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Zitierhinweis Becker, Julia: Rezension über: Michael Embach / Claudine Moulin / Andrea Rapp (Hg.), Die Bibliothek des Mittelalters als dynamischer Prozess, Wiesbaden: Reichert, 2012, in: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF), 42 (2015), 4, S. 689-691, http://recensio.net/r/282c1c496db2494486217a197f459c8c First published: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF), 42 (2015), 4 copyright Dieser Beitrag kann vom Nutzer zu eigenen nicht-kommerziellen Zwecken heruntergeladen und/oder ausgedruckt werden. Darüber hinaus gehende Nutzungen sind ohne weitere Genehmigung der Rechteinhaber nur im Rahmen der gesetzlichen Schrankenbestimmungen (§§ 44a-63a UrhG) zulässig. Buchbesprechungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 689 Schlussfazit plädiert für eine klarere Historisierung und Kontextualisierung der vermeintlich einheitlichen Tradition des ,Antiklerikalismus‘. Angesichts der überbordenden Fülle, regionalen Streuung und Vielgestaltigkeit des Materials zu spätmittelalterlichen Konflikten rund um die Bettelorden ist von vornherein deutlich, dass keine systematische oder umfassende Darstellung erwartet werden darf. Kritikpunkte müssen vor diesem Hintergrund eher als Überlegungen verstanden werden, was dem anregenden Thema noch abzugewinnen wäre. So müsste wohl die Großdebatte um die Abschaffung der Bettelorden auf dem II. Konzil von Lyon 1274 als kirchenrechtlicher Rahmen für die Überlegungen des ersten Kapitels stärker einbezogen werden. Die Untersuchung von Übergriffen auf Mendikanten gewänne stark, wenn auch die vielen rechtlichen oder symbolischen Attacken ohne schwere Gewaltanwendung einbezogen würden, die das Bild weiter differenzieren. Trotz eines prinzipiell breiten Horizonts kann Geltner zudem regionale Unterschiede nur ansatzweise berücksichtigen und nimmt (wie dies für die anglophone Forschung typisch ist) wenig auf vorliegende deutschsprachige Forschungsarbeiten Bezug, obwohl er sie durchaus in sein Literaturverzeichnis aufnimmt; besonders die Studie Ramona Sickerts zur Wahrnehmung der Orden scheint einschlägiger als bei Geltner ausgewiesen (Wenn Klosterbrüder zu Jahrmarktsbrüdern werden. Studien zur Wahrnehmung der Franziskaner und Dominikaner im 13. Jahrhundert, Münster / Berlin 2006). Positiv sind nicht nur die dokumentarischen Anhänge und Indices der Orte sowie Namen und Sachen hervorzuheben. Vor allem leisten Geltners differenzierte Beobachtungen für eine Neuperspektivierung des Forschungsfeldes außerordentlich viel. Sie eröffnen Blickwinkel, die teils noch kaum berücksichtigt wurden. Der Befund der prinzipiellen Vielgestaltigkeit mendikantenfeindlicher Diskurse erscheint, ganz wie von Geltner intendiert, tatsächlich äußerst relevant für die breitere Erforschung antiklerikaler Äußerungen – oder anders formuliert: für die Erforschung des im Hochund Spätmittelalter entstehenden breiteren gesellschaftlichen Diskurses über die Vielgestaltigkeit von Religion, dessen Verständnis derzeit aus verschiedenen Fachperspektiven neue Relevanz gewinnt. Das Buch ist daher unbedingt lesenswert. Sita Steckel, Münster Embach, Michael / Claudine Moulin / Andrea Rapp (Hrsg.), Die Bibliothek des Mittelalters als dynamischer Prozess (Trierer Beiträge zu den historischen Kulturwissenschaften, 3), Wiesbaden 2012, Reichert, 213 S. / Abb., E 78,00. Der zu besprechende Band fasst die Ergebnisse des dritten Trierer Bibliotheksworkshops zusammen, der – organisiert durch das Historisch-Kulturwissenschaftliche Forschungszentrum der Universität Trier (HKFZ) und die Stadtbibliothek Trier – am 19. und 20. Juli 2009 stattfand. Im Zentrum dieses Workshops standen Überlegungen hinsichtlich dynamischer Aspekte, die auf den Bestand mittelalterlicher Bibliotheken und insbesondere auch auf einzelne Codices einwirkten. Der vorliegende Tagungsband setzt sich zum Ziel, einer statischen Sichtweise auf die Bibliotheksbestände und Handschriften entgegenzuwirken und Phänomene ihrer Dynamisierung und strukturellen Mobilisierung zu diskutieren. In diesem Kontext werden Glossierung, Neuordnung und Veränderung von Büchersammlungen, Buchtransfer sowie Makulierung und Mobilisierung von Buchbeständen auf gelungene Weise interdisziplinär ins Untersuchungsinteresse gerückt. Mit der dynamischen Aufbereitung, Vermittlung und Weitergabe von Wissen beschäftigen sich die ersten drei Beiträge von Falko Klaes, Bernward Schmidt und Regine Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015) 4 690 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 Buchbesprechungen Froschauer. Ersterer untersucht die verschiedenen Glossierungsschichten in einem althochdeutschen Boethius-Fragment der Stadtbibliothek Trier (3 – 18), die die Varianz im Textbestand mittelalterlicher Handschriften aufzeigen. Schmidt hingegen belegt anhand der überlieferten Texte der Admonitio generalis Karls des Großen die Dynamik „kanonistischen Wissens, das nicht auf pures Besitzen von Kenntnissen, sondern auf Anwendung zielte“ (27). Nach St. Gallen und in einen sehr spannenden, aber schwierig zu fassenden Bereich mittelalterlicher Bibliothekspraxis führt uns Regine Froschauer (33 – 51), die Benutzungsspuren Ekkehards IV. in den dortigen Handschriften in Form von Glossierung bzw. Selbstglossierung, wie im Fall des „Liber Benedictionum“, nachgeht. Wachstumsprozessen und Ordnungskriterien mittelalterlicher Buchbestände ist die zweite Beitragsgruppe (Patrizia Carmassi, Monika E. Müller und Britta-Juliane Kruse/ Kerstin Schnabel) gewidmet: Am Beispiel der Halberstädter Dombibliothek untersucht Patrizia Carmassi (89 – 113) Bestandsveränderungen durch Schenkungen sowie Dynamisierungsprozesse, die sie auf die Interaktion mit der Umgebung und den Aufbewahrungsformen zurückführt. Funktionale Aspekte der Wissensordnung stehen im Mittelpunkt des Aufsatzes von Monika Müller (115 – 146), die versucht, den mittelalterlichen Buchbestand von St. Michael in Hildesheim zu rekonstruieren und die Auswirkungen der Reformbewegung des 15. Jahrhunderts auf die Bestandsentwicklung zu eruieren. Beispiele aus dem Bereich privater Büchersammlungen liefern hingegen die letzten beiden Beiträge von Frank Fürbeth und Andreas Lehnhardt. Frank Fürbeth versucht die Verschiebung in den medizinischen Interessen des spätmittelalterlichen Gelehrten Amplonius Rating de Berka (1363/65 – 1435) anhand des Kernbestandes seiner Bibliothek zu rekonstruieren. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der Aufbau von dessen Büchersammlung sich nicht „im Sinne einer Studienbibliothek zur bibliophilen Sammlung“ entwickelte, sondern der „Dynamik einer steten Erweiterung“ unterlag (190). In diesen Kontext lässt sich auch die spannende Untersuchung von Andreas Lehnardt (191 – 204) einordnen, der anhand der in Trier gefundenen Talmud-Fragmente Überlegungen zum Schicksal jüdischer Privatbibliotheken im Mittelalter anstellt. Über die Entwicklung und den Werdegang jüdischer Bibliotheken in Deutschland im ausgehenden Mittelalter ist bisher wenig bekannt. Durch die Auswertung der Talmud-Fragmente, die für Trierer Handschrifteneinbände benutzt wurden, kann Lehnhardt die Trierer Talmud-Exemplare der Zeit vor dem 13. Jahrhundert zuordnen und die von Ernst Róth 1965 zusammengestellte Liste bisher bekannter Talmud-Fragmente erheblich erweitern. Nicht unmittelbar in einen dieser beiden Themenbereiche lassen sich die Ausführungen von Jeffrey F. Hamburger und Michael Embach / Martina Wallner eingliedern. Im überaus reich illustrierten und einzigen englischsprachigen Beitrag dieses Bandes befasst sich Hamburger am Beispiel der Arnsteinbibel mit dem Spannungsfeld zwischen künstlerischer Begabung und göttlicher Inspiration in der Buchmalerei (The Hand of God and the Hand of the Scribe, 53 – 78). Aus den laufenden Arbeiten am „Conspectus“ der Handschriften Hildegards von Bingen berichten Michael Embach und Martina Wallner (79 – 88). Als Ziel dieses Projektes, das inzwischen kurz vor dem Abschluss steht, soll ein Gesamtverzeichnis aller weltweit bekannten Handschriften der Werke Hildegards von Bingen in ihrem konkreten Überlieferungszusammenhang erstellt werden. Diesen facettenreichen Tagungsband beschließt ein Personen- und Handschriftenregister. Ein Autorenverzeichnis, das weitere Informationen über die einzelnen Beiträger geliefert hätte, fehlt leider. Der Band weist mit 64 Farb- und 23 Schwarz-WeißTafeln im Anhang außerdem ein reiches Abbildungsverzeichnis auf. Allerdings erZeitschrift für Historische Forschung 42 (2015) 4 Buchbesprechungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 691 schließt sich dem Leser die Logik der Nummerierung und Zuordnung der einzelnen Abbildungen nicht immer auf den ersten Blick. Auch stellt sich die Frage, warum die Bildunterschriften (vor allem sprachlich) nicht einheitlich gestaltet wurden. Von diesen formalen Kleinigkeiten abgesehen ist der innovative Zugriff auf die historischen Veränderungen mittelalterlicher Bibliotheken sehr gelungen und liefert gewinnbringende Einblicke in die Wachstumsprozesse und Ordnungssystematik mittelalterlicher Bibliotheken. Julia Becker, Heidelberg Crabus, Mirko, Kinderhaus im Mittelalter. Das Leprosorium der Stadt Münster (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster. Neue Folge, 25), Münster 2013, Aschendorff, 268 S. / Abb., E 44,00. Leprosorien waren ein fester Teil der mittelalterlichen Lebenswelt. Trotz ihrer Lage vor den Stadtmauern gelten sie als präsente und das städtische Umland prägende kommunale Einrichtungen. Die Arbeit von Mirko Crabus zeigt die Bedeutung des Münsteraner Leprosoriums Kinderhaus im Mittelalter auf. Sie geht zurück auf eine Magisterarbeit aus dem Jahr 2007, die an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster von Gabriela Signori betreut wurde und 2013 im Druck erschienen ist. Als Ziel der Arbeit möchte der Verfasser ein „Gesamtbild des Leprosoriums Kinderhaus im Mittelalter entwerfen und so einen Einblick in seine Organisation und Wirtschaftstätigkeit sowie in den Alltag seiner Insassen“ ermöglichen (9). Hierzu stützt er sich auf eine Vielzahl teils neu erschlossener Quellen, von denen fünfzig im Anhang transkribiert abgedruckt sind (195 – 268). Der Untersuchungszeitraum reicht vom Einsetzen der Überlieferung in den Jahren vor 1333 bis zum Beginn der Täuferherrschaft 1534/35. Die Quellenlage stellt sich zwar lückenhaft und unausgewogen dar, sie ist jedoch deutlich besser als bei den meisten anderen mittelalterlichen Leprosorien im Reichsgebiet. So sind neben 82 Urkunden eine Fülle von Rentverschreibungen überliefert, die allerdings nur exemplarisch ausgewertet wurden, sowie vereinzelte Rechnungsbücher und zwei Küchenordnungen der Jahre 1365 und 1447, die spannende Einblicke in das Alltagsleben und die Festkultur der Bewohner des Leprosoriums ermöglichen. Um die Analyse der ältesten überlieferten Hausordnung von 1558 miteinzubeziehen, wurde die zeitliche Grenze der Arbeit in diesem Punkt leicht hinausgeschoben. Die Ursprünge des Leprosoriums liegen im Dunkeln; ein Gründungsdatum ist nicht überliefert. Wahrscheinlich gab es eine Vorgängerinstitution, die bis spätestens 1333 nach Kinderhaus nördlich der Stadt verlegt worden war (15 – 21). Die Lage der Anlage weist die für Leprosorien typischen Standortfaktoren auf: an einer wichtigen Handelsstraße, dem Hellweg, um von Almosen der Passanten zu profitieren, und in der Nähe eines Baches zur Wasserversorgung. Das Ensemble der Wohn- und Wirtschaftsgebäude war mit einer Mauer umschlossen (39 – 45). 1342 fand der Gründungsprozess mit der Einrichtung eines Rektorats seinen Abschluss. Die Existenz einer eigenen Kapelle mit Priester und Friedhof entsprach den Vorschriften des dritten Laterankonzils von 1179 für die Ausstattung von Leprosorien (29 – 34). Wie Crabus zeigt, oblag die Verwaltung der Einrichtung zwei Provisoren, die vom Rat der Stadt ernannt wurden; auch sie sind 1342 erstmals belegt. Neben dem Abschluss wichtiger Rechtsgeschäfte kontrollierten diese auch die Rechnungslegung. Die eigentliche Führung der Rechnungsbücher übernahm zunächst der Rektor, später dessen Vikar und schließlich ab 1529 ein Amtmann (56 f.). Vor Ort kümmerten sich Knechte und Mägde um die Leprosen sowie um die Bewirtschaftung der Gebäude und der Zeitschrift für Historische Forschung 42 (2015) 4