen Star behier.“ Den krassen Kontrast dazu freit. Auf der „Africa Mercy“ zählt kennt der Tübinger Arzt aus eigener diese Augenoperation zur Routine. Anschauung: Ein Drittel der WeltbeChirurgie ist hier die Wiederhervölkerung hat keinen Zugang zu chistellung wesentlicher körperlicher rurgischen Maßnahmen. Funktionen. Operiert wird nur, wo Köhler opfert seit mehr als zehn Aussicht auf eine entscheidende Jahren seine Freizeit dafür, diesen Verbesserung der Lebensqualität beSkandal ein klein wenig kleiner zu steht. Ein Schiff wird kommen – für machen – auf der „Africa Mercy“, eiso viele bleibt es die einzige Hoffnem riesigen Krankenhaus-Schiff. nung. Wenn es jedes Jahr für einige MoMercy Ships ist als internationale nate vor der Westküste Afrikas anHilfsorganisation 1978 von dem legt, bringt es Hunderten der ÄrmsUS-Amerikaner Don Stephens geten Linderung und Heilung ihrer gründet worden. Das Modell: Ein Leiden. Aber auch die Ärzte aus den schwimmendes Krankenhaus, von reichen Ländern kehren reich beHunderten Freiwilliger betrieben schenkt nach Hause zurück: mit und über Spenden finanziert. Viel dem Gefühl, das Gebot der NächsGeld ist allein dafür nötig, um das tenliebe mit Leben erfüllt zu haben. einzige zivile Lazarettschiff der Welt Radiatou aus Togo ist ein Beispiel technisch auf dem Laufenden zu dafür. Das Gesicht des Mädchens halten. Die Bilanz seither ist beachtwar von einem Tumor so furchtbar lich: 300 000 Zahnbehandlungen, entstellt, dass es zu all ihrem körper67 000 chirurgische Eingriffe, 33 lichen Leid auch noch nach dem 000 Augenoperationen. Voodoo-Aberglauben in ihrem Dorf Die „Africa Mercy“ liegt seit acht als „Hexe“ und böser Geist ausgeJahren vor der Küsgrenzt wurde. Die ten Westafrikas. Ärzte der „Africa 3500 Helfer aus alMercy“ verhalfen Plastische Chirurgie ler Herren Länder Radiatou zu einem bei den Ärmsten haben auf ihr seitzweiten Leben. Es der Armen her schon gearbeigibt viele solcher tet. Neben den ÄrzGeschichten, die ten kann sich so ziemlich jeder nützdie Chirurgen von ihrem Einsatz lich machen. „Meine Mutter hat Saauf dem Hospitalschiff erzählen lat gewaschen, meine Schwiegerkönnten: von Klumpfüßen und anmutter die OP-Instrumente gereideren orthopädischen Fehlbildunnigt“, sagt Köhler. 1000 Mitarbeiter gen, von Verbrennungen, Kröpfen sind in einem Jahr an Bord, die meisoder Leistenbrüchen. Eine Operaten von ihnen ein bis zwei Wochen tion, wie sie in Deutschland Stanlang. Sie alle haben ihren Flug seldard und Routine, in Afrika aber für ber bezahlt und noch etwa 14 Euro viele undenkbar ist, verwandelt Verpro Tag für Kost und Logis. Für ihre zweiflung in Hoffnung und Heilung. Arbeit bekommen sie nichts – Das ist zugleich der unbezahlbare „nichts Finanzielles“, präzisiert Lohn für die Ärzte ohne Bezahlung. Köhler. „Für meine Seele bedeutet jeder EinDie ideelle Seite ist bei vielen im satz Erholung und Inspiration“, christlichen Gauben verankert. Helsagt Guido Köhler. fen, wo Hilfe am nötigsten ist, das Er hat in Marburg, München und versteht auch Guido Köhler als wahSan Diego/Kalifornien studiert, arren Gottesdienst. Liebe Deinen beitete drei Jahre in England, ehe er Nächsten wie Dich selbst. „Die Chef der privaten Schlosspark-KliNächsten sind die, die vergessen nik in Ludwigsburg wurde. Seit eisind“, lautet seine persönliche Binem halben Jahr leitet der 41-Jähbel-Auslegung. rige die Plastische Chirurgie der LoKöhler hat die Welt jenseits westliretto-Klinik in Tübingen. Chirurgie chen Wohlstandes schon als Stuist hier oft eine Sache von Ästhetik: dent in Tansania oder Nepal kenSie will den Menschen schöner manengelernt. Seine christliche Überchen. Plastische Chirurgie bei den zeugung ist mit Abenteuer- und EntÄrmsten der Armen in Afrika hat es deckerlust grundiert. Er kann den dagegen mit Fällen zu tun, die man Anpassungsschock seiner Mitarbeisich hierzulande kaum vorstellen ter an die afrikanischen Verhältkann. Lippen-Kiefer-Gaumenspalnisse, an Krieg und Brutalität versteten gibt es in den entwickelten Länhen. Sie bekommen mittelbar mit, dern auch, werden hier aber rechtdass hier ein junger Dieb einfach an zeitig operiert. „In der westlichen einem Pfahl aufgehängt wird. Sie erWelt können sich Krankheiten nicht Manche kommen mit dem Kanu oder bisweilen über hunderte Kilometer zu Fuß, um auf der „Africa Mercy“ zur Behandlung an Bord zu gehen. Foto: Mercy Ship Zugelassen wird nur, wem mit einer Operation entscheidend geholfen werden kann. fahren das Schicksal von Bambay Sawaneh aus Sierra Leone. Dort herrschte zehn Jahre lang ein brutaler Bürgerkrieg um Macht und Diamanten. Rebellen hackten dem 15-Jährigen beide Hände ab. Die Chirurgen von Mercy Ships machten es möglich, dass er mit einem Armstumpf wenigstens noch greifen kann. In Sierra Leone erlebte Köhler 2002 seinen ersten Einsatz auf dem Hospitalschiff, ein Jahr nach Ende des Bürgerkriegs. Für das, was er dort gesehen hat, findet er nur ein Wort: „katastrophal“. Heute, fast eineinhalb Jahrzehnte später, stehen Sierra Leone und andere Teile Westafrikas für die negative Seite seiner persönlichen Bilanz. Welches ist die schönste und welches die schlechteste Erfahrung? Am schlimmsten ist, dass sich so wenig geändert hat – abgesehen von den Handys, die heute fast jeder hat. Eingriffe an den korrupten politischen Strukturen scheinen aussichtsloser zu sein als die der Chirurgen an menschlichen Fehlbildungen. Für die Heilung an Bord ist den Armen kein Weg zu weit. Manche fahren mit dem Kanu, andere gehen gie in Deutschland ist für ihn in diehunderte Kilometer zu Fuß. Alle hasen zwei Wochen eine ferne Welt. ben vorher an Voruntersuchungen Die „Africa Mercy“ erdet ihn, teilgenommen, die von Mercy Ships schärft seinen Blick fürs WesentliWochen oder Monate zuvor organiche. Er schätzt das Schiff auch, weil siert wurden. Tausende melden sich er hier seine Liebe gefunden: eine hier, aber nur wer eine eine OperaKrankenschwester aus den USA. tion dringend benötigt, wird aufgeDrei Kinder hat das Ehepaar inzwinommen. schen. Früher oder Die Behandlung später werden sie auf dem Schiff bil- Es geht um wohl mit an Bord det den Schluss- Massenabfertigung sein in den Ferien. punkt einer mona- im besten Sinne Köhlers Kollege telang durchorganiGary Parker, ein Kiesierten Aktion. Das ferchirurg aus den schwimmende Krankenhaus ist USA, ist seit 27 Jahren mit Mercy technisch bestens ausgerüstet, verShips unterwegs – ununterbrochen, fügt über fünf Operationssäle. Die mit Frau und Kindern. WahrscheinCrew arbeitet routiniert, ein eingelich, weil auch er die Frage nach der spieltes Team. Es geht schließlich schönsten Erfahrung wie Guido um Massenabfertigung im besten Köhler beantworten würde: Es sind Sinne. Das bringt auch einen leidendie Patienten, ihre Freude, ihr schaftlichen Helfer wie Guido KöhGlück, ihre Dankbarkeit. ler an die Grenzen der BelastbarParkers Philosophie sagt alles keit. An den Wochenenden haben über das Selbstverständnis der Stifdie Chirurgen frei. „Sonst ginge tung Mercy Ships, die ein zweites man auf dem Zahnfleisch“, sagt er. Hospitalschiff plant: „Man kann Er liebt dieses einzigartige Krannicht die ganze Welt verändern. kenhaus, er liebt die Arbeit hier, Aber man kann die ganze Welt für eiweil sie sich ausschließlich um den nen Menschen verändern." Patienten dreht. Ästhetische ChirurHELMUT SCHNEIDER Jedes Jahr 7000 Operationen Die Stiftung Mercy Ships heißt die internationale Organisation, die das aktuelle Hospitalschiff „Africa Mercy“ betreibt. Die Stiftung wurde 1978 gegründet, sie finanziert sich durch Spenden, zu einem guten Teil aus den USA. Die Arbeit der Ärzte und anderen Mitarbeiter ist ehrenamtlich. Damit kommen die Spenden direkt dem karitativen Zweck der Stiftung zugute. Die Stiftung hat Büros in 16 Ländern. Das deutsche Büro hat seinen Sitz in Kaufbeuren. Es ist als gemeinnütziger Verein anerkannt. Mercy Ships Deutschland wird von einem sechsköpfigen Vorstand geleitet. Den Vorsitz hat Martin Dürrstein, Chef der Firma Dürr Dental aus Bietigheim-Bissingen. Das Schiff Die „Africa Mercy“ war ursprünglich eine Eisenbahnfähre, die auf einer engli- schen Werft für 45 Millionen Euro zum weltweit größten privaten Lazarettschiff umgebaut und 2007 in Dienst genommen wurde. Es ist 127 Meter lang und 24 Meter breit. Auf einer Fläche von 1200 Quadratmetern sind neben fünf Operationssälen 82 Krankenhausbetten untergebracht. Die Kapazität ist auf 7000 Operationen pro Jahr ausgelegt. Als Besatzung sind ständig 400 ehrenamtliche Mit- arbeiter aus fast 40 Ländern an Bord. Die Mitarbeiter Neben Ärzten und anderen medizinischen Fachkräften können sich auch Interessenten mit nichtmedizinishem Hintergrund für eine Mitarbeit bei Mercy Ship Deutschland bewerben. Informationen dazu gibt es im Internet: www.mercyships.de