Märchen erzählen als Methode der Sprachförderung – Eine
Transcription
Märchen erzählen als Methode der Sprachförderung – Eine
1 -Bereich Germanistische LiteraturdidaktikVeranstaltung „…und das letzte Königreich. Literarisches Lernen mit den Kinder- und Hausmärchen.“ (SS 2012) Jun.-Prof. Dr. Michael Ritter Postfach 100131 33501 Bielefeld UNIVERSITÄT BIELEFELD Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft Märchen erzählen als Methode der Sprachförderung – Eine Betrachtung des Projektes „Sprachlos?“ Hausarbeit vorgelegt von: Elena Greiwe Betreuer: Jun.-Prof. Dr. Michael Ritter Abgabetermin: 26.10.2012 - II 2- Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ...................................................................................................................... 1 2. Sprache und Schule ....................................................................................................... 2 2.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit............................................................................. 2 2.2 Schriftlichkeit in der Schule ................................................................................... 4 3. Das Projekt „Sprachlos?“ .............................................................................................. 5 3.1 Einführung ............................................................................................................... 5 3.2 Implizite Sprachvermittlung .................................................................................... 6 4. Bereiche der Sprachförderung bei „Sprachlos?“........................................................... 7 4.1 Implizites Lernen literarischer Muster .................................................................... 7 4.2 Dekontexualisierung durch Erzählen ...................................................................... 8 4.3 Erweiterung der Sprachkompetenz durch Zuhören und Nacherzählen ................... 9 5. Märchen als Grundlage des Projekts........................................................................... 11 5.1. Struktur von Märchen und moderne Kinderliteratur im Vergleich ...................... 11 5.2 Das Prinzip Hoffnung in Märchen ........................................................................ 12 5.3 Die Sprache der Märchen ...................................................................................... 13 6. Fazit............................................................................................................................. 14 Literaturverzeichnis…………………………………………………………………….16 -1- 1. Einleitung In ihrer Regierungserklärung vom 10. November 2009 sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel vor dem Bundestag: „Wir bekämpfen Bildungsarmut. Jedes Kind soll vor dem Schulbeginn eine Sprachförderung erhalten, wenn das notwendig ist. Ich sage mit Nachdruck: Auch die Integration der Zuwanderer und ihrer Kinder führt zuerst und vorneweg über Sprache und Ausbildung.“1 Mit dieser Aussage Merkels wird offensichtlich, dass der Bildungserfolg in unserem Land in einem hohen Maße von der Beherrschung der deutschen Sprache abhängig ist.2 Die PISA-Studie kam in diesem Zusammenhang zu dem Ergebnis, dass Schüler mit Migrationshintergrund weiterhin einen großen Kompetenznachteil gegenüber Schülern ohne Migrationshintergrund aufweisen. Dieser Nachteil im Bereich der schulischen Kompetenzen ist eindeutig auch auf die Fertigkeiten im Umgang mit der deutschen Sprache zurückzuführen. 3 Es ist unbestritten, dass der Bildungserfolg neben der kompetenten Beherrschung der (Unterrichts-)Sprache von weiteren Faktoren abhängt. Gleichzeitig ist aber ebenso ersichtlich, dass der Faktor Sprache im deutschen Schulwesen eine zentrale Determinante für Kinder mit Migrationshintergrund darzustellen scheint. Auch Angela Merkel erkennt diesen Zusammenhang, während sie infolgedessen betont, dass Sprachförderung ein Mittel gegen diese Bildungsungleichheit sein kann. Angesichts dessen stellt sich daher die Frage, wie man Schüler mit Deutsch als Zweitsprache beim Spracherwerb unterstützen kann, sodass diese keine Benachteiligung aufgrund ihrer Herkunftssprache erfahren. Diesen Anspruch hat sich das Projekt „Sprachlos?“ aus Berlin zum Auftrag gemacht. „Sprachlos?“ stellt einen innovativen und außergewöhnlichen Ansatz von Sprachvermittlung dar. Professionelle Erzählerinnen besuchten über zwei Jahre lang in regelmäßigen Abständen Grundschulen im Berliner Problemviertel Wedding und erzählten Schülern der ersten und zweiten Klassenstufe internationale Märchen in ihrer ursprünglichen Form. 4 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll dieser Ansatz von Sprachvermittlung näher beleuchtet werden. Hinleitend wird der Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der Sprache erläutert, um anschließend die besondere Rolle der 1 o.V.I (2009). Vgl. Stanat/Müller (2006), S. 155. 3 Vgl. Siegert (2008), S. 55. 4 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 8. 2 -2- Schriftlichkeit in der Schule zu thematisieren. Es wird an dieser Stelle nicht der ganze Sprachbegriff betrachtet, sondern speziell die Fertigkeiten, die während der Kommunikation in Schule und Alltag notwendig sind. Hiernach steht dann das Projekt „Sprachlos?“ im Fokus der Betrachtung. Einführend wird ein kurzer Überblick über den Aufbau und Ablauf des Projektes gegeben. Es wird kurz angerissen, welches Konzept von Sprachvermittlung hinter „Sprachlos?“ steht. Danach wird dargestellt, welche Bereiche von Sprache – auch im Hinblick auf die Schriftlichkeit –gefördert werden können. Abschließend wird die besondere Bedeutung von Märchen für die sprachliche Förderung untersucht. 2. Sprache und Schule 2.1 Mündlichkeit und Schriftlichkeit Anders als beispielsweise das Nachbarland Luxemburg ist Deutschland offiziell ein einsprachiges Land – das bedeutet u.a., dass die Unterrichtsprache in den Schulen Deutsch ist. Ausgenommen weniger Möglichkeiten eines bilingualen Unterrichts müssen Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund in der Regel trotz mangelnder Deutschkenntnisse dem Unterricht in deutscher Sprache folgen. Sie müssen sich in einer fremden Sprache neue Wissensgebiete erschließen und Fachvokabular aneignen. Problematisch ist hierbei, dass die Beherrschung der Unterrichtsprache in Bezug auf den Bildungserfolg, wie bereits einleitend thematisiert, einen hohen Stellenwert hat.5 In der fachlichen Diskussion entspricht diese Sprache, die im schulischen Kontext verwendet wird und die demnach auch nichtdeutschsprachige Kinder sprechen und verstehen müssen, in großen Teilen dem konzeptionellen Modus der Schriftlichkeit.6 Im Nachfolgenden soll, in Bezug auf den Ansatz von Koch/Oesterreicher (1994), gezeigt werden, welche Merkmale konzeptionell schriftliche Bildungssprache aufweist. Im nächsten Abschnitt wird dann konkret geklärt, welche Anforderungen sie an die Schüler und Schülerinnen stellt. Koch/Oesterreicher (1994) differenzieren in ihrem Ansatz zwischen einer medialen und einer konzeptionellen Dimension von Sprache. Medial kann Sprache als mündliche Form oder eben geschrieben als Text auftreten. Diese Unterscheidung ist dichotomisch. Weiterhin hat Sprache aber auch eine konzeptionelle Dimension: sie kann sich innerhalb eines Kontinuums bewegen, dessen Grenzen mit den Begriffen mündlich und 5 6 Vgl. Kniffka/Siebert-Ott (2009), S. 15. Vgl. Fürstenau/Lange (2011), S. 42. -3- schriftlich gekennzeichnet sind. Eine mündliche Äußerung kann von ihrer Konzeption eher schriftlich wissenschaftlichen angelegt sein, Diskussion wenn sie beispielsweise geschieht und dabei innerhalb dementsprechend einer häufig Fachvokabular sowie viele erklärende Nebensätze verwendet werden. Ebenso ist eine SMS medial eindeutig schriftlich, konzeptionell ist sie aber aufgrund ihrer Kürze und des umgangssprachlichen Tons eher mündlich beschaffen.7 Nach Günther (1997), der das Modell von Koch/Oesterreicher (1994) aufgreift, gibt es bei den Dimensionen Schriftlichkeit/Mündlichkeit unterschiedliche Kommunikationsbedingungen. Diese führen wiederum zu anderen Versprachlichungsstrategien und erzeugen so den Unterschied zwischen konzeptionell mündlich und konzeptionell schriftlich. So ist beispielsweise als zentrale Kommunikationsbedingung in der Schriftlichkeit die Situationsentbindung oder Dekontexualisierung zu nennen. Außerdem ist Schriftlichkeit monologisch angelegt, da Schreiber und Leser nicht direkt interagieren (Fremdheit der Partner, raumzeitliche Trennung). Im Gegensatz dazu wird Mündlichkeit durch ihren dialogischen und eher privaten Charakter, Spontanität und der Situationsverschränkung bedingt.8 Aus diesen kommunikativen Bedingungen gehen nun Versprachlichungsstrategien hervor: Prozeßhaftigkeit ist hier beispielsweise auf der Seite der Mündlichkeit zu nennen, da sich diese am „Fortgang des Gesprächs orientiert und nicht an der Struktur eines formalen Produktes“9, wie es bei der konzeptionellen Schriftlichkeit der Fall ist. Bei der Schriftlichkeit sind als Versprachlichungsstrategien Vergegenständlichung und Endgültigkeit zu nennen, was im Prinzip nichts anderes meint als den Text als Ziel.10 Die genannten Versprachlichungsstrategien tragen auch dazu bei, dass eine höhere Komplexität, Planung und Informationsdichte bei der Schriftlichkeit vorherrscht als bei der Mündlichkeit.11 Diese Kriterien können hinzugezogen werden, wenn sprachliche Äußerungen in das Kontinuum von konzeptionell eher schriftlich/mündlich eingeordnet werden sollen. Dabei ist aber zu betonen, dass die Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit fließend sind. 12 7 Vgl. Koch/Oesterreicher (1994); vgl. dazu auch Fix(2006), S. 66 ff. Vgl. Günther (1997), S. 64 ff. 9 Merklinger (2010), S. 27. 10 Vgl. Günther (1997), S. 64 ff. 11 Vgl. ebenda. 12 Vgl. Fix (2006), S. 66. 8 -4- 2.2 Schriftlichkeit in der Schule Die Bildungssprache in deutschen Schulen ist überwiegend konzeptionell schriftlich. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der gesamte Unterricht mit der Zeit konzeptionell schriftlich wird.13 Darunter ist zu verstehen, dass auf die Produktion und Rezeption von Text im Laufe der Schulzeit immer mehr Wert gelegt wird. Der Begriff der Bildungssprache ist darüber hinaus erweiterbar, als dass der Erwerb derselben gleichsetzt werden kann mit dem Erwerb von spezifischen sprachlichen Kompetenzen. Eine solche spezifische sprachliche Kompetenz ist die besondere Herausforderung an die Schüler und Schülerinnen, „die Ebene des sympraktischen Sprachgebrauchs zu überschreiten und sich auf die Ebene des dekontextualisierten Textgebrauchs zu begeben.“14. Im Gegensatz zur gesprochenen, konzeptionell eher mündlichen Sprache, beispielsweise in einem Alltagsgespräch, kann ein Text nicht durch Mimik, Gestik oder etwaige Zeigegesten unterstützt und vervollständigt werden. Die Sprache ist eben nicht mehr an eine vom Dialog bestimmte Situation gebunden. In diesem Kontext ist es hilfreich, sich Andresens (2002) Definition von Dekontexualisierung zu vergegenwärtigen: „Dekontextualisierung bedeutet dabei nicht die Befreiung der Handlung von jeglichem Kontext, sondern die Versetzung in einen anderen Kontext.“ 15 So muss sich ein Schüler in einer Schreibsituation oder auch im konzeptionell schriftlichen Gespräch von seiner gegenwärtigen Situation distanzieren. Er muss sich sprachlich in seinen Text oder in eine abstrakte Unterrichtsthematik hineinversetzen. Neben der Dekontexualisierung sind als Kennzeichen von der konzeptionell schriftlichen Bildungssprache Abstraktionen und Explizitheit, hohe Informationsdichte sowie eine hohe Textkohärenz und -kohäsion zu nennen.16 Festzuhalten ist, dass der schulische Alltag von Schriftlichkeit geprägt ist: Das bezieht sich nicht nur auf das Schreiben und Lesen, sondern auch auf die konzeptionell schriftlich geprägte Sprache des Unterrichts. Wenn es im Folgenden darum geht, das Projekt „Sprachlos?“ auf seine Möglichkeiten von Sprachförderung zu untersuchen, sollte deshalb berücksichtigt werden, inwieweit die spezifischen sprachlichen Kompetenzen der Schriftlichkeit unterstützt werden. 13 Vgl. Jeuk (2010), S. 53. Merklinger (2010), S. 33. 15 Andresen (2002), S. 10. 16 Vgl. Naujok (2011), S. 108. 14 -5- 3. Das Projekt „Sprachlos?“ 3.1. Einführung Das Projekt „Sprachlos?“ startete erstmals im September 2005 als Modellversuch zur Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund an der Anna-LindhGrundschule in Berlin. Die Grundschule liegt in einem der ärmsten Bezirke Berlins, im Stadtteil Wedding. Die Kinder stammen zu großen Teilen aus bildungsfernen Elternhäusern; viele Eltern sind Analphabeten oder haben nur kurz eine Schule besucht. An der Schule lernen Kinder aus 27 Nationen. In den Sprachtest zu Beginn der ersten Klassen kennen viele Schüler und Schülerinnen einfachste deutsche Wörter nicht. Des Weiteren ist die Freizeit der Kinder zum großen Teil geprägt von digitalen Medien. Damit einhergehend ist die Phantasie der Kinder besetzt mit medialen Bildern; häufig ist es den Kindern zu Beginn des Projektes nicht möglich, sich das Erzählte gedanklich vorzustellen. Die professionellen Erzählerinnen Sabine Kolbe, Kerstin Otto und Marietta Rohrer-Ipekkya besuchten diese Schule, um einmal wöchentlich Schüler und Schülerinnen der ersten und zweiten Klassen internationale Märchen zu erzählen.17 Sie wählten Märchen aus verschiedenen Kulturen und Ländern, beispielsweise aus Sibirien, aus der Türkei, aus Russland, aus Dänemark und vielen weiteren.18 Zum Ende der Erprobungsphase des Projektes wurde immer stärker der Wert darauf gelegt, dass sich die Kinder selbst Geschichten ausdachten und diese vor ihren Mitschülern erzählten. Die Erzählerinnen unterstützten diesen Prozess mit verschiedenen Verfahren, die Impulse zum selbständigen Erzählen und Hilfe auf dem Weg dorthin sein sollten. Die Verfahren wurden aufeinander aufbauend eingesetzt; zeigte ein Verfahren Erfolg, wurde im nächsten Schritt ein komplizierteres Verfahren eingebracht. 19 Die Erzählerinnen begannen mit der leichten Methode des interaktiven Erzählens, wo die Kinder beispielsweise typische Märchenformeln, Verse und Reime, aber auch kleine Dialoge vor- und mitsprechen durften. Hiernach war das gemeinsam Geschichten erfinden an der Reihe: die Erzählerinnen gaben beispielsweise den Anfang einer Geschichte vor und die Kinder ergänzten den Rest. Des Weiteren sollte die Gliederung der Geschichten in Abschnitte die literarische Struktur fassbarer machen. Gleichzeitig konnten sie zu den verschiedenen Abschnitten Bilder malen und mithilfe dieser die Märchen nacherzählen. Die Schüler und Schülerinnen durften ebenso Geschichten 17 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 34-81. Vgl. ebenda, S. 126 ff. 19 Vgl. ebenda, S. 81. 18 -6- vortragen, die sie Zuhause vorbereitet hatten (vorbereitete Geschichten erzählen). Weiterhin wurde durch das Erzählen mit Requisiten die Phantasie auf sehr greifbare Weise angeregt, während sie sich an (selbst) mitgebrachten Gegenständen orientieren konnten. Die Kinder wurden durch diese Verfahren auf spielerische und ungezwungene Weise an das selbstständige Erzählen herangeführt, welches als letztes Verfahren eingeführt wurde.20 3.2. Implizite Sprachvermittlung Auf welche Weise „Sprachlos?“ diejenigen Kinder unterstützen kann, die Deutsch als zweite Sprache erlernen, soll im Nachfolgenden geklärt werden. Hierzu ist zunächst zwischen den Termini Spracherwerb und Sprachvermittlung zu unterscheiden, die beide zur Aneignung der Zweitsprache führen. Der sogenannte Spracherwerb vollzieht sich auf implizite Weise im natürlichen Kontext. Mit dem natürlichen Kontext sind allgemein kommunikative Situationen und der handelnden Umgang mit Sprache gemeint, beispielsweise alltägliche Gespräche in Schule, Familie und im Freundeskreis. 21 Diese Art des Sprachenlernens wird auch als ungesteuerter Spracherwerb bezeichnet. 22 Es entwickelt sich auf diesem Weg eine sogenannte Interlanguage – mit dieser Lernersprache können sich Kinder mit Migrationshintergrund, im konzeptionell mündlichen Bereich recht gut verständigen, im schulisch-schriftlichen Bereich kommt es jedoch zu Schwierigkeiten.23 Im Gegensatz dazu zeichnet sich die Sprachvermittlung als weiterer sprachlicher Aneignungsprozess dadurch aus, dass sie im institutionellen Kontext – hier mit besonderem Augenmerk auf die Institution Schule – passiert.24 Bei der Sprachvermittlung lassen sich generell zwei didaktisch-methodische Wege differenzieren. Erstere Möglichkeit ist die explizite Vermittlung von sprachlichen Regeln und Terminologien. Die effizientere Methode, Kinder mit Migrationshintergrund beim Zweitspracherwerb zu unterstützten, ist die implizite, systematische Vermittlung. Diese Form der Vermittlung von Sprache basiert auf dem gezielten input von sprachlichem Material und einem strukturierten Angebot an 20 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 81 ff. Vgl. Belke (2007), S. 5. 22 Vgl. Kniffka/Siebert-Ott (2009), S. 29. 23 Vgl. ebenda, S. 44. 24 Vgl. Belke (2007), S. 5. 21 -7- spielerischen Übungen. 25 Diese Art der Sprachvermittlung eröffnet den Kindern die Möglichkeit des impliziten Lernens. Dieser Methode der Sprachvermittlung lässt sich „Sprachlos?“ zuordnen, da es bei dem Projekt nicht um ein explizites Auswendiglernen von Wörtern, Grammatik oder literarischen Mustern ging. Vielmehr wurde die deutsche Sprache durch den gezielten input von Märchen und auf dem ästhetischen Weg des Erzählens vermittelt. Nachdem die theoretische Konzeption von „Sprachlos?“ aufgedeckt wurde, soll im Weiteren dargestellt werden, welche Bereiche des Schriftspracherwerbs durch dieses implizite Lernen gefördert werden können. 4. Bereiche der Sprachförderung bei „Sprachlos?“ 4.1. Implizites Lernen literarischer Muster In der bildungspolitischen und pädagogischen Diskussion ist anerkannt, dass Kinder, denen häufig vorgelesen wird, bessere sprachliche Voraussetzungen aufweisen als Kinder, die keine ausgeprägte Lesesozialisation erfahren haben.26 Doch warum ist das so? Durch das Vorlesen, aber eben auch durch Erzählungen, wird Kindern Sprache in konzeptionell schriftlicher Form nähergebracht. Erzählte Geschichten, insbesondere Märchen, enthalten literarische Muster. Märchen beinhalten dabei die typische Verlaufsform, das literarische Muster bestehend aus Vorgeschichte, Etablierung des Gegenspielers, Bedrohung, Bewährung, glückliche Auflösung des Konfliktes. 27 Durch das wiederholte Zuhören werden diese Strukturen der Geschichte immer wieder rekapituliert. Da die literarischen Muster in keiner Weise explizit thematisiert werden, geschieht diese Aneignung der Muster auf implizite Weise. 28 Im Rahmen des Projektes „Sprachlos?“ wurden Märchen nicht nur erzählt und dienten so als Grundlage für die Verinnerlichung von literarischen Mustern. Wie in 3.1. beschrieben, nutzten die Erzählerinnen auch Verfahren wie beispielsweise das interaktive Erzählen oder die Gliederung der Geschichten. Das implizite Lernen der literarischen Muster aus den Märchen wurde auf diesem Wege noch verstärkt, indem beispielsweise die Anfangsformel der Märchen oder regelhafte Wendungen mitgesprochen wurden. Dass die Kenntnis solcher Formeln bei der Textproduktion und daher auch insgesamt als Annäherung an Schriftlichkeit hilfreich ist, betont auch Weinhold (2005). Sie 25 Vgl. Belke (2007), S. 6. Vgl. Rosenbrock (2008), S. 168. 27 Vgl. Wardetzky (2000), S. 166. 28 Vgl. Merklinger (2010), S. 55. 26 -8- untersuchte Schreibprodukte von Kindern aus dem ersten Schuljahr und erkannte, dass beispielsweise die Märchenformel „Es war einmal“ den Einstieg in eine selbstgeschriebene Geschichte erleichtern kann. 29 Als stark verkürztes Beispiel für die Verinnerlichung der Struktur der erzählten Märchen soll hier eine erfundene Geschichte von einem Mädchen aus der zweiten Klasse dienen, das zu diesem Zeitpunkt ein halbes Jahr lang an dem Projekt teilgenommen hatte: „Es war einmal ein Meer. Da habe ich einen Hai gesehen. Er wollte mich fressen. Ich bin so schnell geschwommen. Dann bin ich dahin gegangen, wo meine Mutter war und da sind wir weggegangen.“30 Insgesamt beobachten Wardetzky/Weigel (2008), dass den Kindern diese Verlaufsform der Volksmärchen nach einer gewissen Zeit zum kreativen Gebrauch zur Verfügung stehen und sie auf dieser Basis eigene Geschichten erfinden können. 31 Wardetzky (2010) nennt diese lange Zeit, in der die Kinder mit dem Genre Märchen, mit den Bildern, Motiven, Konfliktkonstellationen und Bauplänen durch das Erzählen und eigene Nacherzählen vertraut werden, die Inkubationszeit des Mündlichen. Sie verweist ausdrücklich darauf, dass erst nach dieser Zeit die Kinder dazu angehalten werden, eigene Geschichten zu verschriftlichen.32 Man könnte die narrative Struktur der Märchen also auch als eine Spielhandlung begreifen; „wie Spielsteine auf einem Spielbrett lassen sich die Figuren, Orte, Handlungen erkennen, wiederholen, und später austauschen, verändern, umdrehen.“ 33 Durch dieses implizite Lernen der narrativen Struktur von Märchen ist den Kindern ein Grundgerüst gegeben, anhand dessen sie sich orientieren können und schließlich ihre eigene Geschichte erzählen können – dieses selbstständige Aufrufen von Gedanken und die Strukturierung derselben ist gleichzeitig ein wichtiger Zugang zur Schriftlichkeit. 34 4.2. Dekontexualisierung durch Erzählen Dekontextualisierung gilt – wie in 2.2 angeführt – als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Verwendung von Schriftlichkeit bzw. der Bildungssprache. Doch wie kann diese Fähigkeit durch Erzählen von Märchen geschult werden? 29 Vgl. Weinhold (2005), S. 72. Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 82. 31 Vgl. ebenda, S. 82 f. 32 Vgl. Wardetzky (2010), S. 46. 33 Kohl (2000), S.17. 34 Vgl. Portmann (1996), S. 158 f. 30 -9- Durch das Nacherzählen und schließlich dem eigenen Erzählen von Märchen lernen die Kinder, mit einem längeren Text umzugehen, der unabhängig von der jeweiligen kommunikativen Situation, also konzeptionell schriftlich ist. Die zu erzählende oder erzählte Geschichte hat nichts mit dem thematischen Kontext der Situation zu tun, in der die sich Kinder augenblicklich befinden – sie müssen sich aus dieser auf sprachliche Weise hinausbewegen und abstrahieren. Sprache wird hier dekontextualisiert, aus dem gegenwärtigen Kontext herausgehoben und als eigenständiges Gebilde erfasst. 35 Dekontextualisierung als Sprechen über Abwesendes führt dazu, dass sich der Erzähler nur im sehr begrenzten Maße über nonverbale Mittel ausdrücken kann. Diese dienen in erster Linie dazu, das Erzählte zu unterstützen – der Inhalt muss aber hauptsächlich über die sprachliche Ebene wiedergegeben werden. Diese Anforderung, sich vom konzeptionell mündlichen Sprachgebrauch zu lösen und in die konzeptionell schriftliche Sprache einer Erzählung überzugehen, entspricht deswegen teilweise den schriftsprachlichen Anforderungen im Unterricht. 36 Erzählen ist dennoch von dem Dialog zwischen Erzähler und Zuhörer geprägt und nicht, wie man annehmen könnte, von ausschließlich monologischem Charakter: Die Hörenden reagieren durch nonverbale und verbale Äußerungen auf das Erzählte und der Erzähler richtet seine Erzählung auf diese Reaktionen aus. 37 Zwar hat der Erzähler während seiner gesamten Erzählung das Rederecht inne, aber wie in einem Dialog nehmen die Hörer das Gesagte nicht teilnahmslos auf, sondern interagieren mit dem Erzählenden.38 Genau aus diesem Grund fungiert das Erzählen, da es zwischen dem dialogischen Sprechen und dem eher monologisch angelegten Vorlesen liegt, bildlich gesehen als eine Brücke in die Schriftlichkeit. 4.3. Erweiterung der Sprachkompetenz durch Zuhören und Nacherzählen Unter dieser Überschrift werden gleich zwei Fähigkeiten – die Sprachkompetenz und die Kompetenz des Zuhörens erfasst – da diese sich im Projekt „Sprachlos?“ wechselseitig beeinflussen und fördern. Zunächst einmal sollte geklärt werden, was unter Zuhören im Rahmen von „Sprachlos?“ zu verstehen ist: „Zu-Hören ist gerichtetes Hören. Im Zuhören verwandelt sich reaktives in aktives Hören. Zuhören schließt Zuwendung, Aufmerksamkeit, 35 Vgl. Merkel (2006), S. 11. Vgl. Andresen (2011), S. 154. 37 Vgl. Merkel (2005), S. 168. 38 Vgl. Merkel (2006), S.11. 36 - 10 - Konzentration ein.“ 39 Hiermit wird deutlich, dass sich ein aktiver Zuhörer auf das Erzählte fokussiert und eine Reaktion in Form von Sinnerfassung angeregt wird. Laut Wardetzky (2008) erfolgt diese Sinnkonstitution beim Hören durch „[…]das Ineinander von Erkennen, Empfinden und Werten.“ 40 Anders formuliert versucht das Kind während des Hörens die einzelnen Wörter des Märchens mit ihren Bedeutungen zu erfassen, versucht Übereinstimmungen zwischen Wörtern festzustellen, revidiert oder präzisiert eventuell seine Hypothesen über Bedeutungen. 41 Es soll kurz erläutert werden, wie die Erzählerinnen es schafften, Kinder, die vor allem durch visualisierende Medien geprägt waren, zum Zuhören zu bewegen. In der Erprobungsphase des Projekts wurde offensichtlich, dass das betont körpersprachliche Erzählen die stärkste Wirkung auf die Kinder hatte. Die Kinder folgten den Erzählerinnen mit der höchsten Konzentration, wenn diese die Geschichte durch expressive Mimik und Gestik unterstützten. Der Grund hierfür kann vor allem darin gesehen werden, dass die Kinder eine Bebilderung von Sprache durch das Fernsehen gewöhnt waren. Die Erzählerinnen selbst empfanden diese Art der Vermittlung von Märchen zunächst als eine Vergröberung derselben, erkannten aber letztendlich diese Erzählform als unverzichtbar für das aktive Zuhören der Kinder an. 42 Waren die Kinder mit ihrer vollen Aufmerksamkeit bei der Geschichte, so konnten, vor allem bei den Nacherzählungen, Lernprozesse festgestellt werden. Es ließ sich unter Anderem feststellen, dass die Kinder sich an der Zeitform des Präteritums versuchten, was sie im (schulischen) Alltag vermieden hatten. Beispielhaft ist hierzu der Versuch eines Kindes zu nennen, das ein Märchen nacherzählt: „Dann gang, gang, gang er weiter zu einen Jungen.“43 Obwohl hier noch nicht die richtige Tempus-Form gewählt wurde, sind allein dieses Bewusstsein für Zeitformen und der Versuch, die richtige Vergangenheitsform zu bilden bei nichtdeutschsprachigen Kindern als sehr wertvoll zu erachten. Zudem kann es als Basis für die weitere Arbeit mit Grammatik gesehen werden. Weiterhin konnte festgestellt werden, dass sich die Kinder bestimmte Wörter und Wendungen auf implizite Weise aneigneten. Als eines von vielen Beispielen ist hier der Junge O. zu nennen, der ein Märchen nacherzählt, in dem Trolle vorkommen. Zunächst ersetzt er das ihm unbekannte Wort durch Riese – was aber gleichzeitig deutlich werden 39 Wardetzky/Weigel (2008), S. 66. Wardetzky/Weigel (2008), S. 68. 41 Vgl. Rodari (1999), S. 141. 42 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 59. 43 Wardetzky/Weigel (2008), S. 97. 40 - 11 - lässt, dass er die Bedeutung des Wortes ziemlich exakt über den Kontext erfasst hat. Im weiteren Verlauf der Geschichte macht er diese Substitution rückgängig und fügt das Wort Troll in seine Erzählung ein. Der Wortschatz des Jungen hatte sich erkennbar erweitert.44 Zusammenfassend lässt sich erkennen, dass die Kinder durch das Hören, das Nacherzählen der Märchen implizit ihren Wortschatz vergrößern konnten und auch im grammatikalischen Bereich Fortschritte machten. Durch die Verfahren, die die Erzählkompetenz stärkten, wie z.B. das interaktive Erzählen, wurden das Bewusstsein für die deutsche Sprache und der Umgang mit ihr unbewusst als auch spielerisch erprobt. 5. Märchen als Grundlage des Projekts 5.1. Struktur von Märchen und moderne Kinderliteratur im Vergleich Nachdem dargelegt wurde, warum Erzählen eine Möglichkeit der Sprachvermittlung für nichtdeutschsprachige Kinder ist, soll jetzt der Frage nachgegangen werden, warum gerade Märchen sich im besonderen Maße für das Erzählen und damit einhergehend für die Sprachförderung bei „Sprachlos?“ eignen. Das implizite Lernen literarischer Muster ist grundsätzlich als ein wichtiger Zugang für die Schriftlichkeit zu sehen. Aber welche Strukturen weisen die Märchen darüber hinaus auf, die sie für die Sprachförderung von Kindern mit Migrationshintergrund prädestinieren? Betrachtet man diverse Werke der heutigen Kinderliteratur, so findet man eine immense Vielfalt an literarischen Vorgehensweisen, eine Geschichte zu erzählen. Es gibt demnach keine einheitlichen Strukturen in modernen Kinderbüchern. Diese mangelnde Stringenz ist im Märchen nicht der Fall – sie bedienen sich verschiedener Elemente, die immer wiederkehrend sind. Zu nennen sind hier beispielsweise die Figuren König, Prinzessin, Schwester, Bruder, Mutter oder auch verschiedene Handwerksberufe. Aber ebenso tauchen Orte wie der Wald, der Brunnen, das Schloss und das Königreich in verschiedenen Märchen auf.45 Dieses Wiederkennen von Figuren in der Erzählung eines unbekannten Märchens kann vor allem nicht deutschsprachigen Kindern Sicherheit geben sowie Anhalts- und Orientierungspunkt sein. Die Figuren im Märchen haben noch etwas gemein: Sie sind eindimensional, flächig – sie sind entweder gut oder böse. 46 Auch hier ist wieder eine 44 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 105. Vgl. Kohl (2000), S. 17. 46 Vgl. Neuhaus (2005), S. 5. 45 - 12 - klare Struktur zu erkennen, die nichtdeutschsprachigen Kindern hilft, die Geschichte schnell zu erfassen und zu überblicken. Für diese überschaubare Struktur spricht ebenso, dass viele Märchen eine einsträngige Handlung aufweisen. Die Handlung folgt dem Helden/dem Guten und weist keine Gleichzeitigkeit von Geschehen auf oder führt weitschweifig Nebenfiguren ein. Der Zuhörer muss nicht, wie in manch anderen Geschichten, mehrere Geschehen mental in Verbindung bringen. Eine Tatsache, die die Märchen für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache eingängig werden lässt. 5.2. Das Prinzip Hoffnung in Märchen Viele Kinder, die am Projekt „Sprachlos?“ teilnahmen, wissen aus eigener Erfahrung, was Armut, Ausgrenzung und Nichtachtung bedeuten. Jeder fünfte Einwohner im Berliner Wedding, in dem das Projekt stattfand, lebt von Sozialhilfe; eine Zweizimmerwohnung für eine fünfköpfige Familie ist dort nichts Seltenes. 47 Märchen thematisieren, wie kaum eine andere Literaturgattung, diese existentiellen Lebenswidrigkeiten und Nöte. Sie haben Verlust, Prüfung, Einsamkeit und vor allem auch das Heranwachsen und Erwachsenwerden zum Inhalt und schildern mitunter harte Überlebenskämpfe. 48 Diese zentralen Motive der Märchen sind vielleicht eine der Hauptgründe, weshalb die Kinder den Erzählerinnen bei „Sprachlos?“ so gebannt zuhörten: Sie konnten sich oft nur allzu gut in die Protagonisten hineinversetzen und ihre missliche Lage mitfühlen. Die Kinder entwickelten Empathie. Die starke Anteilnahme, die bei den Kindern sogar durch physische Reaktionen ersichtlich wird, lässt sich beispielhaft in dieser Szene aus dem Projekt erkennen: Erzählerin: „Zum letzten Mal: Wirf meine Frau und meinen Sohn ins Feuer!“ Ein Kind reißt die Arme hoch und ruft voller Angst: „Nein!“.49 Dieser Aspekt der Schulung von Empathie ist in positiver Weise zu berücksichtigen, wenn man bedenkt, dass das Verhalten der Kinder im Unterricht oft von Brutalität und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen geprägt ist. Darüber hinaus und vermutlich noch viel entscheidender für den Einsatz von Märchen im Projekt ist das gute Ende der Märchen bzw. der Sieg des Guten über das Böse. Wardetzky/Weigel (2008) greifen diesen Aspekt des guten Endes, aber auch des schwierigen Weges dorthin auf: „das Glück wartet dort, wo der Abgrund am tiefsten ist“50. Die Kinder erfahren durch die Märchen, dass sich schlechte Lebensbedingungen 47 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 34. Vgl. Wallrabenstein/Wichert (2000), S. 7 f. 49 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 71. 50 Wardetzky/Weigel (2008), S. 41. 48 - 13 - verändern lassen, dass auch die Schwachen, Kleinen und Dummen siegen können und schenken ihnen so Trost und Zuversicht.51 Die Märchen bieten auf diesem Weg Gelegenheit, sich mit den eigenen Problemen und Nöten auseinandersetzen und zwar in der literarischer Sicherheit der Geschichte. 52 In Grenzen können Märchen eine Möglichkeit für die Bewältigung der alltäglichen Probleme der Kinder darstellen, was wiederum die Basis für eine ausgeglichene Persönlichkeit ist. 5.3. Die Sprache der Märchen Als letzter Untersuchungsaspekt soll jetzt die Sprache der Märchen als Mittel der Sprachvermittlung untersucht werden. Im Projekt „Sprachlos?“ trafen die drei Erzählerinnen ganz bewusst die Entscheidung, die Sprache der Märchen nicht der modernen Alltagssprache anzupassen, sie zu reduzieren oder in irgendeiner anderen Form zu verändern – die Kinder sollten die „alte“, poetische Sprache kennenlernen.53 Die Syntax der Märchen ist recht einfach gehalten. Es gibt keine verschachtelten Nebensätze, sondern fast ausschließlich Hauptsätze, 54 was auch durch die einstränge Handlung bedingt ist. Weiterhin kommen die schon erwähnten typischen Formeln vor, die für die Kinder sehr eingängig sind. Im Kontrast zu der alltäglichen Umgangssprache der Kinder und der Unterrichtssprache kennzeichnet sich das Märchen vor allem durch seinen altertümlichen Sprachgebrauch aus. Oftmals kommen Wörter, Wendungen oder auch Berufsbezeichnungen vor, die den Kindern kein Begriff mehr sind. In dem Projekt machten die Kinder beispielsweise aus einem „Müller“ jemanden „der den Müll runterbringt“, das Wort „Kohle“ wurde gleichgesetzt mit „Cola“ und einige Schüler fragten sich, was eine „Kammer“ ist oder die „Hölle“. Die meisten dieser Begriffe wurden nicht explizit erklärt. Trotzdem hatten die Kinder über den Kontext der Geschichte nachher eine Vorstellung von der Bedeutung des Wortes erworben.55 Wallrabenstein und Wichert (2000) beschreiben treffend den Zusammenhang von der Sprache der Märchen und ihre Anziehungskraft auf die Kinder: 51 Vgl. Wallrabenstein/Wichert (2000), S. 7. Vgl. Spinner (1997), S. 62. 53 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 44. 54 Vgl. Neuhaus (2005), S. 5. 55 Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 68. 52 - 14 - „Die Sprache der Märchen ist deftig, direkt, klar und von einer‚ altmodischen‘ tiefen Kraft, die Kinder angesichts der Belanglosigkeit und Oberflächlichkeit zahlreicher Alltagssprachformeln auf besondere Weise anzieht.“56 Es scheint, als ob gerade die Differenz, die zwischen der Alltagssprache und der Diktion der Märchen besteht, die Faszination derselben ausmacht. Die Kinder sind gebannt von der Sprache als solcher, weil sie sich in so einem hohen Maße von ihrem eigenen sprachlichen Ausdruck unterscheidet. Diese Beziehung vermitteln insbesondere die eigenen Erzählungen der Kinder bei „Sprachlos?“. Die Kinder wollen ihre Geschichten nicht in irgendeiner Sprache, sondern in der Sprache der Märchen formulieren und sind stolz, wenn ihnen eine besonders außergewöhnliche sprachliche Konstruktion gelungen ist. 57 6. Fazit Zu Beginn dieser Arbeit wurde die Hypothese aufgestellt, das Projekt „Sprachlos?“ sei ein innovativer Ansatz von Sprachförderung und -vermittlung sowie im besonderen Maße für die sprachliche Unterstützung von Kinder mit Deutsch als Zweitsprache geeignet. Es soll zusammenfassend wiedergegeben werden, welche Argumente für diese These sprechen. Bei der Untersuchung des Projektes mithilfe der Dokumentation „Sprachlos? Erzählen im interkulturellen Kontext. Erfahrungen aus einer Grundschule.“ von Kristin Wardetzky und Christiane Weigel wurde besonders offensichtlich, dass die Kinder nicht auf explizite Weise, etwa über Regeln, Grammatik und Wortschatzarbeit, die deutsche Sprache lernten. Die Vermittlung erfolgte vielmehr über aufregende Geschichten und andere Verfahren des Erzählens: Nicht ansetzend an den Defiziten der Schüler und Schülerinnen, sondern über einen ästhetischen und emotionalen Zugang zu der Sprache Deutsch. Das implizite und vor allem kontinuierliche Lernen ermöglichte den Kindern letztendlich, was für sie essentiell wichtig für den weiteren Erfolg in der Schule ist: Die Erfahrung, kompetent mit der deutschen Sprache umgehen zu können. Die Aneignung der literarischen Struktur der Märchen, das selbständige Benutzen der märchentypischen Formeln und auch das Einprägen neuer Wörter führten letztendlich dazu, dass die Kinder zu fähigen Erzählern und Erzählerinnen wurden. Dieser Erfolg, selbst Geschichten entwickeln und erzählen zu können, ist eine nicht zu unterschätzende 56 57 Wallrabenstein/Wichert (2000), S. 9. Vgl. Wardetzky/Weigel (2008), S. 40. - 15 - positive Erfahrung des eigenen (schulischen) Könnens – insbesondere für Kinder, die Deutsch als zweite Sprache lernen. Es ist offensichtlich, dass diese Art der Sprachvermittlung nicht alle sprachlichen Defizite von nichtdeutschsprachigen Kindern vollständig und in kürzester Zeit auflösen kann. Diesen Anspruch kann nur eine kontinuierliche, umfassende Förderung, beispielsweise auch im Rechtschreiben, stellen. Vielmehr ist das Projekt als ein Konzept anzusehen, Kindern die literarische Sprache der Märchen näherzubringen und ihnen Freude an Literatur zu vermitteln. Gleichzeitig stellte das Geschichtenerzählen eine Brücke in die Schriftlichkeit dar: Die Kinder werden über die Erzählungen mit konzeptionell schriftlicher Sprache produktiv und setzten sich aktiv mit dieser auseinander. Letztendlich sind es in Zukunft solche Ansätze wie das Projekt „Sprachlos?“, die den Weg zu einer effizienteren und erfolgreicheren Integration von Kindern mit Migrationshintergrund ebnen werden. - 16 - Andresen, Helga (2002): Spiel, Interaktion und Dekontextualisierung von Sprache zu Schulbeginn, in: Der Deutschunterricht, Heft 3, S. 7-14. Andresen, Helga (2011): Erlebtes und Fiktives – Zur Dynamik der Entwicklung von Erlebnis- und Phantasieerzählungen im Vorschulalter, in: Hüttis-Graff, Petra (Hrsg.) und Wieler, Petra (Hrsg.): Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Vor-und Grundschulalter. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag, S. 151-180 Belke, Gerlind (2007): Poesie und Grammatik. Kreativer Umgang mit Texten im Deutschunterricht mehrsprachiger Lerngruppen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Fix, Martin (2006): Texte schreiben. Schreibprozesse im Deutschunterricht. Paderborn: Schöningh UTB Verlag. Fürstenau, Sara/Lange, Imke (2011): Schulerfolg und sprachliche Bildung. Perspektiven für eine Unterrichtsstudie, in: Hüttis-Graff, Petra (Hrsg.) und Wieler, Petra (Hrsg.): Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Vor-und Grundschulalter. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag, S. 37-54. Günther, Hartmut (1997): Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Balhorn, Heiko (Hrsg.) und Niemann, Heide (Hrsg.): Sprachen werden Schrift. Mündlichkeit-SchriftlichkeitMehrsprachigkeit. Lengwil am Bodensee: Libelle Verlag, S. 64-73. Günther, Herbert (2011): Sprache als Schlüssel zur Integration. Sprachförderung aus pädagogischer Sicht. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Hüttis-Graff, Petra/Merklinger, Daniela/Klenz, Stefanie/Speck-Hamdan, Angelika (2010): Bildungssprache als Bedingung für erfolgreiches Lernen, in: Bartnitzky, Horst (Hrsg.) und Hecker, Ulrich (Hrsg.): Allen Kindern gerecht werden. Aufgaben und Wege. Beiträge zu Reform der Grundschule, Band 129. Frankfurt a. Main.: Grundschulverband. Jantzen, Christoph (Hrsg.) und Merklinger, Daniela (Hrsg.) (2010): Lesen und Schreiben: Lernerperspektiven und Könnenserfahrungen. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag. Jeuk, Stefan (2010): Deutsch als Zweitsprache in der Schule. Grundlage – Diagnose – Förderung. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Kniffka, Garbriele/Siebert-Ott, Gesa (2009): Deutsch als Zweitsprache. Lehren und lernen. Paderborn: Schöningh UTB Verlag. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Sprache, in: Günther, Hartmut (Hrsg.) und Ludwig, Otto (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. Berlin: de Gruyter Verlag, S. 587-604. Kohl, Eva-Maria (2000): „Kannst du mir mal deine Fee borgen?“ Wie Märchen zu Schreibspielen werden können, in: Grundschulunterricht, Heft 4/2000, S. 17-21. - 17 - Merkel, Johannes (2005): Erzählen zur Sprachförderung von Migrantenkindern in Kindergarten und Grundschule, in: Wieler, Petra (Hrsg.) (2005): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag. S. 167-183. Merkel, Johannes (2006): Erzählen und Textverständnis. Inwiefern mündliches Erzählen die Lesefähigkeit vorbereitet, in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 197, S. 10-12. Merklinger, Daniela (2010): Frühe Zugänge zu Schriftlichkeit. Eine explorative Studie zum Diktieren. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag. Naujok, Natascha (2011): Schriftspracherwerb unter den Bedingungen von Mehrsprachigkeit, in: Hüttis-Graff, Petra (Hrsg.) und Wieler, Petra (Hrsg.): Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Vor-und Grundschulalter. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag, S. 95-122. Neuhaus, Stefan (2005): Märchen. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag. o.V.I (2009): Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel im Wortlaut, in: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Regierungserklaerung/2009/2009-11-10merkel-neue-Regierung.html, letzter Zugriff: 07.10.12, 19:02 Uhr. Portmann, Paul R. (1996): Arbeit am Text. In: Feilke, Helmuth (Hrsg.) und Portmann, Paul R. (Hrsg.): Schreiben im Umbruch. Schreibforschung und schulisches Schreiben. Stuttgart/München/Düsseldorf: Klett, S. 158 – 171. Rodari, Gianni (1999): Grammatik der Phantasie. Die Kunst, Geschichten zu erfinden. Leipzig: Reclam. Rosenbrock, Cornelia (2008): Lesesozialisation und Leseförderung, in: Kämper-van den Boogart (Hrsg.): Deutsch-Didaktik. Leitfaden für die Sekundarstufe I und II. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor, S. 163-168. Spinner, Kaspar H. (1997): Märchendidaktik heute, in: Wardetzky, Kristin (Hrsg.) und Zitzlsperger, Helga (Hrsg.) (1997): Märchen in Erziehung und Unterricht heute. Band 1. Beiträge zu Bildung und Lehre. Rheine: Europäische Märchengesellschaft, S. 48-65. Siegert, Manuel (2008): Integrationsreport. Schulische Bildung von Migranten in Deutschland. Stanat, Petra; Müller, Andrea G. (2006): Förderung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund: Forschungsstand und Forschungslücken, in: Sasse, Ada (Hrsg.) und Valtin, Renate (Hrsg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit. Zwischen kompensatorischer Erziehung und Family Literarcy, S. 152-167. Wallrabenstein, Wulf/Wichert, Ingrid (2000): Zeit für Märchen – Zeit für mich, in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 134, S. 6-10. - 18 - Wardetzky, Kristin (2000): Märchen als Erzählung und Trickfilm. Eine rezpetionspsychologische Vergleichsuntersuchung, in: Franz, Kurt (Hrsg.) und Kahn, Walter(Hrsg.): Märchen – Kinder – Medien. Beiträge zur medialen Adaption von Märchen und zum didaktischen Umgang. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 158-170. Wardetzky, Kristin/Weigel, Christiane (2008): Sprachlos? Erzählen im interkulturellen Kontext. Erfahrung aus einer Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Wardetzky, Kristin (2010): Schwimmen lernen, in: Die Grundschulzeitschrift, Heft 231.S. 44-47. Weinhold, Swantje (2005): Narrative Strukturen als Sprungbrett in die Schriftlichkeit? In: Wieler, Petra (Hrsg.): Narratives Lernen in medialen und anderen Kontexten. Freiburg i. Breisgau: Fillibach Verlag, S. 69-74.