Reid Anderson - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik

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Reid Anderson - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik
BALLETT
INTERN
Herausgeber: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V. – Heft 71/28. Jahrgang – Nr. 5/Dezember 2005
Deutscher Tanzpreis 2006
Reid Anderson
Deutscher Tanzpreis
»ZUKUNFT« 2006
» Alicia Amatriain
» Jason Reilly
» Christian Spuck
BALLETT
Liebe Leser,
nach der Herbstpause gibt es wieder viel zu berichten, so
viel, dass BALLETT INTERN nicht nur umfangreich, sondern auch
sehr vielfältig in den Themen ist. Diese Vielfalt sprengte unser
ansonsten gerne nach Rubriken sortiertes Heft, doch wir entschieden uns, Ihnen nichts vorzuenthalten – dafür aber dieses
Mal eine Einteilung in Rubriken nicht vorzunehmen.
Stattdessen haben wir im Dezember eine »russische Abteilung, dort werden drei Damen gewürdigt, die trotz großer
Unterschiede einiges gemeinsam haben: Sie alle schrieben
Tanzgeschichte und wanderten irgendwann gen Wesen.
Selbstverständlich stehen die Informationen über die Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2006 und der Deutschen
Tanzpreise »ZUKUNFT« 2006 auch in diesem Jahr an erster
Stelle. Und – wenn Sie so wollen – hat das Heft auch im
weiteren Verlauf noch einen »Schwaben-Schwerpunkt«: die
Verleihung des John-Cranko-Preises 2005 an das Stuttgarter
Ballett sowie das Interview mit Tadeusz Matacz, dem Direktor
der John-Cranko-Schule.
Die Redaktion wünscht Ihnen ein wunderschönes Weihnachtsfest und eine erholsame Ruhepause zum Jahreswechsel. Dagmar Fischer
Der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik trauert um
seine Mitglieder, die im Jahr 2005 verstorben sind: Hans
Carrasz, Claudia Macht und Vera Nagel.
BALLETT INTERN
ist die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik e. V. (DBfT) und
liegt der Zeitschrift »tanzjournal« fünf Mal als Supplement bei. Beide Zeitschriften gehen den
Mitgliedern des Verbandes kostenlos zu. Nichtmitglieder können BALLETT INTERN abonnieren:
Deutschland € 7,50, europäisches Ausland € 12,00 (jeweils inkl. Porto/Versand) je Ausgabe.
Redaktion dieser Ausgabe:
Ulrich Roehm (verantwortlich), Dagmar Fischer ([email protected]), Frank Münschke
Autoren dieser Ausgabe: Robert Benjamin Biskop (Berlin), Volkmar Draeger (Berlin), Dagmar ­Fischer
(Hamburg), Marianne Forster (Basel), Julia Lukjanova (Berlin), Klaus Kieser (München), Angela Reinhardt (Waiblingen), Ralf Stabel (Berlin), Gerlinde Supplitt (Hamburg), Ira Werbowsky (Wien)
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des
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der Redaktion nicht gestattet. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und für Terminangaben wird
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Titelbild: Das Titelbild zeigt die Tanzpreisträger 2006:
(links:) Reid Anderson, Intendant des Stuttgarter Balletts;
(Mitte:) Alicia Amatriain und Jason Reilly in dem Ballett
»The Cage«; (rechts:) Choreograph Christian Spuck.
(Fotos: Stuttgarter Ballett und Bettina Stöß/Stage Picture)
Heft 5/2005
INTERN
Deutscher Tanzpreis 2006
Reid Anderson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Deutscher Tanzpreis »ZUKUNFT« 2006
Tanz, weiblich: Alicia Amatriain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanz, männlich: Jason Reilly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Choreographie: Christian Spuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
4
5
tanzplan deutschland der Kulturstiftung des Bundes . . . . . . . . Tanzkongress Deutschland: Die Kongressthemen . . . . . . . . . 6
7
Tatjana Gsovsky: »Was und wer ich bin,
habe ich auf der Bühne gezeigt.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Ralf Stabel
8
Ein Besuch bei Maija Plissezkaja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Von Julia Lukjanova
Eva Evdokimova – Bloß keine »Skulpturroboter« . . . . . . . . . . . 11
Von Volkmar Draeger
Tadeusz Matacz – Der Direktor der John-Cranko-Schule
im Gespräch mit Angela Reinhardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
Respekt und Ruhe – Ein Gespräch mit Royston Maldoom . . . . 15
Von Dagmar Fischer
Wenn ein Rhythmus untanzbar scheint
Eindrücke von Martin Puttkes Seminar »Koordination im Tanz« . . . 16
Von Dagmar Fischer
Der kleine Prinz oder Wie Gregor Seyfferts Engagement
für den Tanz in Dessau Mut macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Von Robert Benjamin Biskop
»Niemand soll das Scholz-Repertoire
besser tanzen können als wir«
Wie geht es in Leipzig weiter ohne Uwe Scholz? . . . . . . . . . . . . . . 18
Von Angela Reinhardt
Wahlverwandte Gesamtkunstwerke
15. Festival euro-scene in Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Von Volkmar Draeger
166 : 32 = 5,18
John Neumeiers vielleicht vielfältigste Ballett-Werkstatt . . . . . . . . . . 20
Von Dagmar Fischer
Das Geheimnis des Erfolges
Tanz in Bozen – Bolzano Danza im 21. Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Von Ira Werbowsky
Das Stuttgarter Ballett erhält den John-Cranko-Preis . . 23
Von Angela Reinhardt
Zur Erinnerung an Erika Klütz (1908–2005) . . . . . . . . . . . 24
Von Gerlinde Supplitt
Alfredo Corvino zum Gedenken (1915–2005) . . . . . . . . . . 24
Von Marianne Forster
Kurz und Bündig / Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Druck: Ulenspiegel GmbH, Besengaßl 4, D-82346 Andechs
Satz und Gestaltung: Klartext Medienwerkstatt GmbH,
45329 Essen, Heßlerstraße 37 – www.klartext-medienwerkstatt.de
+49(0)201 – 86 206-60 (Frank Münschke)
Anzeigen und Beilagen: Gültige Preisliste: 1/05
Nächste Ausgabe:
Heft 1/2006 erscheint Anfang Februar 2006
Redaktionsschluss: 8. Januar 2006
Anzeigenschluss: 15. Januar 2006
Annahmeschluss Beilagen: 22. Januar 2006
Ballett Intern 5/2005
2006
Der Preisträger
Reid Anderson
1996–2006 – 10 Jahre Ballettintendant
des Stuttgarter Balletts
Mit der Vergabe des Deutschen Tanzpreises 2006 an Reid Anderson ehrt der Verein zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland e.V.
und der Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik einen höchst
erfolgreichen Ballettdirektor. Gleichzeitig würdigt er damit die besondere Bedeutung des Stuttgarter Balletts. Denn wie keine zweite deutsche Ballettcompagnie besitzt das Ensemble in den Werken John
Crankos ein Erbe, das Geschichte geschrieben hat. Die drei großen
Handlungsballette Crankos – Romeo und Julia, Onegin und Der Widerspenstigen Zähmung – sind heute Teil des Weltrepertoires. Dass
diese Tradition heute ungebrochen lebt, ist nicht zuletzt ein Verdienst
Reid Andersons.
John Cranko berief
den aufstrebenden Tänzer 1969 ins Stuttgarter
Ballett; 1996 kam er
zum zweiten Mal nach
Deutschland, um die
Nachfolge Marcia Haydées an der Spitze des
Ensembles anzutreten.
Da war kaum zu ahnen,
welch frischen Wind er
mitbringen würde. Ein
Wind, der eine Dekade
später noch anhält. Vorher hatte er sich große
Meriten als Direktor des
National Ballet of Canada verdient, das er von
Reid Anderson (Foto: Ulrich Beuttenmüller)
1989 bis 1996 leitete.
Er führte Publikum und
Kompanie an eine Vielzahl neuer Werke heran und verjüngte das
Ensemble. Dabei stellte er stets höchste Ansprüche an die Qualität.
In Stuttgart ging er seine Arbeit nicht anders an. Zur neuen Tätigkeit gehörte nun auch die Pflege des Werks von John Cranko. Und
hierfür hätte man sich 1996 wohl keine bessere Wahl als Anderson vorstellen können: Er kennt Crankos Œuvre seit Beginn seiner
Karriere als Tänzer, er hat die legendäre kreative Atmosphäre noch
kennengelernt, die Cranko umgab, und er verfügt über Erfahrung in
der Einstudierung von Crankos Werken.
Reid Anderson kann in Stuttgart auf eine stolze Bilanz zurückblicken. Das Stuttgarter Ballett hat die Transformation von der Kompanie, die vom Geist John Crankos beseelt war, zu einem modernen
Ballettensemble mustergültig vollzogen, so daß viele schon von
einem zweiten Stuttgarter Ballettwunder sprechen. Grund genug
also, Reid Anderson für seine zehnjährige Arbeit zu danken!
Seit September 1996 leitet Reid Anderson als Intendant das
Stuttgarter Ballett – die Compagnie, in der er 17 Jahre lang tanzte.
Geboren 1949 in Kanada (New Westminster, British Columbia), begann er seine Tanzausbildung an der Dolores Kirkwood Academy
in Burnaby (British Columbia). Im Alter von 18 Jahren erhielt er ein
Stipendium für die Royal Ballet School in London. Eineinhalb Jahre
später wurde er Mitglied beim Stuttgarter Ballett, das zu jener Zeit
John Cranko leitete. Anderson wurde 1974 zum Solisten und 1978
zum Ersten Solisten befördert, und in seiner Tänzerkarriere brillierte er
in vielen klassischen und zeitgenössischen Stücken. Er tanzte Hauptrollen in zahlreichen Balletten Crankos, darunter »Onegin«, »Der Widerspenstigen Zähmung«, »Romeo und Julia« und »Initialen R.M.B.E.«,
und überzeugte insbesondere durch seine Charakterinterpretationen;
herausragend waren seine Eleganz und seine Partnerarbeit.
Von 1987 bis 1989 war Anderson Ballettdirektor des Ballet
British Columbia. Anschließend wurde er zum Ballettdirektor des
National Ballet of Canada ernannt, dessen Repertoire er durch die
Einstudierung bedeutender Werke von George Balanchine, Antony
Tudor, Jerome Robbins, Frederick Ashton, Kenneth MacMillan, Jirí
Kylián, Paul Taylor, Ben Stevenson und John Cranko bereicherte.
Wichtige Aufträge vergab er unter anderem an William Forsythe
(»the second detail«) und John Neumeier (»Now and Then«) sowie
an zahlreiche junge Choreographen.
1996 kehrte Reid Anderson als künstlerischer Direktor zum Stuttgarter Ballett zurück und wurde am Ende seiner ersten Spielzeit zum
Ballettintendanten ernannt. In den gut zehn Jahren seiner Tätigkeit
hat Anderson die Stuttgarter Compagnie stark verjüngt und viele
Tänzer systematisch aufgebaut. Inhaltlich pflegt er drei programmatische Säulen: die Pflege des so genannten Stuttgarter Erbes, in
dessen Mittelpunkt die Ballette von John Cranko stehen – allen voran
die drei großen Klassiker »Romeo und Julia«, »Onegin« und »Der
Widerspenstigen Zähmung« –, die Erstaufführung von wichtigen Stücken des Weltrepertoires und die Erweiterung des Repertoires durch
zahlreiche Aufträge für Kreationen.
Reid Anderson und Richard Cragun 1979 in der Choreographie »Orpheus« von William Forsythe (Foto: Stuttgarter Ballett)
Ballett Intern 5/2005
Zu den bedeutenden Erstaufführungen beim Stuttgarter Ballett unter Andersons Ägide zählen: »Strawinsky Violinkonzert«, »Vier Temperament« und »Serenade« (alle George Balanchine), »La Fille mal
gardée »(Frederick Ashton) sowie »The Cage«, »The Concert« und
»Dances at a Gathering« (Jerome Robbins).
Uraufführungen für das Stuttgarter Ballett schufen unter anderem
Christian Spuck und Marco Goecke, die mittlerweile zum Hauschoreographen avanciert sind, Douglas Lee, Kevin O’Day, Marc Spradling, Itzik Galili und Wayne McGregor.
Außerdem hat Reid Anderson seit 1984 weltweit die Werke von
John Cranko einstudiert.
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Marcia Haydée
Marcia Haydée zählt zu den bedeutendsten Ballerinen des 20.
Jahrhunderts. In Niterói bei Rio de Janeiro geboren, studierte sie
an der Sadler’s Wells School in London. Bereits als Elevin trat
sie am Teatro Municipial in Rio de Janeiro auf und trat 1957 ein
Engagement beim Grand Ballet du Marquis de Cuevas an.
1961 wurde Marcia Haydée von John Cranko ans Stuttgarter Ballett engagiert und entwickelte sich in dieser Compagnie
rasch zu einer großen Tänzerin, die insbesondere durch ihre
dramatische Gestaltungskraft weltweite Triumphe feiern konnte. Cranko kreierte für sie zahlreiche Rollen, unter anderem in
»Romeo und Julia« (1962), »Onegin« (1965), »Der Widerspenstigen Zähmung« (1969), »Initialen R.M.B.E.« (1971). Auch andere bedeutende Choreographen schufen große Partien für sie,
etwa Kenneth MacMillan in »Las hermanas« (1963) und »Das
Lied von der Erde« (1965), Maurice Béjart in »Wien, Wien, nur
du allein« (1982) sowie John Neumeier in »Die Kameliendame«
(1978).
Nach Crankos Tod 1973 und nach dem Ende von Glen Tetleys Zeit als Direktor des Stuttgarter Balletts (1974–1976) übernahm Marcia Haydée die Leitung der Compagnie. Sie amtierte
20 Jahre bis 1996 als Direktorin des Stuttgarter Balletts. Eine
vielbeachtete Produktion erstellte sie mit ihrer Inszenierung von
»Dornröschen« (1987).
Nach ihrem Abschied vom Stuttgarter Ballett widmete sie
sich unterschiedlichen tänzerischen Formen, beispielsweise mit
Ismael Ivo und dem Klarinettisten Giora Feidman. Seit Anfang
2004 leitet Marcia Haydée wieder das Ballet de Santiago in
der Hauptstadt Chiles; Direktorin der Compagnie war sie bereits
zwischen 1992 und 1995 gewesen.
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———————————— Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e.V. —————————————
1975 2006
31. Jahreshauptversammlung des
Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik e.V.
im Mövenpick Hotel Handelshof – Samstag 11. und Sonntag 12. Februar 2006
Samstag, 11. Februar 2006
10:30 Uhr: Mitgliederversammlung
18:00 bis ca. 21:30 Uhr im Aalto-Theater Essen:
Ballett-Gala
zur Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2006
an Reid Anderson (Ballettintendant des Stuttgarter Balletts)
Laudatorin: Marcia Haydée
und Verleihung des Deutschen Tanzpreises »ZUKUNFT« 2006 an
Alicia Amatriain (Tanz, weiblich; Stuttgarter Ballett), – Jason Reilly (Tanz, männlich; Stuttgarter Ballett),
Christian Spuck (Choreographie; Stuttgarter Ballett)
Laudator: Lothar Späth
Die Verleihung des Deutschen Tanzpreises und des Deutschen Tanzpreises »ZUKUNFT« erfolgt durch den
Verein zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland e.V. in Zusammenarbeit mit dem
Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik e.V. und der Tanz-Stiftung Birgit Keil.
Das Stuttgarter Ballett und die Preisträger tanzen Choreographien von Itzik Galili, Uwe Scholz und Christian Spuck.
Sonntag, 12. Februar 2006
10:45 bis ca. 12:30 Uhr: Vorträge zur aktuellen Situation der Umsatzteuer-Befreiung (RA Jürgen Werner),
der Altersvorsorge (Gerd Wagner-Emden/Gothaer Versichungen), Künstlersozialversicherung/KSK (RA N.N.)
Karten-Vorverkauf nur durch die theater & philharmonie essen
TicketCenter, I. Hagen 26, 45127 Essen: Mo. 10–16; Di.-Fr. 10–19; Sa. 10–15 Uhr
Tel.: 0201 / 8122-200 – Fax 0201 / 8122-201 – E-Mail: [email protected]
Ballett Intern 5/2005
»ZUKUNFT« 2006
Der Deutsche Tanzpreis »Zukunft« ist eine innovative Initiative des Vereins zur Förderung der Tanzkunst in Deutschland e.V. und des
Deutschen Berufsverbands für Tanzpädagogik e.V. zur Förderung der beruflichen Laufbahn begabter Bühnenkünstler, seien sie klassisch oder modern ausgerichtet. Der Preis soll ihnen zu nationaler wie internationaler Anerkennung verhelfen, auf sie aufmerksam
machen im Sinne einer öffentlichkeitswirksamen Entdeckung ihrer Begabung und ihnen somit nach Möglichkeit den Weg zu einer
großen Karriere ebnen. Unterstützt wird diese Idee von der Tanz-Stiftung Birgit Keil, Stuttgart, sowie vom ehemaligen Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Prof. Dr. h.c. Lothar Späth, der sich bereit erklärt hat, die Laudatio für die ausgewählten
Preisträger zu halten: Die »Tanz-Stiftung Birgit Keil« dotiert den Deutschen Tanzpreis »Zukunft« für drei Jahre mit jeweils 9.000 Euro
– das heißt jeweils 3.000 Euro für jeden der drei Preisträger.
Alicia Amatriain
Tanz, weiblich – Stuttgarter Ballett
Alicia Amatriain wurde im spanischen San Sebastián geboren.
Ihren ersten Ballettunterricht erhielt sie in ihrer Heimat. Danach
besuchte sie – als erste Stipendiatin der »Tanz-Stiftung Birgit Keil«
– die John-Cranko-Schule in Stuttgart. Dort machte sie 1998 ihren Abschluss. Noch während ihrer Ausbildung in Stuttgart tanzte
Alicia Amatriain in Balletten von Hans van Manen und Renato
Zanella sowie den »Blauer-Vogel«-Pas-de-deux aus »Dornröschen« und in »La Bayadère«. Zu Beginn der Spielzeit 1998/99
wurde Alicia Amatriain als Elevin Mitglied beim Stuttgarter Ballett; ein Jahr später wurde sie ins Corps de ballet übernommen,
und mit der Spielzeit 2001/02 avancierte sie zur Halbsolistin.
Ein Jahr später wurde sie Erste Solistin der Compagnie.
Alicia Amatriain tanzte bislang Solorollen in Balletten unter anderem von John Cranko (»Initialen R.M.B.E.«, »Der Widerspenstigen Zähmung«, »Romeo und Julia« sowie »Schwanensee«),
William Forsythe »Urlicht«, Jerome Robbins (»The Concert, The
Cage«, »Dances at a Gathering«), George Balanchine (»Theme
and Variations«, »Serenade«, »Apollo«, »Symphony in C« und
»Die vier Temperamente«), Uwe Scholz (»Siebte Sinfonie«, »Der
Feuervogel«), John Neumeier (»Die Kameliendame«, »Now and
Then«). Im Mai 2002 hatte sie ihr Debüt als Tatjana in Crankos
»Onegin«, das von Publikum und Presse gefeiert wurde.
Einige Choreographen haben Rollen für Alicia Amatriain
kreiert, so Christian Spuck (»Songs und nocturne«), Itzik Galili
(»Mono Lisa« und »Hikariatto«) und Wayne McGregor (»Nautilus« und »EDEN | EDEN«). 2003 schuf Christian Spuck für sie
die Titelrolle in seinem ersten abendfüllenden Handlungsballett
»Lulu. Eine Monstretragödie«.
Alicia Amatriain
Foto: Bernd Weißbrod
Für ihre eindringliche Darstellung der Lulu wurde Alicia Amatriain von Publikum und Presse gefeiert und in den jährlichen
Kritikerumfragen der Zeitschriften Dance Europe und ballet-tanz
mehrfach als beste Tänzerin genannt.
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Jason Reilly
Tanz, männlich – Stuttgarter Ballett
Jason Reilly wurde im kanadischen Toronto geboren. Seine Ausbildung erhielt er an der National Ballet School in Toronto; bereits als
Schüler tanzte er ihn Balletten bedeutender Choreographen. 1997
machte er seinen Abschluss und wurde Mitglied beim Stuttgarter Ballett. Nachdem er in der Spielzeit 2001/02 zum Halbsolisten aufgestiegen war, wurde er eine Spielzeit später zum Solisten befördert.
Seit 2003/04 ist Jason Reilly Erster Solist des Stuttgarter Balletts.
Zu den Solorollen, in denen Reilly bislang überzeugte, gehören Brighella in »Pierrot lunaire« von Glen Tetley, Colas in »La Fille mal gardée«
von Frederick Ashton, Basilio in Maximiliano Guerras Neuschöpfung
des »Don Quijote« für das Stuttgarter Ballett, Gaston in John Neumeiers
»Die Kameliendame«, Benvolio und Romeo in John Crankos »Romeo
und Julia« sowie Prinz Siegfried in Crankos »Schwanensee«.
Solistische Parts übernahm er unter anderem in der »Symphony
in C« von George Balanchine, »Onegin«, »Der Widerspenstigen
Zähmung«, »Initialen R.M.B.E.« von John Cranko, Hans van Manens
»Kleines Requiem«, »Le Sacre du printemps« von Glen Tetley, »Edward II« von David Bintleys sowie in Itzik Galilis »Pas de deux Mono
Lisa«. Folgende Choreographen kreierten Rollen für Jason Reilly:
Christian Spuck in seinen Stücken »Passacaglia«, »Amores I«, »dos
Jason Reilly
Foto: Ulrich Beuttenmüller
Ballett Intern 5/2005
amores«, »das siebte blau«, »Carlotta’s Portrait«, »Songs« und »nocturne«, Daniela Kurz in »Schere Stein Papier«, Dominique Dumais in
»still.nest«, Douglas Lee in »Curtain of Hands« und »Siren sounding«
sowie Jean-Christophe Blavier in »E=mc²« und Mauro Bigonzetti in
»Quattro Danze per Nino«. Für die Veranstaltung »Junge Choreographen« der Stuttgarter Noverre-Gesellschaft kreierten verschiedene
Choreographen Rollen für Jason Reilly, darunter Marco Goecke.
Dank seiner technisch makellosen Interpretation und seiner großen
darstellerischen Wandlungsfähigkeit entwickelte sich Jason Reilly zu
einem der profiliertesten Tänzern (Kritikerumfrage ballet-tanz, 2003).
Er hat mit bedeutenden Ballerinen wie Alessandra Ferri und Evelyn
Hart getanzt.
■
Christian Spuck
Choreographie – Stuttgarter Ballett
Christian Spuck ist seit Juni 2001 einer der heute zwei Hauschoreographen des Stuttgarter Balletts. Mit seinem Werk trägt er maßgeblich zur Ausformung des modernen Profils der Kompanie bei.
Spuck erhielt seine tänzerische Ausbildung an der John-CrankoSchule in Stuttgart, an der er 1993 seinen Abschluss in klassischem
und modernem Tanz machte. Als Tänzer arbeitete er mit Jan Lauwers’
Needcompany und mit Anne Teresa de Keersmakers Ensemble Rosas. 1995 wurde er Mitglied des Stuttgarter Balletts. Von 1994 bis
1996 war Spuck als choreographischer Assistent von Marco Santi
unter anderem an den Tanzproduk­tionen »Amras«, »The Sinking of
…« und »The Tears of Niobe« beteiligt.
Für die Reihe »Junge Choreographen« der Stuttgarter NoverreGesellschaft erarbeitete Spuck 1996 seine erste eigene Choreographie, den Pas de deux »Duo / Towards The Night«. Dieses Stück
war so erfolgreich, dass sowohl das Stuttgarter Ballett als auch das
Ballett der Deutschen Oper Berlin es in ihr Repertoire aufnahmen.
1997 choreographierte Spuck für die Noverre-Gesellschaft »Songs
From A Secret Garden«. Ein Jahr später folgte seine erste Uraufführung beim Stuttgarter Ballett: »Passacaglia«. In der jährlichen
Kritikerumfrage der Zeitschrift ballett international / tanz aktuell wurde Spuck in der Spielzeit 1997/98 und erneut in der Spielzeit
1999/2000 als »bester Nachwuchs-Choreograph« genannt.
Seitdem hat Spuck acht weitere Ballette für gemischte Ballett­
abende choreographiert, darunter »dos amores« (1999), »das siebte
blau« (2000), »Carlotta’s Portrait« und »Songs« (2001), »nocturne«
(2002), »…, la peau blanche …« (2005). Seine hohe Musikalität,
sein souveräner Umgang mit dem Raum, seine stilsichere Inszenie-
Christian Spuck
Foto: Bettina Stöß
rungskunst und seine Fähigkeit, mit großen Besetzungen zu arbeiten,
führten fast zwangsläufig zum erzählenden, abendfüllenden Format.
Sein erstes großes Handlungsballett schuf er im Dezember 2003
für das Stuttgarter Ballett: »Lulu. Eine Monstretragödie« nach Frank
Wedekind. Mit diesem erfolgreichen Werk gelang es Spuck, die
Tradition des Handlungsballetts, die John Cranko beim Stuttgarter
Ballett begründete, innovativ fortzuschreiben.
Seit 1999 hat Spuck auch für renommierte Ballettcompagnien
in Europa und den USA gearbeitet; so entstanden unter anderem
»Morphing Games« für das Aterballetto (1999), »Adagio für Tänzer«
des New York City Ballet (2000), »Endless Waltz« (2000), »Chaconne« für die Akademie des Tanzes Mannheim (2001), »shifting
portraits« für das Ballett des Saarländischen Staatstheaters Saarbrücken (2004). Für das aalto ballett theater in Essen kreierte Spuck
2004 sein zweites Handlungsballett, »Die Kinder« nach dem gleichnamigen Theaterstück von Edward Bond. In der Spielzeit 2005/06
wird Christian Spuck für das Stuttgarter Ballett ein neues Werk nach
der Erzählung »Der Sandmann« von E.T.A. Hoffmann kreieren. ■
Prof. Dr. h.c. Lothar Späth
Prof. Dr. Lothar Späth, geb. 16.11.1937 in Sigmaringen, war
nach der Ausbildung im Verwaltungsdienst und dem Besuch der
Staatlichen Verwaltungsschule Stuttgart in der kommunalen Finanzverwaltung tätig. 1965 wurde er Beigeordneter und Finanzreferent
der Stadt Bietigheim, 1967 Bürgermeister.
Von 1970 bis 1974 war Lothar Späth Geschäftsführer der Neuen Heimat Baden-Württemberg in Stuttgart und Vorstandsmitglied
der Neuen Heimat Hamburg, von 1970 bis 1977 Aufsichtsratsbzw. Vorstandsmitglied der Baufirma Baresel AG in Stuttgart.
Von 1972 bis 1978 war er Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion und ab 1978 Innenminister des Landes Baden-Württemberg.
Vom 30. August 1978 bis 13. Januar 1991 war Lothar Späth
Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg. In dieser Funktion
war Lothar Späth 1985 Präsident des Deutschen Bundesrates und
von 1987 bis 1990 Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über
die deutsch-französische Zusammenarbeit.
Im Juni 1991 übernahm Lothar Späth den Vorsitz der Geschäftsführung der JENOPTIK GmbH. Seit der Umfirmierung zur Aktiengesellschaft im Januar 1996 ist Lothar Späth Vorsitzender des Vorstandes der JENOPTIK AG.
Im September 1992 wurde Lothar Späth zum Königlich Norwegischen Generalkonsul für Thüringen und Sachsen-Anhalt ernannt.
Im April 1996 hat Lothar Späth das Amt des Präsidenten der
Industrie- und Handelskammer Ostthüringen zu Gera übernommen.
Seit 1985 hat Lothar Späth eine Reihe von Bestsellern geschrieben, so z. B. »Countdown für Deutschland« (1995), »Die zweite
Wende« (1998), »Jenseits von Brüssel« (2001), jeweils veröffentlicht
mit Herbert A. Henzler, und »Die Stunde der Politik« (1999).
Die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten
Karlsruhe und Pecs haben Lothar Späth die Ehrendoktorwürde verliehen. Von der Universität Ulm hat er die Ehrensenatorwürde erhalten.
Die Friedrich-Schiller-Universität Jena hat ihm sowohl die Ehrensenatorwürde als auch eine Honorarprofessur für das Fachgebiet Medien und Zeitdiagnostik verliehen.
Seit Juni 2000 ist Lothar Späth Preisträger des John J. McCloyPreises des American Council of Germany.
Ballett Intern 5/2005
der Kulturstiftung des Bundes
Zeitgenössischer Tanz aus Deutschland steht international hoch
im Kurs. Deutsche Choreographen touren weltweit. Gleichzeitig steht der Tanz hierzulande auf wackeligen Beinen: Compagnien an staatlichen Theatern fallen als Erste den Sparmaßnahmen zum Opfer, die Ausbildungssituation lässt trotz vieler
exzellenter Ansätze manche Wünsche offen und der eine oder
andere Tanzschaffende könnte von einem profunderen Wissen
um die – auch jüngere – Geschichte der eigenen Kunstform
profitieren.
Hier will der von der Kulturstiftung des Bundes initiierte
»Tanzplan Deutschland« ansetzen. Der »Masterplan« für den
Tanz hat zum Ziel, im Rahmen der Spitzenförderung von Kunst
und Kultur bis zum Jahr 2010 nachhaltige Maßnahmen für den
Tanz zu ergreifen. Vor allem soll es darum gehen, die strukturellen Bedingungen für und die Wahrnehmung von Tanz als
eigenständige und dabei außergewöhnlich lebendige Kunstsparte zu stärken. Tanz als selbstverständlicher Bestandteil des
Bildungssystems hat das Potenzial, kulturformend zu wirken.
Der »Tanzplan Deutschland« will bestehende und sich entwickelnde Initiativen in ihren Prozessen unterstützen und deren
Projekte moderierend begleiten. Er versteht sich insofern nicht
als bloßes Förderinstrument, sondern will sich gemeinsam mit
den Tanzschaffenden der Herausforderung stellen, neue Wege
zur kulturpolitischen Durchsetzung von künstlerischen Ideen zu
beschreiten. Im Zentrum von »Tanzplan Deutschland« stehen
zwei Projekte: »Tanzplan vor Ort« und »Tanzplan Ausbildungsprojekte«.
Tanzplan vor Ort
Die Grundidee für »Tanzplan vor Ort« ist an das Prinzip der
Kulturhauptstadt Europa angelehnt: in vierzehn ausgewählten
deutschen Städten wurde ein Ideenwettbewerb initiiert, der
den Anreiz bot, sich im Rahmen von »Tanzplan Deutschland«
national und international zu profilieren. Die Städte mit den
innovativsten und interessantesten Modellprojekten zur Strukturentwicklung von Tanz sollen bis ins Jahr 2010 max. 1,2 Mio.
Euro von der Kulturstiftung des Bundes erhalten – unter der Bedingung, dass Stadt oder Land zusätzliche Gelder in derselben
Höhe bereit stellen.
Mit Berlin, Bremen, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt,
Hamburg, Hannover, Köln, Leipzig, München, Potsdam, Stutt­
gart und Weimar wurden Städte zur Teilnahme eingeladen, die
sich für den Tanz bereits deutlich engagiert haben. Sie waren
aufgefordert, Ideen zur Verbesserung der Situation des zeitgenössischen Tanzes auszuarbeiten. Dabei konnte es sich z.B. um
neue Ausbildungsmodelle für Tanz, Pädagogik und Choreographie, Projekte zur Förderung von Tanz an Schulen, den Aufbau
von Produktionszentren oder ein Austausch- und Tourprogramm
handeln. Das Tanzplan-Kuratorium bewertete die Stimmigkeit
des künstlerischen Gesamtkonzeptes, die Qualität der bisherigen Arbeit sowie der lokalen Kooperationspartner und prüfte
die Projekte auf ihre potenzielle nationale und internationale
Ausstrahlung. In einem nächsten Schritt wurden die Initiatoren
der vielversprechendsten Vorhaben aufgefordert, ihre Ideen in
haltlich auszuarbeiten und mit der verbindlichen Förderzusage
der jeweiligen Stadt erneut dem Kuratorium vorzulegen. Über
die endgültige Auswahl der Tanzplan-Städte entscheidet das
Kuratorium Ende Januar 2006.
Tanzplan Ausbildungsprojekte
Im Bereich »Ausbildungsprojekte« widmet sich der »Tanzplan
Deutschland« neuen Ansätzen in den Gebieten Post-Graduate,
Choreographie und Pädagogik.
Die Tanzausbildung in Deutschland ist durch Hochschulen
und Fachhochschulen in der Grundausbildung des klassischen
und zeitgenössischen Tanzes gesichert. Woran es in der Ausbildung jedoch mangelt, sind Verbindungen zur Tanzwissenschaft
und der choreographischen Praxis. Der »Tanzplan Deutschland«
regt Gespräche mit Fachleuten und Vertretern der Hochschulen
an, um Wege zur Umsetzung zeitgemäßer Ausbildungsmethoden zu finden. Dabei geht es unter anderem um folgende
Themen: Wie können im Rahmen der Ausbildung neue Arbeitsformen gefunden werden, um Studenten besser auf die künstlerische Praxis vorzubereiten? Wie kann ein interdisziplinärer
Austausch zwischen Lehrern und Hochschulen aussehen? Wie
stellt sich für den Bereich Tanz in der Schule die Tanzpädagogenausbildung im europäischen Vergleich den veränderten
Anforderungen?
Die Vernetzung sowohl mit choreographischen Zentren und
Produktionsstätten als auch mit neuen hochschulübergreifenden
Ausbildungsmodellen, wie sie in Berlin und Frankfurt zur Zeit
in Planung sind, ist Teil des Vorhabens. Ziel ist es, durch Pilotprojekte und innovative Maßnahmen die Entwicklungen im
Ausbildungsbereich zu begleiten und mit zu gestalten. Die Entscheidung über zu fördernde Ausbildungsprojekte wird ebenfalls vom Kuratorium des »Tanzplan Deutschland« gefällt.
Darüber hinaus fördert die Kulturstiftung des Bundes im
Zusammenhang von »Tanzplan Deutschland« eine Reihe von
weiteren Projekten wie die Koproduktionsförderung des Nationalen Performance Netzes (NPN), die Künstleraufenthalte im
Rahmen der »Tanzplattform Deutschland« sowie die Internetportale »dance-germany.org« und »tanznetz.de«.
Der »Tanzplan Deutschland« wird über die Dauer von fünf
Jahren von der Kulturstiftung des Bundes mit einem Gesamtvolumen von 12,5 Mio. Euro ausgestattet. Für die inhaltliche
Konzeption ist das vom Stiftungsrat der Kulturstiftung berufene
Tanzplan-Kuratorium verantwortlich, dem Nele Hertling, Reinhild Hoffmann, Johannes Odenthal, Gerald Siegmund und
Hortensia Völckers angehören. Die Durchführung obliegt dem
gemeinnützigen Verein »Tanzplan Deutschland e.V.« unter der
Projektleitung von Madeline Ritter.
■
Tanzplan Deutschland
Paul-Lincke-Ufer 42/43 – 10999 Berlin
Tel. 030-695797-10 – Fax 030-695797-13
[email protected]
www.tanzplan-deutschland.de
www.kulturstiftung-des-bundes.de
Ballett Intern 5/2005
zeitgenössischen Tanzpraxis, die aufgrund der technischen Virtuosität, den vielfältig kombinierbaren Tanzstilen und des zehrenden Tourneebetriebs unzählige gesundheitliche Risiken birgt,
sind vorbeugende tanzmedizinische Betreuung und Beratung
unerlässlich.
Tanz mit dem Publikum
Die Kongressthemen
Tanz als Wissenskultur
Kernthema des Kongresses ist die Frage, inwieweit der Tanz
eine spezifische Form von Wissen birgt, die an Körper und Bewegung gebunden ist. Das einzigartige kulturelle Potenzial des
Tanzes als Archiv und Medium des Wissens soll im Tanzkongress
untersucht und beschrieben werden, um die Aufmerksamkeit für
den Tanz als Kunstform in der öffentlichen Wahrnehmung zu
steigern. Hierbei werden auch die Grauzonen des Wissens berücksichtigt, angesichts derer sich Praktiker und Theoretiker ihr
eigenes Nicht-Wissen eingestehen müssen.
Arbeitsprozesse und Produktionsstrukturen
Unterschiedliche choreographische Konzepte erfordern eigene
Arbeitsweisen, führen zu verschiedenen Präsentationsformaten
und benötigen entsprechende Produktionsstrukturen. In diesem
Themenkomplex werden daher die Bedürfnisse, Probleme und
Initiativen der Choreographen hinsichtlich von Arbeits-, Förderund Strukturmodellen diskutiert. Schließlich geht es darum, mit
der Perspektive des 5-jährigen Tanzplans kulturpolitische Forderungen für die deutsche Tanzlandschaft zu formulieren.
Tanztechnik und Ausbildung
Tanztechnik wird in den diversen Tanzstilen unterschiedlich angewandt, definiert und bewertet. Entsprechend vielfältig sind auch
die Formen der Vermittlung und Aneignung dieses Körperwissens
sowie die Ausbildungsmodelle für den Tanz. Die komplexe Frage nach den Inhalten und dem Selbstverständnis im Umgang mit
Tanztechnik in der Vorausbildung, der professionellen Tanzausbildung und der choreographischen Praxis wird erneut aufgegriffen, um Lösungsansätze für die deutsche Ausbildungslandschaft
zu entwickeln. Außerdem werden Initiativen für die tänzerische
Frühausbildung an Schulen vorgestellt, wobei insbesondere die
Fachkompetenzen der Choreographen und Tanzpädagogen im
Mittelpunkt stehen.
Körperwissen und Gedächtnis
Das tänzerische Körperwissen liegt in der Fähigkeit, Bewegung
zu erinnern und zu reproduzieren. Gleichzeitig sind Tänzer immer darum bemüht, die durch Ausbildung und Training erlernten
Bewegungsmuster zu überwinden. Lange bevor die Neurowissenschaften nachvollziehbar machen konnten, wie der Körper
Bewegung lernt und produziert, entwickelten Choreographen
und Tänzer eigene Methoden der Bewegungsforschung. An exemplarischen Projekten aus Tanz und Wissenschaft werden die
Überschneidungen von Neurowissenschaften und Bewegungsforschung diskutiert.
Tanzmedizin
Die Tanzmedizin überträgt sportmedizinische Erkenntnisse auf
die besonderen Belange von Tänzern, die einerseits Künstler,
andererseits aber auch Sportler sind. Besonders angesichts der
Der zeitgenössische Tanz fordert die Zuschauer immer wieder
heraus, indem er sie auf die eigene Rolle als direkt oder indirekt
Beteiligte zurückwirft. Das hat nicht nur Konsequenzen für die
Aufführungssituation, sondern auch für die Tanzwissenschaft und
-vermittlung. Der Tanz braucht einen theoretischen Diskurs zur
ästhetischen Erfahrung, der das Verhältnis von Aufführung und
Rezeption berücksichtigt. Außerdem müssen die diffusen Kompetenzen und Aufgabenfelder im Spannungsfeld von Markt, Praxis
und Theorie neu verhandelt und definiert werden.
Tanz als Arbeit und Ware
Sozialer Status, Werdegang und Arbeitsalltag der Tänzer und
Choreographen sind stark durch den Tanzmarkt bestimmt. Vor
allem Balletttänzer stehen mit spätestens Mitte 30 vor der Frage
»Ballett – und dann?« Am Beispiel von erfolgreichen Initiativen
werden Perspektiven für die professionelle Weiterbildung diskutiert.
Da Choreographen vor der Herausforderung stehen, Tanz als
Produkt und ihr Können als Arbeitskraft zu vermarkten, integrieren
manche von ihnen den ökonomischen Aspekt der Kunstproduktion in ihre künstlerischen Arbeiten, um die Mechanismen des
Marktes künstlerisch zu reflektieren und zu nutzen.
Tanz, Kultur und Gesellschaft
Der Tanz hat sich im Vergleich zu anderen Kunstformen nie
als besonders politisch definiert, obwohl er historisch betrachtet immer schon kritisch Stellung bezogen hat. In einer durch
Migration und Medien geprägten Wissensgesellschaft kommt
dem Tanz eine besondere Funktion zu. Da sich die Prozesse der
Produktion und Distribution von Information durch die Globalisierung verändert haben, sind Tänzer und Choreographen, für
die Interkulturalität und Mobilität zum Arbeitsalltag gehören, für
eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Macht, Kultur,
Körper und Identität geradezu prädestiniert.
Tanz/Geschichte(n)/Schreiben
Das Potenzial des Tanzes im Kontext einer primär durch Sprache
und Bilder geprägten Kultur liegt in seiner Unmittelbarkeit und
Begrifflosigkeit. Tanzwissenschaft und -geschichte stehen damit
vor der Herausforderung, eine flüchtige Kunstform in Worte zu
fassen und sich gleichzeitig der eigenen Methoden, Instrumentarien und Begriffe bewusst zu sein. Die Reflexion der eigenen
Möglichkeiten ist also immer schon Bestandteil eines Schreibens
und Sprechens über Tanz.
Konzepte und Positionen des Kritischen
Wo Kritik zum immanenten Bestandteil der Kunst geworden ist,
scheint die modernistische Triade von Kunst, Kritik und Publikum
obsolet. Gleichzeitig erfordert die zeitgenössische Tanzpraxis
aufgrund ihrer Diversität, Hybridität und Komplexität eine stärkere Vermittlung gegenüber dem Publikum. Entsprechend sind Expertise, Autorität und Ethik der professionellen Kritiker ins Kreuzfeuer geraten. Die Debatte um die Rolle der Kritik wird an Hand
von Konzepten und Positionen des Kritischen in Tanztheorie und
-praxis aufgegriffen.
■
Ballett Intern 5/2005
Tatjana Gsovsky
»Was und wer ich
bin, habe ich auf der
Bühne gezeigt.«
Von Ralf Stabel
»Was ich zu sagen hab’, habe ich dort gesagt«, äußerte die
»Zarin des deutschen Balletts« selbstbewusst und hinterließ folglich weder Memoiren noch Autobiographie. Zwölf Jahre nach
ihrem Tod nun endlich ist eine opulente Publikation entstanden,
die »zahlreiche, zum großen Teil bisher unveröffentlichte Texte
aus ihrem Nachlaß« mit Libretti, Entwürfen, Skizzen und Textbeiträgen bedeutender Persönlichkeiten verbindet. Und am allerwichtigsten: Fotos, Fotos, Fotos – 300 an der Zahl. Denn das
Werk der »legendären Schöpferin des modernen Tanztheaters«
ist nicht in Tanz-Schrift notiert und auch kaum gefilmt worden. Die
Dinge zu suchen, die man nicht direkt sage, sondern von einem
Menschen zum Anderen entsende ohne Sprache, das sei ihre
Welt des Tanzes gewesen, erinnert sich die Gsovsky.
Tut man nun einer solchen Persönlichkeit Recht, wenn man
Texte druckt, die der Öffentlichkeit vorenthalten worden waren
und sie mit solchen koppelt, die – wie Radiobeiträge – mit ihrer Vergänglichkeit rechnen konnten? Der Akademie der Künste
Berlin gilt besonderer Dank, dass sie sich dieses schwierigen
Unterfangens angenommen hat.
Aus »Erinnerungen«, d. h. aus meist undatierten Textpassagen
unterschiedlicher Herkunft, ist im ersten Teil des Buches eine Art
Auto-Biographie entstanden, die bei manchem Leser sicher auch
die Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Wahrheit aufwerfen dürfte.
Da die zusammenfassenden Beiträge von Horst Koegler, Dietrich Steinbeck und Walter Jens erst nach der Darstellung der
vielen Dokumente zu Werken und Begegnungen folgen, sei dem
Leser die Möglichkeit aufgezeigt, dieses wichtige Buch vielleicht
auch von hinten nach vorn zu entdecken. Lediglich der Beitrag
von Klaus Geitel wurde (neben dem des Herausgebers) exklusiv
für diese Publikation verfasst. Er ist daher auch von besonderer
Bedeutung, da er Person, Werk und Tänzer beschreibt und die
Entwicklung sowohl als wissender Zeitzeuge als auch aus der
heutigen Rückschau bewertet. Erst diese Laudatio fügt das ganze
Material aufs Sinnfälligste und Anschaulichste zusammen.
Denn, »wer mag der Nachwelt im 21. Jahrhundert noch einen Begriff davon zu vermitteln, wie ›Der Idiot‹, ›Hamlet‹, ›Der
Mohr von Venedig‹, ›Pelleas und Melisande‹, ›Schwarze Sonne‹, ›Paean‹, ›Der rote Mantel‹ und ›Labyrinth der Wahrheit‹ getanzt worden sind?«, fragt Horst Koegler zu Recht. Die Auflistung
der Werke aber wagt genau diesen Versuch. Sie beginnt mit
den 1936 in Essen aufgeführten »Landsknechte« und endet mit
der Berliner »Raymonda« von 1975. Alle Stücke werden – zwar
nicht gleichwertig – anhand von Fotos, Programmzetteln und Rezensionen vorgestellt. Dass ein Werk wie »Abraxas« dabei ganz
ohne Presse erscheint und für »Die Tat« das Spandauer Volksblatt
zitiert wird, stimmt nachdenklich. Vieles machen aber vor allem
die Fotos deutlich. Am Wichtigsten: Was wäre die Choreographin ohne ihre Tänzer. Hier wird die alle(s) überragende Rolle
von Gerd Reinholm sichtbar. Und so ist es auch ein Buch über
ihn und all die anderen wichtigen Darsteller und sogar über ihre
Fotographen geworden.
Ihr »Konflikt-Tanz«, wie Tatjana Gsovksy ihre literarisch geprägten
Tanz-Dramatisierungen selbst nannte, zeichnete sich vor allem
dadurch aus, dass – nach Hans Werner Henze – für jedes Stück
ein eigener, nur für dieses Werk gültiger Gebrauch tänzerischer
Möglichkeiten erfunden wurde. Tatjana Gsovsky war mehr als
eine Choreographin und mehr als eine Regisseurin. Sie war
beides in Potenz: Eine Bewegungsregisseurin. Klassifizierungen
wie klassisch, modern oder national lehnte sie rundweg ab. Ita
Maximowna beschrieb ihr Lebenswerk als »das Ziel, die Brücke
zu schlagen zwischen dem altherkömmlichen, klassischen Ballett
von Vorgestern und dem Tanz von Übermorgen.« Für die Gsovsky war die »Befruchtung« von Tradition und Moderne selbstverständlich – jedoch mit der Konsequenz, dass auch ein modernes
Ballett ein Ballett blieb.
Als ihre prägnanteste Erfindung wird wohl das »Berliner Ballett« in die Tanzgeschichte eingehen. Bald »provozierte« sie
auch die Bezeichnung »Berliner Stil« für ihre Kreationen, denen
man einen erstaunlichen »Einklang von Thema und Technik« attestierte. Mit dieser kleinen, in jeder Hinsicht flexiblen und damit unabhängigen Truppe verwirklichte sie von 1952 bis 1973
ihre künstlerischen Projekte. Nicht nur ihre Werke im »modernen,
durchaus deutschen Tanzstil«, auch die Struktur des »Berliner Balletts« war ihrer Zeit weit voraus, wie Max W. Busch anschaulich
beschreibt.
Selbstredend, dass sie damit auch kritischen Stimmen ausgesetzt war. »Das Tanztheater der Tatjana Gsovsky war in Berlin
von Anbeginn an umstritten, wirkte polarisierend auf Publikum
und Presse«, schreibt Dietrich Steinbeck. Gehässige Äußerungen
Ballett Intern 5/2005
wie »und man wird des Tiefsinns nicht froh, weil man immer an
Rhönradgymnastik denken muß« des Berliner Tagesspiegels aus
dem Jahr 1954 zu »Der rote Mantel« werden wohl nicht selten
gewesen sein. Klaus Geitel beschreibt rückblickend: »Ihre Visionen schlugen sich nieder in Schritten, die dem dramatischen
Geschehen eingeboren schienen. Es wurden choreographisch
keine Posen erklommen, tänzerische Entwicklungen verdichteten
sich gewissermaßen zwangsläufig zur tanzdramatischen Explo­
sion.« Und Horst Koegler erinnert an ihre choreographische
Handschrift »in ihrer abenteuerlich kühnen Mischung aus klassisch-akademischen Elementen, expressionistischen Ausdrucksgebärden, plastisch-skulpturalen Posen, akrobatischen Kontorsionen
und rein dekorativer Ornamentik«. Das sei damals »etwas so
Deutsches« gewesen, dass es denjenigen, die von der Eleganz,
der Bravour und der Virtuosität des russischen, des englischen,
des französischen und des amerikanischen Balletts geblendet
waren, eher Angst gemacht habe. Denjenigen, die sich gerade der Internationalität des Balletts geöffnet hatten, habe für ihr
Werk jegliches Verständnis gefehlt.
Unbestritten und daher ebenso als beispielhaft hervorzuheben
ist ihr Entdecken und Fördern junger musikalischer, bildnerischer
und selbstverständlich tänzerischer Talente. Unendlich Vieles
müsste in diesem Zusammenhang über das Pädagogische gesagt werden. Das Schönste, Richtigste und Treffendste über die
Kunst des Erziehens hat sie als Ermahnung selbst formuliert: »Und
behalte stets im Sinne, daß das Wesentliche einer Darstellung
darin besteht, das Geschehene ins Imaginäre zu vertauschen.«
In ihrer 1928 gegründeten Berliner Tanzakademie formte sie
nicht nur Tänzer, sondern Künstlerpersönlichkeiten wie Gisela
Deege, Natascha Trofimowa, Maria Fries, Tana Herzberg, Lieselotte Köster, Suse Preisser, Konstanze Vernon, Peter van Dyk,
Rainer Köchermann und Gert Reinholm.
So wird dieses Buch dem Menschen, der Künstlerin und der
Pädagogin eigentlich gleichermaßen aufs Glücklichste gerecht.
Doch wie schon Kurt Tucholsky erinnerte: »Etwas ist immer. Tröste
dich – jedes Glück hat einen kleinen Stich.« Nach der Lektüre
stellen sich auch Fragen wie die nach einem politischen Bewusstsein. »Es war dann – wie er das schaffte, blieb ein Rätsel bis
heute – Hans Schüler in Leipzig, der
auch Tatjana Gsovsky – wie so vielen
anderen Regime-Opfern – neue Aufgaben stellte«, schreibt Dietrich Steinbeck
und verweist auf den legendären, den
Opferstatus begründenden Ausschluss
aus der Reichstheaterkammer wegen
der »Goyescas« von 1940 – für den
ihm allerdings kein diesbezügliches
Dokument bekannt sei. Ein Blick in das
phantastische Werkverzeichnis (Zusammenstellung Stephan Dörschel) hätte die
Autoren zum Nachfragen veranlassen
können. Michael Heuermann kommt in
seiner Dissertation über Tatjana Gsovsky aus dem Jahr 2001 nach Sichtung
der Dokumente im Bundesarchiv zu der
Einschätzung, dass »diese Aufführung
keinen Ausschluß aus der Reichstheaterkammer zur Folge« hatte. Er beschreibt,
dass sie als Pädagogin und Schulbesitzerin von der sich verändernden »Berliner Ballettschullandschaft profitieren«
konnte. Die Autorinnen von »Tanz unterm
Hakenkreuz« halten Tatjana Gsovsky für eine der beliebtesten
Film-Choreographinnen und erheben andere schwere Anschuldigungen gegen sie.
Was überliefert uns die Künstlerin selbst zu dieser Zeit? »Der
Krieg warf seine Schatten voraus«, schreibt sie. »Regierungswechsel brachte neue Schwierigkeiten.« Während ihr Mann und viele
andere Deutschland verlassen mussten, ging es für sie in diesem
Land weiter: »Man hält sich einfach aneinander – Plié – Battement.« Ihr Schüler Peter von Dyk fasste es so zusammen: »Die
fünfte Position war wichtiger als alle eventuellen ›Feindeinwirkungen‹«. Doch Tatjana Gsovsky hatte durchaus ein historisches
und politisches Bewusstsein. Aussagen wie die folgenden zeigen dies deutlich: »Jede Kunst ist eine politische Äußerung. Wir
dienen der Politik, weil wir leben und schaffen.« Auch um die
soziokulturelle Gebundenheit des Tanzes wusste sie: »Die Form
des Tanzes ist bedingt durch die Form der Gesellschaft. Deren
Wandel und Wandelbarkeit machen seine Entwicklungs- und
Stilgeschichte aus.« Und über die Wechselwirkung von Kunst
und Leben schrieb sie: »Die ›großen Geschehnisse‹ unserer Gegenwart spiegeln sich selbstverständlich genauso in der Kunst
wie sie es seit jeher und zu allen Zeiten getan haben. Nur hat
jede Zeit ihre eigene Sprache [...].«
Die eigene Biographie nicht meinend, vielleicht aber mit bedenkend, formulierte sie: »Ich wüßte heute nicht, mit welchem
Konflikt man anfangen könnte; denn jeder Mensch besteht nur
aus Konflikten, es gibt fast keine harmonische Biographie.« 1965
schrieb der Generalintendant der Deutschen Oper Berlin Gustav
Rudolf Sellner: »Es wäre ein Zeugnis geradezu diskriminierender
Simplizität anzunehmen, daß Tatjana Gsovsky schlechthin eine
Choreographin, eine Pädagogin oder eine Tänzerin sei. Sie ist
ein Mythos, zeitlos, inkommensurabel.« Kein Wunder also, dass
Tatjana Gsovsky Auskünfte zu ihrem Leben mit einer wegwerfenden Geste zu diesem »biographischen Kram« mitunter auch
verweigerte? ■
Zu diesem Thema ist soeben das Buch Tatjana Gsovsky – Choreographin und Tanzpädagogin (von Max W. Busch hrsg. für
die Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin) erschienen.
Ballett Intern 5/2005
Zum 80. Geburtstag
Ein Besuch bei
Maija Plissezkaja
Von Julia Lukjanova
Maija Plissezkaja – russische Tänzerin und Choreographin, eines
der berühmtesten Mitglieder des Bolschoï-Balletts. Sie studierte
in Moskau an der Ballettschule des Boschoï-Theaters und wurde
1943 Ballerina im Ensemble. Ab 1962 war sie »Primaballerina
Assoluta«. Seit 1991 wohnt sie mit ihrem Mann, dem berühmten
russischen Komponisten Rodion Schtschedrin, in München.
Eine kleine Zweizimmerwohnung mitten in München. Die Tür
wird dem Besucher von einem Künstlerpaar geöffnet, das die Geschichte des russischen Balletts und teilweise der russischen Musik
mitgeschrieben hat. Die geschmackvolle Einfachheit der Einrichtung sticht ins Auge. »Wir haben eine schöne Wohnung in Moskau und ein Haus in Litauen, die präsentabler sind«, erklären die
Gastgeber. Es ist eine typische Künstlerwohnung, mit einem kleinen
Konzertflügel und großen Regalen mit vielen Büchern und CDs.
Doch das ist nicht wichtig, wenn man bedenkt, wer hier lebt.
Im November hat Maija Plissezkaja ihren 80. Geburtstag
gefeiert, und sie sieht immer noch aus, wie eine Tänzerin »in
Form«. Ihre berühmtesten Rollen waren Odette-Odile in »Schwanensee« und »Der sterbende Schwan«. Dieser »Schwan« zieht
sich wie ein roter Faden durch ihr ganzes Leben – ihre Glanzrolle, die sie über achthundert Mal getanzt hat, und die sie nicht
lyrisch, sondern kämpferisch gestaltete. Neben den klassischen
Rollen trat sie auch in modernen russischen Balletten auf.
Maija Plissezkaja hatte kein einfaches Leben. 1925 geboren, als Tochter eines in Stalins Auftrag 1938 erschossenen
Industriellen und einer jüdischen Schauspielerin, die als Frau
eines »Volksfeindes« für viele Jahre nach Kasachstan deportiert
wurde, wuchs Maija Plissezkaja in Moskau bei verschiedenen
Verwandten auf. Mit neun Jahren wurde sie in die Ballettschule
des Bolschoï-Theaters aufgenommen, und mit elf stand sie in
»Dornröschen« zum ersten Mal auf der Bühne. Es ist erstaunlich, dass ein Kind ohne Eltern, erfüllt mit Angst und Sorge,
ohne Verständnis für die politischen Verhältnisse, eine so große
Stärke entwickeln kann, um eine solche Disziplin zu erarbeiten.
Niemals hat sie aufgegeben, sie hat immer ihren Traum verfolgt, auch während des Krieges, und trotz Evakuierung. Sie
kam immer wieder zurück auf ihre geliebte Bühne. 1943 wurde
sie in das Ensemble des Bolschoï-Theaters aufgenommen. »Die
Kunst hat mich gerettet«, beantwortet Maija Plissezkaja die Frage nach ihrer Kindheit, »ich habe mich aufs Tanzen konzentriert
und wollte, dass meine Eltern stolz auf mich sind.« Sie hat es
tatsächlich geschafft, von einem Kind des »Volksfeindes« zum
Stolz der ganzen Nation zu werden. Und es sind keine gro­
ßen Worte, denn als Tänzerin in der damaligen Sowjetunion
musste Maija Plissezkaja viel beweisen. Sie erzählt sehr verbittert über die Künstleragentur, an die sie das Geld, das sie
im Ausland ertanzte, abzahlen musste. Sie spricht mit einem
Schmerz in der Stimme über die damalige Theaterdirektion und
die Überwachung seitens des KGB, ihre ewigen und endlosen
Versuche, an die Regierung heranzukommen, um Klarheit zu
schaffen. Sie war das Vorzeige-Modell des Landes, sie wurde
allen ausländischen Gästen gezeigt, ihre Vorstellungen waren
immer ausverkauft – doch sie durfte nicht ausreisen. Sie musste
alle Einladungen mit dummen Ausreden ablehnen.
10
Maija Plissezkaja musste aufgrund der politischen Situation,
der Bespitzelung am Theater und ihrer familiären Vergangenheit
Angst um ihr Leben haben; später durfte sie reisen, aber während
sie nach Prag fahren musste, gastierte das gesamte BolschoïTheater an der Oper in Paris – Prag zählte nicht zu den großen
Auslandsreisen. »Deswegen bin ich nicht im Westen geblieben«,
sagt Maija, »mein Mann und meine Familie waren in Russland
und ich wusste, was sie erwartet, wenn ich nicht zurückkäme.«
Es ist bekannt, was namhafte Künstler wie Michail Baryschnikow
über sich ergehen lassen mussten, weil sie von einem Gastspiel
in Europa oder der USA nicht zurückkehrten. Sie wurden als
»Verräter der Nation« bezeichnet, haben ein Einreiseverbot erhalten oder wurden sogar ausgebürgert. Ihre Familien durften
sie viele Jahre nicht sehen, doch die Familienangehörigen sowie
der gesamte Freundeskreis und Kollegen wurden endlosen Befragungen durch die Machtinhaber unterworfen.
Die große Karriere begann trotz Krieg und Hunger, trotz der
ständigen Schikane durch den KGB und des Ausreiseverbotes.
Als Galina Ulanowa 1960 zurücktrat, wurde Maija Plissezkaja
aufgrund ihrer brillanten Technik, ihrer Schauspielkunst und ihrer
enormen Musikalität als Primaballerina Assoluta des Bolschoï
gefeiert. Sie spricht offen über ihre Vergangenheit, über den Verlust des Vaters und die Angst um die Mutter, über die Intrigen
am Theater, Unterdrückung
und die politische Situation der damaligen Sowjetunion. In ihrem Buch »Ich,
Maija« beschreibt sie nicht
nur das disziplinierte Leben
einer Tänzerin, sondern
70 Jahre sowjetische Geschichte, von der Stalinzeit
bis zur Perestrojka.
Sie hat alle Rollen
des Klassischen Balletts
getanzt – kurioserweise
unter anderem zu Ehren
Stalins anlässlich seines
Geburtstags und natürlich
vor seinen Nachfolgern.
»Ich hatte Angst und war
sehr aufgeregt«, erklärt
sie, »der Boden war sehr glatt im doppelten Sinn des Wortes.
Ich habe immer wieder ins Publikum geschaut und gedacht, wer
war für das Unglück meiner Familie verantwortlich?«
1956 galt sie international als eine der besten russischen Tänzerinnen klassischer und moderner Rollen. Die USA und Kanada
lernte sie 1959 im Rahmen einer Tournee des Bolschoi-Theaters
kennen. 1967 gastierte Maja Plissetskaja in der Bundesrepublik
Deutschland, und 1976 tanzte sie bei der Einweihung des »Palast der Republik« in Ostberlin.
Während der Reisen wurden viele Künstler und Prominente zu
Freunden, so zum Beispiel Coco Chanel, Ingrid Bergmann oder
Pierre Cardin, der alle Kostüme für ihre eigenen Ballette kreierte
und der einzige Designer ist, für den Maija Plissezkaja sich als
Modell präsentierte.
Die Tänzerin ist auch berühmt für ihren rebellischen Charakter.
So setzte sie sich heftig gegen die Widerstände zur Wehr, die
am Bolschoï-Theater die Arbeit moderner Choreographen verhindern wollten und tanzte die neuen Stücke einfach selbst. Ihr ist es
zu danken, dass Russland die Kunst Roland Petits und Maurice
Béjarts kennen lernte.
Ballett Intern 5/2005
Von der Arbeit mit Béjart an »Bolero« gibt es eine besondere
Geschichte. Die Tänzerin konnte sich die Choreographie nicht
merken, wollte »Bolero« aber unbedingt tanzen. Béjart fand eine
Lösung. »›Bolero‹ wurde von Béjart in 16 Teile geteilt«, erzählt
Maija Plissezkaja mit einem Lächeln. »Die verschiedenen Melodien tragen beliebige Namen wie ›Katze‹, ›Sonne‹, ›Samba‹
etc. Es war sehr schwierig für mich, mir alle choreographischen
Abschnitte in der richtigen Reihenfolge zu merken, und so hat
sich Maurice Béjart während der Aufführung hinter die Kulissen
gestellt, mit einem weißen Pullover und beleuchtet. Er hat mir
alle Bewegungen souffliert, und ich war sehr konzentriert. Später
schrieben die Kritiker, dass ich eine tolle Atmosphäre geschaffen
habe, eine starre Konzentration, eine schon fast religiöse Plastik.
Es war sehr amüsant.«
Seit 46 Jahren ist Maija Plissezkaja mit dem berühmten
russischen Komponisten Rodion Schtschedrin verheiratet. Sie
lernten sich »über die Ohren« kennen, erzählt Schtschedrin. Bei
Lilja Brig, der Muse und »unverheirateten Ehefrau« von Wladimir Majakowski, hörte er ihre Stimme: »Lilja spielte mir eine Kassette vor, auf der eine junge Frau eine Ballettmusik nachsingt. Es
war fabelhaft und unbegreiflich. Ich wollte diese Frau kennen
lernen«, beschreibt Rodion Schtschedrin die erste Erinnerung an
Maija. Maija Plissezkaja hat das sogenannte absolute Gehör
und kann, so sagt ihr Mann, alle Instrumente eines Orchesters
nachmachen. 1958 haben sie in Moskau geheiratet und sind
seither glücklich zusammen. »Wir waren oft getrennt«, sagt
Maija, »und haben eine Menge Geld für Telefonrechnungen
ausgegeben, denn mein Mann konnte aus politischen Gründen
nicht überall mit mir fahren und musste als Pfand in Moskau
bleiben.« Doch sie haben es geschafft – sie sind unzertrennlich.
Die 1967 entstandene »Carmen-Suite« von Schtschedrin sowie
Eva Evdokimova – Bloß
keine »Skulpturroboter«
Von Volkmar Draeger
Auch wenn sie seit dem Ende ihrer aktiven Laufbahn in New
York lebt, gemeinsam mit dem Ehemann, einem Dirigenten, so
hat Eva Gregori ihre große Karriere doch in der Alten Welt
gemacht. Als Eva Evdokimova war sie eine zutiefst europäische
Ballerina, gespeist aus einer ehrwürdigen tänzerischen Tradition,
durchdrungen und geformt vom Geist des romantischen Balletts,
unter den weiblichen Stars ihrer Generation vielleicht so etwas
wie die First Lady. In Genf wurde sie geboren, in München trat
sie mit sechs Jahren dem Kinderballett der Bayerischen Staatsoper bei, wechselte mit zehn zur Royal Ballet School in London,
wo sie parallel Tanz und Musik studierte. In der englischen Metropole wurde Maria Fay für ein weiteres Jahr ihre Privatlehrerin,
ehe sie, mit 17 und als erste Ausländerin, ein Engagement ans
Königlich Dänische Ballett erhielt. 1969 ging sie als Erste Solotänzerin an die Deutsche Oper Berlin, avancierte schon 1973
zur Primaballerina. Zwischendrin, 1970, gewann sie die Goldmedaille beim Ballettwettbewerb in Varna und absolvierte (bei
der heutigen Finanzlage undenkbar) mit Hilfe eines Stipendiums
des Senats eine Zusatzausbildung bei Natalja Dudinskaja im
damaligen Leningrad. Die Hauptrollen in den großen Klassikern
wurden ihre Domäne, ihre »Sylphide« geriet zur Legende, von
der man Zeitzeugen noch heute schwärmen hört. AuslandsgastBallett Intern 5/2005
»Anna Karenina« aus dem Jahr 1971, »Die Möwe« von 1979
und »Dame mit Hündchen« 1985 wurden am Bolschoï-Theater uraufgeführt. Die Choreographien sind von ihr, die Musik
von ihm. »Die ›Carmen‹ hat mich immer interessiert«, erzählt
Plissezkaja, »doch niemand wollte die Opernmusik fürs Ballett
adaptieren. Ich habe mit Schostakowitsch gesprochen und mit
Chachaturjan, und sie hatten beide Angst vor Bizet. Mein Mann
war sehr eingespannt mit seiner neuen Sinfonie, aber er hat sich
das angeguckt und fühlte sich gleich inspiriert. Er war und ist
eine große Hilfe für mich.«
Alle diese Werke sind Meilensteine in der russischen Ballettkomposition, die von Tschaikowsky ausgehend eine kontinuierliche Tradition im 20. Jahrhundert bewahrten und die Entwicklung des Genres vorantrieben.
Rodion Schtschedrins »Carmen-Suite«, eine geniale Adaption
der Opern-Vorlage von Georges Bizet für Streicher und Schlagzeug, gehört mittlerweile zu den meistaufgeführten Ballettwerken
des 20. Jahrhunderts.
Mit 80 Jahren unterrichtet Maija Plissezkaja weiterhin Meisterklassen und ist als Pädagogin immer noch weltweit gefragt.
»Natürlich sind meine Sprünge nicht mehr so hoch«, gibt Plissezkaja zu, »aber die alte Kraft spüre ich immer noch.«
Experimentierfreudigkeit in ihrem künstlerischen Schaffen
führte dazu, dass unterschiedliche, sogar gegensätzliche stilistische Richtungen nebeneinander stehen können. Spontaneität
und Vielseitigkeit, solides konstruktives Denken, lyrische und dramatische Partien kennzeichnen das Lebenswerk der »Callas des
Balletts«.
Zum 80. Geburtstag der Tänzerin und Choreographin am
20. November gab es viele Feierlichkeiten:
Herzlichen Glückwunsch, liebe Maija Plissezkaja! ■
spiele trugen Evdokimovas Ruf in die Welt: »Giselle« in Helsinki
und beim London Festival Ballet, »Schwanensee«, »Nussknacker«
und »La Sylphide« in Kopenhagen, der Hochburg des Bournonville-Stils, »Raymonda« in Zürich als Produktion Rudolf Nurejews,
Auftritte in München und bei John Cranko in Stuttgart. Seit dem
Ende ihrer Tänzerlaufbahn 1985 gibt sie vielerorts als Gastpädagogin ihre Erfahrungen weiter.
Was bleibt Eva Evdokimova im Gedächtnis von einer solchen Bilderbuchkarriere, wofür ist sie noch heute dankbar? »Für
vieles«, meint sie nachdenklich, »die Gelegenheit, international
tanzen und mich in unterschiedlichen Rollenstilen von Fokin bis
Balanchine ausprobieren zu dürfen.« Besonders an die 15-jährige Partnerschaft mit Rudolf Nurejew, an die zahllosen gemeinsamen Tourneen in den großen Klassikern – »Hunderte von Vorstellungen!« – erinnert sie sich gern. Im selben Atemzug nennt sie
den weiblichen Hauptpart in Valeri Panovs Uraufführung »Der
Idiot« an der Deutschen Oper Berlin und Birgit Cullbergs »Fräulein Julie«. Und dankbar sei sie ihren prägenden Pädagoginnen:
Fay in London, Vera Volkova (»welch eine Persönlichkeit, eines
der ersten ›‘Produkte‹ von Agrippina Waganowa!«) in Kopenhagen, später »die« Dudinskaja in Leningrad. Auch wenn eine
Operation sie vor neun Jahren für längere Zeit außer Gefecht
setzte, hat Eva Evdokimova der Bühne dennoch nicht Adieu gesagt. »Contemporary«, so erzählt sie, tanze sie jetzt daheim in
New York, in Stücken und Soli, die junge Choreographen für
sie kreieren: der von der Batsheva-Dance und Bat Dor Company kommende, mittlerweile an der Juilliard School arbeitende
Israeli Igal Perry; der Ex-Hamburger Henning Rübsam, der nach
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Die Prima Ballerina Assoluta Eva Evdokimova in »La Sylphide«
(Foto: Kranaich, Berlin)
Schubert-Liedern choreographierte; Angela Jones, die Sprache
und Tanz zusammenbringt und eine Inszenierung nach Virginia
Woolf schuf. »Derzeit bin ich mehr mit Schauspiel befasst«, ergänzt Eva Evdokimova. So spielte sie englische Autoren, Anton
Tschechow und zuletzt eine Adaption nach Henry James.
Ihr Interesse an Tanzpädagogik ist allmählich gewachsen, besonders nach jener Operation. Als Tänzerin hätte sie sich noch
nicht vorstellen können, eines Tages zu unterrichten, »obwohl
ich im Saal immer gern für mich selbst Bewegung analysiert
habe«. Während man in Deutschland eine Ausbildung zum Pädagogen brauche, sei das in den USA kein Muss. In Winnipeg
absolvierte sie Sommerkurse, bei einer an Waganowa orientierten russischen Lehrerin, mit der sie früher in Berlin geprobt
hatte. Langsam kamen dann die Angebote, für Sommerkurse in
New York, beim Hartford Ballet, auch schon von außerhalb.
Inzwischen gibt sie regelmäßig Training in ihrer Wahlheimat,
reist häufig zu Workshops nach Japan, lehrt als ständiger Gast
bei Marika Besobrasova an der Académie de Danse Classique
»Princess Grace« in Monaco. Für ein Jahr war sie Ballettmeisterin beim renommierten Boston Ballet, leitete dort die Proben zu
Crankos »Onegin«, Ashtons »La Fille mal gardée« sowie zum
»Nussknacker«. In der Schule des Houston Ballet führte sie die
letzte Klasse, studierte mit dem Royal Winnipeg Ballet, ganz in
ihrem Element, den 2. Akt aus »La Sylphide« ein – »das hat viel
Spaß gemacht, besonders weil ich im täglichen Training vorbereiten konnte, was dann in der Probe gebraucht wurde«. Auch
die pantomimischen Teile, »wenn die schlecht sind, zerfällt bei
Bournonville das gesamte Stück«.
Klassen in einer Ballettschule über einen längeren Zeitraum zu
formen, daran denkt sie gegenwärtig noch nicht, wenngleich sie
um die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Ausbildung weiß.
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»Zu viel Energie und Zeit gehen heute in die physische Erziehung«, kritisiert sie, »zu wenig in die Imagination des Tänzers
und in die Rolleninterpretation.« Das aber müsse beim Schüler
schon geweckt werden, weshalb sie als Gastlehrer gern diese
Themen aufgreift. Beispielsweise die emotionale Bindung an die
Musik, damit der Körper ausdrucksvoller wird. Heutzutage analysiere man jede kleinste Bewegung, nichts werde mehr dem
Instinkt des Tänzers überlassen. Indem man jedes Detail festlege,
verliere man das Gesamtbild aus den Augen, die Motivation für
den Tanz, die Persönlichkeit. »Was fühlst du bei dieser Musik?«
fragt sie gern ihre Studenten und will deren körperliche Reaktion
auf den Klang sehen: »Ich mag keine Skulpturroboter.«
Was sie damit meint, demonstriert sie in Besobrasovas Académie bei einer Probe für die Prüfungsgala. Der jungen Solistin fällt
es sichtlich schwer, in der Variation der Paquita technische und
gestalterische Anforderungen überein zu bringen. Eva Evdokimova, zufälliger Zaungast, springt auf, skizziert in Rock und Bluse
und auf Pumps von sanfter Höhe das Wesen der Rolle, arbeitet
mit Verzögerungen und Beschleunigungen, kostet die Musik raffiniert aus und zeigt, wie man durch konkrete Körperhaltungen
überzeugend spanisches Kolorit schafft. Mit diesen inhaltlichen
Hinweisen gelingt die Variation nicht nur im Saal, sondern besser
noch abends auf der Bühne, weil sie aus dem tänzerischen Fluss
und in enger Kooperation mit der Musik entsteht. In ihrem Unterricht vermittelt Evdokimova nach eigener Aussage eine dosierte
Mixtur aus jenen Schulen des klassischen Tanzes, die sie selbst
praktiziert hat. Als technisch kräftigende Basis empfindet sie die
Waganowa-Methode, addiert die Sauberkeit des Trainings, wie
sie es aus der Royal Ballet School kennt, sowie Elemente der
Bournonville-Technik, »eine andere Art, sich zu bewegen, mit
dem Gewicht zu spielen, Sprungschnelligkeit zu erlernen und
dabei den romantischen Stil zu kultivieren«. Ihre Studenten ermuntert sie, mehr Musik zu hören, auch in Bibliotheken, sich mit
dem historischen Hintergrund, der Struktur, den verschiedenen
Rhythmen zu beschäftigen. Und natürlich mit Ballettgeschichte,
»denn in den amerikanischen Schulen wird das kaum angeboten«. Die Initiative, sich von selbst mit der Kunst in Vergangenheit
und Gegenwart zu befassen, bis hin zu Literatur und Lyrik, will
sie bei den Tänzern stärken: »Für Amerikaner und Japaner liegt
gerade das romantische Ballett weit weg von ihrer Kultur.«
Technik sei ein Muss, »aber Ballett ist mehr als das, ist Theater«, lautet ihr Motto, und: »Ich möchte mich von einer Vorstellung berührt fühlen.« Gerade in diesem Punkt fürchte sie um
die Zukunft ihrer Kunstgattung. So habe sie selbst ein Gastspiel
des Kirow-Balletts mit »Don Quijote« schockiert, »die Gruppe
toll, die Solisten wunderschön, aber ohne jede Beziehung zur
Rolle, absolut keine Kitri, ein verfehlter Abend«. Transformiert die
alten Rollen für die Gegenwart, fordert sie von ihren Tänzern,
legt eure Ängste, Wünsche, Freuden mit hinein, findet einen Zugang, einen Bezug! Erfolg ist für Eva Evdokimova in diesem Sinn
keine veräußerlichte Kategorie, sondern bedeute, »die beste
künstlerische Entwicklung für sich selbst zu nehmen und mit seiner Kunst die Zuschauer zu erreichen«. Ein sehr guter klassischer
Tänzer sei meist auch vielseitig genug, den unterschiedlichen
stilistischen Anforderungen zu entsprechen. Das könne jedoch
ein physisches Problem werden, wenn in derselben Woche Petipa und Forsythe auf dem Spielplan stehen. Es sei daher wichtig,
schon in der Schule die Stilistiken sauber zu lehren und den
Körper damit auf die extrem gegensätzlichen Belastungen vorzubereiten. »Ein rein klassischer Tänzer ist heute Luxus«, resümiert
die einstige Königin unter den romantischen Ballerinen ihrer Ära,
»aber Klassisch und Modern können einander gut helfen.« ■
Ballett Intern 5/2005
Tadeusz Matacz
Der Direktor der Stuttgarter
John-Cranko-Schule im Gespräch
Von Angela Reinhardt
Seit 1999 ist der Pole Tadeusz Matacz Direktor der Stuttgarter JohnCranko-Schule, die unter seiner Leitung ihre Stellung als eine der
erfolgreichsten Ballettakademien in Deutschland weiter ausbaute.
Bevor ihn Reid Anderson nach Stuttgart holte, war Matacz Tänzer
und Ballettmeister bei Germinal Casado in Karlsruhe. Angela Reinhardt sprach mit ihm über internationale Wettbewerbe, über die Berufschancen seiner Schüler und die Situation der Schule in Stuttgart.
Ballett Intern: Sie sitzen in sehr vielen Jurys bei internationalen
Wettbewerben. Ist das eine Prestigesache?
Tadeusz Matacz: Ich empfinde das nicht als Prestige. Zunächst
sind diese Wettbewerbe eine unglaubliche Möglichkeit, zu vergleichen: was tut sich überall auf der Welt? Und natürlich sehe ich, dass
sich die Kollegen mit ähnlichen Problemen plagen wie ich. Dann
ist das für uns alle, für die Direktoren, ein willkommener Anlass,
talentierte Kinder zu finden. Mein Ansatz ist dabei, dass man sie
im früheren Alter hierher nach Stuttgart holt, um noch gut mit ihnen
arbeiten zu können; die Akademie dauert zwei Jahre, das ist eine
viel zu kurze Zeit. Sie leben dann hier in Stuttgart und sehen die
Aufführungen, sie bekommen eine Ahnung von Cranko. Und dann
können wir uns auf das konzentrieren, was wir vermitteln wollen:
wir sprechen nicht über die Zahl von Pirouetten oder einen noch
größeren Spagat, sondern darüber, was Kunst ist, was wir damit zu
machen versuchen. Insofern sind diese Ballettwettbewerbe wichtig,
weil man schaut, wer eventuell eine spezielle Begabung hat.
BI: Das heißt, die Kinder werden immer jünger bei den Wettbewerben?
TM: Das sowieso! Wenn Sie nach Japan sehen, da liegt das
Einstiegsalter in die Wettbewerbe bei neun oder zehn Jahren. Nicht
selten sehen Sie ein Mädchen, das eine »Schwanensee«-Variation
wählt, für die sie eigentlich eine reife Frau sein sollte. Und dieses
kleine Kind, bei dem der Kopf noch viel größer ist als der Rest des
Körpers, legt gleich am Anfang drei Pirouetten hin, gefolgt von zwei
oder drei Attituden – also Sachen, die nicht mal Profis machen! Das
sprengt alle Barrieren. Es gibt körperliche Schäden und psychische
Schäden, wenn man bestimmte Sachen zu früh macht... aber so
ist die Entwicklung. Wir machen diese Wettbewerbe mit einem
weinenden Auge. Manchmal, wenn die Diskussionen zu wissenschaftlich werden, dann mag ich es sehr gern, einen Stock in einen Ameisenhaufen zu stecken, und sage: wir machen Prostitution!
Wenn wir unsere Namen hergeben und bei diesen Wettbewerben
mit Zehnjährigen mitmachen, und nachher steht das Kind als Krüppel da, dann ist das aus meiner Sicht einfach Prostitution. Man muss
es beim Namen nennen. Wir sind alle gegen die Wettbewerbe,
aber wir haben keine andere Wahl – denn wenn ich mich nicht
bewege, kommen die Kinder von selbst aus nicht hierher. Die Kinder
interessieren sich nicht dafür, wer an welcher Schule unterrichtet.
Man muss viel offensiver sein, viel aktiver als früher. Und es gibt eine
riesige Konkurrenz! Ich bin nicht der einzige dort, ich sitze neben
der Royal Ballet School, neben Toronto, San Francisco, Mailand.
Seit einem Jahr macht sogar auch Paris mit. Die genossen immer
noch diese Exklusivität, aber auch die öffnen sich, weil sie nicht
genügend Nachwuchs haben. Die Zahlen von Kindern, die sich für
Ballett interessieren, sinken dramatisch.
BI: Herrscht eine so große Konkurrenz unter den internationalen Schulen um die Schüler?
Ballett Intern 5/2005
TM: Man muss auch verstehen, woher die Kinder kommen.
Wenn junge Amerikaner beim Youth America Grand Prix auf einem
Bogen ankreuzen sollen, wo sie weiter studieren möchten, sprechen alle sofort nur von der School of American Ballet, das ist das
Mekka, und als zweites kommt die Royal Ballet School, weil dort
englisch gesprochen wird. Wohl kennen alle das Stuttgarter Ballett
und auch die John-Cranko-Schule. Aber hierher zu kommen, deutsch
zu lernen, das ist schon ein Problem. Wie können wir da überhaupt
in Konkurrenz treten? Es geht gar nicht. Sehr oft haben die Tänzer
so wenig Information, so wenig Vergleichsmöglichkeit, dass sie die
erstmögliche Gelegenheit nutzen. Oft gewinnt einfach derjenige,
der die Schüler zuerst anspricht.
BI: Wie darf man sich das vorstellen: da tanzt ein guter Schüler bei einem Wettbewerb, und nach seinem Solo rennen fünf
Schuldirektoren auf ihn zu...?
TM: Wir versuchen, das ein wenig zu zivilisieren. Aber ich habe
es schon erlebt! Wir sprachen noch darüber, wie wir das möglichst
elegant lösen, um jemanden nicht gleich zu überrollen mit Angeboten, und da ist ein Vertreter einer der größten Ballettschulen der
Welt in die Toilette gegangen und hat die Person angesprochen!
Ein 14-, 15-jähriger Mensch ist da vollkommen verloren. Inzwischen
kennen wir uns alle, und wir versuchen wirklich, untereinander keine
krummen Sachen machen, damit man sich beim nächsten Mal noch
entspannt in die Augen blicken kann. Aber es ist ein hartes Geschäft. Mit Unterstützung von verschiedenen Kreisen, die uns Mittel
zur Verfügung stellen, können wir die Leute mit Stipendien hierher
nach Stuttgart holen, das ist sehr wichtig. Der hervorragende Ruf der
Kompanie strahlt natürlich auf uns ab, insofern haben wir auch da
gute Karten. Aber einen Engländer hierher zu locken, das ist zum
Beispiel fast nicht möglich, denn die sind alle auf die Royal Ballet
School gepolt.
BI: Sie schicken auch nicht ständig Schüler der John-CrankoSchule zu den Wettbewerben.
TM: Ja, ich bin kein großer Fan von Wettbewerben. Ich glaube,
die beste Antwort wäre jetzt, daran zu erinnern, dass die Pariser
Oper seit mindestens fünfzehn Jahren keinen Menschen zu irgendwelchen Wettbewerben schickt. Aber auch die Franzosen müssen
jetzt ihren Weg machen. Die sind jetzt ein bisschen aufgewacht,
weil sie mit den Realitäten konfrontiert wurden. Sie müssen mit der
Welt mitmachen, denn sie wollen überleben. Das haben sie etwas
später als die anderen erkannt, und sie werden ihre Erfahrungen
sammeln müssen.
BI: Wie suchen Sie Kinder aus? Suchen Sie gezielt auf die
Stuttgarter Compagnie hin?
TM: Wir sind alle stolz, dass ein Drittel der Compagnie ehemalige Cranko-Schüler sind. Reid Anderson hat durch den Ruf seiner
Compagnie Zugang zu den besten Tänzern der ganzen Welt. Wir
können nicht vollständig die Stuttgarter Compagnie füllen, und das
wäre auch komplett verkehrt. Heutzutage geht das nicht mehr so
– das war mal vor Jahren in Russland, in Frankreich, in England
möglich, wo jede Nation wirklich noch für sich war. Da konnte
man eine russische, eine französische, eine englische Ballerina unterscheiden. Heute reisen die Pädagogen herum, die Tänzer reisen
herum, und die Schüler auch. Es ist Globalisierung pur, auch in
unserem Geschäft.
BI: Arbeiten Sie also auch im Unterricht darauf hin, möglichst
viele Stile abzudecken? Arbeiten Sie eher flächendeckend, oder
versuchen Sie, die Spitzen am besten herauszubringen?
TM: Wir versuchen, flächendeckend zu arbeiten. Die Spitze
wird sich schon weiter durchboxen! Natürlich versuchen wir jemand
nach vorne zu bringen, wenn er besonders gut ist. Aber es ist nicht
unser Ziel, dass die jetzt schon ins Weltall schießen – sie müssen
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später, als erwachsene Tänzer Erfolg haben, nicht als Kinder. Für
uns ist es schon das Allerwichtigste, dass alle unsere Absolventen
ein Engagement finden. Dann ist mir das egal, ob die in Stuttgart, in
Covent Garden oder im Stadttheater Pforzheim tanzen – Hauptsache, sie sind ehrliche Künstler, die bei den Kollegen und Direktoren
geschätzt sind, die in der Lage sind, schnell zu verstehen und etwas
Neues zu lernen, die mit Begeisterung etwas aufnehmen und später
einfach dienen und ihr Bestes versuchen.
BI: Gab es deshalb Hip Hop bei der letzten Aufführung der
John-Cranko-Schule?
TM: Für mich gibt es keine Tabus. Wir sind Tänzer! Wenn der
Choreograph oder Intendant findet, dass es jetzt passt, dann werden wir singen und steppen! Das hat Cranko gemacht, und das ist
heutzutage selbstverständlich, aber leider nicht in allen Köpfen. Als
ich Ballettmeister in Karlsruhe war, hatten wir einen neuen Tänzer
aus Russland, und er sollte im Musical eine Rolle übernehmen. Er
weigerte sich und sagte: »Ich habe nicht neun Jahre in St. Petersburg
studiert, um jetzt auf Bongos zu spielen!« Das habe ich immer noch
im Kopf. So eine Person hat für mich keine Berechtigung, im Theater
zu arbeiten. Und man sieht heute: Leute mit einer solchen Mentalität
Der Direktor der Stuttgarter John-Cranko-Schule, Tadeusz Matacz, vor
einem Porträt des Namensgebers.
sind längst arbeitslos. Für mich ist es wichtig, solche Barrieren so
schnell wie möglich zu sprengen. Man muss das Theater lieben,
so wie es ist! Man dient, wie zu Molières Zeiten. Man macht alles, was der Choreograph will! Natürlich ist die Klassik die Basis,
und die muss kristallklar sein. Aber dann geht es weiter, Ausflüge
in alle Richtungen, damit die Blockaden im Kopf so schnell wie
möglich gesprengt werden. Das bringt allerdings auch sehr große
Gefahren. Spoerli hat einmal gesagt, dass sich heutzutage alles
verwässert. Diese Gefahr ist ständig da, insofern muss man wie mit
einer Lupe auf die Klassik aufpassen: die Körperspannung, die Kultur des Tanzes, wie sie die Hand öffnen, wie sie den Fuß setzen...
Man muss die Schüler so führen, dass sie selbst weitersuchen, man
muss einen Kern in sie legen.
BI: Die Cranko-Schule ist die letzte Ballettakademie in Deutschland, die noch nicht vollständig renoviert wurde. Wie stehen die
Pläne inzwischen?
TM: Schlecht. Das heißt, die Pläne sind herrlich! Als ich mich zum
ersten Mal mit diesem Thema befasst habe, wollte ich zuerst einen
neuen Standort suchen, eine alte Fabrik oder so etwas. Das war der
Fall in Paris, das hat die Moskauer Schule genauso gemacht. Und
dann bekam ich Pläne von Architekturstudenten, die unser Terrain
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mitten in der Stadt zur Übung verplant haben. Hier könnte man mit
einem Anbau etwas machen, der alle unsere Bedürfnisse stillen würde, inklusive einer Bühne mit den Maßen der Staatstheaterbühne,
Wohnungen für die Studenten und so weiter. Mit einem herrlichen
Haupteingang, mit einer Caféteria, mit einer Tiefgarage – für nur
10 Millionen Euro. Aber es ist im Moment leider nicht möglich, darüber zu sprechen. Die Stadt Stuttgart hat viel zu viele Probleme, das
Theater selbst hat Probleme mit der Bausubstanz … Ich bin kein Don
Quijote. Aber ich finde es schon verwunderlich: dem Land Sachsen
geht es nicht besser als dem Land Baden-Württemberg, und die
räumliche Situation der Palucca-Schule war schon vorher unendlich
viel besser als unsere. Die haben trotzdem noch Geld gefunden,
um das alles unter einem Dach neu zu ordnen. Soviel ich weiß, hat
auch Berlin 18 Millionen für seine Schule bekommen. Vielleicht hat
die Stadt Stuttgart einfach viel zu viele gute Sachen. Wahrscheinlich
sind neue Gebäude wichtiger als das, was ohnehin schon gut läuft.
Und wir sind weiter top, ohne dass wir ein neues Gebäude haben.
Aber das ist ein gefährliches Spiel, denn die Leute kommen hier herein und sagen ganz erstaunt: das soll die John-Cranko-Schule sein?
Natürlich sprechen nicht unbedingt modernste Einrichtungen dafür,
was am Ende herauskommt. Das Allerwichtigste ist immer noch das
Herz, was im Ballettsaal passiert, wie man mit den Leuten arbeitet.
Aber alle haben sich irgendwie auf den aktuellen Stand gebracht,
mit Physiotherapie und so weiter. Nur wir sitzen weiter mit unserem
Raumproblem da, das könnte gefährlich werden.
BI: Warum gibt es so wenige Deutsche, die auf die Schule
kommen?
TM: Ich kann es nur bedauern, wenn sie nicht kommen. Ich habe
verschiedene Beobachtungen gemacht und mit vielen Leuten darüber gesprochen. Ganz konkret werde ich etwas tun, damit sich das
in der Zukunft vielleicht ein bisschen ändert: Ich möchte den Schülern unserer Akademie das Abitur ermöglichen, parallel zu unserer
beruflichen Ausbildung. Das ist in Berlin möglich, an der PaluccaSchule und bei Konstanze Vernon in München, aber bei uns noch
nicht. Das war oft ein Punkt, wo begabte Kinder oder ihre Eltern sich
entschieden haben, aufzuhören. Ein anderes Thema ist die Motorik.
Der ganze Bewegungsapparat ist bei Kindern heute überhaupt nicht
mehr so vorbereitet wie vor Jahren, als man draußen spielte und
sich bewegte. Die sitzen Stunden vor Computer und Fernseher. Wir
haben im Laufe des Jahres schon ein paar hundert Kandidaten, die
zu uns kommen möchten, nur kann ich diesen Kinder keine falschen
Versprechungen machen, sonst würde ich falsche Träume wecken.
Ich möchte das Problem auch generalisieren: warum sind es überhaupt so wenige Kinder? Dieser Beruf ist ein spezieller Beruf, ein
Beruf für Auserwählte. Die Person kann nichts anderes machen als
tanzen. Egal, was passiert, egal was sie tanzt, egal wie die Umstände sind: sie muss tanzen. Frage nicht, was krieg ich dafür, sonst
wirst Du nur enttäuscht. Es ist vielleicht normal, dass man solche
Kinder in Deutschland nicht überall findet.
BI: Müssten nicht eher die privaten Tanzschulen die Kinder
ansprechen?
TM: Wir haben versucht, mit den Tanzschulen in Kontakt zu kommen, denn sie sind ein natürliches Reservoir. Aber das geht leider
nicht. Erstmal wollen die ihre Kunden nicht verlieren. Wenn die Erzieher wirklich Pädagogen sind und Wert auf Kunst legen, dann
müssen sie erkennen: Ich habe einen Diamanten in der Hand, den
muss ich weitergeben. Aber das tun sie nicht, denn dieser Diamant
dient für sie als Anziehungskraft für die anderen Kinder! Ich verstehe, dass das für die Schulen lebensnotwendig ist, denn sie leben
von den monatlichen Beiträgen. Wir müssten einfach Leute haben,
die dort regelmäßig hingehen und Kontakt halten. Das machen wir
auch, aber eben alles zusätzlich zu unserer normalen Tätigkeit. ■
Ballett Intern 5/2005
Respekt und Ruhe
Ein Gespräch mit Royston Maldoom
Von Dagmar Fischer
Royston Maldoom bringt den Tanz zurück in den Alltag. Historisch
gesehen war er dort schon, zuletzt in den 20er und 30er Jahren,
als Rudolf von Laban Deutschland und die Schweiz mit Schulen und
Lehrern versorgte. Doch der Tanz ging der Basis wieder verloren.
Die künstlerische Arbeit, die durch den preisgekrönten Dokumentarfilm »Rhythm is it!« ein großes Publikum fand, macht Royston Maldoom schon seit dreißig Jahren: Er bringt Menschen zum Tanzen,
die sich vielleicht sonst nicht unbedingt zweckfrei bewegen würden;
das können Gefängnisinsassen, Menschen mit Handicaps oder Senioren sein, aber auch irische Jugendliche protestantischen und katholischen Glaubens, Straßenkinder aus Äthiopien oder Schulkinder
aus einem so genannten problematischen Stadtteil einer europäischen Großstadt.
BI: Was ist unverzichtbarer Teil einer Unterrichtstunde bei Royston Maldoom?
RM: Ich arbeite immer am Fokus. Fokussieren muss jeder, der
auf einer Bühne steht, aber eigentlich sollten wir es alle lernen. Und
zweitens, was zunehmend schwieriger wird für junge Menschen, ich
will Ruhe und Stille im Raum haben. Das Leben ist bewegt und laut,
ich versuche daher, einen Punkt zu finden, von wo aus Entwicklung,
welcher Art auch immer, erst möglich wird. Ganz gleich, welche
Aufgabe man zu bewältigen hat, und ganz besonders im Tanz und
Theater: Wir beginnen in einem Moment der Stille, alles andere
baut darauf erst auf. Um den eigenen Körper wahrzunehmen, um in
ihn hinein horchen zu können, muss es einfach still sein.
BI: Welche Erfahrungen macht ein Schüler darüber hinaus?
RM: Er lernt Respekt: vor der eigenen Leistung, vor den tänzerischen Versuchen der anderen, vor der Herausforderung durch das
musikalische und choreographische Werk, und vor dem Pädagogen. Das muss ich im Unterricht gar nicht besonders betonen, es ist
Teil der gemeinschaftlichen, künstlerischen Arbeit für die Bühne. Jede
künstlerische Disziplin verfügt darüber, Tanz in besonderem Maß.
Disziplin, alleine das Wort ist ja keine Selbstverständlichkeit mehr
an Schulen heute.
BI: Haben Sie Ideen für eine Choreographie im Kopf, wenn
Sie ein neues Projekt beginnen?
RM: Nein, nichts, niemals. Ich gehe in den Raum, sehe mir die
Gruppe an, nehme Alter und Möglichkeiten der Menschen wahr,
und fange einfach an. Die Musik habe ich vorher festgelegt, und
die gibt manchmal Dinge vor, die Worte aus »Carmina Burana«
oder das Thema in »Le Sacre du Printemps«. Aber normalerweise
habe ich keine Ahnung, was entstehen wird. Vor jedem neuen Projekt habe ich Angst, ich denke jedes Mal: Ich kann es nicht, das
Projekt schaffe ich nicht! Das einzig Hilfreiche ist die Gewissheit,
dass ich es all’ die anderen Male auch geschafft habe. Ich verlasse
mich auf meinen Instinkt und meine Erfahrung. Diese Arbeit muss
einfach getan werden.
BI: Dann entsteht erst alles mit der jeweiligen Gruppe?
RM: Ich bin eine Art Direktor, der eine »direction«, eine Richtung
vorgibt. Ich stelle zum Beispiel eine kleine Aufgabe, die zu zweit gelöst werden soll. Dann fordere ich sie auf, den Ablauf interessanter
zu gestalten, mache Vorschläge, wie das aussehen könnte. Dann
wähle ich beispielsweise zwei Paare aus, die sich gegenseitig
ihre Lösung der Aufgabe beibringen sollen, addiert habe ich dann
schon ein kleines Stück Choreographie. Von mir kommt die Struktur,
aber rund 70 % der Ideen stammen von den Schülern.
Ballett Intern 5/2005
BI: Welche Rolle spielen Ihre eigenen, persönlichen Erfahrungen als Tänzer bei der heutigen pädagogischen Arbeit?
R.M.: Ich wollte unbedingt Tänzer werden, habe aber erst mit
22 Jahren mit dem Training angefangen. Das war sehr hart, in dem
Alter, mit dem Körper. Ich tanzte trotzdem, lernte so viele unterschiedliche stilistische Richtungen wie möglich. Und sehr früh faszinierte
mich die Choreographie, das Handwerk der Gestaltung.
BI: Haben Sie auch unangenehme Erfahrungen gemacht,
während der vielen, teilweise abenteuerlichen Aufenthalte in
den unterschiedlichsten Ländern?
RM: Die schlimmste Erfahrung habe ich gemacht, als ich für
jemanden arbeitete, der keinen Respekt für das Projekt hatte. Ich
möchte, dass der Wert dieser Arbeit gesehen wird. Und ich will
nicht, dass man mich als einen merkwürdigen Tanzstar aus einem
Film ansieht. Armut, Krieg, Drogen – das waren keine schlimmen
Erfahrungen. Wenn ich die Straßenkinder sehe, denke ich, so sollte
kein Kind aufwachsen. Aber ihr Überlebenskampf, ihre Energie zu
erleben, das war eine positive Erfahrung.
BI: Wahrscheinlich gab es bedeutendere Projekte als das in
Berlin, die Enormes bewegt haben, aber es wurde von keiner
Kamera festgehalten?
RM: Mein liebstes Projekt ist das in Nordirland, da arbeite ich
mit sechs, sieben Jugendlichen, Protestanten und Katholiken, die alle
die Schule geschmissen haben. In einer kleinen Gruppe kann ich
sehr in die Tiefe gehen, das mag ich. Aber die großen Projekte sind
gut, um der Arbeit die nötige Beachtung zukommen zu lassen. Als
ich damals nach Berlin ging, hatte ich wirklich keine Ahnung, dass
das Projekt ein so großer Erfolg werden würde. Wenn ich irgendwo
ein wichtiges Projekt mit zehn türkischen Kindern machte, würde
niemand davon Notiz nehmen. Aber beim »Sacre«-Projekt bekamen
Sir Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker die Aufmerksamkeit,
und auf diese Weise interessierten sich Leute dafür, die sonst gar
nicht darauf aufmerksam geworden wären.
BI: Sie haben damit begonnen, ein Netzwerk unter Pädagogen aufzubauen und arbeiten mit Assistenten, die in den jeweiligen Städten leben...
RM: Ja, ich versuche jeweils vor Ort Assistenten zu bekommen,
aber das ist nicht immer möglich. Ich kann sie nicht bezahlen, aber
ich teile meine Erfahrungen mit ihnen. Sie begleiten das gesamte
Projekt, wenn sie wollen, und wie sehr sie sich im Verlauf einbringen,
liegt an ihnen. Wichtig ist mir dabei zu vermitteln, dass dies meine
Art zu arbeiten ist, die vermutlich einige sinnvolle Anregungen enthält, aber nicht für jeden anderen stimmig sein muss. Ich selbst hatte
niemanden, von dem ich lernen konnte, das war Pionierarbeit. Und
schließlich möchte ich, dass diese Arbeit fortgeführt wird, auch über
die Dauer eines Projektes hinaus. Niemandem ist geholfen, wenn
alles aufhört, nachdem ich weg bin.
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15
Wenn ein Rhythmus
untanzbar scheint
Stange so präzise zu analysieren, war für die meisten Teilnehmer neu, erhellend und in der Klarheit überzeugend. Dass dies
für viele Pädagogen unvertraut ist, bestätigt Puttkes These, dass
empirisches Wissen über Koordination allmählich verloren geht,
Eindrücke von Martin Puttkes Seminar
weil die Technik in der tänzerischen Ausbildung so sehr im Vor»Koordination im Tanz« des Deutschen
dergrund steht. Dabei sei der Klassische Tanz doch eigentlich
Berufsverbandes für Tanzpädagogik e.V.
die ideale Form für Faule, erzählt er augenzwinkernd, denn es
gehe darum, mit einem Minimum an Einsatz ein Maximum als
Von Dagmar Fischer
Ergebnis zu erzielen, oberstes Prinzip die Effizienz, also jeweils
den direktesten, kürzesten Weg zu finden. Voraussetzung sind
eine »hochmotivierte Psyche und ein leistungsfähiger Körper«,
Marianne Kruuse, Stellvertretende Direktorin der Ballettschule des
aber ebenso Bilder im Kopf, konkrete Bewegungsbilder, die im
Hamburg Ballett, sowie Ingrid Glindemann und Christian Schön,
Kopf sein sollten, bevor die Bewegung überhaupt losgeht. Den
beide ebenfalls Lehrer an John Neumeiers Schule, sind allesamt
erfahrene Pädagogen. Und doch ließen sie es sich nicht nehBewegungsablauf durchdenken, jeden Moment wie einen innemen, in Martin Puttkes Seminar »Koordination im Tanz« noch einren Film konkret vor dem geistigen Auge sehen – erst wenn dieses
mal zu lernen. Die eintägige Fortbildung fand am 22. Oktober
Bewusstsein erreicht ist und der Schüler jede einzelne Phase des
in der Hamburger »Tanzparterre« statt – unter regem
Ablaufs verbal benennen kann, hat er die für eine
Zulauf von hochmotivierten Lehrern.
gut koordinierte Bewegung notwendige Klarheit.
Jeder Tanzende koordiniert seine Bewegungen,
»Das gilt für alle Tänzer, mit Ausnahme der webenennt es aber nur selten – was genau ist Koornigen Genies!« tröstet Puttke. Und er erzählt von
dination eigentlich? Der Workshop bringt es auf
einem angehenden Tänzer, der seine Schwierigden Punkt: Bewegungen, die einen gemeinsamen
keiten bei Pirouetten nicht überwinden konnte. Der
Anfangs- und Endpunkt haben, dazwischen aber
Pädagoge Puttke bat ihn, sich den Bewegungsunterschiedlich lange Strecken und Raumwege
ablauf im Sitzen und Liegen bei geschlossenen
zurück legen, weil sie von unterschiedlichen KörAugen immer wieder vorzustellen, jedes kleinste
perteilen ausgeführt werden. Als Beispiel zeigte
Detail, und siehe da: Es gab einen Moment, der
Puttke ein »battement fondue« im Spielbein, ein
bei dem inneren Tanzfilm fehlte, der Moment des
»plié« des Standbeins, ein »Port de bras« und eine
Abdrucks; erst nachdem auch dieser vom Schüler
Wendung des Kopfes. Wenn man die jeweils im
visualisiert wurde, klappte die Drehung.
Raum überwundene Strecke von Fuß, Knie, Arm
Der Klarheit dient auch zu wissen, welche
und Kopf in Zentimeter schätzt, kommt man auf vier
Muskeln angespannt und welche entspannt
Prof. Martin Puttke
verschiedene Angaben, doch jede Bewegung muss
werden müssen, und vor allem, wann! In dem
im selben Zeitmaß bewältigt werden. Also unterZusammenhang sind Kenntnisse über die Funkschiedliche Raumwege in gleicher Zeit, dazu ist
tionalität der Gelenke unerlässlich, denn »wenn
ich die Funk­tionalität nutze, komme ich zu organischen und
Koordination nötig.
Und je klarer die Abläufe im Einzelnen sind, desto besser die
damit zu ästhetischen Bewegungen«, stellt Puttke fest. »Die
Koordination.
Genialität der St. Petersburger Schule, und insbesondere der
Denn, so behauptet der ehemalige Direktor der Staatlichen
Armbewegungen der russischen Schule, kommt daher, dass es
Ballettschule Berlin, »jedes Einzelteil hat ein Eigenleben, und
verboten war, Bewegungen mit einer individuellen Färbung zu
dessen Individualität muss man kennen, um es richtig und gut
versehen, es wurde zunächst die reine Funktionalität gelehrt.«
einsetzen zu können. Das gilt sowohl für Tänzer als auch für
Auch Isolation gehört zur Koordination, die Unabhängigkeit
Körperteile!« Absolut einleuchtend, aber: »Detaillierte Kenntnisse
der Einzelteile muss so geschult sein, dass auch diskontinuierüber Einzelteile reichen nicht, eine Kommunikation zwischen den
lich gearbeitet, also beispielsweise ein Legato der Arme gegen
Elementen ist zusätzlich notwendig.«
das Halten der Beine gesetzt werden kann. Im Zweifelsfall, rät
Das kleine Beispiel aus der täglichen Trainingspraxis an der
Puttke, die Arme hängen zu lassen, das habe mehr Tanz(-Gefühl) als schlecht zusammen geführte Bewegung. Und apropos
Gefühl: Der eigene Körperrhythmus ist ein anderer als jener der
Musik. Unter diesem Eindruck stehend, hatte einst die berühmte
Seit 30 Jahren in Nordrhein-Westfalen
russische Ballerina Galina Ulanowa behauptet, Prokovjews MuZwei Ballettschulen
sik zu »Romeo und Julia« sei nicht tanzbar. Der Rhythmus hatte
sie offenbar so sehr irritiert, dass sie das Metrum verlor. Dabei
mit je 100 qm Ballettsaal,
sollte man ohnehin das Metrum als Basis nehmen. Ein wichtiger
solidem Kundenstamm
methodischer Schritt, den man den Schülern in diesem Zusamund großem Kostümfunden aus
menhang nicht vorenthalten sollte, ist hier wiederum das Stehen
privaten Gründen zu verkaufen.
mit geschlossenen Augen im Raum, während die Musik erklingt
und die Bewegungen dazu nur in der Vorstellung getanzt werden. »So kriegt man Gehirnaktivität« – und welcher Pädagoge
Interessenten wenden sich unter Chiffre 01-5-2005
will das nicht bei seinen Schülern erreichen?
an den Deutschen Berufsverband für Tanzpädagogik
»Koordination im Tanz« ist der Bestseller unter Martin Puttkes
Hollestr. 1 – 45127 Essen
Seminaren, aber es ist nur eines unter vielen derart aufbereiteten
Themen, die der Ballettdirektor des aalto ballett theaters in Essen
für interessierte Tanzpädagogen bereit hält.
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Ballett Intern 5/2005
Der kleine Prinz
oder Wie Gregor Seyfferts Engagement
für den Tanz in Dessau Mut macht
Von Robert Benjamin Biskop
Wer kennt sie nicht, die Geschichte »Der kleine Prinz« des französischen Piloten und Autors Antoine de Saint-Exupéry? Jung und
Alt fasziniert dieses Buch bis heute. Nun wurde »Der kleine Prinz«
durch den Berliner Kammertänzer und Deutschen Tanzpreisträger
Gregor Seyffert am 29. September 2005 erstmals als multimediale Tanzinszenierung der Öffentlichkeit vorgestellt. Wer im Anhaltischen Theater Dessau die Aufführung erlebt, wird überwältigt von
der einzigartigen tänzerischen Reise durch die Unendlichkeit der
Phantasie. Im Bühnenhintergrund erstrahlt die Weite der Sterne und
der Wüsten durch Projektionen von Curuba Media Dessau in faszinierendem Licht.
Aus tanzpädagogischer Sicht liegt der besondere Reiz des Projektes darin, dass Gregor Seyffert und neun jetzige sowie ehemalige
Schüler der von ihm künstlerisch geleiteten Staatlichen Ballettschule
Berlin in diesem Stück gemeinsam tanzen. Während Seyffert den
Piloten verkörpert, übernimmt der 19-jährige Sascha Pieper die Titelrolle (siehe Ballett Intern 3/2004; erst 2004 absolvierte er seine Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule Berlin und wurde im
Anschluss direkt in die Gregor Seyffert Compagnie Dessau aufgenommen. Sascha Pieper betrachtet seine Schulzeit als eine harte,
aber notwendige Erfahrung. »In der Ballettschule lebt man in seiner
eigenen Welt, für viele Schüler ist es eine Phantasiewelt. Man hat
den Wunsch keine Schwäche zu zeigen.« Und hier sieht Pieper Gemeinsamkeiten zu dem aktuellen Stück: »Der kleine Prinz hat keine
Angst. Er nähert sich den Menschen und Dingen unvoreingenommen.« Sascha Pieper hat durch Tanzpädagogen wie Stefan Lux,
Tamar Ben Ami und Heike Keller in der Schule gelernt, »auf seinen
Körper zu hören, so dass man die Schritte vergisst und sich auf den
Körper verlassen kann.« Und genau so ist es bei dieser Inszenierung:
»Der kleine Prinz findet Bewegungen, die ihm entsprechen. Es ist ein
Stück, das Kindern und Erwachsenen Mut machen könnte, tanzen
zu lernen.«
Den Umstand, dass Gregor Seyffert zwölf Darsteller aus der privaten Tanzschule »Tanzforum Dessau« in die Inszenierung einbezog,
empfand Sascha Pieper als eine besondere Bereicherung: »Laien
tanzen, weil es ihnen Spaß macht, es ist für einen professionellen
Sascha Pieper (Kleiner Prinz) und Gregor Seyffert (Saint-Exupéry)
(Fotos: Claudia Heysel)
Ballett Intern 5/2005
Denise Churchward (Fuchs) und Sascha Pieper (Kleiner Prinz)
Tänzer wichtig, sich daran zu erinnern.« Die Bewegungsschule
»Tanzforum Dessau« existiert seit 1993, doch noch nie zuvor standen
deren Tänzer auf der Bühne des Anhaltischen Theaters Dessau. »In
einem Raum mit den Profitänzern zu stehen und neben all der Aufregung zu versuchen, den Anweisungen des Choreographen Gregor
Seyffert zu folgen, war nicht so ganz einfach. Natürlich war unsere
Auffassungsgabe am ersten Tag vorbildlich konfus«, berichtet Sara
Meyer, eine der Darstellerinnen des Tanzforums, vom Probenbeginn
im Juni 2005. Die Mitwirkung bedeutete auch für die Laientänzer
harte Arbeit. Oft konnten sie das Theater erst abends um elf Uhr
verlassen. Dennoch hat es »sich am Ende gelohnt.« Sara Meyer beschreibt den Moment ihres Auftrittes bei der Premiere: »Der Vorhang
öffnete sich erneut und nach einigen endlosen Minuten konnten wir
mit dem Podest als ›Menschen‹ nach oben fahren und kurz heimlich
in das bis auf den letzten Platz gefüllte Publikum blicken.« Nach der
Vorstellung war sie »völlig geschafft, aber glücklich.«
Doch nicht nur Sara Meyer und die elf weiteren Darsteller des
Tanzforums, auch eine ganze Klasse des Walter-Gropius Gymnasiums Dessau konnte in Form einer Premierenpatenschaft an der
Entwicklung des Stückes von den ersten Proben bis zur Premiere
partizipieren. »Wir staunten über den sich drehenden Planeten des
kleinen Prinzen«, erzählt Lisa Wolter aus der Klasse 7c. Das Mädchen schwärmt von der tänzerischen Leistung Sascha Piepers und
der Medieninstallation im Hintergrund, durch die »man sich dieses
Märchen noch viel besser vorstellen« konnte. Die Inszenierung habe
Einzelheiten verstehbar gemacht, welche die Kinder im Buch nicht
verstanden hätten und gleichzeitig neue Rätsel aufgegeben, welche
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die Klasse im Gespräch mit Sascha Pieper klären konnte. Besonders
gefiel den Kindern, wie die vielen gelben Sterne des Forschers aus
einem riesigen Schreibtisch sprangen, aber auch der rote Rosengarten und der König auf seinem großen Thron mit der lustigen Ratte.
Gregor Seyffert war schon als Kind von dem kleinen Prinzen fasziniert, aus dieser Zeit stammt der Traum, das Stück auf die Bühne
zu bringen. »Absolut spannend ist in jedem Fall, einen Text, noch
dazu einen derart populären, in eine Körpersprache zu übersetzen«,
meint Seyffert. »Das Stück gehört hierher, an dieses Haus, zu den
Menschen hier.« Dessau ist eine Stadt, die bessere Zeiten gesehen
hat und nun durch überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, den Verlust
wichtiger Industrien und der Abwanderung von mehr als 30.000
Einwohnern seit der Wende geprägt ist. In dieser Situation hat das
Theater einen hohen Stellenwert in der Stadt und der Neuanfang
der Gregor Seyffert Compagnie Dessau im September 2004 einen entsprechend großen Symbolcharakter. Kreative Wertschätzung
statt Stagnation und Abbau. Gregor Seyffert machte bereits damals
deutlich, dass er gemeinsam mit kulturellen Institutionen und Initiati-
»Niemand soll das
Scholz-Repertoire besser
tanzen können als wir«
Wie geht es in Leipzig weiter ohne Uwe Scholz?
Von Angela Reinhardt
Im Juni 2005, über ein halbes Jahr nach dem Tod von Uwe Scholz,
wurde der Kanadier Paul Chalmer zum
neuen Ballettdirektor in Leipzig berufen.
Die Suche nach einem Nachfolger des
allzu früh verstorbenen deutschen Choreographen und Tanzpreisträgers dauerte
lange, und mitunter wussten die Leipziger
Tänzer nicht einmal, ob es überhaupt
weitergeht mit ihrer Compagnie. Manche hatten bereits anderswo Verträge
unterschrieben und blieben dann doch
da. Noch zu Lebzeiten von Scholz war
seine Compagnie von einstmals 60 auf
40 Tänzer geschrumpft, und mit dieser
für manche großen Scholz-Ballette gar
nicht mehr ausreichenden Zahl macht
Paul Chalmer jetzt weiter. Nach dem
Willen des Leipziger Opernintendanten
Henri Maier sollte der neue Ballettchef
gezielt kein Choreograph sein, um durch eigene Ambitionen nicht
in Konflikt mit der Bewahrung des Scholz-Erbes zu geraten. Unter den zahlreichen Namen, die gehandelt wurden (u.a. waren
Oliver Matz und Richard Cragun im Gespräch) ist Chalmer sicher
einer der weniger bekannten.
Der heute 43-Jährige aus Ottawa ist der dritte kanadische Ballettdirektor in Deutschland nach Reid Anderson in Stuttgart und Aaron Watkin, dem designierten Ballettchef in Dresden (wo mit Jason
Beechey auch noch der zukünftige Direktor der Palucca-Schule aus
Kanada stammt). Chalmer bringt zwar eine langjährige Erfahrung
als Ballettmeister mit, aber er war noch nie Ballettdirektor. Als Tänzer führte er ein recht unstetes Leben, er war nie lange bei einer
Compagnie, sondern gastierte rund um den Globus vor allem als
18
ven internationale Partner und genreübergreifende Projekte nach
Dessau holen möchte. »Am Theater zeigt sich: schlägt das Herz einer Stadt oder schlägt es nicht«, resümiert Thomas Guggi als Manager der Compagnie. Tanz hat hier auch den pädagogischen
Auftrag, jungen Menschen eine Perspektive zu zeigen. Und nach
der Premiere erhielt Guggi Anfragen von Jugendlichen, die tanzen
lernen wollten.
Statt der Flucht aus der tristen Wirklichkeit eine wirkungsvolle
Veränderung der Wirklichkeit, und dies möglicherweise ganz im
Sinne Saint-Exupérys. Was kann man vom kleinen Prinzen lernen?
»Das man ein Stück Kind in sich behalten sollte«, sagt Sascha
Pieper. Tanzen sei die Chance, in eine neue Welt einzutauchen,
Gefühlen freien Lauf zu lassen und eine farbigere Wirklichkeit zu
erschaffen. »Vielleicht kann man es in einer tristen und von Arbeitslosigkeit gekennzeichneten Welt nur dadurch aushalten, dass man
tanzt?« ■
Weitere Vorstellungen im Anhaltischen Theater Dessau am 23.
Dez. 2005, 29. Januar, 25. März, 7. April, 6. Mai und 24. Juni
zuverlässiger Partner bekannter Ballerinen. Für eine Spielzeit hatte
ihn Uwe Scholz im Jahr 2000 als Ballettmeister nach Leipzig geholt, danach arbeitete Chalmer in Italien, wo er zum Beispiel ein
erfolgreiches klassisches »Dornröschen« in Rom inszenierte und für
kleinere Compagnien choreographierte. Ob er wirklich der große
Scholz-Tänzer war, sei dahingestellt – in seiner Zeit beim Stuttgarter
Ballett tanzte Chalmer bei gerade mal zwei der zahlreichen ScholzUraufführungen im Ensemble mit, später kreierte Scholz in Monte
Carlo noch sein Mozart-Ballett »Jeunehomme« für ihn.
Die Premieren der aktuellen Saison waren bereits beschlossen,
als Chalmer seinen Posten antrat,
man wird also erst in den nächsten
Spielzeiten erkennen, wohin das Leipziger Ballett steuert. Chalmer, der sich
»als Restaurator und Beleber« sieht,
setzt auf die bei fast allen deutschen
Opernballettcompagnien bewährte
Mischung aus Altem und Neuem. Er
teilt es in Drittel auf: ein Drittel Scholz,
ein Drittel bewährte Neoklassik von
Cranko bis Balanchine, ein Drittel
neue Choreographien. Weil Henri
Maier in der Oper gute Erfahrungen
mit Kooperationen gemacht hat, soll
es in Zukunft auch beim Ballett Koproduktionen geben – ob es sich dabei
nur um eine ausgeliehene Ausstattung
oder um wirklich neu erarbeitete Produktionen handelt, wird die Zeit zeigen.
Sicher scheint jedoch mit der Berufung von Chalmer, dass das
Leipziger Erbe von Uwe Scholz bewahrt und respektiert werden
wird. »Niemand soll das Scholz-Repertoire besser tanzen können als
wir«, sagt Chalmer, deshalb will er auch ehemalige Scholz-Tänzer
zum Einstudieren und Coachen zurück nach Leipzig holen. Er spricht
davon, frühere Scholz-Werke aus Stuttgarter Zeiten in Leipzig erstaufzuführen. Mit den neoklassischen Choreographien seines Vorgängers erhofft sich Chalmer auch Erfolg auf Tourneen mit seiner Truppe.
Nach dem Tod von Uwe Scholz kann das Leipziger Ballett über die
Choreographien verfügen, die Scholz hier kreiert hat; für andere
Compagnien und für die restlichen, nicht in Leipzig entstandenen
Werke liegen die Rechte bei der Mutter des Choreographen. ■
Ballett Intern 5/2005
Wahlverwandte
Gesamtkunstwerke
15. Festival euro-scene in Leipzig
Von Volkmar Draeger
Ab 2006 wolle sie wieder verstärkt junge, innovative, unbekannte
Gruppen zur euro-scene nach Leipzig einladen, sagt Festivaldirektorin Ann-Elisabeth Wolff. Fast klingt das wie eine Entschuldigung
für das opulente Aufgebot illustrer Namen bei der diesjährigen
Jubiläumsausgabe des »Festivals zeitgenössischen europäischen
Theaters«, so sein Untertitel. Doch sich über 15 Jahre halten zu können, allen Umbrüchen, Trendwechseln und Sparattacken zum Trotz,
15 kontinuierliche Jahre lang auf geographisch zunächst unbereitetem Terrain Neues zu popularisieren, der Avantgarde ein Podium
zu bieten, ist nicht nur Grund
zum Feiern, sondern auch Anlass für einen Rückblick. Die
Anfänge der euro-scene, erzählt
Wolff, liegen in einem anderen,
früheren Festival.
Alle zwei Jahre veranstaltete
zu DDR-Zeiten der Theaterverband die Leipziger Schauspielwerkstatt. Sie widmete sich der zeitgenössischen sozialistischen Dramatik
und präsentierte auch kritisch aufrührerische Stücke, die beim Leipziger Publikum reges Interesse weckten. Nach dem Ende der DDR
beschloss Matthias Renner, seitens des Theaterverbands einst verantwortlich für jene Werkstatt, ein ähnliches und doch neues Festival
einzurichten: unter europäischer Flagge und spartenübergreifend.
Das Programm der ersten euro-scene an bescheidenen vier Novembertagen, mit 17 Vorstellungen von zehn Produktionen in fünf Spielstätten, konzipierten Renner und die Leipziger Tanzjournalistin Wolff
als Mitarbeiterin schon gemeinsam. Namen wie Tanzfabrik Berlin,
Irina Pauls, Jo Fabian sowie Gastspiele aus Budapest, Petersburg,
Lublin, Marseille und Zürich sorgten für eine Auslastung von beinahe
93 Prozent. »Unsere Hoffnungen von damals haben sich rundum
erfüllt«, resümiert Wolff. Der große Nachholbedarf der Zuschauer
nach europäischer Avantgarde sei zwar inzwischen gestillt, geblieben sei ihre Neugier, nun gepaart mit Sachkenntnis. Geblieben
auch das Konzept, experimentelle Produktionen einzuladen, ob neu
oder bereits älter, ob Theater oder Tanz. Der Schwerpunkt lag, und
das unterscheidet die euro-scene von ähnlichen Festivals, seit Anbeginn auf den Ländern Osteuropas. Deren kulturelle Vielfalt galt es zu
entdecken, ihren Gruppen das Tor nach Europa zu öffnen.
Flächendeckend, sagt Wolff, habe sie inzwischen Europa
nach präsentablen Produktionen abgegrast, hole besonders gern,
was Eigenheiten eines Landes spiegele. So wie im letzten Jahr
die Beiträge aus Zypern, wenngleich die Choreographien dem
internationalen Vergleich längst nicht standhielten. Das ästhetisch
Ungewohnte, das Befremdliche, Diskussionswürdige, nach unverstelltem Blick Verlangende ist es, was die Festivaldirektorin vorzustellen reizt. Als häufigste Gäste nennt sie Jo Fabian, Alain Platel,
Angelin Preljocaj und den litauischen Regisseur Oskaras Korsunovas, die Socìetas Raffaello Sanzio aus Cesena, das Teatr Dada
von Bzdülöw aus Gdansk, die Theatertruppe Victoria aus Gent.
Was das Publikum am meisten überrascht habe? Krzysztof Warlikowskis verstörende Sarah-Kane-Inszenierung »Gesäubert« aus
Wroclaw im Vorjahr, Romeo Castelluccis fremdes Theaterkonzept,
beim jüngsten Festival Preljocajs Kriegsstück »N«. Rodrigo Garcías Präsentation von Nacktheit in »Jardinería Humana«, »einem
Ballett Intern 5/2005
auf allen Festivals herumgereichten Stück, die Sensation in Avignon«, so Wolff, lief in Leipzig eher lau. Manches, philosophiert
sie, wirke eben nur an seinem Entstehungsort, in einem speziellen
Raum, einem lokalen Kontext, einer Verschworenheit zwischen
Künstler und Zuschauer. Dennoch lassen sich die Leipziger gern
überraschen und sitzen auch Ungewohntes bis zum Schluss durch,
lobt Wolff. Gefälliges werde eher kritisiert. Auf Begeisterung seien
stets die flämische Ästhetik gestoßen, allgemein Stücke mit menschlichem, sozialkritischem Engagement, Ernsthaftigkeit des Wollen,
Zeitbezug, dem Bemühen um eine eigene Handschrift. Blutvolles
Theater laufe Abstraktem, Formalem allemal den Rang ab. Darin
mag dann wohl doch die DDR-Vergangenheit nachwirken. Insgesamt hat die euro-scene bis heute rund 180 Compagnien mit 202
Produktionen in 357 Vorstellungen gezeigt, bei einer Auslastung
von rund 91 Prozent. Festivalbegründer Renner hätte das gefreut.
Als er 1993 plötzlich starb, drei Wochen vor der dritten Festivalausgabe, durchlebte Ann-Elisabeth Wolff ihre bittersten Momente und die Angst, dem Anspruch
eines solchen Unternehmens nicht
gewachsen zu sein.
Besonderer Beliebtheit erfreut sich
der 1997 von Alain Platel initiierte
Wettbewerb um »Das beste deutsche
Tanzsolo«, zu später Stunde auf dem
schon legendären großen runden Tisch im Foyer des Schauspielhauses ausgetragen. Den Karrieren etwa von Friederike Plafki oder
Maren Strack hat ihr Preisgewinn durchaus einen Schub verliehen.
Gut 750 Bewerber kamen bisher in die Vorauswahl, etwa 175 wurden zugelassen. In diesem Jahr schafften 24 von 148 den Sprung
auf den Tanztisch.
Zu den ganz großen gehöre »ihr« Festival nicht, räumt Wolff ein:
»Konzeption und Finanzen würden das nicht hergeben, und auch
zu Leipzig würde das nicht passen.« Auf sechs konzentrierte Tage
und 14 Produktionen mit 25 Vorstellungen habe es sich, wie auch
im Jubiläumsjahr, zu Recht eingepegelt. Zukunftssorgen? Bis 2006
besteht noch der dreijährige Fördervertrag mit BMW, offener Punkt
sei indes der Zuschuss vom Bund. »Wahnsinns viele Partner« teilen
sich die Mischfinanzierung des Festivals mit seinem Gesamtetat von
630.000 Euro, alles Geld muss jeweils aufgebraucht werden, ins
nächste Festival kann nichts hinübergenommen werden: Jedes Jahr
beginne der Kampf von vorn, besonders in der Ära nach BMW und
wenn Leipzigs Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee, demnächst
Mitglied der neuen Bundesregierung, seine schützende Hand nicht
mehr über die euro-scene halten kann. Das Festival um jeden Preis
zu revolutionieren, lehnt sie ab, und der Sturm auf die jüngste Ausgabe bestätigt sie darin. »Wahlverwandtschaften«, mannigfach
deutbar, war sie überschrieben und vereinte Compagnien sowie
Solisten aus Ländern von Bulgarien bis Zypern.
Als wahlverwandt könnten etwa der in Wuppertal ansässige
Brasilianer Rodolpho Leoni und der in Belgien lebende Italiener
Emio Greco gelten: Beide, international erfolgreich und dennoch
verschieden, arbeiten daran, die Grenzen der körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten im Tanz hinauszuschieben. Vor drei hohen
Holzparavents jagt Leoni zu einer Jazzcollage seine exzellenten
Interpreten wie Energiegeschosse durch die Weite des Raums, lässt
sie um Balance ringen, sich in riskante Anflugkontakte verstricken.
Traumwandlerisch sicher steuern sie die Schleuderimpulse ihrer
Gliedmaßen, isolieren einzelne Bewegungen. Wie erfinderisch Leonis Raum-Zeit-Recherche ausfällt, wie souverän er Ruhemomente
setzt, wie genau er die unterschiedlichen Bewegungsqualitäten seiner Tänzer zu nutzen weiß, vom virtuosen Solo bis zur reptilhaft
skurrilen Miniatur, lässt den Zusehgenuss nie abreißen. In »speak«
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sprechen Körper: explosiv und zärtlich, mit ansteckendem Spaß und
ungewohnt musikalisch.
Auf ein atmosphärisches Gesamtkunstwerk aus Bewegung,
Klanggewebe und Licht zielt Grecos »Conjunto di NERO«, was
»Zusammengehen von Schwarz« bedeutet. Seine vier vorzüglichen
Tänzer und sich selbst wirft er hinein in den Kampf zwischen Hell
und Dunkel, wie eine minutiöse Beleuchtungsregie ihn durch immer
neue Lichträume anheizt. Spots zaubern Dreiecke, in die dunkle
Zacken hineinstechen, zeichnen Rechtecke mit lichttoten Kreisen auf
den Boden. Kaum fühlen sich die Menschen heimisch, vertreibt Dunkel sie in ein neues Paradies, hetzt sie über Lichtdiagonalen. Die
im Dunkeln doppeln wie Spiegelbilder die im Hellen, Berührungen
sind selten. Angst und Bedrohung assoziiert auch das wahnwitzige
Tempo einer klassischen und modernen Tanz verschweißenden Be-
wegungssprache. In einem blauen Nebelkäfig überlebt nur Greco
die 70 Minuten währende Intensivattacke.
Zu den Namhaften zählen gleichsam der Franzose Angelin
Preljocaj, der das Festival mit der sanften »Annonciation« und dem
erwähnten gewalttätigen »N« eröffnete, sowie der Brite Nigel
Charnock, dessen Solo »fever« um Shakespeare-Sonette kreist. Jo
Fabians brillant hintersinnige »Idioten« gehörten zu den deutschen
Beiträgen, die Theatertruppe Victoria aus Gent setzte der Mannfrau
Charlotte von Mahlsdorf ein Denkmal, das junge Dance Theatre Incluse aus Kaliningrad thematisierte »Deportation«. Grotesk Kitt Johnsons Menschwerdungs-Solo »Rankefod« aus Kopenhagen, dröge
ein Tanzstück nach Gombrowicz aus Gdansk, bezaubernd nicht nur
für Kinder die Geschichte vom »Kleinen Däumling« als live erzeugtes
Hörbuch der Socìetas Raffaello Sanzio.
■
Ein außergewöhnliches »Jubiläum« …
166 : 32 = 5,18
John Neumeiers vielleicht
vielfältigste Ballett-Werkstatt
Von Dagmar Fischer
166 Ballett-Werkstätten in 32 Spielzeiten (die 33. hat im Herbst
2005 erst begonnen), macht durchschnittlich fünf Matineen pro Saison in der Hamburgischen Staatsoper, in denen sich John Neumeier
über die Schulter in die Arbeit schauen lässt. Von Anfang an, also
seit 1973, gehört die Ballett-Werkstatt am Sonntag Morgen zum
»Repertoire« des Hamburg Ballett, und seit vielen Jahren sind die
Vorstellungen regelmäßig ausverkauft. Deshalb soll an dieser Stelle
einmal nicht eine runde, sondern die erstaunlich hohe Zahl gewürdigt werden.
Die 166. Ballett-Werkstatt stand – auch das hat eine schöne Regelmäßigkeit – unter dem Motto »Debüt: Tänzer in neuen Rollen«.
Passend zur, na ja, sehr frühen Vorweihnachtszeit, dürfen die Tänzer
des Hamburg Ballett ihre Wünsche bei John Neumeier einreichen,
welche Rolle, welchen Part sie gerne einstudieren und zeigen würden. Die Erfüllung der gesamten Wunschliste könnte mehrere Abende
füllen, also muss der Ballettintendant auswählen, und dann ist es wirklich wie zu Weihnachten: nicht alle Wünsche
gehen in Erfüllung.
Für alle Beteiligten bedeutet das Unterfangen ein Mehr an Arbeit, denn die Tänzer hängen zusätzliche Probenzeit an ihren ohnehin
schon langen Tag; die erfahrenen Tänzer stellen ihr Wissen zur Verfügung, um die Stücke
mit den jüngeren Tänzern einstudieren; die
Pianisten investieren Zeit in eventuell unbekanntere Werke; und schließlich muss immer
ein freier Raum für Proben im Ballettzentrum
gefunden werden. Doch das Ergebnis gibt
John Neumeiers Idee recht: Eine solche Bandbreite an stilistischen und technischen Herausforderungen ist ansonsten selten innerhalb von
gut zwei Stunden auf einer Bühne zu sehen.
Das liegt natürlich vor allem an der enormen
Vielfalt im Werk des Chefchoreographen, das
einen Bogen spannt von den Musical nahen
»Bernstein-Dances« bis zur Tiefe und Ernsthaftigkeit der »Fünften Symphonie von Gustav
Mahler«, aber auch zwischen dem konge­nial
20
in eine Choreographie verwandelten Theaterstück »Die Möwe«
nach Anton Tschechov und dem religiös inspirierten »Magnificat« zu
Musik von Johann Sebastian Bach.
Und so bekommt anlässlich dieser 166. Ballett-Werkstatt der
Debütanten zum Beispiel »Der Nußknacker« mit dem Hamburger
Neuzugang Florencia Chinellato eine ganz neue »Marie«, während dem erprobten »Romeo« Thiago Bordin die junge »Julia« Lisa
Todd an die Seite gestellt wird. Hier, wie auch im Beispiel aus
dem »Sommernachtstraum«, fungieren die erfahrenen Tänzer als
»Hilfsperson«, so Neumeier in seiner Moderation, das heißt, die
temperamentvolle Georgina Broadhurst, jüngst zur Solistin ernannt,
darf sich als »Helena« versuchsweise auf den standhaften »Deme­
trius« Arsen Megrabian stürzen – und überzeugte als sympathische,
anhängliche Brillenschlange! Das Spektrum reichte ansonsten vom
Solo der »Gamsatti« aus Petipas/Makarovas »La Bayadère«, von
Compagnie-Tänzerin Stephanie Minler gut bewältigt, bis zum barfüßig getanzten finalen Solo der »Auserwählten« zu Strawinskys,
in diesem Fall Neumeiers »Le Sacre«, in dem sich Anja Behrend
beeindruckend verausgabte; und von der »Matthäus-Passion«, aus
der sich Antonin Comestaz bemerkenswerter Weise die »Geduld«
wählte, bis hin zu einem Ausschnitt aus »Opus 100 for Maurice«,
von John Neumeier zu Musik von Simon & Garfunkel anlässlich des
70. Geburtstags des Freundes Béjart kreiert – über diesen Wunsch
der (Ersten) Solisten Peter Dingle und Yohan
Stegli war der Ballettintendant offenkundig
überrascht. Mehrfach betonte John Neumeier
in dieser Werkstatt, dass er über die formulierten Wünsche auf den Zetteln nicht selten
staune, »es ist interessant zu sehen, in welche
Richtung ein Tänzer geht, wenn er selbst wählen darf.«
Sogar für die Choreographie eines Tänzers war Raum: Yaroslav Ivanenko schuf für
das norddeutsche Festival »Musiktage Hitzacker« im Sommer 2005 einen Pas de Quatre
zu Musik von Sibelius, das »Adagio« aus dem
4. Streichquartett in d-Moll verriet gute, wenn
auch vorsichtig formulierte eigene Ansätze.
Selbst wenn man die 166 Werkstätten der
32 Spielzeiten mit den zusätzlichen Arbeitsstunden der Beteiligten multipliziert, die Rechnung geht in jeden Fall auf.
■
Peter Dingle, Yohan Stegli in
„Opus 100 for Maurice“ (Foto: Holger Badekow)
Ballett Intern 5/2005
Bozen
Das Geheimnis
des Erfolges
Tanz in Bozen – Bolzano Danza im 21. Jahr
Von Ira Werbowsky
So viele Tanzbegeisterte können nicht irren – das renommierte und
seit Jahren mit jeweils etwa 700 Teilnehmern bestens ausgelastete
Tanzseminar erfreut sich stetig großer Beliebtheit. Wie kommt es,
dass der Zuspruch zum Kursfestival in der Südtiroler Stadt ungebrochen ist? Man nehme hochkarätige Dozenten und ebensolche
Musiker und würze die bewährte Workshop-Mischung mit trendgerechten Innovationen. Mit diesem erfolgreichen Konzept läuft Tanz
in Bozen – Bolzano Danza nun seit mehr als 20 Jahren. Alessandra
Pasquali, in Bozen heimische Ballett-Tänzerin, wuchs mit den alljährlichen Sommertanzkursen auf. Ihr damaliger Lehrer Frank Freeman ermutigte sie, den Schritt zur professionellen Ballettausbildung
in London zu wagen. In den Sommermonaten kam sie regelmäßig
nach Hause, um zusätzlich am Ballett-Sommer Bozen teilzunehmen.
Auch als sie bereits an die Staatsoper in Wien engagiert war, hielt
sie den Dozenten in Bozen die Treue. Inzwischen ist sie Solistin
beim Staatsballett Berlin.
Veranstaltet vom Südtiroler Kulturinstitut stand also vom 15.
bis zum 30. Juli wieder alles im Zeichen des Tanzes. Das Team,
bestehend aus der künstlerischen Leitung Ulrich Roehm und Edith
Wolf Perez (die erstmals als Co-Direktorin fungierte) sowie der
Verwaltungsdirektorin Dr. Sigrid Hafner, brachte neben den allseits
bekannten auch interessante neue Tanzstilrichtungen und Pädagogen nach Bozen, die bei einer Eröffnungsfeier im Haus der Kultur
»Waltherhaus« den Teilnehmern vorgestellt wurden.
Nancy Lushington hatte im Vorjahr einige Trainingseinheiten
zur Probe gegeben und wurde so begeistert angenommen, dass
die Amerikanerin in diesem Jahr für zwei Wochen mit Kursen für
Klassisches Ballett und Modernen Tanz (May O´Donnell Technique)
verpflichtet wurde. Diese Kombination klingt ungewöhnlich, aber
bedingt durch ihre umfassende Ausbildung und jahrelange persönliche Erfahrung sowohl als Tänzerin wie als Pädagogin ist dieser
Spagat zweier Tanzwelten nicht weiter verwunderlich. Anders als
Nancy Lushington – neu in Bozen
Ballett Intern 5/2005
2005
es damals die Pioniere des Modern Dance sahen, basiert doch
vieles auf dem Klassischen Ballett. Während sich hier das Gefühl
für Linie, Form und Musikalität am besten entwickeln lässt, zählt im
Modernen Tanz der Gegensatz von An- und Entspannung zu den
zentralen Themen.
Der Italiener Giorgio Madia hat 2005 erstmals das kompetente
Team für Klassisches Ballett um Gillian Anthony und Elaine Holland verstärkt. Der Tänzer, Ballettmeister und Choreograph war in
den beiden vergangenen Jahren Ballettdirektor an der Volksoper
in Wien.
Körperliche Bewegungserfahrungen ganz anderer Art konnte
man bei Vicente Sáez machen. Nachdem er zuletzt 2003 mit
dem Frauensolo »Ruah« bei Bolzano Danza gastiert hatte, war
er nun erstmalig als Dozent für Zeitgenössischen Tanz geladen.
Ausgehend von der Atmung entwickelt der Spanier seinen eigenständigen Bewegungsstil, in dem er emotionale und sinnliche Erfahrungen umsetzt. Neben seinem Technik-Unterricht gab es auch die
Möglichkeit, in Choreographie/Komposition das eigene kreative
Improvisations-Talent zu erproben.
Überraschend viele Interessenten fanden sich in den Hula-Stunden bei Kaleiula Kanaeo ein. Die Hawaiianerin stellte bei ihrem
Dozenten-Debut in Bozen den Tanz ihrer Heimat in zwei Ausformungen vor: Unter Hula-Kahiko versteht man den traditionellen hawaiianischen Tanz, der nur von Gesang und einem Musiker mit
Kürbistrommel bzw. Trommel aus Kokospalmenholz und Haifischhaut-Bespannung begleitet wird. Im Gegensatz dazu ist bei Hula
Auwana als dem »modernen« hawaiianischen Tanz Orchesterbegleitung erlaubt. Das Basisschrittmaterial ist in beiden Stilrichtungen
zunächst identisch. Erst nach einer Einführungsphase werden die
jeweils charakteristischen Unterschiede erarbeitet. Zu den wiegenden Schritten aus der Hüfte – den Wellen des Ozeans gleich
– werden die typischen Arm- und Handbewegungen gefügt, bis
Die Hawaiianerin Kaleiula Kanaeo gab in diesem Jahr in Bozen ihr Debut
als Dozentin
21
inklusive der Kopfhaltung die erzählende Tanzform komplett ist und
so eine Geschichte des hawaiianischen Volkes dargestellt wird. Auf
Hawaii werden diese traditionellen Tänze in speziellen Tanzschulen gelehrt. In der Zeit vor Kapitän Cook gab es keine schriftlichen
Überlieferungen der Tänze – es war daher nur bestimmten Familien erlaubt, diese Tänze auszuüben oder weiterzugeben. Auch
Kaleiula Kanaeo stammt aus einer solchen Familie. Sie wuchs
Brigitta Luisa Merki
zwar aufgrund der damaligen politischen Situation in einer sehr
amerikanisierten Umwelt auf, aber in den letzten Jahren hat sich
das Bewusstsein der eigenständigen Kultur wieder durchgesetzt,
und zwei ihrer vier Kinder besuchen Schulen, in denen in hawaiianischer Sprache unterrichtet wird. Sie selbst unterrichtet bereits
seit vielen Jahren diese exotische Tanzrichtung, ist aber eine der
wenigen Auserwählten, die auch weiterhin Unterricht nehmen darf,
da der Reichtum an Schrittmaterial unerschöpflich ist. Im Sinne von
lebenslangem Lernen ist sie sich dieser Auszeichnung bewusst und
gibt sozusagen als Botschafterin des Tanzes die Tradition ihrer Heimat gerne an Interessierte weiter. Mit ihrer eigenen Schule gastiert
sie unter anderem in Japan und Tahiti; Soloperformances führten sie
zuletzt nach Hamburg und Bayern.
Chesse Rijst setzt neue Akzente in seinen Jazz- und Musicalstunden. Der Tänzer und Choreograph indonesischer Abstammung
arbeitet hauptberuflich in Amsterdam an der Hochschule für Kunst,
an der Akademie des Holländischen Nationalballetts und in der
Pädagogikausbildung für Jazz Theater Tanz. Als ursprünglich klassisch ausgebildeter Tänzer verbindet er in seinen Jazzstunden die
Kraft des Körpers mit der Freiheit der Bewegung und formt daraus
einen sehr dynamischen Bewegungsstil. Erstmals in Bozen, war er
mit seinen Studenten sehr zufrieden: »Sie arbeiten mit viel Begeis22
terung.« Sein sensibles
Einfühlungsvermögen im
Unterricht hilft Anfängern
über Einstiegsprobleme
hinweg und ermöglicht
es den Fortgeschrittenen
an der Ausdruckskraft zu
arbeiten: Für ihn ist Tanz
eine Form von Kommunikation. In seiner MusicalKlasse studierte er zwei
eigene Choreographien
zu Musik aus »Tommy«
ein. Hier ist es ihm zusätzlich zum Beherrschen
der Schritte wichtig, dass
Bühnenpräsenz entwickelt
wird.
Bob Curtis – er wurde im September 2005
unglaubliche 80 Jahre Elaine Holland
(!) – wurde in diesem
Jahr auch als Maler präsentiert. Mit der Ausstellung »Pictures to live with« im Foyer des
Studiotheaters zeigte er eine noch weiten Kreisen unbekannte Facette seines künstlerischen Schaffens. In den hier gezeigten Bildern
dominiert die abstrakte Form. Obwohl die Malerei zuerst kam und
danach der Tanz, begleiteten ihn beide Kunstrichtungen durchs Leben. Seinen Tanzstil und seine Unterrichtstätigkeit zu beschreiben
ist unnötig – sein Afro Contemporary zählt immer zu den absoluten
Highlights.
Ebenso geschätzt ist Brigitta Luisa Merki. Ihre Flamenco-Stunden, in der eine Einheit aus Technik, Rhythmus und Körpergefühl
geschaffen wird, sind legendär. Mit Fernando Alfaro war auch ein
Tänzer aus ihrer Compagnia Flamencos en route zum ersten Mal
unter den Pädagogen.
Immer am tänzerischen Puls der Zeit befindet sich Andy Lemond
mit seinen Funky-Jazz- und HipHop-Kursen. Nahezu ohne Pause seit
Beginn dabei ist Dick O´Swanborn, der ebenfalls Musical unterrichtete. Das weitere Kursangebot umfasste Feldenkrais mit Susanne
Noodt, Afro Brasil bzw. Samba do Brasil bei Ivan Vasconcellos,
und Jazz von Claud Paul Henry.
Das Besondere an Bozen sind nicht zuletzt die Musiker, die
durch ihre Live-Begleitung den Workshops zusätzlich virtuose Lebendigkeit geben: Beatriz Parody, James Schar und Peter Jones fungieren als Pianisten mit Konzertreife im Klassischen und Modernen
Tanz. Armand Amar begleitet als Meister des Synthesizers sowohl
Bob Curtis als auch Anne Marie Porras mit ihrem unvergleichlichen,
von sehr persönlicher Note geprägten Jazztanz. Juan Gomes ist als
feuriger Gitarrist aus den Flamenco-Stunden bei Brigitta Luisa Merki
nicht wegzudenken; Pablo Garcia Palomo, ebenfalls Neuling in Bozen, begleitete Alfaro. Ungewöhnlich Keiko Ookas Begleitung: Die
Japanerin ist für Flamenco-Gesang zuständig. Und Gilson de Assis’
Percussion unterstützt Ivan Vasconcellos Unterricht in idealer Weise.
Zum allgemeinen Vergnügen wurde am Walther-Platz ein Gesellschaftstanzabend und ein Samba-Abend organisiert, die sich
beide ebenfalls reger Beteiligung erfreuten.
Die gekonnte Synthese aus Bekanntem und Novitäten hat seinen
besonderen Reiz in Bozen. Wie heißt es bei Franz Grillparzer?
»Werde, was du noch nicht bist, bleibe was du jetzt schon bist;
in diesem Bleiben und diesem Werden liegt alles Schöne hier auf
Erden.«
■
Ballett Intern 5/2005
Das Stuttgarter Ballett
erhält den
John-Cranko-Preis 2005
Von Angela Reinhardt
Im Anschluss an eine Vorstellung von John Crankos »Der Widerspenstigen Zähmung« hat das Stuttgarter Ballett am 15. Oktober
den John-Cranko-Preis 2005 erhalten. Verliehen wird die nicht
dotierte Auszeichnung seit 1975 von der John-Cranko-Gesellschaft, einer der beiden traditionsreichen Publikumsorganisa­
tionen von Ballettfreunden in Stuttgart neben der etwas älteren
Noverre-Gesellschaft. Die John-Cranko-Gesellschaft gibt seit vielen Jahren auch das Stuttgarter Ballett-Annual heraus.
Zu den bisherigen Preisträgern gehören u.a. Marcia Haydée,
Jürgen Rose, Georgette Tsinguirides, Fritz Höver, Reid Anderson,
Horst Koegler und viele ehemalige Solisten der Compagnie.
Zum 30-jährigen Jubiläum des eingetragenen Vereins wurde der
Preis nun keiner Einzelperson, sondern dem gesamten Stuttgarter
Ballett als Institution überreicht. Was zunächst wie eine Verlegenheitslösung wirken mochte, wurde seitens der John-CrankoGesellschaft durch Rolf Pfander und Monika Mayer plausibel begründet: »Mit dem Stuttgarter Ballett zeichnen wir die Mitglieder
einer Ballettcompagnie aus, die gemeinsam und durch ihren
persönlichen Einsatz das Werk John Crankos lebendig halten,
in die Welt hinaustragen und auch für die nachfolgenden Generationen bewahren.« Sie widmeten den Preis allen aktuellen
und ehemaligen Tänzern der Compagnie (von denen einige
extra angereist waren) sowie den drei Ballettchefs nach Cran-
Angela Reinhardt
Der passende Spitzenschuh
Tipps und Tricks für Kauf,
Pflege und Tuning
112 S., 280 farb. Abb.,
Festeinband, 16,90 EURO
V.l.n.r.: Monika Mayer und Rolf Pfander von der John-Cranko-Gesellschaft,
Choreograph Christian Spuck, der Erste Solist Filip Barankiewicz, Ballett­
intendant Reid Anderson, die Ersten Solisten Sue Jin Kang, Mikhail Kaniskin, Elena Tentschikowa, die Solisten Diana Martinez Morales, Alexander
Zaitsev, Eric Gauthier und Choreologin Georgette Tsinguirides (Petr-Bild)
ko: Glen Tetley, Marcia Haydée und Reid Anderson. Letzterer
nahm Medaille und Urkunde entgegen und dankte seinerseits
der Stadt Stuttgart und dem Land Baden-Württemberg. Und er
dankte vor allem John Cranko: »Das ist immer noch seine Compagnie. Wir machen nur die Verwaltung hier.« Gefeiert wurde
mit einer rauschenden Party, zu der die John-Cranko-Gesellschaft
die gesamte Compagnie eingeladen hatte. ■
Angela Reinhardt erhielt ihre Ausbildung an der Staatlichen Ballettschule in Berlin und wurde 1983 von Tom Schilling an das
Tanztheater der Komischen Oper engagiert, wo sie bald zur
Ersten Solistin des Ensembles avancierte. Sie erhielt etliche na­
tionale und internationale Preise, u.a. einen 1. Preis beim Prix de
Lausanne. Neben ihrer Gastspieltätigkeit gibt Angela Reinhardt
Kurse zur Perfektionierung von Spitzenschuhen und zur Spitzentanz-Technik. – www.spitzenschuh-tipps.de.
Ohne einen perfekten passenden Spitzenschuh kann
keine Tänzerin die grazilen
Posen des Spitzentanzes ausführen. Damit er sich perfekt
an den Fuß anpasst und nicht
nur eine Woche hält, muss
jede Tänzerin viel Arbeit investieren. Angela Reinhardt
hat nun zum ersten Mal sämtliche Tipps und Tricks zum
Spitzenschuh zusammengefasst. Alle Teile des Schuhs
unterzieht sie einer intensiven Behandlung. Mit Nadel
und Faden, Messer und Schere, heißem Dampf und
Gummibändern optimiert sie die Schuhe, bis sie wirklich 100-prozentig sitzen. Und in einem Anhang zur
Fuß-Fitness gibt sie weitere Tipps, damit das Tanzen auf
der Spitze zum »göttlichen Vergnügen« wird.
Ballett Intern 5/2005
23
Zur Erinnerung an
Erika Klütz (1908–2005)
Von Gerlinde Supplitt
Sie hat ein langes, künstlerisch
und pädagogisch facettenreiches
und überaus fruchtbares Leben
gelebt: Erika Klütz, Tänzerin, Ballettmeisterin und Pädagogin. Die
aus Posen stammende Erika Klütz
erhielt ihre Ausbildung in Klassischem Tanz am Staatstheater
Berlin ab 1921, ihre Bühnenlaufbahn begann an den Theatern
von Schwerin und Rostock.
Früh wandte sie sich dem Modernen Tanz zu, in dessen aus natürlichen Bewegungsmöglichkeiten entwickelter Tanzsprache sie die Ausdrucksmöglichkeiten
für das Lebensgefühl der Zeit sah. Sie studierte an den Mary
Wigman Schulen in Berlin und Dresden, legte dort das Examen
als Tanz- und Gymnastikpädagogin ab, wurde Lehrerin und Assistentin am Wigman Zentral­institut in Dresden und war von 1934
bis 1936 Mitglied der Mary Wigman Tanzgruppe. Diese Jahre
der intensiven Zusammenarbeit mit Mary Wigman wurden für ihr
weiteres künstlerisches und pädagogisches Wirken prägend.
Nach 1936 erwarb Erika Klütz an den Deutschen Meisterstätten für Tanz in Berlin ihr Ballettmeister-Diplom. Humorvoll und
voller Bewunderung erzählte sie später von Begegnungen mit
Künstlern wie Harald Kreutzberg, Max Terpis, Tatjana Gsovsky,
Tamara Rauser, Marianne Vogelsang und vor allem Mary Wigman. Von 1937 bis 1939 gehörte sie selbst dem Kollegium
der Deutschen Meisterstätten an. Dem zunehmenden politischen
Druck in Berlin konnte sie sich durch ein Engagement am Staatstheater Schwerin weitgehend entziehen. Von 1939 bis 1945
war sie dort Ballettmeisterin und Erste Solotänzerin und leitete
die Abteilung für Tanz am Mecklenburgischen Konservatorium.
Mit einem von den britischen Militärbehörden organisierten
Künstlertransport kam sie im Juli 1945 nach Hamburg, wo sie den
vermissten Max Aust als Ballettmeisterin an der Hamburgischen
Staatsoper vertrat und im Februar 1946 den ersten Ballettabend
nach dem Zweiten Weltkrieg gestaltete. Ab 1952 schuf sie für
das neue Medium Fernsehen mehrere Choreographien.
Nach Austs Rückkehr gründete Erika Klütz 1946 ihre Schule
für Theatertanz und Tanzpädagogik in Hamburg. Bei ihr ausgebildete Tänzer waren an vielen deutschen Bühnen erfolgreich,
ehemalige Tänzer erwarben bei ihr die Qualifikation zum Tanzpädagogen. Ihr Interesse galt aber nie nur den professionell Tanzenden, das bezeugen die Kurse für Modernen Tanz im Rahmen
der Volkshochschule, die sie bis ins hohe Alter gab.
»Als Lehrerin fasse ich meine Aufgabe nicht nur technisch auf,
obwohl das Training die Grundlage allen guten Tanzes ist. Doch
versuche ich immer, auf den ganzen Menschen einzugehen, seine Anlagen voll zu entfalten und ihm zu helfen, seine eigenen
künstlerischen Erlebnisse zu formen.«
Am 16. März 2005 ist Erika Klütz im 97. Lebensjahr in Hamburg gestorben. Ihre Schule wird in ihrem Sinne weitergeführt
und im kommenden Jahr das 60-jährige Bestehen feiern.
■
Alfredo Corvino zum
Gedenken (1915–2005)
Von Marianne Forster
„Mazurka“, Choreographie und Ausführung Erika Klütz (1939)
24
Anfang August ist Alfredo Corvino in New York gestorben. Ein
großer Ballettpädagoge, der auch bei den New Yorker Modernen und einigen Broadway Stars sehr populär war. Als Pina
Bauschs Ballettmeister war er allerdings in Deutschland vor allem
Insidern bekannt.
Corvino wurde in Uruguay geboren und studierte am Städtischen Theater seiner Heimatstadt Montevideo. Dort avancierte
er zum Ersten Solisten und Ballettmeisterassistenten, eigene Choreographien folgten. Während des Zweiten Weltkriegs wurde er
Mitglied der Ballets Jooss, die ohne ihren Gründer Kurt Jooss in
Nord- und Südamerika auf Tournee waren. Anschließend tanzte
er bei den Ballets Russes de Monte Carlo, um kurz vor Kriegsende
doch noch zum Militär eingezogen und in Heidelberg stationiert
zu werden. Nach Kriegsende folgten Engagements in New York
in der Ballettcompagnie der Radio City Music Hall und im Ballett
der Metropolitan Opera, wo er auch als Ballettmeister arbeitete.
Das Rüstzeug für seine pädagogische Tätigkeit hatte er u.a. bei
Anatole Vilzak, vor allem aber bei Margaret Craske und Antony
Tudor erworben.
Tudor war es auch, der ihn 1952 an die neu geschaffene
Tanzabteilung der New Yorker Juilliard School of Music holBallett Intern 5/2005
Alfredo Corvino und Pina Bausch ...
te. 42 Jahre lang unterrichtete er dort, bestritt aber auch Lehraufträge und Gastkurse rund um die Welt, unter anderem an
der Folkwang Hochschule, wo damals Pina Bausch studierte.
Bauschs Weiterstudium an der Juilliard School war ein Resultat
dieser Begegnung. Beide blieben darüber hinaus in Kontakt,
und so unterrichtete Corvino gelegentlich ihre Tänzer in Deutschland. Nach seiner Pensionierung wurde er Ballettmeister beim
Tanztheater Wuppertal, einmal stand er sogar in »Victor« auf der
Bühne. Noch im vergangenen Jahr war er mit Pina Bausch auf
 Der »Tanzolymp« findet vom 15. bis 19. Februar 2006 zum
dritten Mal in Berlin statt. Es können junge Tänzer aus staatlichen
und privaten Schulen teilnehmen, aufgeteilt in vier Kategorien: Klassischer Tanz, Moderner Tanz, Charaktertanz / Folklore sowie Jazz/
Pop. Infos unter Tel. 030-20 45 51 30 oder www.tanzolymp.com
 Die von Christine Hasting ins Leben gerufene Fortbildungsreihe
»Futter für die Phantasie« bekommt eine Unterabteilung, die Serie
»Body Mind Centering im Kreativen Kindertanz«. Ab Dezember
2005 können sich Tanzpädagogen für ihre Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen unter der Leitung von Lambrini Konstantinou fortbilden.
Hasting Studio für Zeitgenössischen Tanz, Königinstr. 34, 80802
München, Tel./Fax 089-34 93 24, e-mail: [email protected]
 Laban Center London: Am 21./22.1.2006 findet in Basel/
Schweiz eine Audition für die Ausbildung am Laban Center statt.
 London Contemporary Dance School at The Place: Am 18.
März 2006 findet in Basel/Schweiz eine Audition für die Ausbildung im Londoner »The Place« statt. Auskunft und Anmeldung für
beide Termine: The Dance Experience, Marianne Forster, Mittlere
Strasse 4, CH-4056 Basel, Tel. 0041-61261-1662, Fax -1604,
[email protected] www.laban.co.uk
 Nach dem Vorbild des Musik- und Tanzprojekts, das der berühmte
Film »Rhythm is it!« dokumentiert, wurde auch in Hamburg eine Initiative gestartet: Vier Mitarbeiter des »Hamburg Ballett – John Neumeier« arbeiten seit Oktober 2005 mit einer 5., 6. und 7. Klasse
der Haupt- und Realschule Hamburg-Allermöhe, einem Stadttteil mit
hohem Anteil Aussiedler aus Osteuropa. Das »Focus on YOUth«
betitelte Projekt wird »Romeo und Julia« (Musik Prokovjev) erarbeiten, gemeinsam mit Schülern der Hamburger Ballettschule soll das
Ergebnis am 16. Mai 2006 anlässlich der »Erste Schritte«-Vorstellung in der Hamburgischen Staatsoper gezeigt werden.
Ballett Intern 5/2005
Tournee in Frankreich, Deutschland und Japan, trotz seines Alters
genoss er das Reisen sehr.
Corvino gründete in New York auch die eigene Schule
»Dance Circle«, die er zusammen mit seiner Familie führte. Seine
Töchter setzen sein Werk fort: Andra als Dozentin an der Juilliard
School, Ernesta kümmert sich um die Schule, leitet ihre eigene
Compagnie, choreographiert, unterrichtet an der University of
Nevada und gibt weltweit Ballett- und Pädagogikworkshops.
Das Typische an Corvinos Unterrichtssystem sind seine sieben
Schwerpunkte: Zentrierung, Alignment, Ausdrehung, Balance,
Verhältnis von Kopf zu Armen, Gewichtsübertragung und Koordination. Ein Hauptanliegen war ihm, durch korrektes organisches Training die Karriere eines Tänzers zu verlängern. Er
machte keinen Unterschied, ob er klassische oder moderne Tänzer unterrichtete, sondern konzentrierte sich auf die wichtigsten
Anforderungen der Technik. Artifizielles, stilistisch Einseitiges und
Mystisches hatte bei ihm keinen Platz.
2002 wurde Corvino mit dem »Martha Hill Award for Demonstrated Leadership in Dance« ausgezeichnet. Die Besetzung
des damaligen Ehrenkomitees liest sich wie ein Who’s Who
des Tanzes, von Benjamin Harkarvy über Helen McGehee, Lin
Hwai Min, Carla Maxwell, Martha Myers, Sheldon Schwartz
bis zu Paul Taylor – Zeremonienmeisterin war Mercedes Ellington. Die Liste zeigt, wie sehr man Alfredo Corvino und sein Werk
schätzte. 2003 wurde ihm von der Juilliard School das Ehrendoktorat in Fine Arts verliehen.
■
Aus der FAZ vom 24. Oktober 2005
Kulturnische im Welthandel
Zur Unesco-Konvention
zur kulturellen Vielfalt
Seltsame Szenen spielten sich in dieser Woche ab bei der
Unesco: Amerika gegen den Rest der Welt. Dreißigmal
wollte die amerikanische Delegation über ihre Abänderungsvorschläge zur Konvention über den Schutz der kulturellen
Vielfalt in der Welt einzeln abstimmen lassen und stand praktisch immer allein da. Mit 148 gegen zwei Stimmen, die
Vereinigten Staaten und Israel, wurde der Konventionstext
im Plenum der Generalkonferenz schließlich angenommen.
Zwei Jahre lang hat das Ringen um diesen Text gedauert.
Staaten, die ihre Filme, ihre Musik und überhaupt ihre Kultur vor dem Druck der Marktglobalisierung schützen wollen
durch Subvention, Mindestquoten oder andere Maßnahmen
haben damit erstmals eine internationale Rechtsgrundlage.
Laut Artikel 20 ist diese Konvention anderen Abkommen
unterzuordnen. Amerika spricht von Protektionismus und
von einer Gefährdung der allgemeinen Menschenrechte.
Die Europäische Union widersprach einstimmig – unter britischem Vorsitz. Der verbissene Widerstand Amerikas verhalf dem Konventionstext zu unerhofftem Aufsehen. Auch in
anderen Bereichen wie Bioetik oder Sport-Doping ist die
Unesco neuerdings aktiv geworden. (…)
25
10 Jahre Bregenz: Impressionen 2005
(Foto: Jürgen Schulz – Dresden)
Unsere Tanz-Ereignisse 2006:
Bregenz und Worpswede
Zum 11. Mal finden 2006 die Internationale Sommertanzwoche und zum 3. Mal
die Sommer-Intensiv-Woche Tanzpädagogik in Bregenz statt.
Unter der Leitung unserer hochqualifizierten
Dozentinnen und Dozenten Elaine Holland, Kaleiula Kaneao, Prof. Martin Puttke, Günther Rebel,
Chesse Rijst, Ulla Wenzel, Dick O’Swanborn
u.a. finden Kurse in den Disziplinen Ballett /
Spitzentanz / Jazztanz / Musical / Tanztheater
/ Modern Dance / Charaktertanz sowie Folklore – Hawaiianischer Tanz statt.
Auch in diesem Jahr gibt es für die Kursteilnehmer die Möglichkeit des Besuchs einer Aufführung der Bregenzer Festspiele auf der Seebühne
zu einem ermäßigten Preis. Auf dem Programm
steht dort in diesem Jahr die Oper »Der Troubadour« von Giuseppe Verdi.
Auf alle weiteren Fragen gibt Ihnen
Ursula Neuhaus gerne Auskunft:
Tel. und Fax: 06184 / 62 972
Di. 9:00–10:00 und 20:15–21:00 Uhr
Fr. 9:00–10:00 Uhr
Zum ersten Mal lädt der Deutsche Berufsverband
für Tanzpädagogik e.V. zu den »Norddeutschen Tanztagen« in das weltbekannte Kunstund Künstler-Dorf Worpswede bei Bremen ein.
In einer Atmosphäre, die die Malerin Paula Modersohn-Becker mit den Worten beschrieb: »Worpswede, Worpswede, Worpswede … Es ist ein Wunderland!«, wollen wir mit unseren hochqualifizierten
Dozentinnen und Dozenten Günther Rebel, Chesse
Rijst, Ulla Wenzel u.a. vom 25. Mai (Himmelfahrt)
bis zum Sonntag, den 28. Mai 2006 eine neue Aktivität des Tanzes für unsere tanzbegeisterte Jugend
kreieren: Ballett / Spitzentanz / Jazztanz / Musical / Tanztheater / Freier Tanz / Modern Dance /
Charaktertanz. Begleitet werden sie von den versierten Musikern Peter Jones, Thomas Lorey.
Die Tanztage sind ge­plant für junge Tänzerinnen
und Tänzer ab neun Jahren bis zum »fortgeschrittenen Standard«.
Detailliertes Informationsmaterial durch:
Organisation Bregenz/Worpswede
Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik
U. Neuhaus, Hüttengesäßerstr. 20
D-65505 Langenselbold
Fax: +49 (0) 6184 / 62 972
Informationen und Anmeldeformulare
auch unter: www.tanz-ereignisse.de
Daniela Lehmann gewinnt
den Wettbewerb »Das
beste deutsche Tanzsolo«
Von Ann-Elisabeth Wolff / Nadine Brockmann
Der Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo« wurde am gestrigen Abschlussabend der euro-scene Leipzig entschieden. Der
1. Preis der fünfköpfigen Jury sowie auch der Publikumspreis gingen an die 26-jährige Daniela Lehmann aus Freiburg im Breisgau. Mit ihrem Solo »Mina« präsentierte sie dem begeisterten
Publikum eine abwesende, zerbrechliche und gleichzeitig energische Frau. »Mir scheint es manchmal«, so Daniela Lehmann,
»wie eine Reise durch zwei Jahrhunderte Leben aller Frauen.«
Den zweiten Preis bekam der Tänzer Wojtek Kapron aus
Lublin/Polen mit seinem Solo »Bellissimo«. Zufit Simon aus Berlin
erhielt für ihr Solo »fleischlos« den dritten Preis. Des Weiteren
wurden zwei Sonderpreise vergeben. Sie gingen an die einzige
Finalistin aus Leipzig, Julia-Maria Köhler, und an Swetlana Brik
aus Wieden/Bayern.
Erstmals wurden an die drei Sieger Preisgelder als Anteilsfinanzierung zu einem nächsten Projekt zwischen 5.000 EURO
und 3.000 EURO vergeben. Die Preise wurden gesponsert vom
BMW Werk Leipzig, Price Waterhouse Coopers und Freundeskreis Gohliser Schlösschen. Die Soli aller Preisträger werden von
der Filmhochschule Babelsberg aufgezeichnet und demnächst
auf dem ZDFtheaterkanal ausgestrahlt.
Der Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo«, nach einer
Konzeption von Alain Platel, Gent, fand im Rahmen des Festivals
euro-scene Leipzig zum 7. Mal statt. Er war ein großer Publikumsmagnet und bereits im Vorfeld ausverkauft. Die künstlerische
Leitung lag in den Händen von Wolfgang Krause Zwieback.
Bewerben konnte sich jeder, unabhängig von Alter, Ausbildung
und Stil mit einem fünfminütigen Solo. Insgesamt gingen 148
Bewerbungen ein. Sie waren diesmal stärker international als
in den vergangenen Jahren und kamen aus Armenien, Belgien,
Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland,
Großbritannien, Italien, Kroatien, Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Russland, Schweiz, Slowakei, Südkorea, Tschechische Republik, Ungarn und den USA.
Der Wettbewerb »Das beste deutsche Tanzsolo« ist auch für
das nächste Jahr wieder während der euro-scene Leipzig geplant. Das Festival zeitgenössischen europäischen Theaters findet
vom 07.–12. November 2006 statt. ■
euro-scene Leipzig 15. Festival zeitgenössischen europäischen Theaters
01.-06. November »Wahlverwandtschaften«
Theater und Tanz aus dem alten und neuen Europa
Daniela Lehmann, Freiburg im Breisgau
»Mina«
1. Preis und Publikumspreis 2005 bei »Das beste deutsche
Tanzsolo«, 7. Wettbewerb der euro-scene Leipzig nach einer
Konzeption von Alain Platel
Foto: Rolf Arnold, Leipzig
Ballett Intern 5/2005
»Ich bin froh,
wenn sich etwas bewegt«
Erinnerungen an das
Erste Deutsch-Deutsche Tanzsymposion
1990 in Dresden
Von Dagmar Fischer
Tanztheater – eigentlich ein gängiges Wort. Die Bedeutung
wird jedoch ganz unklar, wenn sich Menschen aus der ehemaligen DDR und der BRD darüber miteinander unterhalten.
Während die einen damit Tom Schillings Arbeit meinen, denken die anderen vor allem an Pina Bausch und ihre Stücke. Als
sich Tanzfachleute aus Ost und West vor genau fünfzehn Jahren
zum aller ersten Mal nach der Wiedervereinigung Deutschlands
zusammen setzten, war die Diskussion um die Bedeutung von
Tanztheater nur eins von vielen Themen, das große Gegensätze offensichtlich machte. Jahrzehnte lang in unterschiedlichen
Systemen gelebt und gearbeitet zu haben, schrieb auch zwei
Linien deutscher Tanzgeschichte.
Die Idee zu diesem ersten deutsch-deutschen Tanztreffen
nach der Wende hatten Anne Paulat und Dieter Lösche. Als
Geschäftsführender Direktor des Balletts der Semperoper standen ihm Kontakte und Mittel zu Verfügung, ein Treffen in dem
zu erwartenden enormen Ausmaß zu organisieren. Und das
Beste: Damals gab es (noch) genug DDR-Gelder, es auch
durchzuführen! Anne Paulat hingegen brachte ideale Voraussetzungen mit, beide Seiten zu verstehen, denn bis zu ihrem
15. Lebensjahr war sie in der DDR aufgewachsen, seit der
Flucht 1957 lebt sie im Westen. »Mir lag daran, die Vertreter
beider deutscher Länder zusammen zu bringen«, erläutert Anne
Paulat ihre Motivation, »aber die West-Strukturen nicht einfach
denen im Osten überzustülpen. Das war ja leider eine gängige
Praxis, sich vieles einzuverleiben, nur um mehr Mitglieder zu
haben. Das konnte ich nicht vertreten, ich wusste durch meine
Biografie, dass das einer Demütigung gleich kommen würde.«
Trotzdem zweifelten viele im Osten daran, ob sie auf diesem
Symposion überhaupt eine Stimme haben und gehört werden
würden. Glücklicherweise war es die Tänzerin und Pädagogin
Hanne Wandtke, die das Eis brach und sich in einer Art zu
Wort meldete, die allen Anwesenden im Gedächtnis blieb und
den Ex-DDR-lern aus der Seele sprach – damals im September
1990 in Dresden.
Diesem ersten sollten eigentlich weitere Treffen folgen, doch
leider blieb es bei dieser einzigen historischen Grundsteinlegung. Warum, darüber kann man heute nur spekulieren: »Das
Geld zu beschaffen, war zwei Jahre später schon ein Problem«,
so Anne Paulat. »Und vermutlich wollte sich niemand mehr diese Arbeit aufbürden.« Sie selbst hatte, natürlich ohne Computer,
noch an einem Telefon mit Wählscheibe in Dresden gesessen
und geplant. Und schließlich hatten sich die frisch geknüpften
Kontakte schnell verselbstständigt, man konnte dann ja überall
hin reisen!
Dass seine Idee des gleichberechtigten Austauschs doch
von westdeutschen Institutionen aufgegriffen und gestaltet wurde, ist nicht wirklich tragisch, findet Dieter Lösche, der übrigens
im kommenden Jahr in den Ruhestand gehen wird, »Ich bin
froh, wenn sich etwas bewegt«, resümiert der verdienstvolle
»Hausherr« und Initiator der ersten Stunde gesamtdeutscher
Tanzgeschichte.
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