Reid Anderson - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik
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Reid Anderson - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik
BALLETT INTERN Herausgeber: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V. – Heft 71/28. Jahrgang – Nr. 5/Dezember 2005 Deutscher Tanzpreis 2006 Reid Anderson Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2006 » Alicia Amatriain » Jason Reilly » Christian Spuck BALLETT Liebe Leser, nach der Herbstpause gibt es wieder viel zu berichten, so viel, dass BALLETT INTERN nicht nur umfangreich, sondern auch sehr vielfältig in den Themen ist. Diese Vielfalt sprengte unser ansonsten gerne nach Rubriken sortiertes Heft, doch wir entschieden uns, Ihnen nichts vorzuenthalten – dafür aber dieses Mal eine Einteilung in Rubriken nicht vorzunehmen. Stattdessen haben wir im Dezember eine »russische Abteilung, dort werden drei Damen gewürdigt, die trotz großer Unterschiede einiges gemeinsam haben: Sie alle schrieben Tanzgeschichte und wanderten irgendwann gen Wesen. Selbstverständlich stehen die Informationen über die Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2006 und der Deutschen Tanzpreise »ZUKUNFT« 2006 auch in diesem Jahr an erster Stelle. Und – wenn Sie so wollen – hat das Heft auch im weiteren Verlauf noch einen »Schwaben-Schwerpunkt«: die Verleihung des John-Cranko-Preises 2005 an das Stuttgarter Ballett sowie das Interview mit Tadeusz Matacz, dem Direktor der John-Cranko-Schule. Die Redaktion wünscht Ihnen ein wunderschönes Weihnachtsfest und eine erholsame Ruhepause zum Jahreswechsel. Dagmar Fischer Der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik trauert um seine Mitglieder, die im Jahr 2005 verstorben sind: Hans Carrasz, Claudia Macht und Vera Nagel. BALLETT INTERN ist die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik e. V. (DBfT) und liegt der Zeitschrift »tanzjournal« fünf Mal als Supplement bei. Beide Zeitschriften gehen den Mitgliedern des Verbandes kostenlos zu. Nichtmitglieder können BALLETT INTERN abonnieren: Deutschland € 7,50, europäisches Ausland € 12,00 (jeweils inkl. Porto/Versand) je Ausgabe. Redaktion dieser Ausgabe: Ulrich Roehm (verantwortlich), Dagmar Fischer ([email protected]), Frank Münschke Autoren dieser Ausgabe: Robert Benjamin Biskop (Berlin), Volkmar Draeger (Berlin), Dagmar Fischer (Hamburg), Marianne Forster (Basel), Julia Lukjanova (Berlin), Klaus Kieser (München), Angela Reinhardt (Waiblingen), Ralf Stabel (Berlin), Gerlinde Supplitt (Hamburg), Ira Werbowsky (Wien) Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers wieder. Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist ohne ausdrückliche Genehmigung der Redaktion nicht gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und für Terminangaben wird keine Gewähr übernommen. Die Redaktion behält sich das Recht vor, Leserbriefe zu kürzen. Manuskripte gehen in das Eigentum der Redaktion über. Herausgeber: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V., (DBfT) Hollestraße 1, D-45127 Essen Tel.: +49(0)201 – 22 88 83 Fax:+49(0)201 – 22 64 44 www.dbft.de – www.ballett-intern.de Bankverbindung: DBfT, Nationalbank Essen, Konto 111627, BLZ 360 200 30 IBAN DE 95 3602 0030 0000 1116 27 Titelbild: Das Titelbild zeigt die Tanzpreisträger 2006: (links:) Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts; (Mitte:) Alicia Amatriain und Jason Reilly in dem Ballett »The Cage«; (rechts:) Choreograph Christian Spuck. (Fotos: Stuttgarter Ballett und Bettina Stöß/Stage Picture) Heft 5/2005 INTERN Deutscher Tanzpreis 2006 Reid Anderson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2006 Tanz, weiblich: Alicia Amatriain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanz, männlich: Jason Reilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Choreographie: Christian Spuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4 5 tanzplan deutschland der Kulturstiftung des Bundes . . . . . . . . Tanzkongress Deutschland: Die Kongressthemen . . . . . . . . . 6 7 Tatjana Gsovsky: »Was und wer ich bin, habe ich auf der Bühne gezeigt.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Ralf Stabel 8 Ein Besuch bei Maija Plissezkaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Von Julia Lukjanova Eva Evdokimova – Bloß keine »Skulpturroboter« . . . . . . . . . . . 11 Von Volkmar Draeger Tadeusz Matacz – Der Direktor der John-Cranko-Schule im Gespräch mit Angela Reinhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Respekt und Ruhe – Ein Gespräch mit Royston Maldoom . . . . 15 Von Dagmar Fischer Wenn ein Rhythmus untanzbar scheint Eindrücke von Martin Puttkes Seminar »Koordination im Tanz« . . . 16 Von Dagmar Fischer Der kleine Prinz oder Wie Gregor Seyfferts Engagement für den Tanz in Dessau Mut macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Von Robert Benjamin Biskop »Niemand soll das Scholz-Repertoire besser tanzen können als wir« Wie geht es in Leipzig weiter ohne Uwe Scholz? . . . . . . . . . . . . . . 18 Von Angela Reinhardt Wahlverwandte Gesamtkunstwerke 15. Festival euro-scene in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Von Volkmar Draeger 166 : 32 = 5,18 John Neumeiers vielleicht vielfältigste Ballett-Werkstatt . . . . . . . . . . 20 Von Dagmar Fischer Das Geheimnis des Erfolges Tanz in Bozen – Bolzano Danza im 21. Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Von Ira Werbowsky Das Stuttgarter Ballett erhält den John-Cranko-Preis . . 23 Von Angela Reinhardt Zur Erinnerung an Erika Klütz (1908–2005) . . . . . . . . . . . 24 Von Gerlinde Supplitt Alfredo Corvino zum Gedenken (1915–2005) . . . . . . . . . . 24 Von Marianne Forster Kurz und Bündig / Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Druck: Ulenspiegel GmbH, Besengaßl 4, D-82346 Andechs Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH, 45329 Essen, Heßlerstraße 37 – www.klartext-medienwerkstatt.de +49(0)201 – 86 206-60 (Frank Münschke) Anzeigen und Beilagen: Gültige Preisliste: 1/05 Nächste Ausgabe: Heft 1/2006 erscheint Anfang Februar 2006 Redaktionsschluss: 8. Januar 2006 Anzeigenschluss: 15. Januar 2006 Annahmeschluss Beilagen: 22. Januar 2006 Ballett Intern 5/2005 2006 Der Preisträger Reid Anderson 1996–2006 – 10 Jahre Ballettintendant des Stuttgarter Balletts Mit der Vergabe des Deutschen Tanzpreises 2006 an Reid Anderson ehrt der Verein zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland e.V. und der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik einen höchst erfolgreichen Ballettdirektor. Gleichzeitig würdigt er damit die besondere Bedeutung des Stuttgarter Balletts. Denn wie keine zweite deutsche Ballettcompagnie besitzt das Ensemble in den Werken John Crankos ein Erbe, das Geschichte geschrieben hat. Die drei großen Handlungsballette Crankos – Romeo und Julia, Onegin und Der Widerspenstigen Zähmung – sind heute Teil des Weltrepertoires. Dass diese Tradition heute ungebrochen lebt, ist nicht zuletzt ein Verdienst Reid Andersons. John Cranko berief den aufstrebenden Tänzer 1969 ins Stuttgarter Ballett; 1996 kam er zum zweiten Mal nach Deutschland, um die Nachfolge Marcia Haydées an der Spitze des Ensembles anzutreten. Da war kaum zu ahnen, welch frischen Wind er mitbringen würde. Ein Wind, der eine Dekade später noch anhält. Vorher hatte er sich große Meriten als Direktor des National Ballet of Canada verdient, das er von Reid Anderson (Foto: Ulrich Beuttenmüller) 1989 bis 1996 leitete. Er führte Publikum und Kompanie an eine Vielzahl neuer Werke heran und verjüngte das Ensemble. Dabei stellte er stets höchste Ansprüche an die Qualität. In Stuttgart ging er seine Arbeit nicht anders an. Zur neuen Tätigkeit gehörte nun auch die Pflege des Werks von John Cranko. Und hierfür hätte man sich 1996 wohl keine bessere Wahl als Anderson vorstellen können: Er kennt Crankos Œuvre seit Beginn seiner Karriere als Tänzer, er hat die legendäre kreative Atmosphäre noch kennengelernt, die Cranko umgab, und er verfügt über Erfahrung in der Einstudierung von Crankos Werken. Reid Anderson kann in Stuttgart auf eine stolze Bilanz zurückblicken. Das Stuttgarter Ballett hat die Transformation von der Kompanie, die vom Geist John Crankos beseelt war, zu einem modernen Ballettensemble mustergültig vollzogen, so daß viele schon von einem zweiten Stuttgarter Ballettwunder sprechen. Grund genug also, Reid Anderson für seine zehnjährige Arbeit zu danken! Seit September 1996 leitet Reid Anderson als Intendant das Stuttgarter Ballett – die Compagnie, in der er 17 Jahre lang tanzte. Geboren 1949 in Kanada (New Westminster, British Columbia), begann er seine Tanzausbildung an der Dolores Kirkwood Academy in Burnaby (British Columbia). Im Alter von 18 Jahren erhielt er ein Stipendium für die Royal Ballet School in London. Eineinhalb Jahre später wurde er Mitglied beim Stuttgarter Ballett, das zu jener Zeit John Cranko leitete. Anderson wurde 1974 zum Solisten und 1978 zum Ersten Solisten befördert, und in seiner Tänzerkarriere brillierte er in vielen klassischen und zeitgenössischen Stücken. Er tanzte Hauptrollen in zahlreichen Balletten Crankos, darunter »Onegin«, »Der Widerspenstigen Zähmung«, »Romeo und Julia« und »Initialen R.M.B.E.«, und überzeugte insbesondere durch seine Charakterinterpretationen; herausragend waren seine Eleganz und seine Partnerarbeit. Von 1987 bis 1989 war Anderson Ballettdirektor des Ballet British Columbia. Anschließend wurde er zum Ballettdirektor des National Ballet of Canada ernannt, dessen Repertoire er durch die Einstudierung bedeutender Werke von George Balanchine, Antony Tudor, Jerome Robbins, Frederick Ashton, Kenneth MacMillan, Jirí Kylián, Paul Taylor, Ben Stevenson und John Cranko bereicherte. Wichtige Aufträge vergab er unter anderem an William Forsythe (»the second detail«) und John Neumeier (»Now and Then«) sowie an zahlreiche junge Choreographen. 1996 kehrte Reid Anderson als künstlerischer Direktor zum Stuttgarter Ballett zurück und wurde am Ende seiner ersten Spielzeit zum Ballettintendanten ernannt. In den gut zehn Jahren seiner Tätigkeit hat Anderson die Stuttgarter Compagnie stark verjüngt und viele Tänzer systematisch aufgebaut. Inhaltlich pflegt er drei programmatische Säulen: die Pflege des so genannten Stuttgarter Erbes, in dessen Mittelpunkt die Ballette von John Cranko stehen – allen voran die drei großen Klassiker »Romeo und Julia«, »Onegin« und »Der Widerspenstigen Zähmung« –, die Erstaufführung von wichtigen Stücken des Weltrepertoires und die Erweiterung des Repertoires durch zahlreiche Aufträge für Kreationen. Reid Anderson und Richard Cragun 1979 in der Choreographie »Orpheus« von William Forsythe (Foto: Stuttgarter Ballett) Ballett Intern 5/2005 Zu den bedeutenden Erstaufführungen beim Stuttgarter Ballett unter Andersons Ägide zählen: »Strawinsky Violinkonzert«, »Vier Temperament« und »Serenade« (alle George Balanchine), »La Fille mal gardée »(Frederick Ashton) sowie »The Cage«, »The Concert« und »Dances at a Gathering« (Jerome Robbins). Uraufführungen für das Stuttgarter Ballett schufen unter anderem Christian Spuck und Marco Goecke, die mittlerweile zum Hauschoreographen avanciert sind, Douglas Lee, Kevin O’Day, Marc Spradling, Itzik Galili und Wayne McGregor. Außerdem hat Reid Anderson seit 1984 weltweit die Werke von John Cranko einstudiert. ■ Marcia Haydée Marcia Haydée zählt zu den bedeutendsten Ballerinen des 20. Jahrhunderts. In Niterói bei Rio de Janeiro geboren, studierte sie an der Sadler’s Wells School in London. Bereits als Elevin trat sie am Teatro Municipial in Rio de Janeiro auf und trat 1957 ein Engagement beim Grand Ballet du Marquis de Cuevas an. 1961 wurde Marcia Haydée von John Cranko ans Stuttgarter Ballett engagiert und entwickelte sich in dieser Compagnie rasch zu einer großen Tänzerin, die insbesondere durch ihre dramatische Gestaltungskraft weltweite Triumphe feiern konnte. Cranko kreierte für sie zahlreiche Rollen, unter anderem in »Romeo und Julia« (1962), »Onegin« (1965), »Der Widerspenstigen Zähmung« (1969), »Initialen R.M.B.E.« (1971). Auch andere bedeutende Choreographen schufen große Partien für sie, etwa Kenneth MacMillan in »Las hermanas« (1963) und »Das Lied von der Erde« (1965), Maurice Béjart in »Wien, Wien, nur du allein« (1982) sowie John Neumeier in »Die Kameliendame« (1978). Nach Crankos Tod 1973 und nach dem Ende von Glen Tetleys Zeit als Direktor des Stuttgarter Balletts (1974–1976) übernahm Marcia Haydée die Leitung der Compagnie. Sie amtierte 20 Jahre bis 1996 als Direktorin des Stuttgarter Balletts. Eine vielbeachtete Produktion erstellte sie mit ihrer Inszenierung von »Dornröschen« (1987). Nach ihrem Abschied vom Stuttgarter Ballett widmete sie sich unterschiedlichen tänzerischen Formen, beispielsweise mit Ismael Ivo und dem Klarinettisten Giora Feidman. Seit Anfang 2004 leitet Marcia Haydée wieder das Ballet de Santiago in der Hauptstadt Chiles; Direktorin der Compagnie war sie bereits zwischen 1992 und 1995 gewesen. ■ ———————————— Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e.V. ————————————— 1975 2006 31. Jahreshauptversammlung des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik e.V. im Mövenpick Hotel Handelshof – Samstag 11. und Sonntag 12. Februar 2006 Samstag, 11. Februar 2006 10:30 Uhr: Mitgliederversammlung 18:00 bis ca. 21:30 Uhr im Aalto-Theater Essen: Ballett-Gala zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2006 an Reid Anderson (Ballettintendant des Stuttgarter Balletts) Laudatorin: Marcia Haydée und Verleihung des Deutschen Tanzpreises »ZUKUNFT« 2006 an Alicia Amatriain (Tanz, weiblich; Stuttgarter Ballett), – Jason Reilly (Tanz, männlich; Stuttgarter Ballett), Christian Spuck (Choreographie; Stuttgarter Ballett) Laudator: Lothar Späth Die Verleihung des Deutschen Tanzpreises und des Deutschen Tanzpreises »ZUKUNFT« erfolgt durch den Verein zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland e.V. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik e.V. und der Tanz-Stiftung Birgit Keil. Das Stuttgarter Ballett und die Preisträger tanzen Choreographien von Itzik Galili, Uwe Scholz und Christian Spuck. Sonntag, 12. Februar 2006 10:45 bis ca. 12:30 Uhr: Vorträge zur aktuellen Situation der Umsatzteuer-Befreiung (RA Jürgen Werner), der Altersvorsorge (Gerd Wagner-Emden/Gothaer Versichungen), Künstlersozialversicherung/KSK (RA N.N.) Karten-Vorverkauf nur durch die theater & philharmonie essen TicketCenter, I. Hagen 26, 45127 Essen: Mo. 10–16; Di.-Fr. 10–19; Sa. 10–15 Uhr Tel.: 0201 / 8122-200 – Fax 0201 / 8122-201 – E-Mail: [email protected] Ballett Intern 5/2005 »ZUKUNFT« 2006 Der Deutsche Tanzpreis »Zukunft« ist eine innovative Initiative des Vereins zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland e.V. und des Deutschen Berufsverbands für Tanzpädagogik e.V. zur Förderung der beruflichen Laufbahn begabter Bühnenkünstler, seien sie klassisch oder modern ausgerichtet. Der Preis soll ihnen zu nationaler wie internationaler Anerkennung verhelfen, auf sie aufmerksam machen im Sinne einer öffentlichkeitswirksamen Entdeckung ihrer Begabung und ihnen somit nach Möglichkeit den Weg zu einer großen Karriere ebnen. Unterstützt wird diese Idee von der Tanz-Stiftung Birgit Keil, Stuttgart, sowie vom ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Prof. Dr. h.c. Lothar Späth, der sich bereit erklärt hat, die Laudatio für die ausgewählten Preisträger zu halten: Die »Tanz-Stiftung Birgit Keil« dotiert den Deutschen Tanzpreis »Zukunft« für drei Jahre mit jeweils 9.000 Euro – das heißt jeweils 3.000 Euro für jeden der drei Preisträger. Alicia Amatriain Tanz, weiblich – Stuttgarter Ballett Alicia Amatriain wurde im spanischen San Sebastián geboren. Ihren ersten Ballettunterricht erhielt sie in ihrer Heimat. Danach besuchte sie – als erste Stipendiatin der »Tanz-Stiftung Birgit Keil« – die John-Cranko-Schule in Stuttgart. Dort machte sie 1998 ihren Abschluss. Noch während ihrer Ausbildung in Stuttgart tanzte Alicia Amatriain in Balletten von Hans van Manen und Renato Zanella sowie den »Blauer-Vogel«-Pas-de-deux aus »Dornröschen« und in »La Bayadère«. Zu Beginn der Spielzeit 1998/99 wurde Alicia Amatriain als Elevin Mitglied beim Stuttgarter Ballett; ein Jahr später wurde sie ins Corps de ballet übernommen, und mit der Spielzeit 2001/02 avancierte sie zur Halbsolistin. Ein Jahr später wurde sie Erste Solistin der Compagnie. Alicia Amatriain tanzte bislang Solorollen in Balletten unter anderem von John Cranko (»Initialen R.M.B.E.«, »Der Widerspenstigen Zähmung«, »Romeo und Julia« sowie »Schwanensee«), William Forsythe »Urlicht«, Jerome Robbins (»The Concert, The Cage«, »Dances at a Gathering«), George Balanchine (»Theme and Variations«, »Serenade«, »Apollo«, »Symphony in C« und »Die vier Temperamente«), Uwe Scholz (»Siebte Sinfonie«, »Der Feuervogel«), John Neumeier (»Die Kameliendame«, »Now and Then«). Im Mai 2002 hatte sie ihr Debüt als Tatjana in Crankos »Onegin«, das von Publikum und Presse gefeiert wurde. Einige Choreographen haben Rollen für Alicia Amatriain kreiert, so Christian Spuck (»Songs und nocturne«), Itzik Galili (»Mono Lisa« und »Hikariatto«) und Wayne McGregor (»Nautilus« und »EDEN | EDEN«). 2003 schuf Christian Spuck für sie die Titelrolle in seinem ersten abendfüllenden Handlungsballett »Lulu. Eine Monstretragödie«. Alicia Amatriain Foto: Bernd Weißbrod Für ihre eindringliche Darstellung der Lulu wurde Alicia Amatriain von Publikum und Presse gefeiert und in den jährlichen Kritikerumfragen der Zeitschriften Dance Europe und ballet-tanz mehrfach als beste Tänzerin genannt. ■ Jason Reilly Tanz, männlich – Stuttgarter Ballett Jason Reilly wurde im kanadischen Toronto geboren. Seine Ausbildung erhielt er an der National Ballet School in Toronto; bereits als Schüler tanzte er ihn Balletten bedeutender Choreographen. 1997 machte er seinen Abschluss und wurde Mitglied beim Stuttgarter Ballett. Nachdem er in der Spielzeit 2001/02 zum Halbsolisten aufgestiegen war, wurde er eine Spielzeit später zum Solisten befördert. Seit 2003/04 ist Jason Reilly Erster Solist des Stuttgarter Balletts. Zu den Solorollen, in denen Reilly bislang überzeugte, gehören Brighella in »Pierrot lunaire« von Glen Tetley, Colas in »La Fille mal gardée« von Frederick Ashton, Basilio in Maximiliano Guerras Neuschöpfung des »Don Quijote« für das Stuttgarter Ballett, Gaston in John Neumeiers »Die Kameliendame«, Benvolio und Romeo in John Crankos »Romeo und Julia« sowie Prinz Siegfried in Crankos »Schwanensee«. Solistische Parts übernahm er unter anderem in der »Symphony in C« von George Balanchine, »Onegin«, »Der Widerspenstigen Zähmung«, »Initialen R.M.B.E.« von John Cranko, Hans van Manens »Kleines Requiem«, »Le Sacre du printemps« von Glen Tetley, »Edward II« von David Bintleys sowie in Itzik Galilis »Pas de deux Mono Lisa«. Folgende Choreographen kreierten Rollen für Jason Reilly: Christian Spuck in seinen Stücken »Passacaglia«, »Amores I«, »dos Jason Reilly Foto: Ulrich Beuttenmüller Ballett Intern 5/2005 amores«, »das siebte blau«, »Carlotta’s Portrait«, »Songs« und »nocturne«, Daniela Kurz in »Schere Stein Papier«, Dominique Dumais in »still.nest«, Douglas Lee in »Curtain of Hands« und »Siren sounding« sowie Jean-Christophe Blavier in »E=mc²« und Mauro Bigonzetti in »Quattro Danze per Nino«. Für die Veranstaltung »Junge Choreographen« der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft kreierten verschiedene Choreographen Rollen für Jason Reilly, darunter Marco Goecke. Dank seiner technisch makellosen Interpretation und seiner großen darstellerischen Wandlungsfähigkeit entwickelte sich Jason Reilly zu einem der profiliertesten Tänzern (Kritikerumfrage ballet-tanz, 2003). Er hat mit bedeutenden Ballerinen wie Alessandra Ferri und Evelyn Hart getanzt. ■ Christian Spuck Choreographie – Stuttgarter Ballett Christian Spuck ist seit Juni 2001 einer der heute zwei Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts. Mit seinem Werk trägt er maßgeblich zur Ausformung des modernen Profils der Kompanie bei. Spuck erhielt seine tänzerische Ausbildung an der John-CrankoSchule in Stuttgart, an der er 1993 seinen Abschluss in klassischem und modernem Tanz machte. Als Tänzer arbeitete er mit Jan Lauwers’ Needcompany und mit Anne Teresa de Keersmakers Ensemble Rosas. 1995 wurde er Mitglied des Stuttgarter Balletts. Von 1994 bis 1996 war Spuck als choreographischer Assistent von Marco Santi unter anderem an den Tanzproduktionen »Amras«, »The Sinking of …« und »The Tears of Niobe« beteiligt. Für die Reihe »Junge Choreographen« der Stuttgarter NoverreGesellschaft erarbeitete Spuck 1996 seine erste eigene Choreographie, den Pas de deux »Duo / Towards The Night«. Dieses Stück war so erfolgreich, dass sowohl das Stuttgarter Ballett als auch das Ballett der Deutschen Oper Berlin es in ihr Repertoire aufnahmen. 1997 choreographierte Spuck für die Noverre-Gesellschaft »Songs From A Secret Garden«. Ein Jahr später folgte seine erste Uraufführung beim Stuttgarter Ballett: »Passacaglia«. In der jährlichen Kritikerumfrage der Zeitschrift ballett international / tanz aktuell wurde Spuck in der Spielzeit 1997/98 und erneut in der Spielzeit 1999/2000 als »bester Nachwuchs-Choreograph« genannt. Seitdem hat Spuck acht weitere Ballette für gemischte Ballett abende choreographiert, darunter »dos amores« (1999), »das siebte blau« (2000), »Carlotta’s Portrait« und »Songs« (2001), »nocturne« (2002), »…, la peau blanche …« (2005). Seine hohe Musikalität, sein souveräner Umgang mit dem Raum, seine stilsichere Inszenie- Christian Spuck Foto: Bettina Stöß rungskunst und seine Fähigkeit, mit großen Besetzungen zu arbeiten, führten fast zwangsläufig zum erzählenden, abendfüllenden Format. Sein erstes großes Handlungsballett schuf er im Dezember 2003 für das Stuttgarter Ballett: »Lulu. Eine Monstretragödie« nach Frank Wedekind. Mit diesem erfolgreichen Werk gelang es Spuck, die Tradition des Handlungsballetts, die John Cranko beim Stuttgarter Ballett begründete, innovativ fortzuschreiben. Seit 1999 hat Spuck auch für renommierte Ballettcompagnien in Europa und den USA gearbeitet; so entstanden unter anderem »Morphing Games« für das Aterballetto (1999), »Adagio für Tänzer« des New York City Ballet (2000), »Endless Waltz« (2000), »Chaconne« für die Akademie des Tanzes Mannheim (2001), »shifting portraits« für das Ballett des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken (2004). Für das aalto ballett theater in Essen kreierte Spuck 2004 sein zweites Handlungsballett, »Die Kinder« nach dem gleichnamigen Theaterstück von Edward Bond. In der Spielzeit 2005/06 wird Christian Spuck für das Stuttgarter Ballett ein neues Werk nach der Erzählung »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann kreieren. ■ Prof. Dr. h.c. Lothar Späth Prof. Dr. Lothar Späth, geb. 16.11.1937 in Sigmaringen, war nach der Ausbildung im Verwaltungsdienst und dem Besuch der Staatlichen Verwaltungsschule Stuttgart in der kommunalen Finanzverwaltung tätig. 1965 wurde er Beigeordneter und Finanzreferent der Stadt Bietigheim, 1967 Bürgermeister. Von 1970 bis 1974 war Lothar Späth Geschäftsführer der Neuen Heimat Baden-Württemberg in Stuttgart und Vorstandsmitglied der Neuen Heimat Hamburg, von 1970 bis 1977 Aufsichtsratsbzw. Vorstandsmitglied der Baufirma Baresel AG in Stuttgart. Von 1972 bis 1978 war er Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion und ab 1978 Innenminister des Landes Baden-Württemberg. Vom 30. August 1978 bis 13. Januar 1991 war Lothar Späth Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg. In dieser Funktion war Lothar Späth 1985 Präsident des Deutschen Bundesrates und von 1987 bis 1990 Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit. Im Juni 1991 übernahm Lothar Späth den Vorsitz der Geschäftsführung der JENOPTIK GmbH. Seit der Umfirmierung zur Aktiengesellschaft im Januar 1996 ist Lothar Späth Vorsitzender des Vorstandes der JENOPTIK AG. Im September 1992 wurde Lothar Späth zum Königlich Norwegischen Generalkonsul für Thüringen und Sachsen-Anhalt ernannt. Im April 1996 hat Lothar Späth das Amt des Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Ostthüringen zu Gera übernommen. Seit 1985 hat Lothar Späth eine Reihe von Bestsellern geschrieben, so z. B. »Countdown für Deutschland« (1995), »Die zweite Wende« (1998), »Jenseits von Brüssel« (2001), jeweils veröffentlicht mit Herbert A. Henzler, und »Die Stunde der Politik« (1999). Die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten Karlsruhe und Pecs haben Lothar Späth die Ehrendoktorwürde verliehen. Von der Universität Ulm hat er die Ehrensenatorwürde erhalten. Die Friedrich-Schiller-Universität Jena hat ihm sowohl die Ehrensenatorwürde als auch eine Honorarprofessur für das Fachgebiet Medien und Zeitdiagnostik verliehen. Seit Juni 2000 ist Lothar Späth Preisträger des John J. McCloyPreises des American Council of Germany. Ballett Intern 5/2005 der Kulturstiftung des Bundes Zeitgenössischer Tanz aus Deutschland steht international hoch im Kurs. Deutsche Choreographen touren weltweit. Gleichzeitig steht der Tanz hierzulande auf wackeligen Beinen: Compagnien an staatlichen Theatern fallen als Erste den Sparmaßnahmen zum Opfer, die Ausbildungssituation lässt trotz vieler exzellenter Ansätze manche Wünsche offen und der eine oder andere Tanzschaffende könnte von einem profunderen Wissen um die – auch jüngere – Geschichte der eigenen Kunstform profitieren. Hier will der von der Kulturstiftung des Bundes initiierte »Tanzplan Deutschland« ansetzen. Der »Masterplan« für den Tanz hat zum Ziel, im Rahmen der Spitzenförderung von Kunst und Kultur bis zum Jahr 2010 nachhaltige Maßnahmen für den Tanz zu ergreifen. Vor allem soll es darum gehen, die strukturellen Bedingungen für und die Wahrnehmung von Tanz als eigenständige und dabei außergewöhnlich lebendige Kunstsparte zu stärken. Tanz als selbstverständlicher Bestandteil des Bildungssystems hat das Potenzial, kulturformend zu wirken. Der »Tanzplan Deutschland« will bestehende und sich entwickelnde Initiativen in ihren Prozessen unterstützen und deren Projekte moderierend begleiten. Er versteht sich insofern nicht als bloßes Förderinstrument, sondern will sich gemeinsam mit den Tanzschaffenden der Herausforderung stellen, neue Wege zur kulturpolitischen Durchsetzung von künstlerischen Ideen zu beschreiten. Im Zentrum von »Tanzplan Deutschland« stehen zwei Projekte: »Tanzplan vor Ort« und »Tanzplan Ausbildungsprojekte«. Tanzplan vor Ort Die Grundidee für »Tanzplan vor Ort« ist an das Prinzip der Kulturhauptstadt Europa angelehnt: in vierzehn ausgewählten deutschen Städten wurde ein Ideenwettbewerb initiiert, der den Anreiz bot, sich im Rahmen von »Tanzplan Deutschland« national und international zu profilieren. Die Städte mit den innovativsten und interessantesten Modellprojekten zur Strukturentwicklung von Tanz sollen bis ins Jahr 2010 max. 1,2 Mio. Euro von der Kulturstiftung des Bundes erhalten – unter der Bedingung, dass Stadt oder Land zusätzliche Gelder in derselben Höhe bereit stellen. Mit Berlin, Bremen, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig, München, Potsdam, Stutt gart und Weimar wurden Städte zur Teilnahme eingeladen, die sich für den Tanz bereits deutlich engagiert haben. Sie waren aufgefordert, Ideen zur Verbesserung der Situation des zeitgenössischen Tanzes auszuarbeiten. Dabei konnte es sich z.B. um neue Ausbildungsmodelle für Tanz, Pädagogik und Choreographie, Projekte zur Förderung von Tanz an Schulen, den Aufbau von Produktionszentren oder ein Austausch- und Tourprogramm handeln. Das Tanzplan-Kuratorium bewertete die Stimmigkeit des künstlerischen Gesamtkonzeptes, die Qualität der bisherigen Arbeit sowie der lokalen Kooperationspartner und prüfte die Projekte auf ihre potenzielle nationale und internationale Ausstrahlung. In einem nächsten Schritt wurden die Initiatoren der vielversprechendsten Vorhaben aufgefordert, ihre Ideen in haltlich auszuarbeiten und mit der verbindlichen Förderzusage der jeweiligen Stadt erneut dem Kuratorium vorzulegen. Über die endgültige Auswahl der Tanzplan-Städte entscheidet das Kuratorium Ende Januar 2006. Tanzplan Ausbildungsprojekte Im Bereich »Ausbildungsprojekte« widmet sich der »Tanzplan Deutschland« neuen Ansätzen in den Gebieten Post-Graduate, Choreographie und Pädagogik. Die Tanzausbildung in Deutschland ist durch Hochschulen und Fachhochschulen in der Grundausbildung des klassischen und zeitgenössischen Tanzes gesichert. Woran es in der Ausbildung jedoch mangelt, sind Verbindungen zur Tanzwissenschaft und der choreographischen Praxis. Der »Tanzplan Deutschland« regt Gespräche mit Fachleuten und Vertretern der Hochschulen an, um Wege zur Umsetzung zeitgemäßer Ausbildungsmethoden zu finden. Dabei geht es unter anderem um folgende Themen: Wie können im Rahmen der Ausbildung neue Arbeitsformen gefunden werden, um Studenten besser auf die künstlerische Praxis vorzubereiten? Wie kann ein interdisziplinärer Austausch zwischen Lehrern und Hochschulen aussehen? Wie stellt sich für den Bereich Tanz in der Schule die Tanzpädagogenausbildung im europäischen Vergleich den veränderten Anforderungen? Die Vernetzung sowohl mit choreographischen Zentren und Produktionsstätten als auch mit neuen hochschulübergreifenden Ausbildungsmodellen, wie sie in Berlin und Frankfurt zur Zeit in Planung sind, ist Teil des Vorhabens. Ziel ist es, durch Pilotprojekte und innovative Maßnahmen die Entwicklungen im Ausbildungsbereich zu begleiten und mit zu gestalten. Die Entscheidung über zu fördernde Ausbildungsprojekte wird ebenfalls vom Kuratorium des »Tanzplan Deutschland« gefällt. Darüber hinaus fördert die Kulturstiftung des Bundes im Zusammenhang von »Tanzplan Deutschland« eine Reihe von weiteren Projekten wie die Koproduktionsförderung des Nationalen Performance Netzes (NPN), die Künstleraufenthalte im Rahmen der »Tanzplattform Deutschland« sowie die Internetportale »dance-germany.org« und »tanznetz.de«. Der »Tanzplan Deutschland« wird über die Dauer von fünf Jahren von der Kulturstiftung des Bundes mit einem Gesamtvolumen von 12,5 Mio. Euro ausgestattet. Für die inhaltliche Konzeption ist das vom Stiftungsrat der Kulturstiftung berufene Tanzplan-Kuratorium verantwortlich, dem Nele Hertling, Reinhild Hoffmann, Johannes Odenthal, Gerald Siegmund und Hortensia Völckers angehören. Die Durchführung obliegt dem gemeinnützigen Verein »Tanzplan Deutschland e.V.« unter der Projektleitung von Madeline Ritter. ■ Tanzplan Deutschland Paul-Lincke-Ufer 42/43 – 10999 Berlin Tel. 030-695797-10 – Fax 030-695797-13 [email protected] www.tanzplan-deutschland.de www.kulturstiftung-des-bundes.de Ballett Intern 5/2005 zeitgenössischen Tanzpraxis, die aufgrund der technischen Virtuosität, den vielfältig kombinierbaren Tanzstilen und des zehrenden Tourneebetriebs unzählige gesundheitliche Risiken birgt, sind vorbeugende tanzmedizinische Betreuung und Beratung unerlässlich. Tanz mit dem Publikum Die Kongressthemen Tanz als Wissenskultur Kernthema des Kongresses ist die Frage, inwieweit der Tanz eine spezifische Form von Wissen birgt, die an Körper und Bewegung gebunden ist. Das einzigartige kulturelle Potenzial des Tanzes als Archiv und Medium des Wissens soll im Tanzkongress untersucht und beschrieben werden, um die Aufmerksamkeit für den Tanz als Kunstform in der öffentlichen Wahrnehmung zu steigern. Hierbei werden auch die Grauzonen des Wissens berücksichtigt, angesichts derer sich Praktiker und Theoretiker ihr eigenes Nicht-Wissen eingestehen müssen. Arbeitsprozesse und Produktionsstrukturen Unterschiedliche choreographische Konzepte erfordern eigene Arbeitsweisen, führen zu verschiedenen Präsentationsformaten und benötigen entsprechende Produktionsstrukturen. In diesem Themenkomplex werden daher die Bedürfnisse, Probleme und Initiativen der Choreographen hinsichtlich von Arbeits-, Förderund Strukturmodellen diskutiert. Schließlich geht es darum, mit der Perspektive des 5-jährigen Tanzplans kulturpolitische Forderungen für die deutsche Tanzlandschaft zu formulieren. Tanztechnik und Ausbildung Tanztechnik wird in den diversen Tanzstilen unterschiedlich angewandt, definiert und bewertet. Entsprechend vielfältig sind auch die Formen der Vermittlung und Aneignung dieses Körperwissens sowie die Ausbildungsmodelle für den Tanz. Die komplexe Frage nach den Inhalten und dem Selbstverständnis im Umgang mit Tanztechnik in der Vorausbildung, der professionellen Tanzausbildung und der choreographischen Praxis wird erneut aufgegriffen, um Lösungsansätze für die deutsche Ausbildungslandschaft zu entwickeln. Außerdem werden Initiativen für die tänzerische Frühausbildung an Schulen vorgestellt, wobei insbesondere die Fachkompetenzen der Choreographen und Tanzpädagogen im Mittelpunkt stehen. Körperwissen und Gedächtnis Das tänzerische Körperwissen liegt in der Fähigkeit, Bewegung zu erinnern und zu reproduzieren. Gleichzeitig sind Tänzer immer darum bemüht, die durch Ausbildung und Training erlernten Bewegungsmuster zu überwinden. Lange bevor die Neurowissenschaften nachvollziehbar machen konnten, wie der Körper Bewegung lernt und produziert, entwickelten Choreographen und Tänzer eigene Methoden der Bewegungsforschung. An exemplarischen Projekten aus Tanz und Wissenschaft werden die Überschneidungen von Neurowissenschaften und Bewegungsforschung diskutiert. Tanzmedizin Die Tanzmedizin überträgt sportmedizinische Erkenntnisse auf die besonderen Belange von Tänzern, die einerseits Künstler, andererseits aber auch Sportler sind. Besonders angesichts der Der zeitgenössische Tanz fordert die Zuschauer immer wieder heraus, indem er sie auf die eigene Rolle als direkt oder indirekt Beteiligte zurückwirft. Das hat nicht nur Konsequenzen für die Aufführungssituation, sondern auch für die Tanzwissenschaft und -vermittlung. Der Tanz braucht einen theoretischen Diskurs zur ästhetischen Erfahrung, der das Verhältnis von Aufführung und Rezeption berücksichtigt. Außerdem müssen die diffusen Kompetenzen und Aufgabenfelder im Spannungsfeld von Markt, Praxis und Theorie neu verhandelt und definiert werden. Tanz als Arbeit und Ware Sozialer Status, Werdegang und Arbeitsalltag der Tänzer und Choreographen sind stark durch den Tanzmarkt bestimmt. Vor allem Balletttänzer stehen mit spätestens Mitte 30 vor der Frage »Ballett – und dann?« Am Beispiel von erfolgreichen Initiativen werden Perspektiven für die professionelle Weiterbildung diskutiert. Da Choreographen vor der Herausforderung stehen, Tanz als Produkt und ihr Können als Arbeitskraft zu vermarkten, integrieren manche von ihnen den ökonomischen Aspekt der Kunstproduktion in ihre künstlerischen Arbeiten, um die Mechanismen des Marktes künstlerisch zu reflektieren und zu nutzen. Tanz, Kultur und Gesellschaft Der Tanz hat sich im Vergleich zu anderen Kunstformen nie als besonders politisch definiert, obwohl er historisch betrachtet immer schon kritisch Stellung bezogen hat. In einer durch Migration und Medien geprägten Wissensgesellschaft kommt dem Tanz eine besondere Funktion zu. Da sich die Prozesse der Produktion und Distribution von Information durch die Globalisierung verändert haben, sind Tänzer und Choreographen, für die Interkulturalität und Mobilität zum Arbeitsalltag gehören, für eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Macht, Kultur, Körper und Identität geradezu prädestiniert. Tanz/Geschichte(n)/Schreiben Das Potenzial des Tanzes im Kontext einer primär durch Sprache und Bilder geprägten Kultur liegt in seiner Unmittelbarkeit und Begrifflosigkeit. Tanzwissenschaft und -geschichte stehen damit vor der Herausforderung, eine flüchtige Kunstform in Worte zu fassen und sich gleichzeitig der eigenen Methoden, Instrumentarien und Begriffe bewusst zu sein. Die Reflexion der eigenen Möglichkeiten ist also immer schon Bestandteil eines Schreibens und Sprechens über Tanz. Konzepte und Positionen des Kritischen Wo Kritik zum immanenten Bestandteil der Kunst geworden ist, scheint die modernistische Triade von Kunst, Kritik und Publikum obsolet. Gleichzeitig erfordert die zeitgenössische Tanzpraxis aufgrund ihrer Diversität, Hybridität und Komplexität eine stärkere Vermittlung gegenüber dem Publikum. Entsprechend sind Expertise, Autorität und Ethik der professionellen Kritiker ins Kreuzfeuer geraten. Die Debatte um die Rolle der Kritik wird an Hand von Konzepten und Positionen des Kritischen in Tanztheorie und -praxis aufgegriffen. ■ Ballett Intern 5/2005 Tatjana Gsovsky »Was und wer ich bin, habe ich auf der Bühne gezeigt.« Von Ralf Stabel »Was ich zu sagen hab’, habe ich dort gesagt«, äußerte die »Zarin des deutschen Balletts« selbstbewusst und hinterließ folglich weder Memoiren noch Autobiographie. Zwölf Jahre nach ihrem Tod nun endlich ist eine opulente Publikation entstanden, die »zahlreiche, zum großen Teil bisher unveröffentlichte Texte aus ihrem Nachlaß« mit Libretti, Entwürfen, Skizzen und Textbeiträgen bedeutender Persönlichkeiten verbindet. Und am allerwichtigsten: Fotos, Fotos, Fotos – 300 an der Zahl. Denn das Werk der »legendären Schöpferin des modernen Tanztheaters« ist nicht in Tanz-Schrift notiert und auch kaum gefilmt worden. Die Dinge zu suchen, die man nicht direkt sage, sondern von einem Menschen zum Anderen entsende ohne Sprache, das sei ihre Welt des Tanzes gewesen, erinnert sich die Gsovsky. Tut man nun einer solchen Persönlichkeit Recht, wenn man Texte druckt, die der Öffentlichkeit vorenthalten worden waren und sie mit solchen koppelt, die – wie Radiobeiträge – mit ihrer Vergänglichkeit rechnen konnten? Der Akademie der Künste Berlin gilt besonderer Dank, dass sie sich dieses schwierigen Unterfangens angenommen hat. Aus »Erinnerungen«, d. h. aus meist undatierten Textpassagen unterschiedlicher Herkunft, ist im ersten Teil des Buches eine Art Auto-Biographie entstanden, die bei manchem Leser sicher auch die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit aufwerfen dürfte. Da die zusammenfassenden Beiträge von Horst Koegler, Dietrich Steinbeck und Walter Jens erst nach der Darstellung der vielen Dokumente zu Werken und Begegnungen folgen, sei dem Leser die Möglichkeit aufgezeigt, dieses wichtige Buch vielleicht auch von hinten nach vorn zu entdecken. Lediglich der Beitrag von Klaus Geitel wurde (neben dem des Herausgebers) exklusiv für diese Publikation verfasst. Er ist daher auch von besonderer Bedeutung, da er Person, Werk und Tänzer beschreibt und die Entwicklung sowohl als wissender Zeitzeuge als auch aus der heutigen Rückschau bewertet. Erst diese Laudatio fügt das ganze Material aufs Sinnfälligste und Anschaulichste zusammen. Denn, »wer mag der Nachwelt im 21. Jahrhundert noch einen Begriff davon zu vermitteln, wie ›Der Idiot‹, ›Hamlet‹, ›Der Mohr von Venedig‹, ›Pelleas und Melisande‹, ›Schwarze Sonne‹, ›Paean‹, ›Der rote Mantel‹ und ›Labyrinth der Wahrheit‹ getanzt worden sind?«, fragt Horst Koegler zu Recht. Die Auflistung der Werke aber wagt genau diesen Versuch. Sie beginnt mit den 1936 in Essen aufgeführten »Landsknechte« und endet mit der Berliner »Raymonda« von 1975. Alle Stücke werden – zwar nicht gleichwertig – anhand von Fotos, Programmzetteln und Rezensionen vorgestellt. Dass ein Werk wie »Abraxas« dabei ganz ohne Presse erscheint und für »Die Tat« das Spandauer Volksblatt zitiert wird, stimmt nachdenklich. Vieles machen aber vor allem die Fotos deutlich. Am Wichtigsten: Was wäre die Choreographin ohne ihre Tänzer. Hier wird die alle(s) überragende Rolle von Gerd Reinholm sichtbar. Und so ist es auch ein Buch über ihn und all die anderen wichtigen Darsteller und sogar über ihre Fotographen geworden. Ihr »Konflikt-Tanz«, wie Tatjana Gsovksy ihre literarisch geprägten Tanz-Dramatisierungen selbst nannte, zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass – nach Hans Werner Henze – für jedes Stück ein eigener, nur für dieses Werk gültiger Gebrauch tänzerischer Möglichkeiten erfunden wurde. Tatjana Gsovsky war mehr als eine Choreographin und mehr als eine Regisseurin. Sie war beides in Potenz: Eine Bewegungsregisseurin. Klassifizierungen wie klassisch, modern oder national lehnte sie rundweg ab. Ita Maximowna beschrieb ihr Lebenswerk als »das Ziel, die Brücke zu schlagen zwischen dem altherkömmlichen, klassischen Ballett von Vorgestern und dem Tanz von Übermorgen.« Für die Gsovsky war die »Befruchtung« von Tradition und Moderne selbstverständlich – jedoch mit der Konsequenz, dass auch ein modernes Ballett ein Ballett blieb. Als ihre prägnanteste Erfindung wird wohl das »Berliner Ballett« in die Tanzgeschichte eingehen. Bald »provozierte« sie auch die Bezeichnung »Berliner Stil« für ihre Kreationen, denen man einen erstaunlichen »Einklang von Thema und Technik« attestierte. Mit dieser kleinen, in jeder Hinsicht flexiblen und damit unabhängigen Truppe verwirklichte sie von 1952 bis 1973 ihre künstlerischen Projekte. Nicht nur ihre Werke im »modernen, durchaus deutschen Tanzstil«, auch die Struktur des »Berliner Balletts« war ihrer Zeit weit voraus, wie Max W. Busch anschaulich beschreibt. Selbstredend, dass sie damit auch kritischen Stimmen ausgesetzt war. »Das Tanztheater der Tatjana Gsovsky war in Berlin von Anbeginn an umstritten, wirkte polarisierend auf Publikum und Presse«, schreibt Dietrich Steinbeck. Gehässige Äußerungen Ballett Intern 5/2005 wie »und man wird des Tiefsinns nicht froh, weil man immer an Rhönradgymnastik denken muß« des Berliner Tagesspiegels aus dem Jahr 1954 zu »Der rote Mantel« werden wohl nicht selten gewesen sein. Klaus Geitel beschreibt rückblickend: »Ihre Visionen schlugen sich nieder in Schritten, die dem dramatischen Geschehen eingeboren schienen. Es wurden choreographisch keine Posen erklommen, tänzerische Entwicklungen verdichteten sich gewissermaßen zwangsläufig zur tanzdramatischen Explo sion.« Und Horst Koegler erinnert an ihre choreographische Handschrift »in ihrer abenteuerlich kühnen Mischung aus klassisch-akademischen Elementen, expressionistischen Ausdrucksgebärden, plastisch-skulpturalen Posen, akrobatischen Kontorsionen und rein dekorativer Ornamentik«. Das sei damals »etwas so Deutsches« gewesen, dass es denjenigen, die von der Eleganz, der Bravour und der Virtuosität des russischen, des englischen, des französischen und des amerikanischen Balletts geblendet waren, eher Angst gemacht habe. Denjenigen, die sich gerade der Internationalität des Balletts geöffnet hatten, habe für ihr Werk jegliches Verständnis gefehlt. Unbestritten und daher ebenso als beispielhaft hervorzuheben ist ihr Entdecken und Fördern junger musikalischer, bildnerischer und selbstverständlich tänzerischer Talente. Unendlich Vieles müsste in diesem Zusammenhang über das Pädagogische gesagt werden. Das Schönste, Richtigste und Treffendste über die Kunst des Erziehens hat sie als Ermahnung selbst formuliert: »Und behalte stets im Sinne, daß das Wesentliche einer Darstellung darin besteht, das Geschehene ins Imaginäre zu vertauschen.« In ihrer 1928 gegründeten Berliner Tanzakademie formte sie nicht nur Tänzer, sondern Künstlerpersönlichkeiten wie Gisela Deege, Natascha Trofimowa, Maria Fries, Tana Herzberg, Lieselotte Köster, Suse Preisser, Konstanze Vernon, Peter van Dyk, Rainer Köchermann und Gert Reinholm. So wird dieses Buch dem Menschen, der Künstlerin und der Pädagogin eigentlich gleichermaßen aufs Glücklichste gerecht. Doch wie schon Kurt Tucholsky erinnerte: »Etwas ist immer. Tröste dich – jedes Glück hat einen kleinen Stich.« Nach der Lektüre stellen sich auch Fragen wie die nach einem politischen Bewusstsein. »Es war dann – wie er das schaffte, blieb ein Rätsel bis heute – Hans Schüler in Leipzig, der auch Tatjana Gsovsky – wie so vielen anderen Regime-Opfern – neue Aufgaben stellte«, schreibt Dietrich Steinbeck und verweist auf den legendären, den Opferstatus begründenden Ausschluss aus der Reichstheaterkammer wegen der »Goyescas« von 1940 – für den ihm allerdings kein diesbezügliches Dokument bekannt sei. Ein Blick in das phantastische Werkverzeichnis (Zusammenstellung Stephan Dörschel) hätte die Autoren zum Nachfragen veranlassen können. Michael Heuermann kommt in seiner Dissertation über Tatjana Gsovsky aus dem Jahr 2001 nach Sichtung der Dokumente im Bundesarchiv zu der Einschätzung, dass »diese Aufführung keinen Ausschluß aus der Reichstheaterkammer zur Folge« hatte. Er beschreibt, dass sie als Pädagogin und Schulbesitzerin von der sich verändernden »Berliner Ballettschullandschaft profitieren« konnte. Die Autorinnen von »Tanz unterm Hakenkreuz« halten Tatjana Gsovsky für eine der beliebtesten Film-Choreographinnen und erheben andere schwere Anschuldigungen gegen sie. Was überliefert uns die Künstlerin selbst zu dieser Zeit? »Der Krieg warf seine Schatten voraus«, schreibt sie. »Regierungswechsel brachte neue Schwierigkeiten.« Während ihr Mann und viele andere Deutschland verlassen mussten, ging es für sie in diesem Land weiter: »Man hält sich einfach aneinander – Plié – Battement.« Ihr Schüler Peter von Dyk fasste es so zusammen: »Die fünfte Position war wichtiger als alle eventuellen ›Feindeinwirkungen‹«. Doch Tatjana Gsovsky hatte durchaus ein historisches und politisches Bewusstsein. Aussagen wie die folgenden zeigen dies deutlich: »Jede Kunst ist eine politische Äußerung. Wir dienen der Politik, weil wir leben und schaffen.« Auch um die soziokulturelle Gebundenheit des Tanzes wusste sie: »Die Form des Tanzes ist bedingt durch die Form der Gesellschaft. Deren Wandel und Wandelbarkeit machen seine Entwicklungs- und Stilgeschichte aus.« Und über die Wechselwirkung von Kunst und Leben schrieb sie: »Die ›großen Geschehnisse‹ unserer Gegenwart spiegeln sich selbstverständlich genauso in der Kunst wie sie es seit jeher und zu allen Zeiten getan haben. Nur hat jede Zeit ihre eigene Sprache [...].« Die eigene Biographie nicht meinend, vielleicht aber mit bedenkend, formulierte sie: »Ich wüßte heute nicht, mit welchem Konflikt man anfangen könnte; denn jeder Mensch besteht nur aus Konflikten, es gibt fast keine harmonische Biographie.« 1965 schrieb der Generalintendant der Deutschen Oper Berlin Gustav Rudolf Sellner: »Es wäre ein Zeugnis geradezu diskriminierender Simplizität anzunehmen, daß Tatjana Gsovsky schlechthin eine Choreographin, eine Pädagogin oder eine Tänzerin sei. Sie ist ein Mythos, zeitlos, inkommensurabel.« Kein Wunder also, dass Tatjana Gsovsky Auskünfte zu ihrem Leben mit einer wegwerfenden Geste zu diesem »biographischen Kram« mitunter auch verweigerte? ■ Zu diesem Thema ist soeben das Buch Tatjana Gsovsky – Choreographin und Tanzpädagogin (von Max W. Busch hrsg. für die Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin) erschienen. Ballett Intern 5/2005 Zum 80. Geburtstag Ein Besuch bei Maija Plissezkaja Von Julia Lukjanova Maija Plissezkaja – russische Tänzerin und Choreographin, eines der berühmtesten Mitglieder des Bolschoï-Balletts. Sie studierte in Moskau an der Ballettschule des Boschoï-Theaters und wurde 1943 Ballerina im Ensemble. Ab 1962 war sie »Primaballerina Assoluta«. Seit 1991 wohnt sie mit ihrem Mann, dem berühmten russischen Komponisten Rodion Schtschedrin, in München. Eine kleine Zweizimmerwohnung mitten in München. Die Tür wird dem Besucher von einem Künstlerpaar geöffnet, das die Geschichte des russischen Balletts und teilweise der russischen Musik mitgeschrieben hat. Die geschmackvolle Einfachheit der Einrichtung sticht ins Auge. »Wir haben eine schöne Wohnung in Moskau und ein Haus in Litauen, die präsentabler sind«, erklären die Gastgeber. Es ist eine typische Künstlerwohnung, mit einem kleinen Konzertflügel und großen Regalen mit vielen Büchern und CDs. Doch das ist nicht wichtig, wenn man bedenkt, wer hier lebt. Im November hat Maija Plissezkaja ihren 80. Geburtstag gefeiert, und sie sieht immer noch aus, wie eine Tänzerin »in Form«. Ihre berühmtesten Rollen waren Odette-Odile in »Schwanensee« und »Der sterbende Schwan«. Dieser »Schwan« zieht sich wie ein roter Faden durch ihr ganzes Leben – ihre Glanzrolle, die sie über achthundert Mal getanzt hat, und die sie nicht lyrisch, sondern kämpferisch gestaltete. Neben den klassischen Rollen trat sie auch in modernen russischen Balletten auf. Maija Plissezkaja hatte kein einfaches Leben. 1925 geboren, als Tochter eines in Stalins Auftrag 1938 erschossenen Industriellen und einer jüdischen Schauspielerin, die als Frau eines »Volksfeindes« für viele Jahre nach Kasachstan deportiert wurde, wuchs Maija Plissezkaja in Moskau bei verschiedenen Verwandten auf. Mit neun Jahren wurde sie in die Ballettschule des Bolschoï-Theaters aufgenommen, und mit elf stand sie in »Dornröschen« zum ersten Mal auf der Bühne. Es ist erstaunlich, dass ein Kind ohne Eltern, erfüllt mit Angst und Sorge, ohne Verständnis für die politischen Verhältnisse, eine so große Stärke entwickeln kann, um eine solche Disziplin zu erarbeiten. Niemals hat sie aufgegeben, sie hat immer ihren Traum verfolgt, auch während des Krieges, und trotz Evakuierung. Sie kam immer wieder zurück auf ihre geliebte Bühne. 1943 wurde sie in das Ensemble des Bolschoï-Theaters aufgenommen. »Die Kunst hat mich gerettet«, beantwortet Maija Plissezkaja die Frage nach ihrer Kindheit, »ich habe mich aufs Tanzen konzentriert und wollte, dass meine Eltern stolz auf mich sind.« Sie hat es tatsächlich geschafft, von einem Kind des »Volksfeindes« zum Stolz der ganzen Nation zu werden. Und es sind keine gro ßen Worte, denn als Tänzerin in der damaligen Sowjetunion musste Maija Plissezkaja viel beweisen. Sie erzählt sehr verbittert über die Künstleragentur, an die sie das Geld, das sie im Ausland ertanzte, abzahlen musste. Sie spricht mit einem Schmerz in der Stimme über die damalige Theaterdirektion und die Überwachung seitens des KGB, ihre ewigen und endlosen Versuche, an die Regierung heranzukommen, um Klarheit zu schaffen. Sie war das Vorzeige-Modell des Landes, sie wurde allen ausländischen Gästen gezeigt, ihre Vorstellungen waren immer ausverkauft – doch sie durfte nicht ausreisen. Sie musste alle Einladungen mit dummen Ausreden ablehnen. 10 Maija Plissezkaja musste aufgrund der politischen Situation, der Bespitzelung am Theater und ihrer familiären Vergangenheit Angst um ihr Leben haben; später durfte sie reisen, aber während sie nach Prag fahren musste, gastierte das gesamte BolschoïTheater an der Oper in Paris – Prag zählte nicht zu den großen Auslandsreisen. »Deswegen bin ich nicht im Westen geblieben«, sagt Maija, »mein Mann und meine Familie waren in Russland und ich wusste, was sie erwartet, wenn ich nicht zurückkäme.« Es ist bekannt, was namhafte Künstler wie Michail Baryschnikow über sich ergehen lassen mussten, weil sie von einem Gastspiel in Europa oder der USA nicht zurückkehrten. Sie wurden als »Verräter der Nation« bezeichnet, haben ein Einreiseverbot erhalten oder wurden sogar ausgebürgert. Ihre Familien durften sie viele Jahre nicht sehen, doch die Familienangehörigen sowie der gesamte Freundeskreis und Kollegen wurden endlosen Befragungen durch die Machtinhaber unterworfen. Die große Karriere begann trotz Krieg und Hunger, trotz der ständigen Schikane durch den KGB und des Ausreiseverbotes. Als Galina Ulanowa 1960 zurücktrat, wurde Maija Plissezkaja aufgrund ihrer brillanten Technik, ihrer Schauspielkunst und ihrer enormen Musikalität als Primaballerina Assoluta des Bolschoï gefeiert. Sie spricht offen über ihre Vergangenheit, über den Verlust des Vaters und die Angst um die Mutter, über die Intrigen am Theater, Unterdrückung und die politische Situation der damaligen Sowjetunion. In ihrem Buch »Ich, Maija« beschreibt sie nicht nur das disziplinierte Leben einer Tänzerin, sondern 70 Jahre sowjetische Geschichte, von der Stalinzeit bis zur Perestrojka. Sie hat alle Rollen des Klassischen Balletts getanzt – kurioserweise unter anderem zu Ehren Stalins anlässlich seines Geburtstags und natürlich vor seinen Nachfolgern. »Ich hatte Angst und war sehr aufgeregt«, erklärt sie, »der Boden war sehr glatt im doppelten Sinn des Wortes. Ich habe immer wieder ins Publikum geschaut und gedacht, wer war für das Unglück meiner Familie verantwortlich?« 1956 galt sie international als eine der besten russischen Tänzerinnen klassischer und moderner Rollen. Die USA und Kanada lernte sie 1959 im Rahmen einer Tournee des Bolschoi-Theaters kennen. 1967 gastierte Maja Plissetskaja in der Bundesrepublik Deutschland, und 1976 tanzte sie bei der Einweihung des »Palast der Republik« in Ostberlin. Während der Reisen wurden viele Künstler und Prominente zu Freunden, so zum Beispiel Coco Chanel, Ingrid Bergmann oder Pierre Cardin, der alle Kostüme für ihre eigenen Ballette kreierte und der einzige Designer ist, für den Maija Plissezkaja sich als Modell präsentierte. Die Tänzerin ist auch berühmt für ihren rebellischen Charakter. So setzte sie sich heftig gegen die Widerstände zur Wehr, die am Bolschoï-Theater die Arbeit moderner Choreographen verhindern wollten und tanzte die neuen Stücke einfach selbst. Ihr ist es zu danken, dass Russland die Kunst Roland Petits und Maurice Béjarts kennen lernte. Ballett Intern 5/2005 Von der Arbeit mit Béjart an »Bolero« gibt es eine besondere Geschichte. Die Tänzerin konnte sich die Choreographie nicht merken, wollte »Bolero« aber unbedingt tanzen. Béjart fand eine Lösung. »›Bolero‹ wurde von Béjart in 16 Teile geteilt«, erzählt Maija Plissezkaja mit einem Lächeln. »Die verschiedenen Melodien tragen beliebige Namen wie ›Katze‹, ›Sonne‹, ›Samba‹ etc. Es war sehr schwierig für mich, mir alle choreographischen Abschnitte in der richtigen Reihenfolge zu merken, und so hat sich Maurice Béjart während der Aufführung hinter die Kulissen gestellt, mit einem weißen Pullover und beleuchtet. Er hat mir alle Bewegungen souffliert, und ich war sehr konzentriert. Später schrieben die Kritiker, dass ich eine tolle Atmosphäre geschaffen habe, eine starre Konzentration, eine schon fast religiöse Plastik. Es war sehr amüsant.« Seit 46 Jahren ist Maija Plissezkaja mit dem berühmten russischen Komponisten Rodion Schtschedrin verheiratet. Sie lernten sich »über die Ohren« kennen, erzählt Schtschedrin. Bei Lilja Brig, der Muse und »unverheirateten Ehefrau« von Wladimir Majakowski, hörte er ihre Stimme: »Lilja spielte mir eine Kassette vor, auf der eine junge Frau eine Ballettmusik nachsingt. Es war fabelhaft und unbegreiflich. Ich wollte diese Frau kennen lernen«, beschreibt Rodion Schtschedrin die erste Erinnerung an Maija. Maija Plissezkaja hat das sogenannte absolute Gehör und kann, so sagt ihr Mann, alle Instrumente eines Orchesters nachmachen. 1958 haben sie in Moskau geheiratet und sind seither glücklich zusammen. »Wir waren oft getrennt«, sagt Maija, »und haben eine Menge Geld für Telefonrechnungen ausgegeben, denn mein Mann konnte aus politischen Gründen nicht überall mit mir fahren und musste als Pfand in Moskau bleiben.« Doch sie haben es geschafft – sie sind unzertrennlich. Die 1967 entstandene »Carmen-Suite« von Schtschedrin sowie Eva Evdokimova – Bloß keine »Skulpturroboter« Von Volkmar Draeger Auch wenn sie seit dem Ende ihrer aktiven Laufbahn in New York lebt, gemeinsam mit dem Ehemann, einem Dirigenten, so hat Eva Gregori ihre große Karriere doch in der Alten Welt gemacht. Als Eva Evdokimova war sie eine zutiefst europäische Ballerina, gespeist aus einer ehrwürdigen tänzerischen Tradition, durchdrungen und geformt vom Geist des romantischen Balletts, unter den weiblichen Stars ihrer Generation vielleicht so etwas wie die First Lady. In Genf wurde sie geboren, in München trat sie mit sechs Jahren dem Kinderballett der Bayerischen Staatsoper bei, wechselte mit zehn zur Royal Ballet School in London, wo sie parallel Tanz und Musik studierte. In der englischen Metropole wurde Maria Fay für ein weiteres Jahr ihre Privatlehrerin, ehe sie, mit 17 und als erste Ausländerin, ein Engagement ans Königlich Dänische Ballett erhielt. 1969 ging sie als Erste Solotänzerin an die Deutsche Oper Berlin, avancierte schon 1973 zur Primaballerina. Zwischendrin, 1970, gewann sie die Goldmedaille beim Ballettwettbewerb in Varna und absolvierte (bei der heutigen Finanzlage undenkbar) mit Hilfe eines Stipendiums des Senats eine Zusatzausbildung bei Natalja Dudinskaja im damaligen Leningrad. Die Hauptrollen in den großen Klassikern wurden ihre Domäne, ihre »Sylphide« geriet zur Legende, von der man Zeitzeugen noch heute schwärmen hört. AuslandsgastBallett Intern 5/2005 »Anna Karenina« aus dem Jahr 1971, »Die Möwe« von 1979 und »Dame mit Hündchen« 1985 wurden am Bolschoï-Theater uraufgeführt. Die Choreographien sind von ihr, die Musik von ihm. »Die ›Carmen‹ hat mich immer interessiert«, erzählt Plissezkaja, »doch niemand wollte die Opernmusik fürs Ballett adaptieren. Ich habe mit Schostakowitsch gesprochen und mit Chachaturjan, und sie hatten beide Angst vor Bizet. Mein Mann war sehr eingespannt mit seiner neuen Sinfonie, aber er hat sich das angeguckt und fühlte sich gleich inspiriert. Er war und ist eine große Hilfe für mich.« Alle diese Werke sind Meilensteine in der russischen Ballettkomposition, die von Tschaikowsky ausgehend eine kontinuierliche Tradition im 20. Jahrhundert bewahrten und die Entwicklung des Genres vorantrieben. Rodion Schtschedrins »Carmen-Suite«, eine geniale Adaption der Opern-Vorlage von Georges Bizet für Streicher und Schlagzeug, gehört mittlerweile zu den meistaufgeführten Ballettwerken des 20. Jahrhunderts. Mit 80 Jahren unterrichtet Maija Plissezkaja weiterhin Meisterklassen und ist als Pädagogin immer noch weltweit gefragt. »Natürlich sind meine Sprünge nicht mehr so hoch«, gibt Plissezkaja zu, »aber die alte Kraft spüre ich immer noch.« Experimentierfreudigkeit in ihrem künstlerischen Schaffen führte dazu, dass unterschiedliche, sogar gegensätzliche stilistische Richtungen nebeneinander stehen können. Spontaneität und Vielseitigkeit, solides konstruktives Denken, lyrische und dramatische Partien kennzeichnen das Lebenswerk der »Callas des Balletts«. Zum 80. Geburtstag der Tänzerin und Choreographin am 20. November gab es viele Feierlichkeiten: Herzlichen Glückwunsch, liebe Maija Plissezkaja! ■ spiele trugen Evdokimovas Ruf in die Welt: »Giselle« in Helsinki und beim London Festival Ballet, »Schwanensee«, »Nussknacker« und »La Sylphide« in Kopenhagen, der Hochburg des Bournonville-Stils, »Raymonda« in Zürich als Produktion Rudolf Nurejews, Auftritte in München und bei John Cranko in Stuttgart. Seit dem Ende ihrer Tänzerlaufbahn 1985 gibt sie vielerorts als Gastpädagogin ihre Erfahrungen weiter. Was bleibt Eva Evdokimova im Gedächtnis von einer solchen Bilderbuchkarriere, wofür ist sie noch heute dankbar? »Für vieles«, meint sie nachdenklich, »die Gelegenheit, international tanzen und mich in unterschiedlichen Rollenstilen von Fokin bis Balanchine ausprobieren zu dürfen.« Besonders an die 15-jährige Partnerschaft mit Rudolf Nurejew, an die zahllosen gemeinsamen Tourneen in den großen Klassikern – »Hunderte von Vorstellungen!« – erinnert sie sich gern. Im selben Atemzug nennt sie den weiblichen Hauptpart in Valeri Panovs Uraufführung »Der Idiot« an der Deutschen Oper Berlin und Birgit Cullbergs »Fräulein Julie«. Und dankbar sei sie ihren prägenden Pädagoginnen: Fay in London, Vera Volkova (»welch eine Persönlichkeit, eines der ersten ›‘Produkte‹ von Agrippina Waganowa!«) in Kopenhagen, später »die« Dudinskaja in Leningrad. Auch wenn eine Operation sie vor neun Jahren für längere Zeit außer Gefecht setzte, hat Eva Evdokimova der Bühne dennoch nicht Adieu gesagt. »Contemporary«, so erzählt sie, tanze sie jetzt daheim in New York, in Stücken und Soli, die junge Choreographen für sie kreieren: der von der Batsheva-Dance und Bat Dor Company kommende, mittlerweile an der Juilliard School arbeitende Israeli Igal Perry; der Ex-Hamburger Henning Rübsam, der nach 11 Die Prima Ballerina Assoluta Eva Evdokimova in »La Sylphide« (Foto: Kranaich, Berlin) Schubert-Liedern choreographierte; Angela Jones, die Sprache und Tanz zusammenbringt und eine Inszenierung nach Virginia Woolf schuf. »Derzeit bin ich mehr mit Schauspiel befasst«, ergänzt Eva Evdokimova. So spielte sie englische Autoren, Anton Tschechow und zuletzt eine Adaption nach Henry James. Ihr Interesse an Tanzpädagogik ist allmählich gewachsen, besonders nach jener Operation. Als Tänzerin hätte sie sich noch nicht vorstellen können, eines Tages zu unterrichten, »obwohl ich im Saal immer gern für mich selbst Bewegung analysiert habe«. Während man in Deutschland eine Ausbildung zum Pädagogen brauche, sei das in den USA kein Muss. In Winnipeg absolvierte sie Sommerkurse, bei einer an Waganowa orientierten russischen Lehrerin, mit der sie früher in Berlin geprobt hatte. Langsam kamen dann die Angebote, für Sommerkurse in New York, beim Hartford Ballet, auch schon von außerhalb. Inzwischen gibt sie regelmäßig Training in ihrer Wahlheimat, reist häufig zu Workshops nach Japan, lehrt als ständiger Gast bei Marika Besobrasova an der Académie de Danse Classique »Princess Grace« in Monaco. Für ein Jahr war sie Ballettmeisterin beim renommierten Boston Ballet, leitete dort die Proben zu Crankos »Onegin«, Ashtons »La Fille mal gardée« sowie zum »Nussknacker«. In der Schule des Houston Ballet führte sie die letzte Klasse, studierte mit dem Royal Winnipeg Ballet, ganz in ihrem Element, den 2. Akt aus »La Sylphide« ein – »das hat viel Spaß gemacht, besonders weil ich im täglichen Training vorbereiten konnte, was dann in der Probe gebraucht wurde«. Auch die pantomimischen Teile, »wenn die schlecht sind, zerfällt bei Bournonville das gesamte Stück«. Klassen in einer Ballettschule über einen längeren Zeitraum zu formen, daran denkt sie gegenwärtig noch nicht, wenngleich sie um die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Ausbildung weiß. 12 »Zu viel Energie und Zeit gehen heute in die physische Erziehung«, kritisiert sie, »zu wenig in die Imagination des Tänzers und in die Rolleninterpretation.« Das aber müsse beim Schüler schon geweckt werden, weshalb sie als Gastlehrer gern diese Themen aufgreift. Beispielsweise die emotionale Bindung an die Musik, damit der Körper ausdrucksvoller wird. Heutzutage analysiere man jede kleinste Bewegung, nichts werde mehr dem Instinkt des Tänzers überlassen. Indem man jedes Detail festlege, verliere man das Gesamtbild aus den Augen, die Motivation für den Tanz, die Persönlichkeit. »Was fühlst du bei dieser Musik?« fragt sie gern ihre Studenten und will deren körperliche Reaktion auf den Klang sehen: »Ich mag keine Skulpturroboter.« Was sie damit meint, demonstriert sie in Besobrasovas Académie bei einer Probe für die Prüfungsgala. Der jungen Solistin fällt es sichtlich schwer, in der Variation der Paquita technische und gestalterische Anforderungen überein zu bringen. Eva Evdokimova, zufälliger Zaungast, springt auf, skizziert in Rock und Bluse und auf Pumps von sanfter Höhe das Wesen der Rolle, arbeitet mit Verzögerungen und Beschleunigungen, kostet die Musik raffiniert aus und zeigt, wie man durch konkrete Körperhaltungen überzeugend spanisches Kolorit schafft. Mit diesen inhaltlichen Hinweisen gelingt die Variation nicht nur im Saal, sondern besser noch abends auf der Bühne, weil sie aus dem tänzerischen Fluss und in enger Kooperation mit der Musik entsteht. In ihrem Unterricht vermittelt Evdokimova nach eigener Aussage eine dosierte Mixtur aus jenen Schulen des klassischen Tanzes, die sie selbst praktiziert hat. Als technisch kräftigende Basis empfindet sie die Waganowa-Methode, addiert die Sauberkeit des Trainings, wie sie es aus der Royal Ballet School kennt, sowie Elemente der Bournonville-Technik, »eine andere Art, sich zu bewegen, mit dem Gewicht zu spielen, Sprungschnelligkeit zu erlernen und dabei den romantischen Stil zu kultivieren«. Ihre Studenten ermuntert sie, mehr Musik zu hören, auch in Bibliotheken, sich mit dem historischen Hintergrund, der Struktur, den verschiedenen Rhythmen zu beschäftigen. Und natürlich mit Ballettgeschichte, »denn in den amerikanischen Schulen wird das kaum angeboten«. Die Initiative, sich von selbst mit der Kunst in Vergangenheit und Gegenwart zu befassen, bis hin zu Literatur und Lyrik, will sie bei den Tänzern stärken: »Für Amerikaner und Japaner liegt gerade das romantische Ballett weit weg von ihrer Kultur.« Technik sei ein Muss, »aber Ballett ist mehr als das, ist Theater«, lautet ihr Motto, und: »Ich möchte mich von einer Vorstellung berührt fühlen.« Gerade in diesem Punkt fürchte sie um die Zukunft ihrer Kunstgattung. So habe sie selbst ein Gastspiel des Kirow-Balletts mit »Don Quijote« schockiert, »die Gruppe toll, die Solisten wunderschön, aber ohne jede Beziehung zur Rolle, absolut keine Kitri, ein verfehlter Abend«. Transformiert die alten Rollen für die Gegenwart, fordert sie von ihren Tänzern, legt eure Ängste, Wünsche, Freuden mit hinein, findet einen Zugang, einen Bezug! Erfolg ist für Eva Evdokimova in diesem Sinn keine veräußerlichte Kategorie, sondern bedeute, »die beste künstlerische Entwicklung für sich selbst zu nehmen und mit seiner Kunst die Zuschauer zu erreichen«. Ein sehr guter klassischer Tänzer sei meist auch vielseitig genug, den unterschiedlichen stilistischen Anforderungen zu entsprechen. Das könne jedoch ein physisches Problem werden, wenn in derselben Woche Petipa und Forsythe auf dem Spielplan stehen. Es sei daher wichtig, schon in der Schule die Stilistiken sauber zu lehren und den Körper damit auf die extrem gegensätzlichen Belastungen vorzubereiten. »Ein rein klassischer Tänzer ist heute Luxus«, resümiert die einstige Königin unter den romantischen Ballerinen ihrer Ära, »aber Klassisch und Modern können einander gut helfen.« ■ Ballett Intern 5/2005 Tadeusz Matacz Der Direktor der Stuttgarter John-Cranko-Schule im Gespräch Von Angela Reinhardt Seit 1999 ist der Pole Tadeusz Matacz Direktor der Stuttgarter JohnCranko-Schule, die unter seiner Leitung ihre Stellung als eine der erfolgreichsten Ballettakademien in Deutschland weiter ausbaute. Bevor ihn Reid Anderson nach Stuttgart holte, war Matacz Tänzer und Ballettmeister bei Germinal Casado in Karlsruhe. Angela Reinhardt sprach mit ihm über internationale Wettbewerbe, über die Berufschancen seiner Schüler und die Situation der Schule in Stuttgart. Ballett Intern: Sie sitzen in sehr vielen Jurys bei internationalen Wettbewerben. Ist das eine Prestigesache? Tadeusz Matacz: Ich empfinde das nicht als Prestige. Zunächst sind diese Wettbewerbe eine unglaubliche Möglichkeit, zu vergleichen: was tut sich überall auf der Welt? Und natürlich sehe ich, dass sich die Kollegen mit ähnlichen Problemen plagen wie ich. Dann ist das für uns alle, für die Direktoren, ein willkommener Anlass, talentierte Kinder zu finden. Mein Ansatz ist dabei, dass man sie im früheren Alter hierher nach Stuttgart holt, um noch gut mit ihnen arbeiten zu können; die Akademie dauert zwei Jahre, das ist eine viel zu kurze Zeit. Sie leben dann hier in Stuttgart und sehen die Aufführungen, sie bekommen eine Ahnung von Cranko. Und dann können wir uns auf das konzentrieren, was wir vermitteln wollen: wir sprechen nicht über die Zahl von Pirouetten oder einen noch größeren Spagat, sondern darüber, was Kunst ist, was wir damit zu machen versuchen. Insofern sind diese Ballettwettbewerbe wichtig, weil man schaut, wer eventuell eine spezielle Begabung hat. BI: Das heißt, die Kinder werden immer jünger bei den Wettbewerben? TM: Das sowieso! Wenn Sie nach Japan sehen, da liegt das Einstiegsalter in die Wettbewerbe bei neun oder zehn Jahren. Nicht selten sehen Sie ein Mädchen, das eine »Schwanensee«-Variation wählt, für die sie eigentlich eine reife Frau sein sollte. Und dieses kleine Kind, bei dem der Kopf noch viel größer ist als der Rest des Körpers, legt gleich am Anfang drei Pirouetten hin, gefolgt von zwei oder drei Attituden – also Sachen, die nicht mal Profis machen! Das sprengt alle Barrieren. Es gibt körperliche Schäden und psychische Schäden, wenn man bestimmte Sachen zu früh macht... aber so ist die Entwicklung. Wir machen diese Wettbewerbe mit einem weinenden Auge. Manchmal, wenn die Diskussionen zu wissenschaftlich werden, dann mag ich es sehr gern, einen Stock in einen Ameisenhaufen zu stecken, und sage: wir machen Prostitution! Wenn wir unsere Namen hergeben und bei diesen Wettbewerben mit Zehnjährigen mitmachen, und nachher steht das Kind als Krüppel da, dann ist das aus meiner Sicht einfach Prostitution. Man muss es beim Namen nennen. Wir sind alle gegen die Wettbewerbe, aber wir haben keine andere Wahl – denn wenn ich mich nicht bewege, kommen die Kinder von selbst aus nicht hierher. Die Kinder interessieren sich nicht dafür, wer an welcher Schule unterrichtet. Man muss viel offensiver sein, viel aktiver als früher. Und es gibt eine riesige Konkurrenz! Ich bin nicht der einzige dort, ich sitze neben der Royal Ballet School, neben Toronto, San Francisco, Mailand. Seit einem Jahr macht sogar auch Paris mit. Die genossen immer noch diese Exklusivität, aber auch die öffnen sich, weil sie nicht genügend Nachwuchs haben. Die Zahlen von Kindern, die sich für Ballett interessieren, sinken dramatisch. BI: Herrscht eine so große Konkurrenz unter den internationalen Schulen um die Schüler? Ballett Intern 5/2005 TM: Man muss auch verstehen, woher die Kinder kommen. Wenn junge Amerikaner beim Youth America Grand Prix auf einem Bogen ankreuzen sollen, wo sie weiter studieren möchten, sprechen alle sofort nur von der School of American Ballet, das ist das Mekka, und als zweites kommt die Royal Ballet School, weil dort englisch gesprochen wird. Wohl kennen alle das Stuttgarter Ballett und auch die John-Cranko-Schule. Aber hierher zu kommen, deutsch zu lernen, das ist schon ein Problem. Wie können wir da überhaupt in Konkurrenz treten? Es geht gar nicht. Sehr oft haben die Tänzer so wenig Information, so wenig Vergleichsmöglichkeit, dass sie die erstmögliche Gelegenheit nutzen. Oft gewinnt einfach derjenige, der die Schüler zuerst anspricht. BI: Wie darf man sich das vorstellen: da tanzt ein guter Schüler bei einem Wettbewerb, und nach seinem Solo rennen fünf Schuldirektoren auf ihn zu...? TM: Wir versuchen, das ein wenig zu zivilisieren. Aber ich habe es schon erlebt! Wir sprachen noch darüber, wie wir das möglichst elegant lösen, um jemanden nicht gleich zu überrollen mit Angeboten, und da ist ein Vertreter einer der größten Ballettschulen der Welt in die Toilette gegangen und hat die Person angesprochen! Ein 14-, 15-jähriger Mensch ist da vollkommen verloren. Inzwischen kennen wir uns alle, und wir versuchen wirklich, untereinander keine krummen Sachen machen, damit man sich beim nächsten Mal noch entspannt in die Augen blicken kann. Aber es ist ein hartes Geschäft. Mit Unterstützung von verschiedenen Kreisen, die uns Mittel zur Verfügung stellen, können wir die Leute mit Stipendien hierher nach Stuttgart holen, das ist sehr wichtig. Der hervorragende Ruf der Kompanie strahlt natürlich auf uns ab, insofern haben wir auch da gute Karten. Aber einen Engländer hierher zu locken, das ist zum Beispiel fast nicht möglich, denn die sind alle auf die Royal Ballet School gepolt. BI: Sie schicken auch nicht ständig Schüler der John-CrankoSchule zu den Wettbewerben. TM: Ja, ich bin kein großer Fan von Wettbewerben. Ich glaube, die beste Antwort wäre jetzt, daran zu erinnern, dass die Pariser Oper seit mindestens fünfzehn Jahren keinen Menschen zu irgendwelchen Wettbewerben schickt. Aber auch die Franzosen müssen jetzt ihren Weg machen. Die sind jetzt ein bisschen aufgewacht, weil sie mit den Realitäten konfrontiert wurden. Sie müssen mit der Welt mitmachen, denn sie wollen überleben. Das haben sie etwas später als die anderen erkannt, und sie werden ihre Erfahrungen sammeln müssen. BI: Wie suchen Sie Kinder aus? Suchen Sie gezielt auf die Stuttgarter Compagnie hin? TM: Wir sind alle stolz, dass ein Drittel der Compagnie ehemalige Cranko-Schüler sind. Reid Anderson hat durch den Ruf seiner Compagnie Zugang zu den besten Tänzern der ganzen Welt. Wir können nicht vollständig die Stuttgarter Compagnie füllen, und das wäre auch komplett verkehrt. Heutzutage geht das nicht mehr so – das war mal vor Jahren in Russland, in Frankreich, in England möglich, wo jede Nation wirklich noch für sich war. Da konnte man eine russische, eine französische, eine englische Ballerina unterscheiden. Heute reisen die Pädagogen herum, die Tänzer reisen herum, und die Schüler auch. Es ist Globalisierung pur, auch in unserem Geschäft. BI: Arbeiten Sie also auch im Unterricht darauf hin, möglichst viele Stile abzudecken? Arbeiten Sie eher flächendeckend, oder versuchen Sie, die Spitzen am besten herauszubringen? TM: Wir versuchen, flächendeckend zu arbeiten. Die Spitze wird sich schon weiter durchboxen! Natürlich versuchen wir jemand nach vorne zu bringen, wenn er besonders gut ist. Aber es ist nicht unser Ziel, dass die jetzt schon ins Weltall schießen – sie müssen 13 später, als erwachsene Tänzer Erfolg haben, nicht als Kinder. Für uns ist es schon das Allerwichtigste, dass alle unsere Absolventen ein Engagement finden. Dann ist mir das egal, ob die in Stuttgart, in Covent Garden oder im Stadttheater Pforzheim tanzen – Hauptsache, sie sind ehrliche Künstler, die bei den Kollegen und Direktoren geschätzt sind, die in der Lage sind, schnell zu verstehen und etwas Neues zu lernen, die mit Begeisterung etwas aufnehmen und später einfach dienen und ihr Bestes versuchen. BI: Gab es deshalb Hip Hop bei der letzten Aufführung der John-Cranko-Schule? TM: Für mich gibt es keine Tabus. Wir sind Tänzer! Wenn der Choreograph oder Intendant findet, dass es jetzt passt, dann werden wir singen und steppen! Das hat Cranko gemacht, und das ist heutzutage selbstverständlich, aber leider nicht in allen Köpfen. Als ich Ballettmeister in Karlsruhe war, hatten wir einen neuen Tänzer aus Russland, und er sollte im Musical eine Rolle übernehmen. Er weigerte sich und sagte: »Ich habe nicht neun Jahre in St. Petersburg studiert, um jetzt auf Bongos zu spielen!« Das habe ich immer noch im Kopf. So eine Person hat für mich keine Berechtigung, im Theater zu arbeiten. Und man sieht heute: Leute mit einer solchen Mentalität Der Direktor der Stuttgarter John-Cranko-Schule, Tadeusz Matacz, vor einem Porträt des Namensgebers. sind längst arbeitslos. Für mich ist es wichtig, solche Barrieren so schnell wie möglich zu sprengen. Man muss das Theater lieben, so wie es ist! Man dient, wie zu Molières Zeiten. Man macht alles, was der Choreograph will! Natürlich ist die Klassik die Basis, und die muss kristallklar sein. Aber dann geht es weiter, Ausflüge in alle Richtungen, damit die Blockaden im Kopf so schnell wie möglich gesprengt werden. Das bringt allerdings auch sehr große Gefahren. Spoerli hat einmal gesagt, dass sich heutzutage alles verwässert. Diese Gefahr ist ständig da, insofern muss man wie mit einer Lupe auf die Klassik aufpassen: die Körperspannung, die Kultur des Tanzes, wie sie die Hand öffnen, wie sie den Fuß setzen... Man muss die Schüler so führen, dass sie selbst weitersuchen, man muss einen Kern in sie legen. BI: Die Cranko-Schule ist die letzte Ballettakademie in Deutschland, die noch nicht vollständig renoviert wurde. Wie stehen die Pläne inzwischen? TM: Schlecht. Das heißt, die Pläne sind herrlich! Als ich mich zum ersten Mal mit diesem Thema befasst habe, wollte ich zuerst einen neuen Standort suchen, eine alte Fabrik oder so etwas. Das war der Fall in Paris, das hat die Moskauer Schule genauso gemacht. Und dann bekam ich Pläne von Architekturstudenten, die unser Terrain 14 mitten in der Stadt zur Übung verplant haben. Hier könnte man mit einem Anbau etwas machen, der alle unsere Bedürfnisse stillen würde, inklusive einer Bühne mit den Maßen der Staatstheaterbühne, Wohnungen für die Studenten und so weiter. Mit einem herrlichen Haupteingang, mit einer Caféteria, mit einer Tiefgarage – für nur 10 Millionen Euro. Aber es ist im Moment leider nicht möglich, darüber zu sprechen. Die Stadt Stuttgart hat viel zu viele Probleme, das Theater selbst hat Probleme mit der Bausubstanz … Ich bin kein Don Quijote. Aber ich finde es schon verwunderlich: dem Land Sachsen geht es nicht besser als dem Land Baden-Württemberg, und die räumliche Situation der Palucca-Schule war schon vorher unendlich viel besser als unsere. Die haben trotzdem noch Geld gefunden, um das alles unter einem Dach neu zu ordnen. Soviel ich weiß, hat auch Berlin 18 Millionen für seine Schule bekommen. Vielleicht hat die Stadt Stuttgart einfach viel zu viele gute Sachen. Wahrscheinlich sind neue Gebäude wichtiger als das, was ohnehin schon gut läuft. Und wir sind weiter top, ohne dass wir ein neues Gebäude haben. Aber das ist ein gefährliches Spiel, denn die Leute kommen hier herein und sagen ganz erstaunt: das soll die John-Cranko-Schule sein? Natürlich sprechen nicht unbedingt modernste Einrichtungen dafür, was am Ende herauskommt. Das Allerwichtigste ist immer noch das Herz, was im Ballettsaal passiert, wie man mit den Leuten arbeitet. Aber alle haben sich irgendwie auf den aktuellen Stand gebracht, mit Physiotherapie und so weiter. Nur wir sitzen weiter mit unserem Raumproblem da, das könnte gefährlich werden. BI: Warum gibt es so wenige Deutsche, die auf die Schule kommen? TM: Ich kann es nur bedauern, wenn sie nicht kommen. Ich habe verschiedene Beobachtungen gemacht und mit vielen Leuten darüber gesprochen. Ganz konkret werde ich etwas tun, damit sich das in der Zukunft vielleicht ein bisschen ändert: Ich möchte den Schülern unserer Akademie das Abitur ermöglichen, parallel zu unserer beruflichen Ausbildung. Das ist in Berlin möglich, an der PaluccaSchule und bei Konstanze Vernon in München, aber bei uns noch nicht. Das war oft ein Punkt, wo begabte Kinder oder ihre Eltern sich entschieden haben, aufzuhören. Ein anderes Thema ist die Motorik. Der ganze Bewegungsapparat ist bei Kindern heute überhaupt nicht mehr so vorbereitet wie vor Jahren, als man draußen spielte und sich bewegte. Die sitzen Stunden vor Computer und Fernseher. Wir haben im Laufe des Jahres schon ein paar hundert Kandidaten, die zu uns kommen möchten, nur kann ich diesen Kinder keine falschen Versprechungen machen, sonst würde ich falsche Träume wecken. Ich möchte das Problem auch generalisieren: warum sind es überhaupt so wenige Kinder? Dieser Beruf ist ein spezieller Beruf, ein Beruf für Auserwählte. Die Person kann nichts anderes machen als tanzen. Egal, was passiert, egal was sie tanzt, egal wie die Umstände sind: sie muss tanzen. Frage nicht, was krieg ich dafür, sonst wirst Du nur enttäuscht. Es ist vielleicht normal, dass man solche Kinder in Deutschland nicht überall findet. BI: Müssten nicht eher die privaten Tanzschulen die Kinder ansprechen? TM: Wir haben versucht, mit den Tanzschulen in Kontakt zu kommen, denn sie sind ein natürliches Reservoir. Aber das geht leider nicht. Erstmal wollen die ihre Kunden nicht verlieren. Wenn die Erzieher wirklich Pädagogen sind und Wert auf Kunst legen, dann müssen sie erkennen: Ich habe einen Diamanten in der Hand, den muss ich weitergeben. Aber das tun sie nicht, denn dieser Diamant dient für sie als Anziehungskraft für die anderen Kinder! Ich verstehe, dass das für die Schulen lebensnotwendig ist, denn sie leben von den monatlichen Beiträgen. Wir müssten einfach Leute haben, die dort regelmäßig hingehen und Kontakt halten. Das machen wir auch, aber eben alles zusätzlich zu unserer normalen Tätigkeit. ■ Ballett Intern 5/2005 Respekt und Ruhe Ein Gespräch mit Royston Maldoom Von Dagmar Fischer Royston Maldoom bringt den Tanz zurück in den Alltag. Historisch gesehen war er dort schon, zuletzt in den 20er und 30er Jahren, als Rudolf von Laban Deutschland und die Schweiz mit Schulen und Lehrern versorgte. Doch der Tanz ging der Basis wieder verloren. Die künstlerische Arbeit, die durch den preisgekrönten Dokumentarfilm »Rhythm is it!« ein großes Publikum fand, macht Royston Maldoom schon seit dreißig Jahren: Er bringt Menschen zum Tanzen, die sich vielleicht sonst nicht unbedingt zweckfrei bewegen würden; das können Gefängnisinsassen, Menschen mit Handicaps oder Senioren sein, aber auch irische Jugendliche protestantischen und katholischen Glaubens, Straßenkinder aus Äthiopien oder Schulkinder aus einem so genannten problematischen Stadtteil einer europäischen Großstadt. BI: Was ist unverzichtbarer Teil einer Unterrichtstunde bei Royston Maldoom? RM: Ich arbeite immer am Fokus. Fokussieren muss jeder, der auf einer Bühne steht, aber eigentlich sollten wir es alle lernen. Und zweitens, was zunehmend schwieriger wird für junge Menschen, ich will Ruhe und Stille im Raum haben. Das Leben ist bewegt und laut, ich versuche daher, einen Punkt zu finden, von wo aus Entwicklung, welcher Art auch immer, erst möglich wird. Ganz gleich, welche Aufgabe man zu bewältigen hat, und ganz besonders im Tanz und Theater: Wir beginnen in einem Moment der Stille, alles andere baut darauf erst auf. Um den eigenen Körper wahrzunehmen, um in ihn hinein horchen zu können, muss es einfach still sein. BI: Welche Erfahrungen macht ein Schüler darüber hinaus? RM: Er lernt Respekt: vor der eigenen Leistung, vor den tänzerischen Versuchen der anderen, vor der Herausforderung durch das musikalische und choreographische Werk, und vor dem Pädagogen. Das muss ich im Unterricht gar nicht besonders betonen, es ist Teil der gemeinschaftlichen, künstlerischen Arbeit für die Bühne. Jede künstlerische Disziplin verfügt darüber, Tanz in besonderem Maß. Disziplin, alleine das Wort ist ja keine Selbstverständlichkeit mehr an Schulen heute. BI: Haben Sie Ideen für eine Choreographie im Kopf, wenn Sie ein neues Projekt beginnen? RM: Nein, nichts, niemals. Ich gehe in den Raum, sehe mir die Gruppe an, nehme Alter und Möglichkeiten der Menschen wahr, und fange einfach an. Die Musik habe ich vorher festgelegt, und die gibt manchmal Dinge vor, die Worte aus »Carmina Burana« oder das Thema in »Le Sacre du Printemps«. Aber normalerweise habe ich keine Ahnung, was entstehen wird. Vor jedem neuen Projekt habe ich Angst, ich denke jedes Mal: Ich kann es nicht, das Projekt schaffe ich nicht! Das einzig Hilfreiche ist die Gewissheit, dass ich es all’ die anderen Male auch geschafft habe. Ich verlasse mich auf meinen Instinkt und meine Erfahrung. Diese Arbeit muss einfach getan werden. BI: Dann entsteht erst alles mit der jeweiligen Gruppe? RM: Ich bin eine Art Direktor, der eine »direction«, eine Richtung vorgibt. Ich stelle zum Beispiel eine kleine Aufgabe, die zu zweit gelöst werden soll. Dann fordere ich sie auf, den Ablauf interessanter zu gestalten, mache Vorschläge, wie das aussehen könnte. Dann wähle ich beispielsweise zwei Paare aus, die sich gegenseitig ihre Lösung der Aufgabe beibringen sollen, addiert habe ich dann schon ein kleines Stück Choreographie. Von mir kommt die Struktur, aber rund 70 % der Ideen stammen von den Schülern. Ballett Intern 5/2005 BI: Welche Rolle spielen Ihre eigenen, persönlichen Erfahrungen als Tänzer bei der heutigen pädagogischen Arbeit? R.M.: Ich wollte unbedingt Tänzer werden, habe aber erst mit 22 Jahren mit dem Training angefangen. Das war sehr hart, in dem Alter, mit dem Körper. Ich tanzte trotzdem, lernte so viele unterschiedliche stilistische Richtungen wie möglich. Und sehr früh faszinierte mich die Choreographie, das Handwerk der Gestaltung. BI: Haben Sie auch unangenehme Erfahrungen gemacht, während der vielen, teilweise abenteuerlichen Aufenthalte in den unterschiedlichsten Ländern? RM: Die schlimmste Erfahrung habe ich gemacht, als ich für jemanden arbeitete, der keinen Respekt für das Projekt hatte. Ich möchte, dass der Wert dieser Arbeit gesehen wird. Und ich will nicht, dass man mich als einen merkwürdigen Tanzstar aus einem Film ansieht. Armut, Krieg, Drogen – das waren keine schlimmen Erfahrungen. Wenn ich die Straßenkinder sehe, denke ich, so sollte kein Kind aufwachsen. Aber ihr Überlebenskampf, ihre Energie zu erleben, das war eine positive Erfahrung. BI: Wahrscheinlich gab es bedeutendere Projekte als das in Berlin, die Enormes bewegt haben, aber es wurde von keiner Kamera festgehalten? RM: Mein liebstes Projekt ist das in Nordirland, da arbeite ich mit sechs, sieben Jugendlichen, Protestanten und Katholiken, die alle die Schule geschmissen haben. In einer kleinen Gruppe kann ich sehr in die Tiefe gehen, das mag ich. Aber die großen Projekte sind gut, um der Arbeit die nötige Beachtung zukommen zu lassen. Als ich damals nach Berlin ging, hatte ich wirklich keine Ahnung, dass das Projekt ein so großer Erfolg werden würde. Wenn ich irgendwo ein wichtiges Projekt mit zehn türkischen Kindern machte, würde niemand davon Notiz nehmen. Aber beim »Sacre«-Projekt bekamen Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker die Aufmerksamkeit, und auf diese Weise interessierten sich Leute dafür, die sonst gar nicht darauf aufmerksam geworden wären. BI: Sie haben damit begonnen, ein Netzwerk unter Pädagogen aufzubauen und arbeiten mit Assistenten, die in den jeweiligen Städten leben... RM: Ja, ich versuche jeweils vor Ort Assistenten zu bekommen, aber das ist nicht immer möglich. Ich kann sie nicht bezahlen, aber ich teile meine Erfahrungen mit ihnen. Sie begleiten das gesamte Projekt, wenn sie wollen, und wie sehr sie sich im Verlauf einbringen, liegt an ihnen. Wichtig ist mir dabei zu vermitteln, dass dies meine Art zu arbeiten ist, die vermutlich einige sinnvolle Anregungen enthält, aber nicht für jeden anderen stimmig sein muss. Ich selbst hatte niemanden, von dem ich lernen konnte, das war Pionierarbeit. Und schließlich möchte ich, dass diese Arbeit fortgeführt wird, auch über die Dauer eines Projektes hinaus. Niemandem ist geholfen, wenn alles aufhört, nachdem ich weg bin. ■ 15 Wenn ein Rhythmus untanzbar scheint Stange so präzise zu analysieren, war für die meisten Teilnehmer neu, erhellend und in der Klarheit überzeugend. Dass dies für viele Pädagogen unvertraut ist, bestätigt Puttkes These, dass empirisches Wissen über Koordination allmählich verloren geht, Eindrücke von Martin Puttkes Seminar weil die Technik in der tänzerischen Ausbildung so sehr im Vor»Koordination im Tanz« des Deutschen dergrund steht. Dabei sei der Klassische Tanz doch eigentlich Berufsverbandes für Tanzpädagogik e.V. die ideale Form für Faule, erzählt er augenzwinkernd, denn es gehe darum, mit einem Minimum an Einsatz ein Maximum als Von Dagmar Fischer Ergebnis zu erzielen, oberstes Prinzip die Effizienz, also jeweils den direktesten, kürzesten Weg zu finden. Voraussetzung sind eine »hochmotivierte Psyche und ein leistungsfähiger Körper«, Marianne Kruuse, Stellvertretende Direktorin der Ballettschule des aber ebenso Bilder im Kopf, konkrete Bewegungsbilder, die im Hamburg Ballett, sowie Ingrid Glindemann und Christian Schön, Kopf sein sollten, bevor die Bewegung überhaupt losgeht. Den beide ebenfalls Lehrer an John Neumeiers Schule, sind allesamt erfahrene Pädagogen. Und doch ließen sie es sich nicht nehBewegungsablauf durchdenken, jeden Moment wie einen innemen, in Martin Puttkes Seminar »Koordination im Tanz« noch einren Film konkret vor dem geistigen Auge sehen – erst wenn dieses mal zu lernen. Die eintägige Fortbildung fand am 22. Oktober Bewusstsein erreicht ist und der Schüler jede einzelne Phase des in der Hamburger »Tanzparterre« statt – unter regem Ablaufs verbal benennen kann, hat er die für eine Zulauf von hochmotivierten Lehrern. gut koordinierte Bewegung notwendige Klarheit. Jeder Tanzende koordiniert seine Bewegungen, »Das gilt für alle Tänzer, mit Ausnahme der webenennt es aber nur selten – was genau ist Koornigen Genies!« tröstet Puttke. Und er erzählt von dination eigentlich? Der Workshop bringt es auf einem angehenden Tänzer, der seine Schwierigden Punkt: Bewegungen, die einen gemeinsamen keiten bei Pirouetten nicht überwinden konnte. Der Anfangs- und Endpunkt haben, dazwischen aber Pädagoge Puttke bat ihn, sich den Bewegungsunterschiedlich lange Strecken und Raumwege ablauf im Sitzen und Liegen bei geschlossenen zurück legen, weil sie von unterschiedlichen KörAugen immer wieder vorzustellen, jedes kleinste perteilen ausgeführt werden. Als Beispiel zeigte Detail, und siehe da: Es gab einen Moment, der Puttke ein »battement fondue« im Spielbein, ein bei dem inneren Tanzfilm fehlte, der Moment des »plié« des Standbeins, ein »Port de bras« und eine Abdrucks; erst nachdem auch dieser vom Schüler Wendung des Kopfes. Wenn man die jeweils im visualisiert wurde, klappte die Drehung. Raum überwundene Strecke von Fuß, Knie, Arm Der Klarheit dient auch zu wissen, welche und Kopf in Zentimeter schätzt, kommt man auf vier Muskeln angespannt und welche entspannt Prof. Martin Puttke verschiedene Angaben, doch jede Bewegung muss werden müssen, und vor allem, wann! In dem im selben Zeitmaß bewältigt werden. Also unterZusammenhang sind Kenntnisse über die Funkschiedliche Raumwege in gleicher Zeit, dazu ist tionalität der Gelenke unerlässlich, denn »wenn ich die Funktionalität nutze, komme ich zu organischen und Koordination nötig. Und je klarer die Abläufe im Einzelnen sind, desto besser die damit zu ästhetischen Bewegungen«, stellt Puttke fest. »Die Koordination. Genialität der St. Petersburger Schule, und insbesondere der Denn, so behauptet der ehemalige Direktor der Staatlichen Armbewegungen der russischen Schule, kommt daher, dass es Ballettschule Berlin, »jedes Einzelteil hat ein Eigenleben, und verboten war, Bewegungen mit einer individuellen Färbung zu dessen Individualität muss man kennen, um es richtig und gut versehen, es wurde zunächst die reine Funktionalität gelehrt.« einsetzen zu können. Das gilt sowohl für Tänzer als auch für Auch Isolation gehört zur Koordination, die Unabhängigkeit Körperteile!« Absolut einleuchtend, aber: »Detaillierte Kenntnisse der Einzelteile muss so geschult sein, dass auch diskontinuierüber Einzelteile reichen nicht, eine Kommunikation zwischen den lich gearbeitet, also beispielsweise ein Legato der Arme gegen Elementen ist zusätzlich notwendig.« das Halten der Beine gesetzt werden kann. Im Zweifelsfall, rät Das kleine Beispiel aus der täglichen Trainingspraxis an der Puttke, die Arme hängen zu lassen, das habe mehr Tanz(-Gefühl) als schlecht zusammen geführte Bewegung. Und apropos Gefühl: Der eigene Körperrhythmus ist ein anderer als jener der Musik. Unter diesem Eindruck stehend, hatte einst die berühmte Seit 30 Jahren in Nordrhein-Westfalen russische Ballerina Galina Ulanowa behauptet, Prokovjews MuZwei Ballettschulen sik zu »Romeo und Julia« sei nicht tanzbar. Der Rhythmus hatte sie offenbar so sehr irritiert, dass sie das Metrum verlor. Dabei mit je 100 qm Ballettsaal, sollte man ohnehin das Metrum als Basis nehmen. Ein wichtiger solidem Kundenstamm methodischer Schritt, den man den Schülern in diesem Zusamund großem Kostümfunden aus menhang nicht vorenthalten sollte, ist hier wiederum das Stehen privaten Gründen zu verkaufen. mit geschlossenen Augen im Raum, während die Musik erklingt und die Bewegungen dazu nur in der Vorstellung getanzt werden. »So kriegt man Gehirnaktivität« – und welcher Pädagoge Interessenten wenden sich unter Chiffre 01-5-2005 will das nicht bei seinen Schülern erreichen? an den Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik »Koordination im Tanz« ist der Bestseller unter Martin Puttkes Hollestr. 1 – 45127 Essen Seminaren, aber es ist nur eines unter vielen derart aufbereiteten Themen, die der Ballettdirektor des aalto ballett theaters in Essen für interessierte Tanzpädagogen bereit hält. ■ 16 Ballett Intern 5/2005 Der kleine Prinz oder Wie Gregor Seyfferts Engagement für den Tanz in Dessau Mut macht Von Robert Benjamin Biskop Wer kennt sie nicht, die Geschichte »Der kleine Prinz« des französischen Piloten und Autors Antoine de Saint-Exupéry? Jung und Alt fasziniert dieses Buch bis heute. Nun wurde »Der kleine Prinz« durch den Berliner Kammertänzer und Deutschen Tanzpreisträger Gregor Seyffert am 29. September 2005 erstmals als multimediale Tanzinszenierung der Öffentlichkeit vorgestellt. Wer im Anhaltischen Theater Dessau die Aufführung erlebt, wird überwältigt von der einzigartigen tänzerischen Reise durch die Unendlichkeit der Phantasie. Im Bühnenhintergrund erstrahlt die Weite der Sterne und der Wüsten durch Projektionen von Curuba Media Dessau in faszinierendem Licht. Aus tanzpädagogischer Sicht liegt der besondere Reiz des Projektes darin, dass Gregor Seyffert und neun jetzige sowie ehemalige Schüler der von ihm künstlerisch geleiteten Staatlichen Ballettschule Berlin in diesem Stück gemeinsam tanzen. Während Seyffert den Piloten verkörpert, übernimmt der 19-jährige Sascha Pieper die Titelrolle (siehe Ballett Intern 3/2004; erst 2004 absolvierte er seine Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin und wurde im Anschluss direkt in die Gregor Seyffert Compagnie Dessau aufgenommen. Sascha Pieper betrachtet seine Schulzeit als eine harte, aber notwendige Erfahrung. »In der Ballettschule lebt man in seiner eigenen Welt, für viele Schüler ist es eine Phantasiewelt. Man hat den Wunsch keine Schwäche zu zeigen.« Und hier sieht Pieper Gemeinsamkeiten zu dem aktuellen Stück: »Der kleine Prinz hat keine Angst. Er nähert sich den Menschen und Dingen unvoreingenommen.« Sascha Pieper hat durch Tanzpädagogen wie Stefan Lux, Tamar Ben Ami und Heike Keller in der Schule gelernt, »auf seinen Körper zu hören, so dass man die Schritte vergisst und sich auf den Körper verlassen kann.« Und genau so ist es bei dieser Inszenierung: »Der kleine Prinz findet Bewegungen, die ihm entsprechen. Es ist ein Stück, das Kindern und Erwachsenen Mut machen könnte, tanzen zu lernen.« Den Umstand, dass Gregor Seyffert zwölf Darsteller aus der privaten Tanzschule »Tanzforum Dessau« in die Inszenierung einbezog, empfand Sascha Pieper als eine besondere Bereicherung: »Laien tanzen, weil es ihnen Spaß macht, es ist für einen professionellen Sascha Pieper (Kleiner Prinz) und Gregor Seyffert (Saint-Exupéry) (Fotos: Claudia Heysel) Ballett Intern 5/2005 Denise Churchward (Fuchs) und Sascha Pieper (Kleiner Prinz) Tänzer wichtig, sich daran zu erinnern.« Die Bewegungsschule »Tanzforum Dessau« existiert seit 1993, doch noch nie zuvor standen deren Tänzer auf der Bühne des Anhaltischen Theaters Dessau. »In einem Raum mit den Profitänzern zu stehen und neben all der Aufregung zu versuchen, den Anweisungen des Choreographen Gregor Seyffert zu folgen, war nicht so ganz einfach. Natürlich war unsere Auffassungsgabe am ersten Tag vorbildlich konfus«, berichtet Sara Meyer, eine der Darstellerinnen des Tanzforums, vom Probenbeginn im Juni 2005. Die Mitwirkung bedeutete auch für die Laientänzer harte Arbeit. Oft konnten sie das Theater erst abends um elf Uhr verlassen. Dennoch hat es »sich am Ende gelohnt.« Sara Meyer beschreibt den Moment ihres Auftrittes bei der Premiere: »Der Vorhang öffnete sich erneut und nach einigen endlosen Minuten konnten wir mit dem Podest als ›Menschen‹ nach oben fahren und kurz heimlich in das bis auf den letzten Platz gefüllte Publikum blicken.« Nach der Vorstellung war sie »völlig geschafft, aber glücklich.« Doch nicht nur Sara Meyer und die elf weiteren Darsteller des Tanzforums, auch eine ganze Klasse des Walter-Gropius Gymnasiums Dessau konnte in Form einer Premierenpatenschaft an der Entwicklung des Stückes von den ersten Proben bis zur Premiere partizipieren. »Wir staunten über den sich drehenden Planeten des kleinen Prinzen«, erzählt Lisa Wolter aus der Klasse 7c. Das Mädchen schwärmt von der tänzerischen Leistung Sascha Piepers und der Medieninstallation im Hintergrund, durch die »man sich dieses Märchen noch viel besser vorstellen« konnte. Die Inszenierung habe Einzelheiten verstehbar gemacht, welche die Kinder im Buch nicht verstanden hätten und gleichzeitig neue Rätsel aufgegeben, welche 17 die Klasse im Gespräch mit Sascha Pieper klären konnte. Besonders gefiel den Kindern, wie die vielen gelben Sterne des Forschers aus einem riesigen Schreibtisch sprangen, aber auch der rote Rosengarten und der König auf seinem großen Thron mit der lustigen Ratte. Gregor Seyffert war schon als Kind von dem kleinen Prinzen fasziniert, aus dieser Zeit stammt der Traum, das Stück auf die Bühne zu bringen. »Absolut spannend ist in jedem Fall, einen Text, noch dazu einen derart populären, in eine Körpersprache zu übersetzen«, meint Seyffert. »Das Stück gehört hierher, an dieses Haus, zu den Menschen hier.« Dessau ist eine Stadt, die bessere Zeiten gesehen hat und nun durch überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, den Verlust wichtiger Industrien und der Abwanderung von mehr als 30.000 Einwohnern seit der Wende geprägt ist. In dieser Situation hat das Theater einen hohen Stellenwert in der Stadt und der Neuanfang der Gregor Seyffert Compagnie Dessau im September 2004 einen entsprechend großen Symbolcharakter. Kreative Wertschätzung statt Stagnation und Abbau. Gregor Seyffert machte bereits damals deutlich, dass er gemeinsam mit kulturellen Institutionen und Initiati- »Niemand soll das Scholz-Repertoire besser tanzen können als wir« Wie geht es in Leipzig weiter ohne Uwe Scholz? Von Angela Reinhardt Im Juni 2005, über ein halbes Jahr nach dem Tod von Uwe Scholz, wurde der Kanadier Paul Chalmer zum neuen Ballettdirektor in Leipzig berufen. Die Suche nach einem Nachfolger des allzu früh verstorbenen deutschen Choreographen und Tanzpreisträgers dauerte lange, und mitunter wussten die Leipziger Tänzer nicht einmal, ob es überhaupt weitergeht mit ihrer Compagnie. Manche hatten bereits anderswo Verträge unterschrieben und blieben dann doch da. Noch zu Lebzeiten von Scholz war seine Compagnie von einstmals 60 auf 40 Tänzer geschrumpft, und mit dieser für manche großen Scholz-Ballette gar nicht mehr ausreichenden Zahl macht Paul Chalmer jetzt weiter. Nach dem Willen des Leipziger Opernintendanten Henri Maier sollte der neue Ballettchef gezielt kein Choreograph sein, um durch eigene Ambitionen nicht in Konflikt mit der Bewahrung des Scholz-Erbes zu geraten. Unter den zahlreichen Namen, die gehandelt wurden (u.a. waren Oliver Matz und Richard Cragun im Gespräch) ist Chalmer sicher einer der weniger bekannten. Der heute 43-Jährige aus Ottawa ist der dritte kanadische Ballettdirektor in Deutschland nach Reid Anderson in Stuttgart und Aaron Watkin, dem designierten Ballettchef in Dresden (wo mit Jason Beechey auch noch der zukünftige Direktor der Palucca-Schule aus Kanada stammt). Chalmer bringt zwar eine langjährige Erfahrung als Ballettmeister mit, aber er war noch nie Ballettdirektor. Als Tänzer führte er ein recht unstetes Leben, er war nie lange bei einer Compagnie, sondern gastierte rund um den Globus vor allem als 18 ven internationale Partner und genreübergreifende Projekte nach Dessau holen möchte. »Am Theater zeigt sich: schlägt das Herz einer Stadt oder schlägt es nicht«, resümiert Thomas Guggi als Manager der Compagnie. Tanz hat hier auch den pädagogischen Auftrag, jungen Menschen eine Perspektive zu zeigen. Und nach der Premiere erhielt Guggi Anfragen von Jugendlichen, die tanzen lernen wollten. Statt der Flucht aus der tristen Wirklichkeit eine wirkungsvolle Veränderung der Wirklichkeit, und dies möglicherweise ganz im Sinne Saint-Exupérys. Was kann man vom kleinen Prinzen lernen? »Das man ein Stück Kind in sich behalten sollte«, sagt Sascha Pieper. Tanzen sei die Chance, in eine neue Welt einzutauchen, Gefühlen freien Lauf zu lassen und eine farbigere Wirklichkeit zu erschaffen. »Vielleicht kann man es in einer tristen und von Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Welt nur dadurch aushalten, dass man tanzt?« ■ Weitere Vorstellungen im Anhaltischen Theater Dessau am 23. Dez. 2005, 29. Januar, 25. März, 7. April, 6. Mai und 24. Juni zuverlässiger Partner bekannter Ballerinen. Für eine Spielzeit hatte ihn Uwe Scholz im Jahr 2000 als Ballettmeister nach Leipzig geholt, danach arbeitete Chalmer in Italien, wo er zum Beispiel ein erfolgreiches klassisches »Dornröschen« in Rom inszenierte und für kleinere Compagnien choreographierte. Ob er wirklich der große Scholz-Tänzer war, sei dahingestellt – in seiner Zeit beim Stuttgarter Ballett tanzte Chalmer bei gerade mal zwei der zahlreichen ScholzUraufführungen im Ensemble mit, später kreierte Scholz in Monte Carlo noch sein Mozart-Ballett »Jeunehomme« für ihn. Die Premieren der aktuellen Saison waren bereits beschlossen, als Chalmer seinen Posten antrat, man wird also erst in den nächsten Spielzeiten erkennen, wohin das Leipziger Ballett steuert. Chalmer, der sich »als Restaurator und Beleber« sieht, setzt auf die bei fast allen deutschen Opernballettcompagnien bewährte Mischung aus Altem und Neuem. Er teilt es in Drittel auf: ein Drittel Scholz, ein Drittel bewährte Neoklassik von Cranko bis Balanchine, ein Drittel neue Choreographien. Weil Henri Maier in der Oper gute Erfahrungen mit Kooperationen gemacht hat, soll es in Zukunft auch beim Ballett Koproduktionen geben – ob es sich dabei nur um eine ausgeliehene Ausstattung oder um wirklich neu erarbeitete Produktionen handelt, wird die Zeit zeigen. Sicher scheint jedoch mit der Berufung von Chalmer, dass das Leipziger Erbe von Uwe Scholz bewahrt und respektiert werden wird. »Niemand soll das Scholz-Repertoire besser tanzen können als wir«, sagt Chalmer, deshalb will er auch ehemalige Scholz-Tänzer zum Einstudieren und Coachen zurück nach Leipzig holen. Er spricht davon, frühere Scholz-Werke aus Stuttgarter Zeiten in Leipzig erstaufzuführen. Mit den neoklassischen Choreographien seines Vorgängers erhofft sich Chalmer auch Erfolg auf Tourneen mit seiner Truppe. Nach dem Tod von Uwe Scholz kann das Leipziger Ballett über die Choreographien verfügen, die Scholz hier kreiert hat; für andere Compagnien und für die restlichen, nicht in Leipzig entstandenen Werke liegen die Rechte bei der Mutter des Choreographen. ■ Ballett Intern 5/2005 Wahlverwandte Gesamtkunstwerke 15. Festival euro-scene in Leipzig Von Volkmar Draeger Ab 2006 wolle sie wieder verstärkt junge, innovative, unbekannte Gruppen zur euro-scene nach Leipzig einladen, sagt Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff. Fast klingt das wie eine Entschuldigung für das opulente Aufgebot illustrer Namen bei der diesjährigen Jubiläumsausgabe des »Festivals zeitgenössischen europäischen Theaters«, so sein Untertitel. Doch sich über 15 Jahre halten zu können, allen Umbrüchen, Trendwechseln und Sparattacken zum Trotz, 15 kontinuierliche Jahre lang auf geographisch zunächst unbereitetem Terrain Neues zu popularisieren, der Avantgarde ein Podium zu bieten, ist nicht nur Grund zum Feiern, sondern auch Anlass für einen Rückblick. Die Anfänge der euro-scene, erzählt Wolff, liegen in einem anderen, früheren Festival. Alle zwei Jahre veranstaltete zu DDR-Zeiten der Theaterverband die Leipziger Schauspielwerkstatt. Sie widmete sich der zeitgenössischen sozialistischen Dramatik und präsentierte auch kritisch aufrührerische Stücke, die beim Leipziger Publikum reges Interesse weckten. Nach dem Ende der DDR beschloss Matthias Renner, seitens des Theaterverbands einst verantwortlich für jene Werkstatt, ein ähnliches und doch neues Festival einzurichten: unter europäischer Flagge und spartenübergreifend. Das Programm der ersten euro-scene an bescheidenen vier Novembertagen, mit 17 Vorstellungen von zehn Produktionen in fünf Spielstätten, konzipierten Renner und die Leipziger Tanzjournalistin Wolff als Mitarbeiterin schon gemeinsam. Namen wie Tanzfabrik Berlin, Irina Pauls, Jo Fabian sowie Gastspiele aus Budapest, Petersburg, Lublin, Marseille und Zürich sorgten für eine Auslastung von beinahe 93 Prozent. »Unsere Hoffnungen von damals haben sich rundum erfüllt«, resümiert Wolff. Der große Nachholbedarf der Zuschauer nach europäischer Avantgarde sei zwar inzwischen gestillt, geblieben sei ihre Neugier, nun gepaart mit Sachkenntnis. Geblieben auch das Konzept, experimentelle Produktionen einzuladen, ob neu oder bereits älter, ob Theater oder Tanz. Der Schwerpunkt lag, und das unterscheidet die euro-scene von ähnlichen Festivals, seit Anbeginn auf den Ländern Osteuropas. Deren kulturelle Vielfalt galt es zu entdecken, ihren Gruppen das Tor nach Europa zu öffnen. Flächendeckend, sagt Wolff, habe sie inzwischen Europa nach präsentablen Produktionen abgegrast, hole besonders gern, was Eigenheiten eines Landes spiegele. So wie im letzten Jahr die Beiträge aus Zypern, wenngleich die Choreographien dem internationalen Vergleich längst nicht standhielten. Das ästhetisch Ungewohnte, das Befremdliche, Diskussionswürdige, nach unverstelltem Blick Verlangende ist es, was die Festivaldirektorin vorzustellen reizt. Als häufigste Gäste nennt sie Jo Fabian, Alain Platel, Angelin Preljocaj und den litauischen Regisseur Oskaras Korsunovas, die Socìetas Raffaello Sanzio aus Cesena, das Teatr Dada von Bzdülöw aus Gdansk, die Theatertruppe Victoria aus Gent. Was das Publikum am meisten überrascht habe? Krzysztof Warlikowskis verstörende Sarah-Kane-Inszenierung »Gesäubert« aus Wroclaw im Vorjahr, Romeo Castelluccis fremdes Theaterkonzept, beim jüngsten Festival Preljocajs Kriegsstück »N«. Rodrigo Garcías Präsentation von Nacktheit in »Jardinería Humana«, »einem Ballett Intern 5/2005 auf allen Festivals herumgereichten Stück, die Sensation in Avignon«, so Wolff, lief in Leipzig eher lau. Manches, philosophiert sie, wirke eben nur an seinem Entstehungsort, in einem speziellen Raum, einem lokalen Kontext, einer Verschworenheit zwischen Künstler und Zuschauer. Dennoch lassen sich die Leipziger gern überraschen und sitzen auch Ungewohntes bis zum Schluss durch, lobt Wolff. Gefälliges werde eher kritisiert. Auf Begeisterung seien stets die flämische Ästhetik gestoßen, allgemein Stücke mit menschlichem, sozialkritischem Engagement, Ernsthaftigkeit des Wollen, Zeitbezug, dem Bemühen um eine eigene Handschrift. Blutvolles Theater laufe Abstraktem, Formalem allemal den Rang ab. Darin mag dann wohl doch die DDR-Vergangenheit nachwirken. Insgesamt hat die euro-scene bis heute rund 180 Compagnien mit 202 Produktionen in 357 Vorstellungen gezeigt, bei einer Auslastung von rund 91 Prozent. Festivalbegründer Renner hätte das gefreut. Als er 1993 plötzlich starb, drei Wochen vor der dritten Festivalausgabe, durchlebte Ann-Elisabeth Wolff ihre bittersten Momente und die Angst, dem Anspruch eines solchen Unternehmens nicht gewachsen zu sein. Besonderer Beliebtheit erfreut sich der 1997 von Alain Platel initiierte Wettbewerb um »Das beste deutsche Tanzsolo«, zu später Stunde auf dem schon legendären großen runden Tisch im Foyer des Schauspielhauses ausgetragen. Den Karrieren etwa von Friederike Plafki oder Maren Strack hat ihr Preisgewinn durchaus einen Schub verliehen. Gut 750 Bewerber kamen bisher in die Vorauswahl, etwa 175 wurden zugelassen. In diesem Jahr schafften 24 von 148 den Sprung auf den Tanztisch. Zu den ganz großen gehöre »ihr« Festival nicht, räumt Wolff ein: »Konzeption und Finanzen würden das nicht hergeben, und auch zu Leipzig würde das nicht passen.« Auf sechs konzentrierte Tage und 14 Produktionen mit 25 Vorstellungen habe es sich, wie auch im Jubiläumsjahr, zu Recht eingepegelt. Zukunftssorgen? Bis 2006 besteht noch der dreijährige Fördervertrag mit BMW, offener Punkt sei indes der Zuschuss vom Bund. »Wahnsinns viele Partner« teilen sich die Mischfinanzierung des Festivals mit seinem Gesamtetat von 630.000 Euro, alles Geld muss jeweils aufgebraucht werden, ins nächste Festival kann nichts hinübergenommen werden: Jedes Jahr beginne der Kampf von vorn, besonders in der Ära nach BMW und wenn Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, demnächst Mitglied der neuen Bundesregierung, seine schützende Hand nicht mehr über die euro-scene halten kann. Das Festival um jeden Preis zu revolutionieren, lehnt sie ab, und der Sturm auf die jüngste Ausgabe bestätigt sie darin. »Wahlverwandtschaften«, mannigfach deutbar, war sie überschrieben und vereinte Compagnien sowie Solisten aus Ländern von Bulgarien bis Zypern. Als wahlverwandt könnten etwa der in Wuppertal ansässige Brasilianer Rodolpho Leoni und der in Belgien lebende Italiener Emio Greco gelten: Beide, international erfolgreich und dennoch verschieden, arbeiten daran, die Grenzen der körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten im Tanz hinauszuschieben. Vor drei hohen Holzparavents jagt Leoni zu einer Jazzcollage seine exzellenten Interpreten wie Energiegeschosse durch die Weite des Raums, lässt sie um Balance ringen, sich in riskante Anflugkontakte verstricken. Traumwandlerisch sicher steuern sie die Schleuderimpulse ihrer Gliedmaßen, isolieren einzelne Bewegungen. Wie erfinderisch Leonis Raum-Zeit-Recherche ausfällt, wie souverän er Ruhemomente setzt, wie genau er die unterschiedlichen Bewegungsqualitäten seiner Tänzer zu nutzen weiß, vom virtuosen Solo bis zur reptilhaft skurrilen Miniatur, lässt den Zusehgenuss nie abreißen. In »speak« 19 sprechen Körper: explosiv und zärtlich, mit ansteckendem Spaß und ungewohnt musikalisch. Auf ein atmosphärisches Gesamtkunstwerk aus Bewegung, Klanggewebe und Licht zielt Grecos »Conjunto di NERO«, was »Zusammengehen von Schwarz« bedeutet. Seine vier vorzüglichen Tänzer und sich selbst wirft er hinein in den Kampf zwischen Hell und Dunkel, wie eine minutiöse Beleuchtungsregie ihn durch immer neue Lichträume anheizt. Spots zaubern Dreiecke, in die dunkle Zacken hineinstechen, zeichnen Rechtecke mit lichttoten Kreisen auf den Boden. Kaum fühlen sich die Menschen heimisch, vertreibt Dunkel sie in ein neues Paradies, hetzt sie über Lichtdiagonalen. Die im Dunkeln doppeln wie Spiegelbilder die im Hellen, Berührungen sind selten. Angst und Bedrohung assoziiert auch das wahnwitzige Tempo einer klassischen und modernen Tanz verschweißenden Be- wegungssprache. In einem blauen Nebelkäfig überlebt nur Greco die 70 Minuten währende Intensivattacke. Zu den Namhaften zählen gleichsam der Franzose Angelin Preljocaj, der das Festival mit der sanften »Annonciation« und dem erwähnten gewalttätigen »N« eröffnete, sowie der Brite Nigel Charnock, dessen Solo »fever« um Shakespeare-Sonette kreist. Jo Fabians brillant hintersinnige »Idioten« gehörten zu den deutschen Beiträgen, die Theatertruppe Victoria aus Gent setzte der Mannfrau Charlotte von Mahlsdorf ein Denkmal, das junge Dance Theatre Incluse aus Kaliningrad thematisierte »Deportation«. Grotesk Kitt Johnsons Menschwerdungs-Solo »Rankefod« aus Kopenhagen, dröge ein Tanzstück nach Gombrowicz aus Gdansk, bezaubernd nicht nur für Kinder die Geschichte vom »Kleinen Däumling« als live erzeugtes Hörbuch der Socìetas Raffaello Sanzio. ■ Ein außergewöhnliches »Jubiläum« … 166 : 32 = 5,18 John Neumeiers vielleicht vielfältigste Ballett-Werkstatt Von Dagmar Fischer 166 Ballett-Werkstätten in 32 Spielzeiten (die 33. hat im Herbst 2005 erst begonnen), macht durchschnittlich fünf Matineen pro Saison in der Hamburgischen Staatsoper, in denen sich John Neumeier über die Schulter in die Arbeit schauen lässt. Von Anfang an, also seit 1973, gehört die Ballett-Werkstatt am Sonntag Morgen zum »Repertoire« des Hamburg Ballett, und seit vielen Jahren sind die Vorstellungen regelmäßig ausverkauft. Deshalb soll an dieser Stelle einmal nicht eine runde, sondern die erstaunlich hohe Zahl gewürdigt werden. Die 166. Ballett-Werkstatt stand – auch das hat eine schöne Regelmäßigkeit – unter dem Motto »Debüt: Tänzer in neuen Rollen«. Passend zur, na ja, sehr frühen Vorweihnachtszeit, dürfen die Tänzer des Hamburg Ballett ihre Wünsche bei John Neumeier einreichen, welche Rolle, welchen Part sie gerne einstudieren und zeigen würden. Die Erfüllung der gesamten Wunschliste könnte mehrere Abende füllen, also muss der Ballettintendant auswählen, und dann ist es wirklich wie zu Weihnachten: nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung. Für alle Beteiligten bedeutet das Unterfangen ein Mehr an Arbeit, denn die Tänzer hängen zusätzliche Probenzeit an ihren ohnehin schon langen Tag; die erfahrenen Tänzer stellen ihr Wissen zur Verfügung, um die Stücke mit den jüngeren Tänzern einstudieren; die Pianisten investieren Zeit in eventuell unbekanntere Werke; und schließlich muss immer ein freier Raum für Proben im Ballettzentrum gefunden werden. Doch das Ergebnis gibt John Neumeiers Idee recht: Eine solche Bandbreite an stilistischen und technischen Herausforderungen ist ansonsten selten innerhalb von gut zwei Stunden auf einer Bühne zu sehen. Das liegt natürlich vor allem an der enormen Vielfalt im Werk des Chefchoreographen, das einen Bogen spannt von den Musical nahen »Bernstein-Dances« bis zur Tiefe und Ernsthaftigkeit der »Fünften Symphonie von Gustav Mahler«, aber auch zwischen dem kongenial 20 in eine Choreographie verwandelten Theaterstück »Die Möwe« nach Anton Tschechov und dem religiös inspirierten »Magnificat« zu Musik von Johann Sebastian Bach. Und so bekommt anlässlich dieser 166. Ballett-Werkstatt der Debütanten zum Beispiel »Der Nußknacker« mit dem Hamburger Neuzugang Florencia Chinellato eine ganz neue »Marie«, während dem erprobten »Romeo« Thiago Bordin die junge »Julia« Lisa Todd an die Seite gestellt wird. Hier, wie auch im Beispiel aus dem »Sommernachtstraum«, fungieren die erfahrenen Tänzer als »Hilfsperson«, so Neumeier in seiner Moderation, das heißt, die temperamentvolle Georgina Broadhurst, jüngst zur Solistin ernannt, darf sich als »Helena« versuchsweise auf den standhaften »Deme trius« Arsen Megrabian stürzen – und überzeugte als sympathische, anhängliche Brillenschlange! Das Spektrum reichte ansonsten vom Solo der »Gamsatti« aus Petipas/Makarovas »La Bayadère«, von Compagnie-Tänzerin Stephanie Minler gut bewältigt, bis zum barfüßig getanzten finalen Solo der »Auserwählten« zu Strawinskys, in diesem Fall Neumeiers »Le Sacre«, in dem sich Anja Behrend beeindruckend verausgabte; und von der »Matthäus-Passion«, aus der sich Antonin Comestaz bemerkenswerter Weise die »Geduld« wählte, bis hin zu einem Ausschnitt aus »Opus 100 for Maurice«, von John Neumeier zu Musik von Simon & Garfunkel anlässlich des 70. Geburtstags des Freundes Béjart kreiert – über diesen Wunsch der (Ersten) Solisten Peter Dingle und Yohan Stegli war der Ballettintendant offenkundig überrascht. Mehrfach betonte John Neumeier in dieser Werkstatt, dass er über die formulierten Wünsche auf den Zetteln nicht selten staune, »es ist interessant zu sehen, in welche Richtung ein Tänzer geht, wenn er selbst wählen darf.« Sogar für die Choreographie eines Tänzers war Raum: Yaroslav Ivanenko schuf für das norddeutsche Festival »Musiktage Hitzacker« im Sommer 2005 einen Pas de Quatre zu Musik von Sibelius, das »Adagio« aus dem 4. Streichquartett in d-Moll verriet gute, wenn auch vorsichtig formulierte eigene Ansätze. Selbst wenn man die 166 Werkstätten der 32 Spielzeiten mit den zusätzlichen Arbeitsstunden der Beteiligten multipliziert, die Rechnung geht in jeden Fall auf. ■ Peter Dingle, Yohan Stegli in „Opus 100 for Maurice“ (Foto: Holger Badekow) Ballett Intern 5/2005 Bozen Das Geheimnis des Erfolges Tanz in Bozen – Bolzano Danza im 21. Jahr Von Ira Werbowsky So viele Tanzbegeisterte können nicht irren – das renommierte und seit Jahren mit jeweils etwa 700 Teilnehmern bestens ausgelastete Tanzseminar erfreut sich stetig großer Beliebtheit. Wie kommt es, dass der Zuspruch zum Kursfestival in der Südtiroler Stadt ungebrochen ist? Man nehme hochkarätige Dozenten und ebensolche Musiker und würze die bewährte Workshop-Mischung mit trendgerechten Innovationen. Mit diesem erfolgreichen Konzept läuft Tanz in Bozen – Bolzano Danza nun seit mehr als 20 Jahren. Alessandra Pasquali, in Bozen heimische Ballett-Tänzerin, wuchs mit den alljährlichen Sommertanzkursen auf. Ihr damaliger Lehrer Frank Freeman ermutigte sie, den Schritt zur professionellen Ballettausbildung in London zu wagen. In den Sommermonaten kam sie regelmäßig nach Hause, um zusätzlich am Ballett-Sommer Bozen teilzunehmen. Auch als sie bereits an die Staatsoper in Wien engagiert war, hielt sie den Dozenten in Bozen die Treue. Inzwischen ist sie Solistin beim Staatsballett Berlin. Veranstaltet vom Südtiroler Kulturinstitut stand also vom 15. bis zum 30. Juli wieder alles im Zeichen des Tanzes. Das Team, bestehend aus der künstlerischen Leitung Ulrich Roehm und Edith Wolf Perez (die erstmals als Co-Direktorin fungierte) sowie der Verwaltungsdirektorin Dr. Sigrid Hafner, brachte neben den allseits bekannten auch interessante neue Tanzstilrichtungen und Pädagogen nach Bozen, die bei einer Eröffnungsfeier im Haus der Kultur »Waltherhaus« den Teilnehmern vorgestellt wurden. Nancy Lushington hatte im Vorjahr einige Trainingseinheiten zur Probe gegeben und wurde so begeistert angenommen, dass die Amerikanerin in diesem Jahr für zwei Wochen mit Kursen für Klassisches Ballett und Modernen Tanz (May O´Donnell Technique) verpflichtet wurde. Diese Kombination klingt ungewöhnlich, aber bedingt durch ihre umfassende Ausbildung und jahrelange persönliche Erfahrung sowohl als Tänzerin wie als Pädagogin ist dieser Spagat zweier Tanzwelten nicht weiter verwunderlich. Anders als Nancy Lushington – neu in Bozen Ballett Intern 5/2005 2005 es damals die Pioniere des Modern Dance sahen, basiert doch vieles auf dem Klassischen Ballett. Während sich hier das Gefühl für Linie, Form und Musikalität am besten entwickeln lässt, zählt im Modernen Tanz der Gegensatz von An- und Entspannung zu den zentralen Themen. Der Italiener Giorgio Madia hat 2005 erstmals das kompetente Team für Klassisches Ballett um Gillian Anthony und Elaine Holland verstärkt. Der Tänzer, Ballettmeister und Choreograph war in den beiden vergangenen Jahren Ballettdirektor an der Volksoper in Wien. Körperliche Bewegungserfahrungen ganz anderer Art konnte man bei Vicente Sáez machen. Nachdem er zuletzt 2003 mit dem Frauensolo »Ruah« bei Bolzano Danza gastiert hatte, war er nun erstmalig als Dozent für Zeitgenössischen Tanz geladen. Ausgehend von der Atmung entwickelt der Spanier seinen eigenständigen Bewegungsstil, in dem er emotionale und sinnliche Erfahrungen umsetzt. Neben seinem Technik-Unterricht gab es auch die Möglichkeit, in Choreographie/Komposition das eigene kreative Improvisations-Talent zu erproben. Überraschend viele Interessenten fanden sich in den Hula-Stunden bei Kaleiula Kanaeo ein. Die Hawaiianerin stellte bei ihrem Dozenten-Debut in Bozen den Tanz ihrer Heimat in zwei Ausformungen vor: Unter Hula-Kahiko versteht man den traditionellen hawaiianischen Tanz, der nur von Gesang und einem Musiker mit Kürbistrommel bzw. Trommel aus Kokospalmenholz und Haifischhaut-Bespannung begleitet wird. Im Gegensatz dazu ist bei Hula Auwana als dem »modernen« hawaiianischen Tanz Orchesterbegleitung erlaubt. Das Basisschrittmaterial ist in beiden Stilrichtungen zunächst identisch. Erst nach einer Einführungsphase werden die jeweils charakteristischen Unterschiede erarbeitet. Zu den wiegenden Schritten aus der Hüfte – den Wellen des Ozeans gleich – werden die typischen Arm- und Handbewegungen gefügt, bis Die Hawaiianerin Kaleiula Kanaeo gab in diesem Jahr in Bozen ihr Debut als Dozentin 21 inklusive der Kopfhaltung die erzählende Tanzform komplett ist und so eine Geschichte des hawaiianischen Volkes dargestellt wird. Auf Hawaii werden diese traditionellen Tänze in speziellen Tanzschulen gelehrt. In der Zeit vor Kapitän Cook gab es keine schriftlichen Überlieferungen der Tänze – es war daher nur bestimmten Familien erlaubt, diese Tänze auszuüben oder weiterzugeben. Auch Kaleiula Kanaeo stammt aus einer solchen Familie. Sie wuchs Brigitta Luisa Merki zwar aufgrund der damaligen politischen Situation in einer sehr amerikanisierten Umwelt auf, aber in den letzten Jahren hat sich das Bewusstsein der eigenständigen Kultur wieder durchgesetzt, und zwei ihrer vier Kinder besuchen Schulen, in denen in hawaiianischer Sprache unterrichtet wird. Sie selbst unterrichtet bereits seit vielen Jahren diese exotische Tanzrichtung, ist aber eine der wenigen Auserwählten, die auch weiterhin Unterricht nehmen darf, da der Reichtum an Schrittmaterial unerschöpflich ist. Im Sinne von lebenslangem Lernen ist sie sich dieser Auszeichnung bewusst und gibt sozusagen als Botschafterin des Tanzes die Tradition ihrer Heimat gerne an Interessierte weiter. Mit ihrer eigenen Schule gastiert sie unter anderem in Japan und Tahiti; Soloperformances führten sie zuletzt nach Hamburg und Bayern. Chesse Rijst setzt neue Akzente in seinen Jazz- und Musicalstunden. Der Tänzer und Choreograph indonesischer Abstammung arbeitet hauptberuflich in Amsterdam an der Hochschule für Kunst, an der Akademie des Holländischen Nationalballetts und in der Pädagogikausbildung für Jazz Theater Tanz. Als ursprünglich klassisch ausgebildeter Tänzer verbindet er in seinen Jazzstunden die Kraft des Körpers mit der Freiheit der Bewegung und formt daraus einen sehr dynamischen Bewegungsstil. Erstmals in Bozen, war er mit seinen Studenten sehr zufrieden: »Sie arbeiten mit viel Begeis22 terung.« Sein sensibles Einfühlungsvermögen im Unterricht hilft Anfängern über Einstiegsprobleme hinweg und ermöglicht es den Fortgeschrittenen an der Ausdruckskraft zu arbeiten: Für ihn ist Tanz eine Form von Kommunikation. In seiner MusicalKlasse studierte er zwei eigene Choreographien zu Musik aus »Tommy« ein. Hier ist es ihm zusätzlich zum Beherrschen der Schritte wichtig, dass Bühnenpräsenz entwickelt wird. Bob Curtis – er wurde im September 2005 unglaubliche 80 Jahre Elaine Holland (!) – wurde in diesem Jahr auch als Maler präsentiert. Mit der Ausstellung »Pictures to live with« im Foyer des Studiotheaters zeigte er eine noch weiten Kreisen unbekannte Facette seines künstlerischen Schaffens. In den hier gezeigten Bildern dominiert die abstrakte Form. Obwohl die Malerei zuerst kam und danach der Tanz, begleiteten ihn beide Kunstrichtungen durchs Leben. Seinen Tanzstil und seine Unterrichtstätigkeit zu beschreiben ist unnötig – sein Afro Contemporary zählt immer zu den absoluten Highlights. Ebenso geschätzt ist Brigitta Luisa Merki. Ihre Flamenco-Stunden, in der eine Einheit aus Technik, Rhythmus und Körpergefühl geschaffen wird, sind legendär. Mit Fernando Alfaro war auch ein Tänzer aus ihrer Compagnia Flamencos en route zum ersten Mal unter den Pädagogen. Immer am tänzerischen Puls der Zeit befindet sich Andy Lemond mit seinen Funky-Jazz- und HipHop-Kursen. Nahezu ohne Pause seit Beginn dabei ist Dick O´Swanborn, der ebenfalls Musical unterrichtete. Das weitere Kursangebot umfasste Feldenkrais mit Susanne Noodt, Afro Brasil bzw. Samba do Brasil bei Ivan Vasconcellos, und Jazz von Claud Paul Henry. Das Besondere an Bozen sind nicht zuletzt die Musiker, die durch ihre Live-Begleitung den Workshops zusätzlich virtuose Lebendigkeit geben: Beatriz Parody, James Schar und Peter Jones fungieren als Pianisten mit Konzertreife im Klassischen und Modernen Tanz. Armand Amar begleitet als Meister des Synthesizers sowohl Bob Curtis als auch Anne Marie Porras mit ihrem unvergleichlichen, von sehr persönlicher Note geprägten Jazztanz. Juan Gomes ist als feuriger Gitarrist aus den Flamenco-Stunden bei Brigitta Luisa Merki nicht wegzudenken; Pablo Garcia Palomo, ebenfalls Neuling in Bozen, begleitete Alfaro. Ungewöhnlich Keiko Ookas Begleitung: Die Japanerin ist für Flamenco-Gesang zuständig. Und Gilson de Assis’ Percussion unterstützt Ivan Vasconcellos Unterricht in idealer Weise. Zum allgemeinen Vergnügen wurde am Walther-Platz ein Gesellschaftstanzabend und ein Samba-Abend organisiert, die sich beide ebenfalls reger Beteiligung erfreuten. Die gekonnte Synthese aus Bekanntem und Novitäten hat seinen besonderen Reiz in Bozen. Wie heißt es bei Franz Grillparzer? »Werde, was du noch nicht bist, bleibe was du jetzt schon bist; in diesem Bleiben und diesem Werden liegt alles Schöne hier auf Erden.« ■ Ballett Intern 5/2005 Das Stuttgarter Ballett erhält den John-Cranko-Preis 2005 Von Angela Reinhardt Im Anschluss an eine Vorstellung von John Crankos »Der Widerspenstigen Zähmung« hat das Stuttgarter Ballett am 15. Oktober den John-Cranko-Preis 2005 erhalten. Verliehen wird die nicht dotierte Auszeichnung seit 1975 von der John-Cranko-Gesellschaft, einer der beiden traditionsreichen Publikumsorganisa tionen von Ballettfreunden in Stuttgart neben der etwas älteren Noverre-Gesellschaft. Die John-Cranko-Gesellschaft gibt seit vielen Jahren auch das Stuttgarter Ballett-Annual heraus. Zu den bisherigen Preisträgern gehören u.a. Marcia Haydée, Jürgen Rose, Georgette Tsinguirides, Fritz Höver, Reid Anderson, Horst Koegler und viele ehemalige Solisten der Compagnie. Zum 30-jährigen Jubiläum des eingetragenen Vereins wurde der Preis nun keiner Einzelperson, sondern dem gesamten Stuttgarter Ballett als Institution überreicht. Was zunächst wie eine Verlegenheitslösung wirken mochte, wurde seitens der John-CrankoGesellschaft durch Rolf Pfander und Monika Mayer plausibel begründet: »Mit dem Stuttgarter Ballett zeichnen wir die Mitglieder einer Ballettcompagnie aus, die gemeinsam und durch ihren persönlichen Einsatz das Werk John Crankos lebendig halten, in die Welt hinaustragen und auch für die nachfolgenden Generationen bewahren.« Sie widmeten den Preis allen aktuellen und ehemaligen Tänzern der Compagnie (von denen einige extra angereist waren) sowie den drei Ballettchefs nach Cran- Angela Reinhardt Der passende Spitzenschuh Tipps und Tricks für Kauf, Pflege und Tuning 112 S., 280 farb. Abb., Festeinband, 16,90 EURO V.l.n.r.: Monika Mayer und Rolf Pfander von der John-Cranko-Gesellschaft, Choreograph Christian Spuck, der Erste Solist Filip Barankiewicz, Ballett intendant Reid Anderson, die Ersten Solisten Sue Jin Kang, Mikhail Kaniskin, Elena Tentschikowa, die Solisten Diana Martinez Morales, Alexander Zaitsev, Eric Gauthier und Choreologin Georgette Tsinguirides (Petr-Bild) ko: Glen Tetley, Marcia Haydée und Reid Anderson. Letzterer nahm Medaille und Urkunde entgegen und dankte seinerseits der Stadt Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg. Und er dankte vor allem John Cranko: »Das ist immer noch seine Compagnie. Wir machen nur die Verwaltung hier.« Gefeiert wurde mit einer rauschenden Party, zu der die John-Cranko-Gesellschaft die gesamte Compagnie eingeladen hatte. ■ Angela Reinhardt erhielt ihre Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule in Berlin und wurde 1983 von Tom Schilling an das Tanztheater der Komischen Oper engagiert, wo sie bald zur Ersten Solistin des Ensembles avancierte. Sie erhielt etliche na tionale und internationale Preise, u.a. einen 1. Preis beim Prix de Lausanne. Neben ihrer Gastspieltätigkeit gibt Angela Reinhardt Kurse zur Perfektionierung von Spitzenschuhen und zur Spitzentanz-Technik. – www.spitzenschuh-tipps.de. Ohne einen perfekten passenden Spitzenschuh kann keine Tänzerin die grazilen Posen des Spitzentanzes ausführen. Damit er sich perfekt an den Fuß anpasst und nicht nur eine Woche hält, muss jede Tänzerin viel Arbeit investieren. Angela Reinhardt hat nun zum ersten Mal sämtliche Tipps und Tricks zum Spitzenschuh zusammengefasst. Alle Teile des Schuhs unterzieht sie einer intensiven Behandlung. Mit Nadel und Faden, Messer und Schere, heißem Dampf und Gummibändern optimiert sie die Schuhe, bis sie wirklich 100-prozentig sitzen. Und in einem Anhang zur Fuß-Fitness gibt sie weitere Tipps, damit das Tanzen auf der Spitze zum »göttlichen Vergnügen« wird. Ballett Intern 5/2005 23 Zur Erinnerung an Erika Klütz (1908–2005) Von Gerlinde Supplitt Sie hat ein langes, künstlerisch und pädagogisch facettenreiches und überaus fruchtbares Leben gelebt: Erika Klütz, Tänzerin, Ballettmeisterin und Pädagogin. Die aus Posen stammende Erika Klütz erhielt ihre Ausbildung in Klassischem Tanz am Staatstheater Berlin ab 1921, ihre Bühnenlaufbahn begann an den Theatern von Schwerin und Rostock. Früh wandte sie sich dem Modernen Tanz zu, in dessen aus natürlichen Bewegungsmöglichkeiten entwickelter Tanzsprache sie die Ausdrucksmöglichkeiten für das Lebensgefühl der Zeit sah. Sie studierte an den Mary Wigman Schulen in Berlin und Dresden, legte dort das Examen als Tanz- und Gymnastikpädagogin ab, wurde Lehrerin und Assistentin am Wigman Zentralinstitut in Dresden und war von 1934 bis 1936 Mitglied der Mary Wigman Tanzgruppe. Diese Jahre der intensiven Zusammenarbeit mit Mary Wigman wurden für ihr weiteres künstlerisches und pädagogisches Wirken prägend. Nach 1936 erwarb Erika Klütz an den Deutschen Meisterstätten für Tanz in Berlin ihr Ballettmeister-Diplom. Humorvoll und voller Bewunderung erzählte sie später von Begegnungen mit Künstlern wie Harald Kreutzberg, Max Terpis, Tatjana Gsovsky, Tamara Rauser, Marianne Vogelsang und vor allem Mary Wigman. Von 1937 bis 1939 gehörte sie selbst dem Kollegium der Deutschen Meisterstätten an. Dem zunehmenden politischen Druck in Berlin konnte sie sich durch ein Engagement am Staatstheater Schwerin weitgehend entziehen. Von 1939 bis 1945 war sie dort Ballettmeisterin und Erste Solotänzerin und leitete die Abteilung für Tanz am Mecklenburgischen Konservatorium. Mit einem von den britischen Militärbehörden organisierten Künstlertransport kam sie im Juli 1945 nach Hamburg, wo sie den vermissten Max Aust als Ballettmeisterin an der Hamburgischen Staatsoper vertrat und im Februar 1946 den ersten Ballettabend nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete. Ab 1952 schuf sie für das neue Medium Fernsehen mehrere Choreographien. Nach Austs Rückkehr gründete Erika Klütz 1946 ihre Schule für Theatertanz und Tanzpädagogik in Hamburg. Bei ihr ausgebildete Tänzer waren an vielen deutschen Bühnen erfolgreich, ehemalige Tänzer erwarben bei ihr die Qualifikation zum Tanzpädagogen. Ihr Interesse galt aber nie nur den professionell Tanzenden, das bezeugen die Kurse für Modernen Tanz im Rahmen der Volkshochschule, die sie bis ins hohe Alter gab. »Als Lehrerin fasse ich meine Aufgabe nicht nur technisch auf, obwohl das Training die Grundlage allen guten Tanzes ist. Doch versuche ich immer, auf den ganzen Menschen einzugehen, seine Anlagen voll zu entfalten und ihm zu helfen, seine eigenen künstlerischen Erlebnisse zu formen.« Am 16. März 2005 ist Erika Klütz im 97. Lebensjahr in Hamburg gestorben. Ihre Schule wird in ihrem Sinne weitergeführt und im kommenden Jahr das 60-jährige Bestehen feiern. ■ Alfredo Corvino zum Gedenken (1915–2005) Von Marianne Forster „Mazurka“, Choreographie und Ausführung Erika Klütz (1939) 24 Anfang August ist Alfredo Corvino in New York gestorben. Ein großer Ballettpädagoge, der auch bei den New Yorker Modernen und einigen Broadway Stars sehr populär war. Als Pina Bauschs Ballettmeister war er allerdings in Deutschland vor allem Insidern bekannt. Corvino wurde in Uruguay geboren und studierte am Städtischen Theater seiner Heimatstadt Montevideo. Dort avancierte er zum Ersten Solisten und Ballettmeisterassistenten, eigene Choreographien folgten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er Mitglied der Ballets Jooss, die ohne ihren Gründer Kurt Jooss in Nord- und Südamerika auf Tournee waren. Anschließend tanzte er bei den Ballets Russes de Monte Carlo, um kurz vor Kriegsende doch noch zum Militär eingezogen und in Heidelberg stationiert zu werden. Nach Kriegsende folgten Engagements in New York in der Ballettcompagnie der Radio City Music Hall und im Ballett der Metropolitan Opera, wo er auch als Ballettmeister arbeitete. Das Rüstzeug für seine pädagogische Tätigkeit hatte er u.a. bei Anatole Vilzak, vor allem aber bei Margaret Craske und Antony Tudor erworben. Tudor war es auch, der ihn 1952 an die neu geschaffene Tanzabteilung der New Yorker Juilliard School of Music holBallett Intern 5/2005 Alfredo Corvino und Pina Bausch ... te. 42 Jahre lang unterrichtete er dort, bestritt aber auch Lehraufträge und Gastkurse rund um die Welt, unter anderem an der Folkwang Hochschule, wo damals Pina Bausch studierte. Bauschs Weiterstudium an der Juilliard School war ein Resultat dieser Begegnung. Beide blieben darüber hinaus in Kontakt, und so unterrichtete Corvino gelegentlich ihre Tänzer in Deutschland. Nach seiner Pensionierung wurde er Ballettmeister beim Tanztheater Wuppertal, einmal stand er sogar in »Victor« auf der Bühne. Noch im vergangenen Jahr war er mit Pina Bausch auf Der »Tanzolymp« findet vom 15. bis 19. Februar 2006 zum dritten Mal in Berlin statt. Es können junge Tänzer aus staatlichen und privaten Schulen teilnehmen, aufgeteilt in vier Kategorien: Klassischer Tanz, Moderner Tanz, Charaktertanz / Folklore sowie Jazz/ Pop. Infos unter Tel. 030-20 45 51 30 oder www.tanzolymp.com Die von Christine Hasting ins Leben gerufene Fortbildungsreihe »Futter für die Phantasie« bekommt eine Unterabteilung, die Serie »Body Mind Centering im Kreativen Kindertanz«. Ab Dezember 2005 können sich Tanzpädagogen für ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen unter der Leitung von Lambrini Konstantinou fortbilden. Hasting Studio für Zeitgenössischen Tanz, Königinstr. 34, 80802 München, Tel./Fax 089-34 93 24, e-mail: [email protected] Laban Center London: Am 21./22.1.2006 findet in Basel/ Schweiz eine Audition für die Ausbildung am Laban Center statt. London Contemporary Dance School at The Place: Am 18. März 2006 findet in Basel/Schweiz eine Audition für die Ausbildung im Londoner »The Place« statt. Auskunft und Anmeldung für beide Termine: The Dance Experience, Marianne Forster, Mittlere Strasse 4, CH-4056 Basel, Tel. 0041-61261-1662, Fax -1604, [email protected] www.laban.co.uk Nach dem Vorbild des Musik- und Tanzprojekts, das der berühmte Film »Rhythm is it!« dokumentiert, wurde auch in Hamburg eine Initiative gestartet: Vier Mitarbeiter des »Hamburg Ballett – John Neumeier« arbeiten seit Oktober 2005 mit einer 5., 6. und 7. Klasse der Haupt- und Realschule Hamburg-Allermöhe, einem Stadttteil mit hohem Anteil Aussiedler aus Osteuropa. Das »Focus on YOUth« betitelte Projekt wird »Romeo und Julia« (Musik Prokovjev) erarbeiten, gemeinsam mit Schülern der Hamburger Ballettschule soll das Ergebnis am 16. Mai 2006 anlässlich der »Erste Schritte«-Vorstellung in der Hamburgischen Staatsoper gezeigt werden. Ballett Intern 5/2005 Tournee in Frankreich, Deutschland und Japan, trotz seines Alters genoss er das Reisen sehr. Corvino gründete in New York auch die eigene Schule »Dance Circle«, die er zusammen mit seiner Familie führte. Seine Töchter setzen sein Werk fort: Andra als Dozentin an der Juilliard School, Ernesta kümmert sich um die Schule, leitet ihre eigene Compagnie, choreographiert, unterrichtet an der University of Nevada und gibt weltweit Ballett- und Pädagogikworkshops. Das Typische an Corvinos Unterrichtssystem sind seine sieben Schwerpunkte: Zentrierung, Alignment, Ausdrehung, Balance, Verhältnis von Kopf zu Armen, Gewichtsübertragung und Koordination. Ein Hauptanliegen war ihm, durch korrektes organisches Training die Karriere eines Tänzers zu verlängern. Er machte keinen Unterschied, ob er klassische oder moderne Tänzer unterrichtete, sondern konzentrierte sich auf die wichtigsten Anforderungen der Technik. Artifizielles, stilistisch Einseitiges und Mystisches hatte bei ihm keinen Platz. 2002 wurde Corvino mit dem »Martha Hill Award for Demonstrated Leadership in Dance« ausgezeichnet. Die Besetzung des damaligen Ehrenkomitees liest sich wie ein Who’s Who des Tanzes, von Benjamin Harkarvy über Helen McGehee, Lin Hwai Min, Carla Maxwell, Martha Myers, Sheldon Schwartz bis zu Paul Taylor – Zeremonienmeisterin war Mercedes Ellington. Die Liste zeigt, wie sehr man Alfredo Corvino und sein Werk schätzte. 2003 wurde ihm von der Juilliard School das Ehrendoktorat in Fine Arts verliehen. ■ Aus der FAZ vom 24. Oktober 2005 Kulturnische im Welthandel Zur Unesco-Konvention zur kulturellen Vielfalt Seltsame Szenen spielten sich in dieser Woche ab bei der Unesco: Amerika gegen den Rest der Welt. Dreißigmal wollte die amerikanische Delegation über ihre Abänderungsvorschläge zur Konvention über den Schutz der kulturellen Vielfalt in der Welt einzeln abstimmen lassen und stand praktisch immer allein da. Mit 148 gegen zwei Stimmen, die Vereinigten Staaten und Israel, wurde der Konventionstext im Plenum der Generalkonferenz schließlich angenommen. Zwei Jahre lang hat das Ringen um diesen Text gedauert. Staaten, die ihre Filme, ihre Musik und überhaupt ihre Kultur vor dem Druck der Marktglobalisierung schützen wollen durch Subvention, Mindestquoten oder andere Maßnahmen haben damit erstmals eine internationale Rechtsgrundlage. Laut Artikel 20 ist diese Konvention anderen Abkommen unterzuordnen. Amerika spricht von Protektionismus und von einer Gefährdung der allgemeinen Menschenrechte. Die Europäische Union widersprach einstimmig – unter britischem Vorsitz. Der verbissene Widerstand Amerikas verhalf dem Konventionstext zu unerhofftem Aufsehen. Auch in anderen Bereichen wie Bioetik oder Sport-Doping ist die Unesco neuerdings aktiv geworden. (…) 25 10 Jahre Bregenz: Impressionen 2005 (Foto: Jürgen Schulz – Dresden) Unsere Tanz-Ereignisse 2006: Bregenz und Worpswede Zum 11. Mal finden 2006 die Internationale Sommertanzwoche und zum 3. Mal die Sommer-Intensiv-Woche Tanzpädagogik in Bregenz statt. Unter der Leitung unserer hochqualifizierten Dozentinnen und Dozenten Elaine Holland, Kaleiula Kaneao, Prof. Martin Puttke, Günther Rebel, Chesse Rijst, Ulla Wenzel, Dick O’Swanborn u.a. finden Kurse in den Disziplinen Ballett / Spitzentanz / Jazztanz / Musical / Tanztheater / Modern Dance / Charaktertanz sowie Folklore – Hawaiianischer Tanz statt. Auch in diesem Jahr gibt es für die Kursteilnehmer die Möglichkeit des Besuchs einer Aufführung der Bregenzer Festspiele auf der Seebühne zu einem ermäßigten Preis. Auf dem Programm steht dort in diesem Jahr die Oper »Der Troubadour« von Giuseppe Verdi. Auf alle weiteren Fragen gibt Ihnen Ursula Neuhaus gerne Auskunft: Tel. und Fax: 06184 / 62 972 Di. 9:00–10:00 und 20:15–21:00 Uhr Fr. 9:00–10:00 Uhr Zum ersten Mal lädt der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik e.V. zu den »Norddeutschen Tanztagen« in das weltbekannte Kunstund Künstler-Dorf Worpswede bei Bremen ein. In einer Atmosphäre, die die Malerin Paula Modersohn-Becker mit den Worten beschrieb: »Worpswede, Worpswede, Worpswede … Es ist ein Wunderland!«, wollen wir mit unseren hochqualifizierten Dozentinnen und Dozenten Günther Rebel, Chesse Rijst, Ulla Wenzel u.a. vom 25. Mai (Himmelfahrt) bis zum Sonntag, den 28. Mai 2006 eine neue Aktivität des Tanzes für unsere tanzbegeisterte Jugend kreieren: Ballett / Spitzentanz / Jazztanz / Musical / Tanztheater / Freier Tanz / Modern Dance / Charaktertanz. Begleitet werden sie von den versierten Musikern Peter Jones, Thomas Lorey. Die Tanztage sind geplant für junge Tänzerinnen und Tänzer ab neun Jahren bis zum »fortgeschrittenen Standard«. Detailliertes Informationsmaterial durch: Organisation Bregenz/Worpswede Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik U. Neuhaus, Hüttengesäßerstr. 20 D-65505 Langenselbold Fax: +49 (0) 6184 / 62 972 Informationen und Anmeldeformulare auch unter: www.tanz-ereignisse.de Daniela Lehmann gewinnt den Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo« Von Ann-Elisabeth Wolff / Nadine Brockmann Der Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo« wurde am gestrigen Abschlussabend der euro-scene Leipzig entschieden. Der 1. Preis der fünfköpfigen Jury sowie auch der Publikumspreis gingen an die 26-jährige Daniela Lehmann aus Freiburg im Breisgau. Mit ihrem Solo »Mina« präsentierte sie dem begeisterten Publikum eine abwesende, zerbrechliche und gleichzeitig energische Frau. »Mir scheint es manchmal«, so Daniela Lehmann, »wie eine Reise durch zwei Jahrhunderte Leben aller Frauen.« Den zweiten Preis bekam der Tänzer Wojtek Kapron aus Lublin/Polen mit seinem Solo »Bellissimo«. Zufit Simon aus Berlin erhielt für ihr Solo »fleischlos« den dritten Preis. Des Weiteren wurden zwei Sonderpreise vergeben. Sie gingen an die einzige Finalistin aus Leipzig, Julia-Maria Köhler, und an Swetlana Brik aus Wieden/Bayern. Erstmals wurden an die drei Sieger Preisgelder als Anteilsfinanzierung zu einem nächsten Projekt zwischen 5.000 EURO und 3.000 EURO vergeben. Die Preise wurden gesponsert vom BMW Werk Leipzig, Price Waterhouse Coopers und Freundeskreis Gohliser Schlösschen. Die Soli aller Preisträger werden von der Filmhochschule Babelsberg aufgezeichnet und demnächst auf dem ZDFtheaterkanal ausgestrahlt. Der Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo«, nach einer Konzeption von Alain Platel, Gent, fand im Rahmen des Festivals euro-scene Leipzig zum 7. Mal statt. Er war ein großer Publikumsmagnet und bereits im Vorfeld ausverkauft. Die künstlerische Leitung lag in den Händen von Wolfgang Krause Zwieback. Bewerben konnte sich jeder, unabhängig von Alter, Ausbildung und Stil mit einem fünfminütigen Solo. Insgesamt gingen 148 Bewerbungen ein. Sie waren diesmal stärker international als in den vergangenen Jahren und kamen aus Armenien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Kroatien, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Russland, Schweiz, Slowakei, Südkorea, Tschechische Republik, Ungarn und den USA. Der Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo« ist auch für das nächste Jahr wieder während der euro-scene Leipzig geplant. Das Festival zeitgenössischen europäischen Theaters findet vom 07.–12. November 2006 statt. ■ euro-scene Leipzig 15. Festival zeitgenössischen europäischen Theaters 01.-06. November »Wahlverwandtschaften« Theater und Tanz aus dem alten und neuen Europa Daniela Lehmann, Freiburg im Breisgau »Mina« 1. Preis und Publikumspreis 2005 bei »Das beste deutsche Tanzsolo«, 7. Wettbewerb der euro-scene Leipzig nach einer Konzeption von Alain Platel Foto: Rolf Arnold, Leipzig Ballett Intern 5/2005 »Ich bin froh, wenn sich etwas bewegt« Erinnerungen an das Erste Deutsch-Deutsche Tanzsymposion 1990 in Dresden Von Dagmar Fischer Tanztheater – eigentlich ein gängiges Wort. Die Bedeutung wird jedoch ganz unklar, wenn sich Menschen aus der ehemaligen DDR und der BRD darüber miteinander unterhalten. Während die einen damit Tom Schillings Arbeit meinen, denken die anderen vor allem an Pina Bausch und ihre Stücke. Als sich Tanzfachleute aus Ost und West vor genau fünfzehn Jahren zum aller ersten Mal nach der Wiedervereinigung Deutschlands zusammen setzten, war die Diskussion um die Bedeutung von Tanztheater nur eins von vielen Themen, das große Gegensätze offensichtlich machte. Jahrzehnte lang in unterschiedlichen Systemen gelebt und gearbeitet zu haben, schrieb auch zwei Linien deutscher Tanzgeschichte. Die Idee zu diesem ersten deutsch-deutschen Tanztreffen nach der Wende hatten Anne Paulat und Dieter Lösche. Als Geschäftsführender Direktor des Balletts der Semperoper standen ihm Kontakte und Mittel zu Verfügung, ein Treffen in dem zu erwartenden enormen Ausmaß zu organisieren. Und das Beste: Damals gab es (noch) genug DDR-Gelder, es auch durchzuführen! Anne Paulat hingegen brachte ideale Voraussetzungen mit, beide Seiten zu verstehen, denn bis zu ihrem 15. Lebensjahr war sie in der DDR aufgewachsen, seit der Flucht 1957 lebt sie im Westen. »Mir lag daran, die Vertreter beider deutscher Länder zusammen zu bringen«, erläutert Anne Paulat ihre Motivation, »aber die West-Strukturen nicht einfach denen im Osten überzustülpen. Das war ja leider eine gängige Praxis, sich vieles einzuverleiben, nur um mehr Mitglieder zu haben. Das konnte ich nicht vertreten, ich wusste durch meine Biografie, dass das einer Demütigung gleich kommen würde.« Trotzdem zweifelten viele im Osten daran, ob sie auf diesem Symposion überhaupt eine Stimme haben und gehört werden würden. Glücklicherweise war es die Tänzerin und Pädagogin Hanne Wandtke, die das Eis brach und sich in einer Art zu Wort meldete, die allen Anwesenden im Gedächtnis blieb und den Ex-DDR-lern aus der Seele sprach – damals im September 1990 in Dresden. Diesem ersten sollten eigentlich weitere Treffen folgen, doch leider blieb es bei dieser einzigen historischen Grundsteinlegung. Warum, darüber kann man heute nur spekulieren: »Das Geld zu beschaffen, war zwei Jahre später schon ein Problem«, so Anne Paulat. »Und vermutlich wollte sich niemand mehr diese Arbeit aufbürden.« Sie selbst hatte, natürlich ohne Computer, noch an einem Telefon mit Wählscheibe in Dresden gesessen und geplant. Und schließlich hatten sich die frisch geknüpften Kontakte schnell verselbstständigt, man konnte dann ja überall hin reisen! Dass seine Idee des gleichberechtigten Austauschs doch von westdeutschen Institutionen aufgegriffen und gestaltet wurde, ist nicht wirklich tragisch, findet Dieter Lösche, der übrigens im kommenden Jahr in den Ruhestand gehen wird, »Ich bin froh, wenn sich etwas bewegt«, resümiert der verdienstvolle »Hausherr« und Initiator der ersten Stunde gesamtdeutscher Tanzgeschichte. ■ 29