Märchen erzählen als Methode der Sprachförderung – Eine

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Märchen erzählen als Methode der Sprachförderung – Eine
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-Bereich Germanistische LiteraturdidaktikVeranstaltung „…und das letzte Königreich.
Literarisches Lernen mit den Kinder- und
Hausmärchen.“ (SS 2012)
Jun.-Prof. Dr. Michael Ritter
Postfach 100131
33501 Bielefeld
UNIVERSITÄT BIELEFELD
Fakultät für Linguistik und
Literaturwissenschaft
Märchen erzählen als Methode der
Sprachförderung – Eine Betrachtung des
Projektes „Sprachlos?“
Hausarbeit
vorgelegt von:
Elena Greiwe
Betreuer:
Jun.-Prof. Dr. Michael Ritter
Abgabetermin:
26.10.2012
- II
2-
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ...................................................................................................................... 1
2. Sprache und Schule ....................................................................................................... 2
2.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit............................................................................. 2
2.2 Schriftlichkeit in der Schule ................................................................................... 4
3. Das Projekt „Sprachlos?“ .............................................................................................. 5
3.1 Einführung ............................................................................................................... 5
3.2 Implizite Sprachvermittlung .................................................................................... 6
4. Bereiche der Sprachförderung bei „Sprachlos?“........................................................... 7
4.1 Implizites Lernen literarischer Muster .................................................................... 7
4.2 Dekontexualisierung durch Erzählen ...................................................................... 8
4.3 Erweiterung der Sprachkompetenz durch Zuhören und Nacherzählen ................... 9
5. Märchen als Grundlage des Projekts........................................................................... 11
5.1. Struktur von Märchen und moderne Kinderliteratur im Vergleich ...................... 11
5.2 Das Prinzip Hoffnung in Märchen ........................................................................ 12
5.3 Die Sprache der Märchen ...................................................................................... 13
6. Fazit............................................................................................................................. 14
Literaturverzeichnis…………………………………………………………………….16
-1-
1. Einleitung
In ihrer Regierungserklärung vom 10. November 2009 sagte die Bundeskanzlerin
Angela Merkel vor dem Bundestag:
„Wir bekämpfen Bildungsarmut. Jedes Kind soll vor dem Schulbeginn eine
Sprachförderung erhalten, wenn das notwendig ist. Ich sage mit Nachdruck: Auch die
Integration der Zuwanderer und ihrer Kinder führt zuerst und vorneweg über Sprache
und Ausbildung.“1
Mit dieser Aussage Merkels wird offensichtlich, dass der Bildungserfolg in unserem
Land in einem hohen Maße von der Beherrschung der deutschen Sprache abhängig ist.2
Die PISA-Studie kam in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, dass Schüler mit
Migrationshintergrund weiterhin einen großen Kompetenznachteil gegenüber Schülern
ohne Migrationshintergrund aufweisen. Dieser Nachteil im Bereich der schulischen
Kompetenzen ist eindeutig auch auf die Fertigkeiten im Umgang mit der deutschen
Sprache zurückzuführen. 3 Es ist unbestritten, dass der Bildungserfolg neben der
kompetenten Beherrschung der (Unterrichts-)Sprache von weiteren Faktoren abhängt.
Gleichzeitig ist aber ebenso ersichtlich, dass der Faktor Sprache im deutschen
Schulwesen eine zentrale Determinante für Kinder mit Migrationshintergrund
darzustellen scheint. Auch Angela Merkel erkennt diesen Zusammenhang, während sie
infolgedessen betont, dass Sprachförderung ein Mittel gegen diese Bildungsungleichheit
sein kann. Angesichts dessen stellt sich daher die Frage, wie man Schüler mit Deutsch
als Zweitsprache beim Spracherwerb unterstützen kann, sodass diese keine
Benachteiligung aufgrund ihrer Herkunftssprache erfahren.
Diesen Anspruch hat sich das Projekt „Sprachlos?“ aus Berlin zum Auftrag gemacht.
„Sprachlos?“
stellt
einen
innovativen
und
außergewöhnlichen
Ansatz
von
Sprachvermittlung dar. Professionelle Erzählerinnen besuchten über zwei Jahre lang in
regelmäßigen Abständen Grundschulen im Berliner Problemviertel Wedding und
erzählten Schülern der ersten und zweiten Klassenstufe internationale Märchen in ihrer
ursprünglichen Form. 4
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll dieser Ansatz von Sprachvermittlung näher
beleuchtet werden. Hinleitend wird der Unterschied zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit in der Sprache erläutert, um anschließend die besondere Rolle der
1
o.V.I (2009).
Vgl. Stanat/Müller (2006), S. 155.
3
Vgl. Siegert (2008), S. 55.
4
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 8.
2
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Schriftlichkeit in der Schule zu thematisieren. Es wird an dieser Stelle nicht der ganze
Sprachbegriff betrachtet, sondern speziell die Fertigkeiten, die während der
Kommunikation in Schule und Alltag notwendig sind. Hiernach steht dann das Projekt
„Sprachlos?“ im Fokus der Betrachtung. Einführend wird ein kurzer Überblick über den
Aufbau und Ablauf des Projektes gegeben. Es wird kurz angerissen, welches Konzept
von Sprachvermittlung hinter „Sprachlos?“ steht. Danach wird dargestellt, welche
Bereiche von Sprache – auch im Hinblick auf die Schriftlichkeit –gefördert werden
können. Abschließend wird die besondere Bedeutung von Märchen für die sprachliche
Förderung untersucht.
2. Sprache und Schule
2.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
Anders als beispielsweise das Nachbarland Luxemburg ist Deutschland offiziell ein
einsprachiges Land – das bedeutet u.a., dass die Unterrichtsprache in den Schulen
Deutsch ist. Ausgenommen weniger Möglichkeiten eines bilingualen Unterrichts
müssen Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund in der Regel trotz
mangelnder Deutschkenntnisse dem Unterricht in deutscher Sprache folgen. Sie müssen
sich in einer fremden Sprache neue Wissensgebiete erschließen und Fachvokabular
aneignen. Problematisch ist hierbei, dass die Beherrschung der Unterrichtsprache in
Bezug auf den Bildungserfolg, wie bereits einleitend thematisiert, einen hohen
Stellenwert hat.5
In der fachlichen Diskussion entspricht diese Sprache, die im schulischen Kontext
verwendet wird und die demnach auch nichtdeutschsprachige Kinder sprechen und
verstehen müssen, in großen Teilen dem konzeptionellen Modus der Schriftlichkeit.6 Im
Nachfolgenden soll, in Bezug auf den Ansatz von Koch/Oesterreicher (1994), gezeigt
werden, welche Merkmale konzeptionell schriftliche Bildungssprache aufweist. Im
nächsten Abschnitt wird dann konkret geklärt, welche Anforderungen sie an die Schüler
und Schülerinnen stellt.
Koch/Oesterreicher (1994) differenzieren in ihrem Ansatz zwischen einer medialen und
einer konzeptionellen Dimension von Sprache. Medial kann Sprache als mündliche
Form oder eben geschrieben als Text auftreten. Diese Unterscheidung ist dichotomisch.
Weiterhin hat Sprache aber auch eine konzeptionelle Dimension: sie kann sich
innerhalb eines Kontinuums bewegen, dessen Grenzen mit den Begriffen mündlich und
5
6 Vgl. Kniffka/Siebert-Ott (2009), S. 15.
Vgl. Fürstenau/Lange (2011), S. 42.
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schriftlich gekennzeichnet sind. Eine mündliche Äußerung kann von ihrer Konzeption
eher
schriftlich
wissenschaftlichen
angelegt
sein,
Diskussion
wenn
sie
beispielsweise
geschieht
und
dabei
innerhalb
dementsprechend
einer
häufig
Fachvokabular sowie viele erklärende Nebensätze verwendet werden. Ebenso ist eine
SMS medial eindeutig schriftlich, konzeptionell ist sie aber aufgrund ihrer Kürze und
des umgangssprachlichen Tons eher mündlich beschaffen.7
Nach Günther (1997), der das Modell von Koch/Oesterreicher (1994) aufgreift, gibt es
bei den Dimensionen Schriftlichkeit/Mündlichkeit unterschiedliche Kommunikationsbedingungen. Diese führen wiederum zu anderen Versprachlichungsstrategien und
erzeugen so den Unterschied zwischen konzeptionell mündlich und konzeptionell
schriftlich. So ist beispielsweise als zentrale Kommunikationsbedingung in der
Schriftlichkeit
die
Situationsentbindung
oder
Dekontexualisierung
zu
nennen.
Außerdem ist Schriftlichkeit monologisch angelegt, da Schreiber und Leser nicht direkt
interagieren (Fremdheit der Partner, raumzeitliche Trennung). Im Gegensatz dazu wird
Mündlichkeit durch ihren dialogischen und eher privaten Charakter, Spontanität und der
Situationsverschränkung bedingt.8
Aus diesen kommunikativen Bedingungen gehen nun Versprachlichungsstrategien
hervor: Prozeßhaftigkeit ist hier beispielsweise auf der Seite der Mündlichkeit zu
nennen, da sich diese am „Fortgang des Gesprächs orientiert und nicht an der Struktur
eines formalen Produktes“9, wie es bei der konzeptionellen Schriftlichkeit der Fall ist.
Bei der Schriftlichkeit sind als Versprachlichungsstrategien Vergegenständlichung und
Endgültigkeit zu nennen, was im Prinzip nichts anderes meint als den Text als Ziel.10
Die genannten Versprachlichungsstrategien tragen auch dazu bei, dass eine höhere
Komplexität, Planung und Informationsdichte bei der Schriftlichkeit vorherrscht als bei
der Mündlichkeit.11
Diese Kriterien können hinzugezogen werden, wenn sprachliche Äußerungen in das
Kontinuum von konzeptionell eher schriftlich/mündlich eingeordnet werden sollen.
Dabei ist aber zu betonen, dass die Übergänge zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit fließend sind. 12
7
Vgl. Koch/Oesterreicher (1994); vgl. dazu auch Fix(2006), S. 66 ff.
Vgl. Günther (1997), S. 64 ff.
9
Merklinger (2010), S. 27.
10
Vgl. Günther (1997), S. 64 ff.
11
Vgl. ebenda.
12
Vgl. Fix (2006), S. 66.
8
-4-
2.2 Schriftlichkeit in der Schule
Die Bildungssprache in deutschen Schulen ist überwiegend konzeptionell schriftlich.
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der gesamte Unterricht mit der Zeit konzeptionell
schriftlich wird.13 Darunter ist zu verstehen, dass auf die Produktion und Rezeption von
Text im Laufe der Schulzeit immer mehr Wert gelegt wird. Der Begriff der
Bildungssprache ist darüber hinaus erweiterbar, als dass der Erwerb derselben
gleichsetzt werden kann mit dem Erwerb von spezifischen sprachlichen Kompetenzen.
Eine solche spezifische sprachliche Kompetenz ist die besondere Herausforderung an
die Schüler und Schülerinnen, „die Ebene des sympraktischen Sprachgebrauchs zu
überschreiten und sich auf die Ebene des dekontextualisierten Textgebrauchs zu
begeben.“14. Im Gegensatz zur gesprochenen, konzeptionell eher mündlichen Sprache,
beispielsweise in einem Alltagsgespräch, kann ein Text nicht durch Mimik, Gestik oder
etwaige Zeigegesten unterstützt und vervollständigt werden. Die Sprache ist eben nicht
mehr an eine vom Dialog bestimmte Situation gebunden. In diesem Kontext ist es
hilfreich,
sich
Andresens
(2002)
Definition
von
Dekontexualisierung
zu
vergegenwärtigen: „Dekontextualisierung bedeutet dabei nicht die Befreiung der
Handlung von jeglichem Kontext, sondern die Versetzung in einen anderen
Kontext.“
15
So muss sich ein Schüler in einer Schreibsituation oder auch im
konzeptionell schriftlichen Gespräch von seiner gegenwärtigen Situation distanzieren.
Er muss sich sprachlich in seinen Text oder in eine abstrakte Unterrichtsthematik
hineinversetzen.
Neben der Dekontexualisierung sind
als
Kennzeichen von
der konzeptionell
schriftlichen Bildungssprache Abstraktionen und Explizitheit, hohe Informationsdichte
sowie eine hohe Textkohärenz und -kohäsion zu nennen.16
Festzuhalten ist, dass der schulische Alltag von Schriftlichkeit geprägt ist: Das bezieht
sich nicht nur auf das Schreiben und Lesen, sondern auch auf die konzeptionell
schriftlich geprägte Sprache des Unterrichts.
Wenn es im Folgenden darum geht, das Projekt „Sprachlos?“ auf seine Möglichkeiten
von Sprachförderung zu untersuchen, sollte deshalb berücksichtigt werden, inwieweit
die spezifischen sprachlichen Kompetenzen der Schriftlichkeit unterstützt werden.
13
Vgl. Jeuk (2010), S. 53.
Merklinger (2010), S. 33.
15
Andresen (2002), S. 10.
16
Vgl. Naujok (2011), S. 108.
14
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3. Das Projekt „Sprachlos?“
3.1. Einführung
Das Projekt „Sprachlos?“ startete erstmals im September 2005 als Modellversuch zur
Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund an der Anna-LindhGrundschule in Berlin. Die Grundschule liegt in einem der ärmsten Bezirke Berlins, im
Stadtteil Wedding. Die Kinder stammen zu großen Teilen aus bildungsfernen
Elternhäusern; viele Eltern sind Analphabeten oder haben nur kurz eine Schule besucht.
An der Schule lernen Kinder aus 27 Nationen. In den Sprachtest zu Beginn der ersten
Klassen kennen viele Schüler und Schülerinnen einfachste deutsche Wörter nicht. Des
Weiteren ist die Freizeit der Kinder zum großen Teil geprägt von digitalen Medien.
Damit einhergehend ist die Phantasie der Kinder besetzt mit medialen Bildern; häufig
ist es den Kindern zu Beginn des Projektes nicht möglich, sich das Erzählte gedanklich
vorzustellen. Die professionellen Erzählerinnen Sabine Kolbe, Kerstin Otto und
Marietta Rohrer-Ipekkya besuchten diese Schule, um einmal wöchentlich Schüler und
Schülerinnen der ersten und zweiten Klassen internationale Märchen zu erzählen.17
Sie wählten Märchen aus verschiedenen Kulturen und Ländern, beispielsweise aus
Sibirien, aus der Türkei, aus Russland, aus Dänemark und vielen weiteren.18
Zum Ende der Erprobungsphase des Projektes wurde immer stärker der Wert darauf
gelegt, dass sich die Kinder selbst Geschichten ausdachten und diese vor ihren
Mitschülern
erzählten.
Die
Erzählerinnen
unterstützten
diesen
Prozess
mit
verschiedenen Verfahren, die Impulse zum selbständigen Erzählen und Hilfe auf dem
Weg dorthin sein sollten. Die Verfahren wurden aufeinander aufbauend eingesetzt;
zeigte ein Verfahren Erfolg, wurde im nächsten Schritt ein komplizierteres Verfahren
eingebracht. 19
Die Erzählerinnen begannen mit der leichten Methode des interaktiven Erzählens, wo
die Kinder beispielsweise typische Märchenformeln, Verse und Reime, aber auch kleine
Dialoge vor- und mitsprechen durften. Hiernach war das gemeinsam Geschichten
erfinden an der Reihe: die Erzählerinnen gaben beispielsweise den Anfang einer
Geschichte vor und die Kinder ergänzten den Rest. Des Weiteren sollte die Gliederung
der Geschichten in Abschnitte die literarische Struktur fassbarer machen. Gleichzeitig
konnten sie zu den verschiedenen Abschnitten Bilder malen und mithilfe dieser die
Märchen nacherzählen. Die Schüler und Schülerinnen durften ebenso Geschichten
17 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 34-81.
Vgl. ebenda, S. 126 ff.
19 Vgl. ebenda, S. 81.
18 -6-
vortragen, die sie Zuhause vorbereitet hatten (vorbereitete Geschichten erzählen).
Weiterhin wurde durch das Erzählen mit Requisiten die Phantasie auf sehr greifbare
Weise angeregt, während sie sich an (selbst) mitgebrachten Gegenständen orientieren
konnten. Die Kinder wurden durch diese Verfahren auf spielerische und ungezwungene
Weise an das selbstständige Erzählen herangeführt, welches als letztes Verfahren
eingeführt wurde.20
3.2. Implizite Sprachvermittlung
Auf welche Weise „Sprachlos?“ diejenigen Kinder unterstützen kann, die Deutsch als
zweite Sprache erlernen, soll im Nachfolgenden geklärt werden.
Hierzu ist zunächst zwischen den Termini Spracherwerb und Sprachvermittlung zu
unterscheiden, die beide zur Aneignung der Zweitsprache führen. Der sogenannte
Spracherwerb vollzieht sich auf implizite Weise im natürlichen Kontext. Mit dem
natürlichen Kontext sind allgemein kommunikative Situationen und der handelnden
Umgang mit Sprache gemeint, beispielsweise alltägliche Gespräche in Schule, Familie
und im Freundeskreis. 21 Diese Art des Sprachenlernens wird auch als ungesteuerter
Spracherwerb bezeichnet. 22 Es entwickelt sich auf diesem Weg eine sogenannte
Interlanguage
–
mit
dieser
Lernersprache
können
sich
Kinder
mit
Migrationshintergrund, im konzeptionell mündlichen Bereich recht gut verständigen, im
schulisch-schriftlichen Bereich kommt es jedoch zu Schwierigkeiten.23
Im Gegensatz
dazu zeichnet sich die Sprachvermittlung als weiterer sprachlicher Aneignungsprozess
dadurch aus, dass sie im institutionellen Kontext – hier mit besonderem Augenmerk auf
die Institution Schule – passiert.24
Bei der Sprachvermittlung lassen sich generell zwei didaktisch-methodische Wege
differenzieren. Erstere Möglichkeit ist die explizite Vermittlung von sprachlichen
Regeln
und
Terminologien.
Die
effizientere
Methode,
Kinder
mit
Migrationshintergrund beim Zweitspracherwerb zu unterstützten, ist die implizite,
systematische Vermittlung. Diese Form der Vermittlung von Sprache basiert auf dem
gezielten input von sprachlichem Material und einem strukturierten Angebot an
20 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 81 ff.
Vgl. Belke (2007), S. 5.
22
Vgl. Kniffka/Siebert-Ott (2009), S. 29.
23
Vgl. ebenda, S. 44.
24
Vgl. Belke (2007), S. 5.
21
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spielerischen Übungen. 25 Diese Art der Sprachvermittlung eröffnet den Kindern die
Möglichkeit des impliziten Lernens.
Dieser Methode der Sprachvermittlung lässt sich „Sprachlos?“ zuordnen, da es bei dem
Projekt nicht um ein explizites Auswendiglernen von Wörtern, Grammatik oder
literarischen Mustern ging. Vielmehr wurde die deutsche Sprache durch den gezielten
input von Märchen und auf dem ästhetischen Weg des Erzählens vermittelt.
Nachdem die theoretische Konzeption von „Sprachlos?“ aufgedeckt wurde, soll im
Weiteren dargestellt werden, welche Bereiche des Schriftspracherwerbs durch dieses
implizite Lernen gefördert werden können.
4. Bereiche der Sprachförderung bei „Sprachlos?“
4.1. Implizites Lernen literarischer Muster
In der bildungspolitischen und pädagogischen Diskussion ist anerkannt, dass Kinder,
denen häufig vorgelesen wird, bessere sprachliche Voraussetzungen aufweisen als
Kinder, die keine ausgeprägte Lesesozialisation erfahren haben.26 Doch warum ist das
so?
Durch das Vorlesen, aber eben auch durch Erzählungen, wird Kindern Sprache in
konzeptionell schriftlicher Form nähergebracht. Erzählte Geschichten, insbesondere
Märchen, enthalten literarische Muster. Märchen beinhalten dabei die typische
Verlaufsform, das literarische Muster bestehend aus Vorgeschichte, Etablierung des
Gegenspielers, Bedrohung, Bewährung, glückliche Auflösung des Konfliktes. 27
Durch das wiederholte Zuhören werden diese Strukturen der Geschichte immer wieder
rekapituliert. Da die literarischen Muster in keiner Weise explizit thematisiert werden,
geschieht diese Aneignung der Muster auf implizite Weise. 28 Im Rahmen des Projektes
„Sprachlos?“ wurden Märchen nicht nur erzählt und dienten so als Grundlage für die
Verinnerlichung von literarischen Mustern. Wie in 3.1. beschrieben, nutzten die
Erzählerinnen auch Verfahren wie beispielsweise das interaktive Erzählen oder die
Gliederung der Geschichten. Das implizite Lernen der literarischen Muster aus den
Märchen wurde auf diesem Wege noch verstärkt, indem beispielsweise die
Anfangsformel der Märchen oder regelhafte Wendungen mitgesprochen wurden. Dass
die Kenntnis solcher Formeln bei der Textproduktion und daher auch insgesamt als
Annäherung an Schriftlichkeit hilfreich ist, betont auch Weinhold (2005). Sie
25
Vgl. Belke (2007), S. 6.
Vgl. Rosenbrock (2008), S. 168.
27
Vgl. Wardetzky (2000), S. 166.
28
Vgl. Merklinger (2010), S. 55.
26
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untersuchte Schreibprodukte von Kindern aus dem ersten Schuljahr und erkannte, dass
beispielsweise
die
Märchenformel
„Es
war
einmal“
den
Einstieg
in
eine
selbstgeschriebene Geschichte erleichtern kann. 29
Als stark verkürztes Beispiel für die Verinnerlichung der Struktur der erzählten
Märchen soll hier eine erfundene Geschichte von einem Mädchen aus der zweiten
Klasse dienen, das zu diesem Zeitpunkt ein halbes Jahr lang an dem Projekt
teilgenommen hatte:
„Es war einmal ein Meer. Da habe ich einen Hai gesehen. Er wollte mich fressen. Ich
bin so schnell geschwommen. Dann bin ich dahin gegangen, wo meine Mutter war und
da sind wir weggegangen.“30
Insgesamt beobachten Wardetzky/Weigel (2008), dass den Kindern diese Verlaufsform
der Volksmärchen nach einer gewissen Zeit zum kreativen Gebrauch zur Verfügung
stehen und sie auf dieser Basis eigene Geschichten erfinden können. 31 Wardetzky
(2010) nennt diese lange Zeit, in der die Kinder mit dem Genre Märchen, mit den
Bildern, Motiven, Konfliktkonstellationen und Bauplänen durch das Erzählen und
eigene Nacherzählen vertraut werden, die Inkubationszeit des Mündlichen. Sie verweist
ausdrücklich darauf, dass erst nach dieser Zeit die Kinder dazu angehalten werden,
eigene Geschichten zu verschriftlichen.32
Man könnte die narrative Struktur der Märchen also auch als eine Spielhandlung
begreifen; „wie Spielsteine auf einem Spielbrett lassen sich die Figuren, Orte,
Handlungen erkennen, wiederholen, und später austauschen, verändern, umdrehen.“ 33
Durch dieses implizite Lernen der narrativen Struktur von Märchen ist den Kindern ein
Grundgerüst gegeben, anhand dessen sie sich orientieren können und schließlich ihre
eigene Geschichte erzählen können – dieses selbstständige Aufrufen von Gedanken und
die Strukturierung derselben ist gleichzeitig ein wichtiger Zugang zur Schriftlichkeit. 34
4.2. Dekontexualisierung durch Erzählen
Dekontextualisierung gilt – wie in 2.2 angeführt – als eine der wichtigsten
Voraussetzungen für die Verwendung von Schriftlichkeit bzw. der Bildungssprache.
Doch wie kann diese Fähigkeit durch Erzählen von Märchen geschult werden?
29
Vgl. Weinhold (2005), S. 72.
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 82.
31
Vgl. ebenda, S. 82 f.
32
Vgl. Wardetzky (2010), S. 46.
33
Kohl (2000), S.17.
34
Vgl. Portmann (1996), S. 158 f.
30
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Durch das Nacherzählen und schließlich dem eigenen Erzählen von Märchen lernen die
Kinder, mit einem längeren Text umzugehen, der unabhängig von der jeweiligen
kommunikativen Situation, also konzeptionell schriftlich ist. Die zu erzählende oder
erzählte Geschichte hat nichts mit dem thematischen Kontext der Situation zu tun, in
der die sich Kinder augenblicklich befinden – sie müssen sich aus dieser auf sprachliche
Weise hinausbewegen und abstrahieren. Sprache wird hier dekontextualisiert, aus dem
gegenwärtigen Kontext herausgehoben und als eigenständiges Gebilde erfasst. 35
Dekontextualisierung als Sprechen über Abwesendes führt dazu, dass sich der Erzähler
nur im sehr begrenzten Maße über nonverbale Mittel ausdrücken kann. Diese dienen in
erster Linie dazu, das Erzählte zu unterstützen – der Inhalt muss aber hauptsächlich über
die sprachliche Ebene wiedergegeben werden. Diese Anforderung, sich vom
konzeptionell mündlichen Sprachgebrauch zu lösen und in die konzeptionell schriftliche
Sprache
einer
Erzählung
überzugehen,
entspricht
deswegen
teilweise
den
schriftsprachlichen Anforderungen im Unterricht. 36
Erzählen ist dennoch von dem Dialog zwischen Erzähler und Zuhörer geprägt und nicht,
wie man annehmen könnte, von ausschließlich monologischem Charakter: Die
Hörenden reagieren durch nonverbale und verbale Äußerungen auf das Erzählte und der
Erzähler richtet seine Erzählung auf diese Reaktionen aus. 37 Zwar hat der Erzähler
während seiner gesamten Erzählung das Rederecht inne, aber wie in einem Dialog
nehmen die Hörer das Gesagte nicht teilnahmslos auf, sondern interagieren mit dem
Erzählenden.38 Genau aus diesem Grund fungiert das Erzählen, da es zwischen dem
dialogischen Sprechen und dem eher monologisch angelegten Vorlesen liegt, bildlich
gesehen als eine Brücke in die Schriftlichkeit.
4.3. Erweiterung der Sprachkompetenz durch Zuhören und Nacherzählen
Unter dieser Überschrift werden gleich zwei Fähigkeiten – die Sprachkompetenz und
die Kompetenz des Zuhörens erfasst – da diese sich im Projekt „Sprachlos?“ wechselseitig beeinflussen und fördern.
Zunächst einmal sollte geklärt werden, was unter Zuhören im Rahmen von
„Sprachlos?“ zu verstehen ist: „Zu-Hören ist gerichtetes Hören. Im Zuhören verwandelt
sich reaktives in aktives Hören. Zuhören schließt Zuwendung, Aufmerksamkeit,
35
Vgl. Merkel (2006), S. 11.
Vgl. Andresen (2011), S. 154.
37
Vgl. Merkel (2005), S. 168.
38
Vgl. Merkel (2006), S.11.
36
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Konzentration ein.“ 39 Hiermit wird deutlich, dass sich ein aktiver Zuhörer auf das
Erzählte fokussiert und eine Reaktion in Form von Sinnerfassung angeregt wird. Laut
Wardetzky (2008) erfolgt diese Sinnkonstitution beim Hören durch „[…]das Ineinander
von Erkennen, Empfinden und Werten.“ 40 Anders formuliert versucht das Kind
während des Hörens die einzelnen Wörter des Märchens mit ihren Bedeutungen zu
erfassen, versucht Übereinstimmungen zwischen Wörtern festzustellen, revidiert oder
präzisiert eventuell seine Hypothesen über Bedeutungen. 41
Es soll kurz erläutert werden, wie die Erzählerinnen es schafften, Kinder, die vor allem
durch visualisierende Medien geprägt waren, zum Zuhören zu bewegen. In der
Erprobungsphase des Projekts wurde offensichtlich, dass das betont körpersprachliche
Erzählen die stärkste Wirkung auf die Kinder hatte. Die Kinder folgten den
Erzählerinnen mit der höchsten Konzentration, wenn diese die Geschichte durch
expressive Mimik und Gestik unterstützten. Der Grund hierfür kann vor allem darin
gesehen werden, dass die Kinder eine Bebilderung von Sprache durch das Fernsehen
gewöhnt waren. Die Erzählerinnen selbst empfanden diese Art der Vermittlung von
Märchen zunächst als eine Vergröberung derselben, erkannten aber letztendlich diese
Erzählform als unverzichtbar für das aktive Zuhören der Kinder an. 42
Waren die Kinder mit ihrer vollen Aufmerksamkeit bei der Geschichte, so konnten, vor
allem bei den Nacherzählungen, Lernprozesse festgestellt werden. Es ließ sich unter
Anderem feststellen, dass die Kinder sich an der Zeitform des Präteritums versuchten,
was sie im (schulischen) Alltag vermieden hatten. Beispielhaft ist hierzu der Versuch
eines Kindes zu nennen, das ein Märchen nacherzählt: „Dann gang, gang, gang er weiter
zu einen Jungen.“43 Obwohl hier noch nicht die richtige Tempus-Form gewählt wurde,
sind allein dieses Bewusstsein für Zeitformen und der Versuch, die richtige
Vergangenheitsform zu bilden bei nichtdeutschsprachigen Kindern als sehr wertvoll zu
erachten.
Zudem kann es als Basis für die weitere Arbeit mit Grammatik gesehen
werden.
Weiterhin konnte festgestellt werden, dass sich die Kinder bestimmte Wörter und
Wendungen auf implizite Weise aneigneten. Als eines von vielen Beispielen ist hier der
Junge O. zu nennen, der ein Märchen nacherzählt, in dem Trolle vorkommen. Zunächst
ersetzt er das ihm unbekannte Wort durch Riese – was aber gleichzeitig deutlich werden
39
Wardetzky/Weigel (2008), S. 66.
Wardetzky/Weigel (2008), S. 68.
41
Vgl. Rodari (1999), S. 141.
42
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 59.
43
Wardetzky/Weigel (2008), S. 97.
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lässt, dass er die Bedeutung des Wortes ziemlich exakt über den Kontext erfasst hat. Im
weiteren Verlauf der Geschichte macht er diese Substitution rückgängig und fügt das
Wort Troll in seine Erzählung ein. Der Wortschatz des Jungen hatte sich erkennbar
erweitert.44
Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass die Kinder durch das Hören, das
Nacherzählen der Märchen implizit ihren Wortschatz vergrößern konnten und auch im
grammatikalischen Bereich Fortschritte machten. Durch die Verfahren, die die
Erzählkompetenz stärkten, wie z.B. das interaktive Erzählen, wurden das Bewusstsein
für die deutsche Sprache und der Umgang mit ihr unbewusst als auch spielerisch erprobt.
5. Märchen als Grundlage des Projekts
5.1. Struktur von Märchen und moderne Kinderliteratur im Vergleich
Nachdem dargelegt wurde, warum Erzählen eine Möglichkeit der Sprachvermittlung für
nichtdeutschsprachige Kinder ist, soll jetzt der Frage nachgegangen werden, warum
gerade Märchen sich im besonderen Maße für das Erzählen und damit einhergehend für
die Sprachförderung bei „Sprachlos?“ eignen.
Das implizite Lernen literarischer Muster ist grundsätzlich als ein wichtiger Zugang für
die Schriftlichkeit zu sehen. Aber welche Strukturen weisen die Märchen darüber hinaus
auf, die sie für die Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund
prädestinieren?
Betrachtet man diverse Werke der heutigen Kinderliteratur, so findet man eine immense
Vielfalt
an literarischen Vorgehensweisen, eine Geschichte zu erzählen. Es gibt
demnach keine einheitlichen Strukturen in modernen Kinderbüchern.
Diese mangelnde Stringenz ist im Märchen nicht der Fall – sie bedienen sich
verschiedener Elemente, die immer wiederkehrend sind. Zu nennen sind hier
beispielsweise die Figuren König, Prinzessin, Schwester, Bruder, Mutter oder auch
verschiedene Handwerksberufe. Aber ebenso tauchen Orte wie der Wald, der Brunnen,
das Schloss und das Königreich in verschiedenen Märchen auf.45
Dieses Wiederkennen von Figuren in der Erzählung eines unbekannten Märchens kann
vor allem nicht deutschsprachigen Kindern Sicherheit geben sowie Anhalts- und
Orientierungspunkt sein. Die Figuren im Märchen haben noch etwas gemein: Sie sind
eindimensional, flächig – sie sind entweder gut oder böse. 46 Auch hier ist wieder eine
44 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 105.
Vgl. Kohl (2000), S. 17.
46 Vgl. Neuhaus (2005), S. 5.
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klare Struktur zu erkennen, die nichtdeutschsprachigen Kindern hilft, die Geschichte
schnell zu erfassen und zu überblicken. Für diese überschaubare Struktur spricht ebenso,
dass viele Märchen eine einsträngige Handlung aufweisen. Die Handlung folgt dem
Helden/dem Guten und weist keine Gleichzeitigkeit von Geschehen auf oder führt
weitschweifig Nebenfiguren ein. Der Zuhörer muss nicht, wie in manch anderen
Geschichten, mehrere Geschehen mental in Verbindung bringen. Eine Tatsache, die die
Märchen für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache eingängig werden lässt.
5.2. Das Prinzip Hoffnung in Märchen
Viele Kinder, die am Projekt „Sprachlos?“ teilnahmen, wissen aus eigener Erfahrung,
was Armut, Ausgrenzung und Nichtachtung bedeuten. Jeder fünfte Einwohner im
Berliner Wedding, in dem das Projekt stattfand, lebt von Sozialhilfe; eine
Zweizimmerwohnung für eine fünfköpfige Familie ist dort nichts Seltenes. 47
Märchen thematisieren, wie kaum eine andere Literaturgattung, diese existentiellen
Lebenswidrigkeiten und Nöte. Sie haben Verlust, Prüfung, Einsamkeit und vor allem
auch das Heranwachsen und Erwachsenwerden zum Inhalt und schildern mitunter harte
Überlebenskämpfe. 48 Diese zentralen Motive der Märchen sind vielleicht eine der
Hauptgründe, weshalb die Kinder den Erzählerinnen bei „Sprachlos?“ so gebannt
zuhörten: Sie konnten sich oft nur allzu gut in die Protagonisten hineinversetzen und
ihre missliche Lage mitfühlen. Die Kinder entwickelten Empathie. Die starke
Anteilnahme, die bei den Kindern sogar durch physische Reaktionen ersichtlich wird,
lässt sich beispielhaft in dieser Szene aus dem Projekt erkennen:
Erzählerin: „Zum letzten Mal: Wirf meine Frau und meinen Sohn ins Feuer!“ Ein Kind
reißt die Arme hoch und ruft voller Angst: „Nein!“.49
Dieser Aspekt der Schulung von Empathie ist in positiver Weise zu berücksichtigen,
wenn man bedenkt, dass das Verhalten der Kinder im Unterricht oft von Brutalität und
Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen geprägt ist.
Darüber hinaus und vermutlich noch viel entscheidender für den Einsatz von Märchen
im Projekt ist das gute Ende der Märchen bzw. der Sieg des Guten über das Böse.
Wardetzky/Weigel (2008) greifen diesen Aspekt des guten Endes, aber auch des
schwierigen Weges dorthin auf: „das Glück wartet dort, wo der Abgrund am tiefsten
ist“50. Die Kinder erfahren durch die Märchen, dass sich schlechte Lebensbedingungen
47
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 34.
Vgl. Wallrabenstein/Wichert (2000), S. 7 f.
49
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 71.
50
Wardetzky/Weigel (2008), S. 41.
48
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verändern lassen, dass auch die Schwachen, Kleinen und Dummen siegen können und
schenken ihnen so Trost und Zuversicht.51
Die Märchen bieten auf diesem Weg Gelegenheit, sich mit den eigenen Problemen und
Nöten auseinandersetzen und zwar in der literarischer Sicherheit der Geschichte. 52 In
Grenzen können Märchen eine Möglichkeit für die Bewältigung der alltäglichen
Probleme der Kinder darstellen, was wiederum die Basis für eine ausgeglichene
Persönlichkeit ist.
5.3. Die Sprache der Märchen
Als letzter Untersuchungsaspekt soll jetzt die Sprache der Märchen als Mittel der
Sprachvermittlung untersucht werden. Im Projekt „Sprachlos?“ trafen die drei
Erzählerinnen ganz bewusst die Entscheidung, die Sprache der Märchen nicht der
modernen Alltagssprache anzupassen, sie zu reduzieren oder in irgendeiner anderen
Form zu verändern – die Kinder sollten die „alte“, poetische Sprache kennenlernen.53
Die Syntax der Märchen ist recht einfach gehalten. Es gibt keine verschachtelten
Nebensätze, sondern fast ausschließlich Hauptsätze, 54 was auch durch die einstränge
Handlung bedingt ist. Weiterhin kommen die schon erwähnten typischen Formeln vor,
die für die Kinder sehr eingängig sind.
Im Kontrast zu der alltäglichen Umgangssprache der Kinder und der Unterrichtssprache
kennzeichnet sich das Märchen vor allem durch seinen altertümlichen Sprachgebrauch
aus. Oftmals kommen Wörter, Wendungen oder auch Berufsbezeichnungen vor, die den
Kindern kein Begriff mehr sind. In dem Projekt machten die Kinder beispielsweise aus
einem „Müller“ jemanden „der den Müll runterbringt“, das Wort „Kohle“ wurde
gleichgesetzt mit „Cola“ und einige Schüler fragten sich, was eine „Kammer“ ist oder
die „Hölle“. Die meisten dieser Begriffe wurden nicht explizit erklärt. Trotzdem hatten
die Kinder über den Kontext der Geschichte nachher eine Vorstellung von der
Bedeutung des Wortes erworben.55
Wallrabenstein und Wichert (2000) beschreiben treffend den Zusammenhang von der
Sprache der Märchen und ihre Anziehungskraft auf die Kinder:
51
Vgl. Wallrabenstein/Wichert (2000), S. 7.
Vgl. Spinner (1997), S. 62.
53
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 44.
54
Vgl. Neuhaus (2005), S. 5.
55
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 68.
52
- 14 -
„Die Sprache der Märchen ist deftig, direkt, klar und von einer‚ altmodischen‘ tiefen
Kraft, die Kinder angesichts der Belanglosigkeit und Oberflächlichkeit zahlreicher
Alltagssprachformeln auf besondere Weise anzieht.“56
Es scheint, als ob gerade die Differenz, die zwischen der Alltagssprache und der Diktion
der Märchen besteht, die Faszination derselben ausmacht. Die Kinder sind gebannt von
der Sprache als solcher, weil sie sich in so einem hohen Maße von ihrem eigenen
sprachlichen Ausdruck unterscheidet.
Diese Beziehung vermitteln insbesondere die eigenen Erzählungen der Kinder bei
„Sprachlos?“. Die Kinder wollen ihre Geschichten nicht in irgendeiner Sprache, sondern
in der Sprache der Märchen formulieren und sind stolz, wenn ihnen eine besonders
außergewöhnliche sprachliche Konstruktion gelungen ist. 57
6. Fazit
Zu Beginn dieser Arbeit wurde die Hypothese aufgestellt, das Projekt „Sprachlos?“ sei
ein innovativer Ansatz von Sprachförderung und -vermittlung sowie im besonderen
Maße für die sprachliche Unterstützung von Kinder mit Deutsch als Zweitsprache
geeignet. Es soll zusammenfassend wiedergegeben werden, welche Argumente für diese
These sprechen.
Bei der Untersuchung des Projektes mithilfe der Dokumentation „Sprachlos? Erzählen
im interkulturellen Kontext. Erfahrungen aus einer Grundschule.“ von Kristin
Wardetzky und Christiane Weigel wurde besonders offensichtlich, dass die Kinder nicht
auf explizite Weise, etwa über Regeln, Grammatik und Wortschatzarbeit, die deutsche
Sprache lernten. Die Vermittlung erfolgte vielmehr über aufregende Geschichten und
andere Verfahren des Erzählens: Nicht ansetzend an den Defiziten der Schüler und
Schülerinnen, sondern über einen ästhetischen und emotionalen Zugang zu der Sprache
Deutsch. Das implizite und vor allem kontinuierliche Lernen ermöglichte den Kindern
letztendlich, was für sie essentiell wichtig für den weiteren Erfolg in der Schule ist: Die
Erfahrung, kompetent mit der deutschen Sprache umgehen zu können. Die Aneignung
der literarischen Struktur der Märchen, das selbständige Benutzen der märchentypischen
Formeln und auch das Einprägen neuer Wörter führten letztendlich dazu, dass die
Kinder zu fähigen Erzählern und Erzählerinnen wurden. Dieser Erfolg, selbst
Geschichten entwickeln und erzählen zu können, ist eine nicht zu unterschätzende
56 57 Wallrabenstein/Wichert (2000), S. 9.
Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 40.
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positive Erfahrung des eigenen (schulischen) Könnens – insbesondere für Kinder, die
Deutsch als zweite Sprache lernen.
Es ist offensichtlich, dass diese Art der Sprachvermittlung nicht alle sprachlichen
Defizite von nichtdeutschsprachigen Kindern vollständig und in kürzester Zeit auflösen
kann. Diesen Anspruch kann nur eine kontinuierliche, umfassende Förderung,
beispielsweise auch im Rechtschreiben, stellen. Vielmehr ist das Projekt als ein Konzept
anzusehen, Kindern die literarische Sprache der Märchen näherzubringen und ihnen
Freude an Literatur zu vermitteln. Gleichzeitig stellte das Geschichtenerzählen eine
Brücke in die Schriftlichkeit dar: Die Kinder werden über die Erzählungen mit
konzeptionell schriftlicher Sprache produktiv und setzten sich aktiv mit dieser
auseinander. Letztendlich sind es in Zukunft solche Ansätze wie das Projekt
„Sprachlos?“, die den Weg zu einer effizienteren und erfolgreicheren Integration von
Kindern mit Migrationshintergrund ebnen werden.
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