könig ludwig ii.
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Rudolf Reiser KÖNIG LUDWIG II. Mensch und Mythos zwischen Genialität und Götterdämmerung Rudolf Reiser / König Ludwig II. Rudolf Reiser König Ludwig II. Mensch und Mythos zwischen Genialität und Götterdämmerung Rudolf Reiser, in Regensburg geboren und in München zu Hause, forscht seit Jahrzehnten in Archiven und Bibliotheken Europas über König Ludwig II. von Bayern. Er kennt wie kaum jemand die verfügbaren Quellen, so unter anderem die Memorabilien Leo Klenzes und die Privatarchive und -bestände Bayerns. Der Verfasser studierte in München und Wien die Fächer Geschichte, Psychologie und Osteuropakunde. Promotion 1968 bei Karl Bosl über Adeliges Stadtleben im Barockzeitalter, von 1969 bis 1996 Redakteur für Bildung und Forschung bei der Süddeutschen Zeitung. Verfasser von rund tausend wissenschaftlichen Aufsätzen und über 60 Fachbüchern mit den Schwerpunkten Antike, Ikonographie, Bayerische Geschichte und Städte- und Landschaftsmonographie. Von Rudolf Reiser im mz-Buchverlag erschienen: Die Thurn und Taxis (vergriffen) und noch lieferbar: Alte Häuser – Große Namen – Regensburg (2008) sowie Streifzüge durch den Bayerischen Wald (2009). Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnd.ddb.de abrufbar. 2. ergänzte Auflage 2011 Titelbild: Schloß Herrenchiemsee und sein Bauherr Ludwig (koloriertes Photo 1864; Geschenk an Wagner); Umschlaggestaltung und Satz: SüdOst Verlag, Susanne Pasquella Berndobler Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.mz-buchverlag.de © MZ Buchverlag GmbH, Regensburg 2010 ISBN 978-3-934863-80-4 4 INHALT IM ZEICHEN DES MONDES DER STERN VERGLÜHT IM SEE Die Eltern: Mutter Preußin, Vater Italiener 8 Vorbereitung des Mords: 7. – 12. Juni 1886 124 Knabenträume: Tannhäuser und Lohengrin 15 Sissi, Adel und Bauer wollen Ludwig retten 131 An Pfingsten erscheint der Satan am See 135 Rekonstruktion der Brutalität vom 13. Juni 142 Töten und Lügen am Heilig-Geist-Fest 1886 150 Kaiserin Elisabeth entlarvt Prinz Luitpold 154 Keine letzte Ruhe für den „Märchenkönig“ 161 DER SONNENKÖNIG BAYERNS Die Ouvertüre: Berufung Richard Wagners 22 Isolden, Fischerliesl, Tell und Tristan 32 Krieg verloren – von Franken begeistert 43 In der Braut- und Putschzeit nach Paris 49 Neuschwanstein, TU und Meistersinger 56 Orden für Courbet – Streit um das Rheingold 62 Krieg und Frieden, der die Welt verändert 65 Gespräche mit Felix Dahn auf dem Schachen 75 Die Wallfahrt zur Jeanne d’Arc nach Reims 80 Besuch der ersten Bayreuther Festspiele 85 Parsifal und der Mond von Hohenschwangau 93 Quellen und Literatur 164 „Magische Klänge“ am Vierwaldstätter See 98 Zu den Bildern 165 Herrenchiemsee – Wagners Tod in Venedig 107 Register 166 Verirrt und verwirrt: Der Adler Elisabeths 113 Neuschwanstein – das populärste Kulturerbe 168 ANHANG 5 Ihm liegt die Welt zu Füßen, sein Charisma ist unerreicht. Ludwig II. baut nicht nur Schlösser, die Millionen Menschen aus aller Welt bestaunen, er legt mit der Gründung der Technischen Hochschule München und spektakulären Berufungen an die Universität seiner Geburtsstadt den Grundstein zu einer Wissenschaftsmetropole. Mit seiner Hilfe gelingt in Bayreuth das größte Festspielereignis der Menschheit. Zur lang ersehnten deutschen Einheit trägt er ohne jegliches Blutvergießen bei, er gründet die ersten Wetterstationen und widersetzt sich vehement den Forderungen der katholischen Kirche, die Schulpflicht abzuschaffen. Unvergessen seine Leutseligkeit, phantastisch sein Gedächtnis! Er verherrlicht in seinen Schlössern sein Konzeptionszeichen, die Venus, und stützt als erster Monarch des Kontinents die Evolutionstheorie Darwins. Gustave Courbet und Theodor Storm zeichnet er mit Orden aus, er mischt sich in Schliersee unter die Hochzeitsgäste und rettet die Weltidylle St. Bartholomä am Königssee. Strikt lehnt er das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ab, er verabscheut die Jesuiten und läßt die Franken und das Kunsthandwerk hoch leben. Es gilt aber auch für ihn der Satz: Wo viel Licht, da viel Schatten. So hoch der Adler fliegt, so gigantisch schließlich sein Absturz! 6 IM ZEICHEN DES MONDES 7 Die Eltern: Mutter Preußin, Vater Italiener „Hätte er vor Shakespeare gelebt: die Welt besäße ein Königsdrama ohnegleichen!“ Dieser Satz über Ludwig II. stammt aus der Feder eines Mannes, der ihn wie nur ganz wenige Menschen kennt: Kabinettssekretär Ludwig Buerkel. Eine grandiose Feststellung, die dieses Buch spiegelt, das sich freilich ausschließlich auf authentische und bisher unbekannte Geschichtsquellen stützt! Ludwig II. ist der mit Abstand populärste Monarch unserer Erde, zu dessen Schlössern jährlich die Menschen aus aller Welt strömen. In ihm bündeln sich schicksalhafte Ströme wie bei wenigen, ja man kann sagen: Aus dem tiefen Morast seines Milieus erhebt er sich wie weiland Apollo zur absoluten Lichtgestalt mit charismatischen und fast messianischen Zügen – um dann im Starnberger See zu verglühen! Daß man dies nicht im mindesten übertrieben nennen kann, zeigt schon seine Geburt, die trotz vieler Bedenken einfach auf den 25. August 1845 festgesetzt wird, deren Umstände aber in jedem Fall an uralte Muster erinnern. Es geht dabei um Gestirne und Götter, Konzeption und Vaterschaft. Damit sind wir inmitten einer sensationellen Konstellation, die bisher ausnahmslos alle Biographen Ludwigs II. nicht bedachten! Wie sämtliche mittelalterlichen Herrscher fühlt sich auch Ludwig II. als Monarch von Gottes Gnaden. Ein Fachausdruck, der sich auf Tausenden von Urkunden findet! Das heißt aber auch: Sein Wesen ist sozusagen außermenschlich, kurzum mit dem Himmel verknüpft, insbesondere mit dem nächtlichen Himmel, der mit seinen zwölf Sternkreiszeichen das Jahr teilt. So sonderbar es auch klingen mag, seit weit über 2000 Jahren verehren die Herrscher nicht das Zeichen ihrer Geburt, sondern das der Konzeption (neun Monate vorher). 8 Ein richtiges und vor allem wichtiges Vorbild dieses Sujets ist Kaiser Augustus, am 23. September 63 vor Christus geboren. Gleichwohl bestimmt er zu seinem Sternkreiszeichen den Steinbock, was der antike Kaiserbiograph Sueton so erzählt. Mit dem Tier läßt sich der Imperator sogar auf Münzen und auf der weltbekannten Gemma Augustea (Wien, Kunsthistorisches Museum) abbilden. Die Absicht ist klar, seine Konzeption fällt in diese winterliche Himmelserscheinung! Und weiter in der Mythologie: Der Vater des Augustus soll Apollo persönlich sein, der die Mutter im Tempel in Form einer Schlange heimsuchte. Das erklärt Sueton ebenso wie die Tatsache, daß am Tag der Geburt des Augustus in Rom Capricornus und Corona, Steinbock und Krone also, gehören zu den wichtigsten Herrscherzeichen des Kaisers Augustus. Detail der Gemma Augustea (Wien). die Rede ging, es sei „der Herr der Welt“ geboren worden. Eine scharfe Parallele natürlich zu Christus, dessen Ursprung auch als göttlich angesehen wird! Kein Deut anders bei Ludwig II., über dessen Konzeption man ebenso mehr munkelt als weiß. Licht in das Dunkel bringt nun die von mir durchgeführte Durchforstung der handschriftlichen Memorabilien des Architekten Leo Klenze (* 1784), die sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek befinden. Wir werden mehrfach auf diese heiße Quelle zurückkommen, stellen aber schon mal ein irres Geflecht von Aberglaube und Adelswahn, Intrigen und Irrationalismen fest. Danach hängt nach antiker Manier auch Ludwig II. am Zeichen seiner Konzeption, die er gar in das Zentrum seiner Legitimation stellt. Vom 25. August 1845 neun Monate zurückgerechnet, ergibt den 25. November 1844. Sternkreiszeichen Schütze, niemand anderer als der mit Pfeil und Bogen ausgerüstete und schießende Schütze Amor, das Hauptattribut der schönen Venus, die zu den hehren Bewohnern des Olymp zählt! Nun ist dieser 25. November im katholischen Festtagskalender ein ganz besonderer Feiertag: Santa Katharina. Eine Frau, die nie gelebt hat, die vom Zweiten Vatikanum sogar aus dem Kreis der Heiligen genommen wird! Sie gilt von der Urkirche an als die Schönste der Seligen, hat einen makellosen Körper und tritt südlich der Alpen öfter mit entblößtem Oberleib auf, im Norden manchmal mit einem prächtigen Dekolleté. Klar, sie nimmt die Stelle der Venus ein, deren ikonographische Besonderheit, der Schütze, auf Katharina insofern übergeht, als man ihren Namenstag in das gleichnamige Sternzeichen setzt! Das Fest der Katharina, ergo Venus, im Jahr 1844 bekommt aber noch eine erhöhte Folie. Akkurat an diesem Tag präsentiert der nächtliche Himmel ein außerordentliches Spektakel. Wir lesen dazu in der Augsburger Abendzeitung vom 2. November 1844: „In der Nacht vom 24. auf den 25. November findet eine sichtbare totale Mondsfinsterniß statt. Der Mond tritt in die nördliche Hälfte des Erdschattens ein um 10 Uhr 26 Min(uten) Abends.“ 26 Minuten vor Mitternacht beginnt die totale Finsternis. Die Zeitung schreibt über den Mond weiter: „Um 12 Uhr 21 Min(uten) Morgens ist er in der Mitte seiner Bahn durch den Erdschatten angekommen – die Mitte der Verfinsterung.“ Auf Tag und Minute genau neun Monate später wird in Nymphenburg der nachmalige Bayernherrscher geboren, behauptet der Münchner Hof. Es ist der Ludwigstag 1845, der 25. August, an dem der gerade regierende Monarch (Ludwig I.) ebenfalls Geburtstag hat. Schon sehr verdächtige Kuriositäten! Wir halten indes als eine Art Zwischenbilanz fest: König Ludwig II. huldigt ein Leben lang zwei Konzeptionszeichen, Venus und Mond, die uns von nun an laufend begegnen – in seinen Schlössern genauso wie in seinem Terminkalender, wenn es um Familientage oder Ausflüge in hellen Mondnächten geht! Zurück zu dem neugebornen Kind! Es soll zunächst den Namen Otto erhalten, was auch in den Journalen steht (Augsburger Abendzeitung, 28. August 1845), dann plötzlich wird ein Ludwig daraus. In gewissen Kreisen spricht sich indes schnell eine Manipulation des Datums herum. Aber noch glauben die meisten den Wittelsbachern, was sich schnell ändern wird und soll. Da wissen nämlich zu viele Hofbedienstete um den angeblichen Vater: Maximilian, damals Kronprinz, zweieinhalb Jahre später der Bayernkönig. Als er nach der 48er Revolution, die seinen Vater Ludwig I. wegen seiner Affären mit Lola Montez zu Fall bringt, den Thron besteigt, ist er schon ein todkranker Mann. Und das hat seine Ursache! Dazu eine kurze Rückblende in das Jahr 1835: Ohne väterliche Billigung reist Maximilian II. in die berüchtigten Kurhäuser bei Pesth (heute Budapest). Man weiß um die heißen Bäder und Becken dort, willige Backfische tummeln sich im Wasser für Männer mit eindeutigen Absichten. Die Ansteckungsgefahr ist groß, die galante oder venerische 9 Venus – St. Katharina Schamhaft versteckt beherrscht die heilige Katharina im Oratorio della Santa Catarina in Palermo (Bild links) das Dunkel ihres sizilianischen Heiligtums. Fast völlig entkleidet ziert sie unter der Muschel (der Venus) und dem Putto (Amor) den Hochaltar. Die stockfinstere Kirche (deshalb das mangelhafte Photo) ist nahezu unzugänglich, zeigt aber nichtsdestotrotz sehr nachhaltig die uralten Zusammenhänge an der Nahtstelle von Antike und Urkirche auf. In dieser Zeit werden nämlich die alten Götter Griechenlands und Roms durch Heilige mit den gleichen Kompetenzen ersetzt. Findet sich keine passende Gestalt, wird sie ganz einfach erfunden, was vor allem die deutschen Reformatoren anprangern. Prompt streichen diese Kreationen von Heiligen dann die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils wieder aus dem Kirchenkalender. Einige Beispiele: Für das Militär ist als Ersatz für Kriegsgott Mars laut Beschluß der Urchristen der Soldat Georg zuständig. Um den antiken Gott beim Waffengang günstig zu stimmen, opfern ihm vor allem die Römer Stiere. Logischerweise setzt man das Fest Georgs in das Sternkreiszeichen Stier. Ebenso verwandelt man den Krafthelden Herkules in einen Heiligen. Den alten Gott sieht man immer im Löwenfell, manchmal trägt er den Iupiterknaben auf der Schulter. Aus ihm wird nun Sankt Christophorus. Er schleppt den kleinen Jesus, sein Fest legt man in das Sternkreiszeichen Löwe. Und noch ein Beispiel: Merkur, der Gott des Handels, deshalb oft mit einer Waage abgebildet, und auch Götterbote findet sein Pendant in Sankt Michael, der bekanntlich nie gelebt hat. Er wird fast immer mit einer Waage (Seelenwaage) abgebildet, sein Fest feiert man im Sternkreiszeichen Waage. Damit kommen wir zur Venus, deren Nachfolgerin die heilige Katharina ist. Der Name leitet sich von Kythereia ab, der auf Zypern geborenen Aphrodite = Venus. Genau wie diese tritt Katharina als außerordentliche Schönheit auf, oftmals ganz im Stil ihrer Vorgängerin, deren wichtigstes Symbol der kleine Schütze namens Amor ist. In besagtem Stil begeht man ihr Heiligenfest im Sternkreiszeichen Schütze, am 25. November. Exakt dieser Tag ist der Termin der Konzeption Ludwigs II., dessen Hang zur olympischen Schönheit in seinen Schlössern Neuschwanstein, Linderhof und Herrenchiemsee reich (und bis jetzt für viele unverständlich) dokumentiert ist. In der Christenheit tritt uns Katharina aber nicht nur in Palermo wie Venus gegenüber. In den Belles Heures des Duc de Berry erscheint sie oben ohne, ähnlich wie am Dom von Como! Der wohl provokatorischste Typ begegnet uns in der Krypta des Großmünsters von Zürich. Die nackte Frau liegend – mit weit gespreizten Beinen! Diesseits der Alpen bestaunen wir die Schönheit ab und zu mit einem reizvollen Dekolleté. 10 Krankheit gefürchtet. Und so infiziert sich der Gast aus München. Der Liebesschmerz des 23jährigen mutiert zur unheilbaren Krankheit. Tripper! Die ungarischen Zeitungen (Nationalmuseum Budapest) berichten darüber. Nunmehr werden natürlich sofort Ärzte konsultiert, die Eltern zu Hause etwas später informiert. Schon kursieren wilde Gerüchte. Die Residenz dementiert und dementiert. Und so kommt es, daß die hiesigen Zeitungen fast täglich schreiben, der Kronprinz erfreue sich „der besten Gesundheit“. Einer, der dies ebenso wie viele glaubt, ist der preußische Gesandte am bayerischen Hof, August Dönhoff. Am 6. Juli 1835 depeschiert er an König Friedrich Wilhelm III., der junge Wittelsbacher sei noch immer in Ungarn. Angesichts der europaweit bekannten Orgien in den dortigen Bädern fügt er allerdings den Satz hinzu, er wundere sich, daß Maximilian „offenbar freie Hand wegen des Ortes und der Dauer seines Aufenthalts in der Fremde“ habe. Vom Unglück weiß man in Berlin noch nichts, doch den Kronprinzen plagen zu diesem Zeitpunkt bereits große Schmerzen, die er im heißen Italien lindern will. Mit seinem Kumpanen August Wendland (* 1806) aus Mecklenburg reist er somit unverzüglich nach Triest und Mailand. Doch die Uhr tickt unaufhaltsam. Im Oktober muß er in München sein – bei der Silberhochzeit der Eltern. Endlich tritt er in diesem Monat dem erzürnten Vater vor die Augen. Der einst blühende Sproß des Hauses Wittelsbach ist eine Ruine. „War er doch ein so kräftiges, schönes, gesundes Kind“, erklärt später Ludwig klagend seinem Architekten Klenze. Jetzt, 1835, ist alles dahin, die Krankheit nicht mehr zu vertuschen. Doch anstatt Tripper spricht man von Typhus. Mehr oder weniger weiß jetzt ganz München, daß die Zeitungen die Unwahrheit verbreitet haben. Der erste Biograph Maximilians, Venanz Müller, schreibt dies auch so: „Eine furchtbare Krankheit rückte ihn hart an die dunkle Pforte des Jenseits. Finstere Gerüchte beängstigten in Bayern das Volk.“ Die Gesandtenberichte aus München sind erschreckend. Metternich erhält eine Mitteilung, in der von dem „an Geist und Körper verkrüppelten Kronprinzen“ die Rede ist. Oskar Maria Graf berichtet ähnliches in seiner Chronik von Flechting, womit er sein Heimatdorf Berg meint. „I glaab oiwei“, so läßt er einen Bewohner der Gegend sagen, „dös is a ganz andere Krankhat gwen ... Oane dö wo ma bloß bei dö Bessern find‘t ...“ Und ein anderer erwidert: „Er müaßt‘ ja koa Suhn vo den andern gwen sei.“ Klar: Suhn = Sohn, eine Anspielung auf die Mätressenwirtschaft Ludwigs I.! Marie von Preußen, die Mutter des Bayernkönigs Ludwigs II., im Alter ihrer Eheschließung mit dem geschlechtskranken Kronprinzen Maximilian von Bayern, der 1848 König wird und ständig den kleinen Ludwig verdrischt. 11 Natürlich weiß man auch in vielen europäischen Residenzen relativ bald Bescheid. Um so unverständlicher ist es, daß der preußische Königshof bereit ist, die 16jährige Marie, Cousine des neuen Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV., mit Maximilian zu verloben. Ob man sich auf einen Nichtvollzug der Ehe einigt? Das kommt in Fürstenhäusern schon mal vor, bis in unsere Zeit übrigens. Die Kirche sprach ehedem in so einem Falle von „Josefsehe“. Als die Höfe in Berlin und München die Verlobung offiziell mitteilen, ist man natürlich allerorten etwas erstaunt. Der österreichische Gesandte in München, Karl Kast, schreibt am 21. Dezember 1841 an Metternich, daß „man schon befürchtet hatte, der Prinz werde sich gar nicht vermählen“. Dann das Hochzeitsjahr 1842! Als die 16jährige Marie im Oktober in München eintrifft, ist sie ein unaufgeklärtes Kind, was ihre Mutter bestätigt, und ihr Zukünftiger fast doppelt so alt – und schwer krank. Die Zeiten nach dem Ringwechsel sind eigentlich mehr Zitter- als Flitterwochen, über allem liegt eine unendliche Tristesse. Jetzt muß Maximilian die Reste seiner Süßspeisen von Budapest bis zur Neige auslöffeln. Auf der Hochzeitsreise sieht Marie erstmals den Starnberger See, der einmal ihrem Sohn Ludwig zum Verhängnis werden soll. In der Augsburger Abendzeitung (2. November) lesen wir: „Alle Häuser der größern so wie der kleineren Orte, durch welche das hohe Paar fuhr, waren mit Fahnen, Guirlanden, Bildern etc. geschmückt.“ Doch wie mag es in der Brust der Braut aussehen? Ihr Hofstaat besteht fast nur aus Ausländern, die sich mehr derber Sprüche als der deutschen Sprache bedienen. Ansonsten die gerissenen Günstlinge und Gauner, Kartenleser und Wahrsager, die rund um die Münchner Residenz und das Schloß Hohenschwangau kauern und lauern! Wir nennen in diesem Zusammenhang den aus Italien stammenden Kammerdiener Giuseppe Tambosi, von dem gleich mehr die Rede ist, den Oberhofmeister Vincent Vaublanc aus Frankreich, der Deutsch überhaupt nicht versteht, die Oberhofmeisterin 12 Pillement, eine geborene Boisseson, die erste und einzige Liebschaft des Dichters Platen. Das Team, so scheint es, beherrscht perfekt sein ihm aufgetragenes Geschäft, das in solchen Fällen immer nach dem gleichen Muster abläuft und konkret so aussieht: Marie hört erstmals von den Vorzügen einer Freundschaft unter Damen. So verkraftet sie auch den Orts- und Milieuwechsel einigermaßen. Doch was ihre Umgebung mit ihr anstellt, ist menschenunwürdig. Natürlich kennt und spürt Maximilian seine mißliche Lage und empfindet den Hafen der Ehe als eine wahrhaft schmerzhafte Stätte gebrochener Masten und undichter Hecks. Andererseits erwarten das Haus und Volk der Bayern baldmöglichst Prinzen und Prinzessinnen. Und so streicht er in seiner peinlichen Not die Segel zugunsten eines Mannes vom Gardasee. Damit sind wir endgültig bei Giuseppe Tambosi, der am 2. Mai 1794 in Riva geboren wurde, 1809 mit seinem Vater Luigi (* 1772) aus Rovereto in die Bayernmetropole zog und spätestens 1839 als Kammerdiener des Kronprinzen nachweisbar ist. Unmittelbar nach seiner Hochzeit ernennt ihn dieser zu seinem Kellermeister. Gerade dies erregt Aufsehen. Was will ein Kammerdiener im Keller? Die Antwort: Er ist tief gefallen und versorgt die inzwischen 17jährige Kronprinzessin Marie mit berauschenden Mitteln aus den Weinfässern der Hofkellerei. Unfaßbar aber ist, was nach diesem Liebestrank, eigentlich bessere K.-o.-Tropfen, der jungen Frau weiter eingeflößt wird. Aus den Memorabilien Klenzes geht eindeutig hervor, daß Maximilian II. den Italiener Giuseppe Tambosi zu seinem Stellvertreter über Marie gekürt hat, worüber er auch dreimal mit dem Architekten spricht. Das erstemal sagt der König: „Ich weiß sehr wohl, daß es ein Betrüger und elender Kerl ist, aber – ich kann ihn zu Allem vortrefflich gebrauchen!“ Kurz danach vertraut Maximilian dem Memoirenschreiber an, er bräuchte mehr als zwei Söhne, damit der Thron des kinderlosen Bruders Otto von Griechenland für das Haus Wittelsbach gesichert werden könne. Maximilian läßt diese Sorge nicht los und hofft weiter auf die Dienste des „verschmitzten Welschtyrolers“ Tambosi. So hört Klenze ein zweitesmal die Äußerung des Königs: „Ich weiß es sehr wohl, Tambosi ist der schlechteste Kerl, welchen ich in meinen Diensten habe, aber – ich kann ihn beßer als irgend einen anderen gebrauchen.“ Schließlich der Gipfel! Klenze spricht die „Liebes- und Affectionsverhältniße“ am Hofe an. Tambosis Dienstvorgesetzter, der königliche Freund Wilhelm Dönniges aus Stettin, erhält Monat für Monat 1000 Gulden „für geheime Zwecke“. Unmittelbar darauf erzählt der Architekt von „der Kränklichkeit des Königs“, die ihm ein weiterer Kammerdiener Maximilians persönlich mitgeteilt habe. Offensichtlich erzählte dieser die äußerst peinliche Geschichte auch anderen. Und das muß er büßen. Er wird kurzerhand nach Ebenhausen versetzt und dann von einem Wildschützen eiskalt erschossen. Gleich nach dieser schauerlichen Feststellung fährt Klenze fort: „Ich will diese Details hier nicht wiederholen, sie gehören einer Jugendepoche des Königs an und beweisen nur, daß der Ausspruch deßelben: Ich weiß sehr wohl, daß Tambosi der schlechteste Kerl in meinem Staate ist, aber – ich kann ihn gar zu gut brauchen, völlig richtig und berechtigt ist.“ Der ganze Vorgang stützt sich auf eine Bibelstelle. Lot und seine Töchter! Die eine sagt, um die Familie zu erhalten, zu ihrer Schwester: „Laß uns unserm Vater Wein zu trinken geben und bei ihm schlafen“ (1. Mose 19,32). Das Ergebnis: „Also wurden beide Töchter Lots schwanger von ihrem Vater“ (1. Mose 19,36). Diese Szene ist meisterlich von Hans Mielich gestaltet in den Münchner Bußpsalmen (heute Bayerische Staatsbibliothek). Spiegelbildliches in München und Hohenschwangau! Dort verabreicht man der Preußin Marie den Rotwein, den man womöglich noch als Medizin ausgibt, legt sie in das Bett und vergeht sich an ihr. Absolut geheim kann dieses seltsame Treiben schon deswegen nicht bleiben, weil man (aus längst bekannten Gründen) über den Zyklus der Frau wachen, sie Der „Märchenkönig“ zwischen Mond und Mord Ludwigs Leben beginnt so mysteriös wie es auch endet! „Der Mond war sein Gestirn“, schreibt die Münchnerin Luise Kobell, die den König gut kennt und deren Ehemann August Eisenhart zeitweise dessen Kabinettssekretär ist. Egal, ob sich Ludwig als Schwanenritter auf dem Alpsee darstellen läßt oder nächtens bei der Ausfahrt, immer scheint der Erdtrabant in seiner Fülle über ihm. Als 1866 die Nachricht von seinem Aufenthalt auf der Roseninsel durchsickert, spürt man ihn dort mit seinem Freund Paul Taxis – „als Barbarossa und Lohengrin kostümiert in einem dunklen Saale bei künstlichem Mondschein“ (!) auf, wie der Schriftsteller Fröbel berichtet. Auch der in Berlin geborne Diplomat Hugo Philipp Lerchenfeld erzählt, Paul Taxis „mußte in einer Mondnacht (!) in einem eigens konstruierten Schiffe, das einen Schwan darstellte, den Lohengrin auf dem Starnberger See bei Berg mimen“. Wir erfahren schließlich, in seinen Schlafzimmern läßt der König einen künstlichen Mond anbringen. Natürlich ist für Ludwig dann auch der vom Mond abgeleitete Montag ein besonderer Tag. Schon erstaunlich, seine Konzeption (25. November 1844) fällt auf einen Montag und in die Nacht einer totalen Mondfinsternis. Geboren wird er dann nach offizieller Angabe ebenfalls an einem Montag (25. August 1845). Und auch seine zwei wichtigsten persönlichen Entscheidungen fällt er an einem Montag – die Verlobung (22. Januar 1867) mit Sophie in Bayern und die Lösung dieses Eheversprechens (7. Oktober 1867). Und auch das gehört zu Ludwigs Vita: Sein unnatürlicher Tod im Starnberger See wird an einem Montag festgestellt. 13 auf ihre weinseligen Stunden vorbereiten, Tambosi von seiner Familie wegholen, ihn betreuen und die Hofkasse bezahlen muß. Und so erzählt der Schriftsteller Friedrich Bodenstedt (* 1819) aus Peine bei Braunschweig in seinen Erinnerungen, man pflegte darob ständig „wichtige, vertrauliche, für die Öffentlichkeit nicht geeignete Unterhaltungen“. Dann die erste Schwangerschaft! Am 13. Mai 1843 meldet Kast, der österreichische Gesandte in München, seinem Chef Metternich eine Fehlgeburt Maries, „die man vor der Patientin geheim halten konnte“. Man stelle sich das vor: Ein Ambassadeur weiß Intimes einer Frau, die davon keine Ahnung hat! Die Fehlgeburt bestätigt auch der Leibarzt der Kronprinzessin, der vor einer unlösbaren Aufgabe steht. Einerseits soll er den Tripper Maximilians kurieren, andererseits Marie zu einer Schwangerschaft verhelfen. Klar, daß da gelogen und geschoben werden muß. Vorerst vermerken wir nur, daß Maximilian seinen Vertreter Tambosi, in seinen Augen einen „Betrüger und elenden Kerl“, zum Herold des Ritterordens vom Heiligen Hubertus schlägt und ihm die goldene Ehrenmünze des Königlichen Verdienstordens überreicht. Normalerweise maßlos übertrieben, im besonderen Falle hat der Italiener dies aber verdient. Am oder um den 25. August 1845 liegt nämlich ein gesunder Sohn in der Wiege: Ludwig II. Sogleich spricht Kronprinz Maximilian davon, daß seiner Frau Marie „der Herr“ einen Sohn geschenkt hat. Man muß diese Aussage zweimal lesen, um den Inhalt ganz zu verstehen! Die Hofschranzen wissen längst, daß er nicht der Vater sein kann. Tripper ist ansteckend, und die Kronprinzessin hat diese Krankheit nachweislich nicht. Wir müssen noch bei Mutter Marie verbleiben, denn an ihrem Schicksal hängt zunächst auch das Ludwigs. Man kann es kurz machen: Sie wird nicht als normale Frau behandelt, sie darf nichts, und man weiß nicht so recht, wann (und ob) sie richtig aufgeklärt wird. So kann sie darüber auch nicht mit Ludwig sprechen. Dieser fragt denn dann auch als Jüngling einen Hofbeamten, was ein „natürlicher Sohn“ und eine „Notzucht“ ist. 14 Angesichts der Verkommenheit am Hof könnten die Fragen gar nicht anschaulicher formuliert werden. Was ist Notzucht? Was ist ein natürlicher Sohn? Arme Marie von Preußen – du bist die so demütigende Antwort dieser Fragen selbst, müßte man sagen, wenn nicht alles so traurig, so tieftraurig wäre. Sie darf nicht einmal das gesprochene Wort Liebe hören. Was muß da nicht das Fräulein Küster, eine Tochter des früheren preußischen Gesandten in München, alles erleben! Sie wird der Kronprinzessin kurz nach der Hochzeit 1842 zugeordnet. Paul Heyse (* 1830) aus Berlin lernt sie kennen und schreibt: „Sie hatte dabei gewisse sittliche Rücksichten zu nehmen, deren man sonst gegenüber jungen Frauen überhoben zu sein pflegt. Man erzählte gar, es sei ihr zur Pflicht gemacht worden, beim Vorlesen von Romanen und Novellen das Wort Liebe stets durch Freundschaft zu ersetzen.“ So erlebt Dichter Heyse wahrhaft dramatische Zeiten. Man muß höllisch aufpassen! Er selbst darf vor Marie nur saubere Verse vorlesen. Die Braut von Cypern akzeptiert man, Hochzeitsreise an den Walchensee nicht. Letzteres Gedicht ist voller Momente, die Marie und Maximilian nie kennengelernt haben. Heyse schildert das ganze phantastische Glück zweier junger Leute, die sich vom Altar weg auf eine wundervolle Hochzeitsreise begeben. „Fahrt zu, ihr Glücklichen“, dichtet er. „Ihr habt es gut, Ihr mühet euch nicht, Idyllen zu erdenken; Ihr seid ja selber eins in Fleisch und Blut.“ Nein, so etwas darf Marie nicht hören. Wie hervorragend paßt dagegen in dieses sterile und skurrile Klima der Residenz Heyses Gedicht über Die Braut von Cypern. Ihr „Cimone blieb daheim und schlug gelassen die Tage, Wochen, Jahre tot nach Kräften“. Von Gott Amor will er „nichts wissen“. Da paßt sie gut zu ihm, wenn sie erwidert: „Ich will mit Liebe nichts zu schaffen haben.“ Daß Heyse nicht übertreibt, zeigen Berichte anderer Zeitgenossen. Bevor der aus Lindau gebürtige Arzt Hermann Lingg (* 1820) zum Rezitieren seiner Werke kommt, fragt ihn Maximilian ausdrücklich, „ob auch Liebesgedichte dabei seien“. Knabenträume: Tannhäuser und Lohengrin Parallel prüde die Erziehung Ludwigs! Doch prallt bei ihm die konservative Lehre voll ins Leere. Dem ihm aufoktroyierten Religionsunterricht setzt er eine unglaubliche Begierde nach einem breiten Wissen auf den Gebieten Literatur und Kunst entgegen. Beschlagen wie wenige Zeitgenossen ist er auf dem weiten Feld der antiken Mythologie. Um den Olymp, auf dem die Hauptgötter oftmals mehr menschliche Schwächen zeigen als die Menschen selbst, kreisen viele seiner Empfindungen. Natürlich muß der Kronprinz Ludwig 1860 die Passionsspiele in Oberammergau besuchen, natürlich kommt er den üblichen Konventionen an Festtagen nicht aus, doch er saugt andererseits alle geistigen Strömungen der Zeit begierig auf. Er lernt Dramen Schillers auswendig, die er ein Leben lang rezitieren kann. Wie sein späterer Kabinettssekretär Buerkel erzählt, spielt er leidenschaftlich im Theater mit, „entsprechend prunkvoll gekleidet“. Er lernt leicht, hat ganz einfach ein „phänomenales Gedächtnis“. Ähnlich urteilt der badische Gesandte in München, der in Stuttgart geborne Robert Mohl (* 1799), in seinen Lebenserinnerungen: „An leichter Auffassung und an Urteil fehlte es ihm nicht.“ Natürlich gehören diese Geistesgaben, diese ungewöhnlichen Geistesgaben, zum Bild Ludwigs. Das muß man um so stärker würdigen, als er immer das schlimmste, man muß es wiederholen, das schlimmste von seinem Stiefvater Maximilian zu erwarten hat, der denn auch diesen Namen verdient. Das Verhältnis beider Schloßbewohner kann man ruhig als Katastrophe bezeichnen. Mohls Recherchen über den jungen Ludwig lauten: „Seine Erziehung war streng, aber wie es scheint sehr verkehrt gewesen. Gewohnheit und das Bedürfnis einer ernsten Beschäftigung und das Gefühl einer Verantwortlichkeit und einer Verbindlichkeit zur Pflichter- füllung gar nicht erweckt worden.“ Aber auch Mutter Marie kommt nicht gut weg: Sie war einst sehr schön – „aber ohne hervorragende Geistesgaben“. Natürlich ehrt es Maximilian II., daß er diese seine Frau nicht ansteckt, was er jedoch mit Ludwig anstellt, gehört zum pädagogischen Gruselkabinett. Um konkret zu werden: Er drischt unentwegt auf den Buben ein, was der Historiker Wilhelm Heinrich Riehl (* 1823) aus Biebrich am Rhein in seinen Memoiren (Kulturgeschichte Charakterköpfe) erzählt, und läßt ihn bewußt hungern. Keine Liebe, keine Nestwärme! Liest man die Berichte genau, so hat man den Eindruck, über dem Hof der Wittelsbacher kreisen immerzu Rabeneltern und Schmutzfinken. Riehl zitiert in diesem Zusammenhang die Erzieherin Marie Schultze, „eine Freundin von Königin Marie“, mit folgender Passage über das Verhältnis des Königspaares zu den zwei Sprößlingen Ludwig und Otto, der 1848 geboren wird: „Auch die Königin verstand es sehr wenig, ihre Prinzen an sich anzuziehen. Sie besuchte sie zwar häufiger in ihren Zimmern, wußte sich aber nicht mit ihnen abzugeben, wie Kinder es eben verlangen. Das zog die Söhnchen auch nicht an die Mutter.“ Ludwig zieht es somit bald und dann immer mehr zu seinem Baukasten. „Im Alter von 13 Jahren“, so berichtet in ihren Memoiren (Unter den ersten vier Königen Bayerns) die Münchner Schriftstellerin Luise Kobell (* 1827), „entwarf er ein am Hintersee bei Berchtesgaden zu erbauendes Jagdhaus.“ Die Erzieher seien zwar brave Männer, „aber für das Geniale in ihres Zöglings Wesen hatten sie wenig Verständnis“. Und weiter: „Eine zeitweise, wenn auch nur scheinbare Mitbegeisterung, zu dem Zwecke, seinen Ideenflug zu lenken und in die rechten Bahnen zu bringen, hätte ihn erwärmt und ihm 15 genützt. Der pädagogische Grenzwall trieb Ludwigs Schwärmereien in dessen Seelenwinkel zurück.“ Nach Riehl gehört es „zu den Erziehungsmaximen“ des Königspaares, „den jungen Kronprinzen Ludwig stets auf die Besonderheit seiner hohen Stellung hinzuweisen, was bei dem phantasievollen Knaben auf fruchtbaren Boden fällt, allerdings zu Ergebnissen führt, die seine Lehrer und Eltern erschrecken“. Dazu liefert Frau Schultes ein „typisches Ereignis“. „Es war im Sommer des Jahres 1857“, so erzählt sie, „während des Aufenthaltes des Hofes in Berchtesgaden.“ Da tummeln sich die Brüder Ludwig und Otto im Park der königlichen Villa. „Als ein Hofbeamter zufällig des Weges kam, bot sich ihm folgendes Schauspiel: Prinz Otto lag an Händen und Füßen gebunden auf dem Rasen, ein Knebel steckte ihm im Mund, und um den Hals hatte er ein Sacktuch geschlungen, an welchem der zwölfjährige Ludwig heftig zerrte. Der Hofbeamte eilte erschrocken hinzu, um den schwächlichen Prinzen Otto zu befreien, doch Prinz Ludwig widersetzte sich ihm, indem er zornig rief: Er ist mein Vasall und wagt es, ungehorsam zu sein – ich muß ihn hinrichten.“ Das ist glasklar das Echo einer idiotischen Erziehung! Und anstatt sich des Kronprinzen mehr anzunehmen, spricht Maximilian „eine empfindliche Strafe“ aus. Der Kommentar Riehls: „König Max wußte sich in solchen Fällen nur zu helfen, indem er höchst persönlich seinem ältesten Sohn eine Tracht Prügel verabreichte. Über die tieferen Gründe solcher Fehlentwicklungen und Fehlhaltungen seines Sohnes wurde der Vater sich nie klar. Er antwortete mit mehr Strenge, verstärkte die Aufsicht, legte den Tagesablauf und den Gang des Privatunterrichts noch genauer fest. Umgang mit Gleichaltrigen wurde auf ein Minimum beschränkt, weil sich eine königliche Persönlichkeit am besten in der Stille entwickeln könne. Spartanisch war auch die Verköstigung. Ludwig stand selten satt gegessen vom Tisch auf, weil der Vater und die ihn beratenden Pädagogen der Ansicht waren, daß Hunger den Charakter forme.“ 16 Und da wundert sich Maximilian, wenn er mehr und mehr abgelehnt wird. Schon sehr bezeichnend sein Satz über Ludwig: „Es interessiert ihn nichts, was ich anrege.“ Das wiederum spricht für den Jüngling. Dazu erzählt die vorzügliche Wittelsbach-Kennerin Eugenie Schleussinger, deren Großvater Carl amtlicher Protokollführer beim Tode Ludwigs II. und deren Vater Otto Schleussinger einer der ersten am Unglücksort Berg war, am 23. März 1980 dem Verfasser dieses Buches: Maximilian habe ernsthaft geglaubt, aus der Wissenschaft lasse sich ein Gesetz ableiten, wonach „den Herrschern im Diesseits auch drüben eine Ausnahmestellung“ eingeräumt sei. Daß dieser Blödsinn nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen die Memorabilien Klenzes. Und die Abneigungen des Kronprinzen gegen solchen Wahnsinn sind mehrfach belegt. So spricht der in Amberg geborne wittelsbachische Kabinettssekretär Franz Seraph Pfistermeister (* 1820), also ein Kronzeuge, „von tiefgehender Abneigung“ Ludwigs gegen Maximilian. Wir werden noch mehr über diesen Informanten hören, an den noch heute eine Tafel an dessen Münchner Wohnhaus am Thomas-Wimmer-Ring erinnert. Doch zurück zur Jugend Ludwigs! Irgendwann in der langen Phase der Demütigungen steckt ein mitleidsvoller Hofbediensteter dem mit Prügeln und Hunger geschlagenen Kronprinzen die Botschaft zu, die sein ganzes Wesen und Wirken verändert: Sein Peiniger ist nicht nur ein Tyrann, sondern auch nicht sein leiblicher Vater. Prompt wirft Ludwig der Mutter später auch vor, „ihn nicht aus der Ehe mit König Max empfangen zu haben“. Der in Königsberg geborne und in München tätige Diplomat Philipp Eulenburg-Hertefeld (* 1847) erzählt das wortwörtlich so. Wahrscheinlich hat Marie auf die entsprechenden Einwände ihres Sohnes auch nicht die Wahrheit sagen können. Sie war ja betrunken, als man sie schändete. Und schon aus diesem Grund wird sie sich die Fragen verbitten. So wie Lohengrin, der die in Bedrängnis geratene Elsa auffordert, weder seinen Namen noch seine Herkunft zu erforschen: „Nie sollst du mich befragen.“ Damit sind wir schon mitten im Fasching 1861. Ludwig zählt 15 Jahr und fünf Monat, wie man damals sagt, und sieht (am 2. Februar) erstmals eine Wagner-Oper: Lohengrin (Uraufführung 1850 in Weimar). Hier der Schwanenritter Lohengrin mit dem Spruch „Nie sollst du mich befragen“, dort Tambosi, Ludwigs Vater! Gegenüber die Mutter, die nichts oder nicht sehr viel weiß. Daneben ihr geschlechtskranker Ehemann Maximilian, der im Venusberg Ungarns über Gebühr verkehrte und somit die Vaterrolle aus eigenem Verschulden nie spielt und spielen kann. Er hat dem jungen Kronprinzen bis zu diesem Lichtmeßtag die Oper verboten. Umfassende Lektüre über den in Leipzig gebornen Richard Wagner (* 1813) und seine Musik liegt denn auch in der Residenz nicht auf. Wohl aber im Palast des Herzogs Max in Bayern, des Vaters der Kaiserin Elisabeth (Sissi), an der Ludwigstraße! Als der Jüngling am 2. Februar 1861 in seiner Loge „Thränen höchsten Entzückens“ vergießt, wie sich sein erster und namhaftester Biograph, Gottfried Böhm, ausdrückt, rüstet man im Theaterflügel am Max-Joseph-Platz gerade zum Faschingsendspurt. Schon am 5. Februar schreitet Ludwig hinter dem Königspaar und neben seinem Bruder Otto (12) zur „maskirten Akademie“. Eine zierliche „Colombine“ verdreht den Männern die Köpfe, nicht dem Kronprinzen, der nur an Lohengrin denkt – und seinen Wahn auf dem Schwan, an die Hochzeit, die eine und keine ist! Am 11. Februar (Rosenmontag) findet dann in der Oper der große Maskenball statt. Kapellmeister Widder steht am Pult und die Brüder Giuseppe und Louis Tambosi am Büfett. Ersterer versieht das Amt des königlichen Hofkellermeisters und Kammerdieners, letzterer führt das gleichnamige Café vor dem Hofgartentor. Wenn Ludwig diese Namen hört, wird er schwermütig und zornig, gehässig und traurig zugleich. Die Reden am Hof werden auch ungenierter. Man nimmt mit eigenen Augen wahr, wie die Körpergrößen von Maximilian und Ludwig immer deutlicher auseinanderklaffen. Der Kronprinz schießt ungewöhnlich in die Höhe, nur noch Hehre Zeiten und Zeichen Studiert man Ludwigs II. Bildprogramm, so fallen drei Symbole auf, die er immer wieder in den Vordergrund stellt: Venus, Schwan und Mond. Erstere sieht er nach antiker Manier als sein Konzeptionszeichen (Schütze = Amor der Göttin) an, den Schwan als deren Begleitung, den Mond als extravagante Himmelserscheinung exakt zur Stunde seiner Konzeption! Für ihn unvergeßlich in der Landshuter Residenz der Schwanenwagen, der von der nackten Venus gesteuert wird! Dem unmittelbaren Vorbild des Bayernherrschers, Ludwig XIV. von Frankreich, dem „Sonnenkönig“, schreibt man auch drei Signa zu: Venus, Schwan und Sonne. Dessen Konzeption fällt ebenfalls in das Tierkreiszeichen Schütze, ergo sind Venus und Schwan erklärlich, der sein persönliches Gütesiegel wird, das man – wie bei Ludwig II. – überall in seinen Schlössern (dort oft mit Leda) sieht. Der „Sonnenkönig“ verschenkt die Prachtvögel als Ehrengaben und macht sie zum Entzücken der Untertanen in Paris an und auf der Seine heimisch. Diese Manier, sich mit erhabenen Zeichen zu umgeben, geht weit zurück – auch auf den Kaiser Augustus. Dessen Hauptsymbole sind: Venus, Steinbock, Sonne. Die Göttin der Liebe betrachtet er als seine Ahnin, den Steinbock als sein Konzeptionszeichen, mit dem er sich sogar auf Münzen abbilden läßt, die Sonne leitet er von seinem Lieblingsgott und mythischen Vater Apollo ab. 17 wenige Zentimeter fehlen zur Zweimetermarke, Maximilian dagegen erscheint als Zwerg. Dann eine zweite Diskrepanz: Der schwarzhaarige Junge entpuppt sich immer mehr als strahlende Schönheit, den die Frauenwelt anhimmelt. Maximilian tritt als glattes Gegenteil in die Öffentlichkeit. Weiter sieht Ludwig II. seinem vorgeschobenen Vater überhaupt nicht gleich, sondern vielmehr der wirklich hübschen in München gebornen Leopoldine Tambosi (* 1830), der Tochter des königlichen Ersatzmannes und Kammerdieners. Mitten in die gedrückte Stimmung fällt dann ein weiteres Erlebnis Ludwigs, das ihn bis zu seinem Lebensende fesselt, im wahrsten Sinne des Wortes. Plötzlich wird er nämlich der Attraktivität seines Konzeptionszeichens gewahr, der Venus. „In der Oper kommt Sonntags Tannhäuser und am 2. Weihnachts-Feiertag Boieldieu’s Rothkäppchen zur Aufführung“, lesen die Münchner am 21. Dezember 1861 in den Neuesten Nachrichten. Endlich darf Ludwig das Epos um Venusberg, Versuchung und Verbannung sehen, endlich abermals dem Melodienrausch Wagners lauschen. Nicht oft ist der Kronprinz so glücklich wie an jenem 22. Dezember 1861, als er dieses sprühende Feuerwerk aus den hellen und grellen Farben, die für die knisternden Umarmungen und den rasanten Höllensturz stehen, in der Münchner Oper bestaunen darf. Im Venusberg hat sich sein offizieller Vater Maximilian seinerzeit in einer schönen, aber kranken Badmagd Budapests infiziert, was ihm die Hölle schon auf Erden beschied. Der Papst schickte Tannhäuser direkt dorthin. Insofern decken sich die Schemen. Ludwig mag dies auch so empfinden. Denn: Zu einer differenzierteren Betrachtungsweise dürfte er noch nicht fähig sein. Man bringt sie ihm auch in seinem Residenzkloster nicht bei. Wie der bereits erwähnte Paul Heyse aus Berlin und dessen Freund Emanuel Geibel (* 1815) aus Lübeck feststellen, ergibt man sich dort diesbezüglich nur noch Kasteiungen. Zur Natur des Menschen gehören und passen diese 18 König Ludwig II. hat noch eine bekannte Schwester, die Halbschwester Leopoldine, die in das reiche italienische Herzogsgeschlecht derer von Bacinetti heiratet. Beider Vater Giuseppe Tambosi stammt aus Riva am Gardasee. Die Ähnlichkeit der Kinder stützt Leo Klenzes eindeutige Aussagen in dessen Memorabilien. Von Tambosi, der am Südlichen Friedhof von München bestattet ist, konnte leider kein Bildnis aufgetrieben werden. In Memoiren, Briefen und Tagebüchern der Zeitgenossen wird die Familie aus dem Süden als Intriganten-Clan beschrieben, der in der Herrschaftszeit des Königs Maximilian II. (1848 bis 1864) die Personalpolitik mitbestimmt. Einmal berichtet der Theater-Intendant Franz Dingelstedt in seinen Memoiren (Münchener Bilderbogen), zu seiner Frau sei einmal Tambosis Bruder Luigi im Auftrag Maximilians II. gekommen und habe nur gesagt: „Quando vengo la prossima volta, sarà per il Signor Intendente; mà sicuramente!“ Und der Schreiber fügt hinzu: „Guter Luigi, du wußtest recht gut, besser und eher als ich, was von da droben für mich unterwegs war.“ Die Entlassung! Links: Leopoldine Tambosi (Bildausschnitt), die nach den Maßen ihrer Ober- und Unterarme laut Expertenbericht fast 1,85 Meter groß ist. bestimmt nicht. Schon gar nicht zu der eines jungen Mannes, der einmal König von Bayern werden soll. Wer in seinem Alter und Stand liebt und deshalb glaubt, verdammt zu werden, tut gut daran, ein solch bescheuertes Urteil in das Genre Posse und Gosse zu verdrängen. Nur dann darf er sich frei fühlen, frei für das Schönste, das die Schöpfung dem Menschen gab und gibt. Nur am Rande: Klassisch und vor aller Welt demonstriert haben dieses paradiesische und aphrodisische Sujet Mitte Oktober 2005 Christian Thielemann und seine Münchner Philharmoniker, die dem deutschen Papst und seiner Hierarchie im Vatikan ein erlesenes Ständchen brachten. Dieses beendeten sie mit der aufpeitschenden Als Intendant Dingelstedt in München den Tannhäuser aufführen will, wird ihm laut seinen Memoiren der Vorwurf gemacht, er „gibt ein Werk des Social-Demokraten, des Revolutionärs, des rothen Republikaners, Richard Wagner“. Ouvertüre des Tannhäuser, „die, wie Thielemann vorher noch lachend gemutmaßt hatte, mit ihrem Venusthema vielleicht den einen oder anderen Kardinal an seine Jugendsünden denken läßt“ (FAZ, 23. Oktober 2005). Ja, der Venusberg! Der damals 16jährige Ludwig ist 1861 vielleicht noch zu jung, um die Verstrickungen der Menschen allgemein und die seines offiziellen Vaters speziell abschließend beurteilen zu können. Ihm fehlte ganz einfach ein kluger Freund und Lehrer, der ihn aus den spießbürgerlichen Gefilden seiner Familie gerettet und ihm das Epos erklärt hätte. Das Königspaar kann man als pädagogische Versager bezeichnen. Ludwig entbehrte jegliche Zuwendung und Zärtlichkeiten. Einst durchzog wenigstens partiell und ideell heiterer Sinn die Residenz. Ludwig I. streichelte nicht nur seine Mätressen, sondern auch seine Frau und die gemeinsamen Kinder. Nach ihm residieren und regieren hier Keuschheit und Kapuzinergeist. Symbolträchtiges Bayreuth. Das Denkmal König Maximilians II. sieht man dort neben den tief dekolletierten Schönheiten der Alten Residenz. Wahrscheinlich spielt man damit auf die Amouren des Wittelsbachers in den Budapester Bädern und ihre fatalen Folgen an. Mit seinem Tod 1864 beginnt die Weltkarriere Ludwigs II., der nicht sein Sohn sein kann. 19 Wie weiland Kaiser Augustus gedenkt Ludwig II. stets der Venus, weshalb diese sehr oft in und vor seinen Schlössern auftritt. Das hängt mit antikem Gedankengut ebenso dringend und zwingend zusammen wie sein Faible für den Mond. Dennoch ist er ein ganz moderner Monarch, der in München die Technische Hochschule und den Wetterdienst gründet, große Forscher holt und avantgardistische Künstler auszeichnet, die Weltidylle St. Bartholomä rettet und Münchner Fabriken und Brauereien besucht, sich in der Fischerliesl am Schliersee vergnügt und die Evolutionstheorie Darwins gutheißt, die Bayreuther Festspiele ermöglicht und Schlösser baut, die heute die Welt besucht und bewundert. Allein seine ungewöhnliche Herkunft führt 1886 zu seiner brutalen Ermordung, was dieses Buch minuziös beweist. So hoch der Adler fliegt, so gigantisch sein Absturz! Rudolf Reiser, Schüler von Karl Bosl, hat bisher völlig unbekannte Quellen aus den Archiven Europas, Privatbeständen und der Bayerischen Staatsbibliothek erschlossen, die alte Klischees erheblich korrigieren. ISBN 978-3-934863-80-4