könig ludwig ii.

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könig ludwig ii.
Rudolf Reiser
KÖNIG LUDWIG II.
Mensch und Mythos zwischen
Genialität und Götterdämmerung
Rudolf Reiser / König Ludwig II.
Rudolf Reiser
König Ludwig II.
Mensch und Mythos
zwischen
Genialität und Götterdämmerung
Rudolf Reiser, in Regensburg geboren und in München zu Hause, forscht seit Jahrzehnten in Archiven und Bibliotheken Europas über König Ludwig II. von
Bayern. Er kennt wie kaum jemand die verfügbaren Quellen, so unter anderem die Memorabilien Leo Klenzes und die Privatarchive und -bestände Bayerns.
Der Verfasser studierte in München und Wien die Fächer Geschichte, Psychologie und Osteuropakunde. Promotion 1968 bei Karl Bosl über Adeliges Stadtleben
im Barockzeitalter, von 1969 bis 1996 Redakteur für Bildung und Forschung bei der Süddeutschen Zeitung. Verfasser von rund tausend wissenschaftlichen Aufsätzen und über 60 Fachbüchern mit den Schwerpunkten Antike, Ikonographie, Bayerische Geschichte und Städte- und Landschaftsmonographie.
Von Rudolf Reiser im mz-Buchverlag erschienen: Die Thurn und Taxis (vergriffen) und noch lieferbar: Alte Häuser – Große Namen – Regensburg (2008) sowie
Streifzüge durch den Bayerischen Wald (2009).
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnd.ddb.de abrufbar.
2. ergänzte Auflage 2011
Titelbild: Schloß Herrenchiemsee und sein Bauherr Ludwig (koloriertes Photo 1864; Geschenk an Wagner);
Umschlaggestaltung und Satz: SüdOst Verlag, Susanne Pasquella Berndobler
Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt.
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Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
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© MZ Buchverlag GmbH, Regensburg 2010
ISBN 978-3-934863-80-4
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INHALT
IM ZEICHEN DES MONDES
DER STERN VERGLÜHT IM SEE
Die Eltern: Mutter Preußin, Vater Italiener
8
Vorbereitung des Mords: 7. – 12. Juni 1886
124
Knabenträume: Tannhäuser und Lohengrin
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Sissi, Adel und Bauer wollen Ludwig retten
131
An Pfingsten erscheint der Satan am See
135
Rekonstruktion der Brutalität vom 13. Juni
142
Töten und Lügen am Heilig-Geist-Fest 1886
150
Kaiserin Elisabeth entlarvt Prinz Luitpold
154
Keine letzte Ruhe für den „Märchenkönig“
161
DER SONNENKÖNIG BAYERNS
Die Ouvertüre: Berufung Richard Wagners
22
Isolden, Fischerliesl, Tell und Tristan
32
Krieg verloren – von Franken begeistert
43
In der Braut- und Putschzeit nach Paris
49
Neuschwanstein, TU und Meistersinger
56
Orden für Courbet – Streit um das Rheingold
62
Krieg und Frieden, der die Welt verändert
65
Gespräche mit Felix Dahn auf dem Schachen
75
Die Wallfahrt zur Jeanne d’Arc nach Reims
80
Besuch der ersten Bayreuther Festspiele
85
Parsifal und der Mond von Hohenschwangau
93
Quellen und Literatur
164
„Magische Klänge“ am Vierwaldstätter See
98
Zu den Bildern
165
Herrenchiemsee – Wagners Tod in Venedig
107
Register
166
Verirrt und verwirrt: Der Adler Elisabeths
113
Neuschwanstein – das populärste Kulturerbe
168
ANHANG
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Ihm liegt die Welt zu Füßen, sein Charisma ist unerreicht. Ludwig II. baut nicht
nur Schlösser, die Millionen Menschen aus aller Welt bestaunen, er legt mit der
Gründung der Technischen Hochschule München und spektakulären Berufungen an
die Universität seiner Geburtsstadt den Grundstein zu einer Wissenschaftsmetropole.
Mit seiner Hilfe gelingt in Bayreuth das größte Festspielereignis der Menschheit.
Zur lang ersehnten deutschen Einheit trägt er ohne jegliches Blutvergießen bei, er
gründet die ersten Wetterstationen und widersetzt sich vehement den Forderungen der
katholischen Kirche, die Schulpflicht abzuschaffen. Unvergessen seine Leutseligkeit,
phantastisch sein Gedächtnis!
Er verherrlicht in seinen Schlössern sein Konzeptionszeichen, die Venus, und stützt
als erster Monarch des Kontinents die Evolutionstheorie Darwins. Gustave Courbet
und Theodor Storm zeichnet er mit Orden aus, er mischt sich in Schliersee unter die
Hochzeitsgäste und rettet die Weltidylle St. Bartholomä am Königssee.
Strikt lehnt er das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ab, er verabscheut die Jesuiten
und läßt die Franken und das Kunsthandwerk hoch leben.
Es gilt aber auch für ihn der Satz: Wo viel Licht, da viel Schatten. So hoch der Adler
fliegt, so gigantisch schließlich sein Absturz!
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IM ZEICHEN
DES MONDES
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Die Eltern: Mutter Preußin, Vater Italiener
„Hätte er vor Shakespeare gelebt: die Welt besäße ein
Königsdrama ohnegleichen!“ Dieser Satz über Ludwig II.
stammt aus der Feder eines Mannes, der ihn wie nur ganz
wenige Menschen kennt: Kabinettssekretär Ludwig Buerkel.
Eine grandiose Feststellung, die dieses Buch spiegelt, das sich
freilich ausschließlich auf authentische und bisher unbekannte Geschichtsquellen stützt!
Ludwig II. ist der mit Abstand populärste Monarch
unserer Erde, zu dessen Schlössern jährlich die Menschen
aus aller Welt strömen. In ihm bündeln sich schicksalhafte
Ströme wie bei wenigen, ja man kann sagen: Aus dem tiefen
Morast seines Milieus erhebt er sich wie weiland Apollo zur
absoluten Lichtgestalt mit charismatischen und fast messianischen Zügen – um dann im Starnberger See zu verglühen!
Daß man dies nicht im mindesten übertrieben nennen
kann, zeigt schon seine Geburt, die trotz vieler Bedenken
einfach auf den 25. August 1845 festgesetzt wird, deren
Umstände aber in jedem Fall an uralte Muster erinnern. Es
geht dabei um Gestirne und Götter, Konzeption und Vaterschaft.
Damit sind wir inmitten einer sensationellen Konstellation, die bisher ausnahmslos alle Biographen Ludwigs II.
nicht bedachten! Wie sämtliche mittelalterlichen Herrscher
fühlt sich auch Ludwig II. als Monarch von Gottes Gnaden.
Ein Fachausdruck, der sich auf Tausenden von Urkunden
findet! Das heißt aber auch: Sein Wesen ist sozusagen außermenschlich, kurzum mit dem Himmel verknüpft, insbesondere mit dem nächtlichen Himmel, der mit seinen zwölf
Sternkreiszeichen das Jahr teilt. So sonderbar es auch klingen
mag, seit weit über 2000 Jahren verehren die Herrscher nicht
das Zeichen ihrer Geburt, sondern das der Konzeption (neun
Monate vorher).
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Ein richtiges und vor allem wichtiges Vorbild dieses Sujets
ist Kaiser Augustus, am 23. September 63 vor Christus
geboren. Gleichwohl bestimmt er zu seinem Sternkreiszeichen den Steinbock, was der antike Kaiserbiograph Sueton
so erzählt. Mit dem Tier läßt sich der Imperator sogar auf
Münzen und auf der weltbekannten Gemma Augustea (Wien,
Kunsthistorisches Museum) abbilden. Die Absicht ist klar,
seine Konzeption fällt in diese winterliche Himmelserscheinung!
Und weiter in der Mythologie: Der Vater des Augustus soll
Apollo persönlich sein, der die Mutter im Tempel in Form
einer Schlange heimsuchte. Das erklärt Sueton ebenso wie
die Tatsache, daß am Tag der Geburt des Augustus in Rom
Capricornus und Corona, Steinbock und Krone also, gehören zu
den wichtigsten Herrscherzeichen des Kaisers Augustus. Detail
der Gemma Augustea (Wien).
die Rede ging, es sei „der Herr der Welt“ geboren worden.
Eine scharfe Parallele natürlich zu Christus, dessen Ursprung
auch als göttlich angesehen wird!
Kein Deut anders bei Ludwig II., über dessen Konzeption
man ebenso mehr munkelt als weiß. Licht in das Dunkel
bringt nun die von mir durchgeführte Durchforstung der
handschriftlichen Memorabilien des Architekten Leo Klenze
(* 1784), die sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek befinden. Wir werden mehrfach auf diese heiße Quelle
zurückkommen, stellen aber schon mal ein irres Geflecht
von Aberglaube und Adelswahn, Intrigen und Irrationalismen fest.
Danach hängt nach antiker Manier auch Ludwig II. am
Zeichen seiner Konzeption, die er gar in das Zentrum seiner
Legitimation stellt. Vom 25. August 1845 neun Monate
zurückgerechnet, ergibt den 25. November 1844. Sternkreiszeichen Schütze, niemand anderer als der mit Pfeil
und Bogen ausgerüstete und schießende Schütze Amor, das
Hauptattribut der schönen Venus, die zu den hehren Bewohnern des Olymp zählt!
Nun ist dieser 25. November im katholischen Festtagskalender ein ganz besonderer Feiertag: Santa Katharina.
Eine Frau, die nie gelebt hat, die vom Zweiten Vatikanum
sogar aus dem Kreis der Heiligen genommen wird! Sie gilt
von der Urkirche an als die Schönste der Seligen, hat einen
makellosen Körper und tritt südlich der Alpen öfter mit
entblößtem Oberleib auf, im Norden manchmal mit einem
prächtigen Dekolleté. Klar, sie nimmt die Stelle der Venus
ein, deren ikonographische Besonderheit, der Schütze, auf
Katharina insofern übergeht, als man ihren Namenstag in
das gleichnamige Sternzeichen setzt!
Das Fest der Katharina, ergo Venus, im Jahr 1844
bekommt aber noch eine erhöhte Folie. Akkurat an diesem
Tag präsentiert der nächtliche Himmel ein außerordentliches
Spektakel. Wir lesen dazu in der Augsburger Abendzeitung
vom 2. November 1844: „In der Nacht vom 24. auf den 25.
November findet eine sichtbare totale Mondsfinsterniß statt.
Der Mond tritt in die nördliche Hälfte des Erdschattens ein
um 10 Uhr 26 Min(uten) Abends.“ 26 Minuten vor Mitternacht beginnt die totale Finsternis. Die Zeitung schreibt
über den Mond weiter: „Um 12 Uhr 21 Min(uten) Morgens
ist er in der Mitte seiner Bahn durch den Erdschatten angekommen – die Mitte der Verfinsterung.“
Auf Tag und Minute genau neun Monate später wird in
Nymphenburg der nachmalige Bayernherrscher geboren,
behauptet der Münchner Hof. Es ist der Ludwigstag 1845,
der 25. August, an dem der gerade regierende Monarch
(Ludwig I.) ebenfalls Geburtstag hat. Schon sehr verdächtige
Kuriositäten!
Wir halten indes als eine Art Zwischenbilanz fest: König
Ludwig II. huldigt ein Leben lang zwei Konzeptionszeichen,
Venus und Mond, die uns von nun an laufend begegnen – in
seinen Schlössern genauso wie in seinem Terminkalender,
wenn es um Familientage oder Ausflüge in hellen Mondnächten geht!
Zurück zu dem neugebornen Kind! Es soll zunächst den
Namen Otto erhalten, was auch in den Journalen steht (Augsburger Abendzeitung, 28. August 1845), dann plötzlich wird
ein Ludwig daraus. In gewissen Kreisen spricht sich indes
schnell eine Manipulation des Datums herum. Aber noch
glauben die meisten den Wittelsbachern, was sich schnell
ändern wird und soll.
Da wissen nämlich zu viele Hofbedienstete um den angeblichen Vater: Maximilian, damals Kronprinz, zweieinhalb
Jahre später der Bayernkönig. Als er nach der 48er Revolution, die seinen Vater Ludwig I. wegen seiner Affären mit
Lola Montez zu Fall bringt, den Thron besteigt, ist er schon
ein todkranker Mann. Und das hat seine Ursache!
Dazu eine kurze Rückblende in das Jahr 1835: Ohne
väterliche Billigung reist Maximilian II. in die berüchtigten
Kurhäuser bei Pesth (heute Budapest). Man weiß um die
heißen Bäder und Becken dort, willige Backfische tummeln
sich im Wasser für Männer mit eindeutigen Absichten. Die
Ansteckungsgefahr ist groß, die galante oder venerische
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Venus – St. Katharina
Schamhaft versteckt beherrscht die heilige Katharina im
Oratorio della Santa Catarina in Palermo (Bild links) das
Dunkel ihres sizilianischen Heiligtums. Fast völlig entkleidet ziert sie unter der Muschel (der Venus) und dem Putto
(Amor) den Hochaltar. Die stockfinstere Kirche (deshalb
das mangelhafte Photo) ist nahezu unzugänglich, zeigt
aber nichtsdestotrotz sehr nachhaltig die uralten Zusammenhänge an der Nahtstelle von Antike und Urkirche auf.
In dieser Zeit werden nämlich die alten Götter Griechenlands und Roms durch Heilige mit den gleichen Kompetenzen ersetzt. Findet sich keine passende Gestalt, wird sie
ganz einfach erfunden, was vor allem die deutschen Reformatoren anprangern. Prompt streichen diese Kreationen
von Heiligen dann die Väter des Zweiten Vatikanischen
Konzils wieder aus dem Kirchenkalender.
Einige Beispiele: Für das Militär ist als Ersatz für Kriegsgott Mars laut Beschluß der Urchristen der Soldat Georg zuständig.
Um den antiken Gott beim Waffengang günstig zu stimmen, opfern ihm vor allem die Römer Stiere. Logischerweise setzt
man das Fest Georgs in das Sternkreiszeichen Stier. Ebenso verwandelt man den Krafthelden Herkules in einen Heiligen.
Den alten Gott sieht man immer im Löwenfell, manchmal trägt er den Iupiterknaben auf der Schulter. Aus ihm wird nun
Sankt Christophorus. Er schleppt den kleinen Jesus, sein Fest legt man in das Sternkreiszeichen Löwe. Und noch ein Beispiel:
Merkur, der Gott des Handels, deshalb oft mit einer Waage abgebildet, und auch Götterbote findet sein Pendant in Sankt
Michael, der bekanntlich nie gelebt hat. Er wird fast immer mit einer Waage (Seelenwaage) abgebildet, sein Fest feiert man
im Sternkreiszeichen Waage.
Damit kommen wir zur Venus, deren Nachfolgerin die heilige Katharina ist. Der Name leitet sich von Kythereia ab, der auf
Zypern geborenen Aphrodite = Venus. Genau wie diese tritt Katharina als außerordentliche Schönheit auf, oftmals ganz im Stil
ihrer Vorgängerin, deren wichtigstes Symbol der kleine Schütze namens Amor ist. In besagtem Stil begeht man ihr Heiligenfest
im Sternkreiszeichen Schütze, am 25. November. Exakt dieser Tag ist der Termin der Konzeption Ludwigs II., dessen Hang
zur olympischen Schönheit in seinen Schlössern Neuschwanstein, Linderhof und Herrenchiemsee reich (und bis jetzt für viele
unverständlich) dokumentiert ist.
In der Christenheit tritt uns Katharina aber nicht nur in Palermo wie Venus gegenüber. In den Belles Heures des Duc de
Berry erscheint sie oben ohne, ähnlich wie am Dom von Como! Der wohl provokatorischste Typ begegnet uns in der Krypta
des Großmünsters von Zürich. Die nackte Frau liegend – mit weit gespreizten Beinen! Diesseits der Alpen bestaunen wir die
Schönheit ab und zu mit einem reizvollen Dekolleté.
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Krankheit gefürchtet. Und so infiziert sich der Gast aus
München. Der Liebesschmerz des 23jährigen mutiert zur
unheilbaren Krankheit. Tripper! Die ungarischen Zeitungen
(Nationalmuseum Budapest) berichten darüber.
Nunmehr werden natürlich sofort Ärzte konsultiert, die
Eltern zu Hause etwas später informiert. Schon kursieren
wilde Gerüchte. Die Residenz dementiert und dementiert.
Und so kommt es, daß die hiesigen Zeitungen fast täglich
schreiben, der Kronprinz erfreue sich „der besten Gesundheit“.
Einer, der dies ebenso wie viele glaubt, ist der preußische
Gesandte am bayerischen Hof, August Dönhoff. Am 6. Juli
1835 depeschiert er an König Friedrich Wilhelm III., der
junge Wittelsbacher sei noch immer in Ungarn. Angesichts
der europaweit bekannten Orgien in den dortigen Bädern
fügt er allerdings den Satz hinzu, er wundere sich, daß Maximilian „offenbar freie Hand wegen des Ortes und der Dauer
seines Aufenthalts in der Fremde“ habe.
Vom Unglück weiß man in Berlin noch nichts, doch
den Kronprinzen plagen zu diesem Zeitpunkt bereits große
Schmerzen, die er im heißen Italien lindern will. Mit seinem
Kumpanen August Wendland (* 1806) aus Mecklenburg
reist er somit unverzüglich nach Triest und Mailand. Doch
die Uhr tickt unaufhaltsam. Im Oktober muß er in München
sein – bei der Silberhochzeit der Eltern.
Endlich tritt er in diesem Monat dem erzürnten Vater vor
die Augen. Der einst blühende Sproß des Hauses Wittelsbach ist eine Ruine. „War er doch ein so kräftiges, schönes,
gesundes Kind“, erklärt später Ludwig klagend seinem Architekten Klenze. Jetzt, 1835, ist alles dahin, die Krankheit nicht
mehr zu vertuschen. Doch anstatt Tripper spricht man von
Typhus. Mehr oder weniger weiß jetzt ganz München, daß
die Zeitungen die Unwahrheit verbreitet haben. Der erste
Biograph Maximilians, Venanz Müller, schreibt dies auch so:
„Eine furchtbare Krankheit rückte ihn hart an die dunkle
Pforte des Jenseits. Finstere Gerüchte beängstigten in Bayern
das Volk.“
Die Gesandtenberichte aus München sind erschreckend.
Metternich erhält eine Mitteilung, in der von dem „an Geist
und Körper verkrüppelten Kronprinzen“ die Rede ist. Oskar
Maria Graf berichtet ähnliches in seiner Chronik von Flechting, womit er sein Heimatdorf Berg meint. „I glaab oiwei“,
so läßt er einen Bewohner der Gegend sagen, „dös is a ganz
andere Krankhat gwen ... Oane dö wo ma bloß bei dö Bessern
find‘t ...“ Und ein anderer erwidert: „Er müaßt‘ ja koa Suhn
vo den andern gwen sei.“ Klar: Suhn = Sohn, eine Anspielung auf die Mätressenwirtschaft Ludwigs I.!
Marie von Preußen, die Mutter des Bayernkönigs Ludwigs II.,
im Alter ihrer Eheschließung mit dem geschlechtskranken Kronprinzen Maximilian von Bayern, der 1848 König wird und
ständig den kleinen Ludwig verdrischt.
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Natürlich weiß man auch in vielen europäischen Residenzen relativ bald Bescheid. Um so unverständlicher ist es,
daß der preußische Königshof bereit ist, die 16jährige Marie,
Cousine des neuen Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV., mit
Maximilian zu verloben. Ob man sich auf einen Nichtvollzug
der Ehe einigt? Das kommt in Fürstenhäusern schon mal vor,
bis in unsere Zeit übrigens. Die Kirche sprach ehedem in so
einem Falle von „Josefsehe“.
Als die Höfe in Berlin und München die Verlobung offiziell
mitteilen, ist man natürlich allerorten etwas erstaunt. Der
österreichische Gesandte in München, Karl Kast, schreibt
am 21. Dezember 1841 an Metternich, daß „man schon
befürchtet hatte, der Prinz werde sich gar nicht vermählen“.
Dann das Hochzeitsjahr 1842! Als die 16jährige Marie
im Oktober in München eintrifft, ist sie ein unaufgeklärtes
Kind, was ihre Mutter bestätigt, und ihr Zukünftiger fast
doppelt so alt – und schwer krank. Die Zeiten nach dem
Ringwechsel sind eigentlich mehr Zitter- als Flitterwochen,
über allem liegt eine unendliche Tristesse. Jetzt muß Maximilian die Reste seiner Süßspeisen von Budapest bis zur Neige
auslöffeln.
Auf der Hochzeitsreise sieht Marie erstmals den Starnberger See, der einmal ihrem Sohn Ludwig zum Verhängnis
werden soll. In der Augsburger Abendzeitung (2. November)
lesen wir: „Alle Häuser der größern so wie der kleineren
Orte, durch welche das hohe Paar fuhr, waren mit Fahnen,
Guirlanden, Bildern etc. geschmückt.“
Doch wie mag es in der Brust der Braut aussehen? Ihr
Hofstaat besteht fast nur aus Ausländern, die sich mehr derber
Sprüche als der deutschen Sprache bedienen. Ansonsten die
gerissenen Günstlinge und Gauner, Kartenleser und Wahrsager, die rund um die Münchner Residenz und das Schloß
Hohenschwangau kauern und lauern! Wir nennen in diesem
Zusammenhang den aus Italien stammenden Kammerdiener Giuseppe Tambosi, von dem gleich mehr die Rede
ist, den Oberhofmeister Vincent Vaublanc aus Frankreich,
der Deutsch überhaupt nicht versteht, die Oberhofmeisterin
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Pillement, eine geborene Boisseson, die erste und einzige
Liebschaft des Dichters Platen.
Das Team, so scheint es, beherrscht perfekt sein ihm
aufgetragenes Geschäft, das in solchen Fällen immer nach
dem gleichen Muster abläuft und konkret so aussieht: Marie
hört erstmals von den Vorzügen einer Freundschaft unter
Damen. So verkraftet sie auch den Orts- und Milieuwechsel
einigermaßen. Doch was ihre Umgebung mit ihr anstellt, ist
menschenunwürdig.
Natürlich kennt und spürt Maximilian seine mißliche Lage
und empfindet den Hafen der Ehe als eine wahrhaft schmerzhafte Stätte gebrochener Masten und undichter Hecks. Andererseits erwarten das Haus und Volk der Bayern baldmöglichst
Prinzen und Prinzessinnen. Und so streicht er in seiner peinlichen Not die Segel zugunsten eines Mannes vom Gardasee.
Damit sind wir endgültig bei Giuseppe Tambosi, der am
2. Mai 1794 in Riva geboren wurde, 1809 mit seinem Vater
Luigi (* 1772) aus Rovereto in die Bayernmetropole zog und
spätestens 1839 als Kammerdiener des Kronprinzen nachweisbar ist. Unmittelbar nach seiner Hochzeit ernennt ihn
dieser zu seinem Kellermeister. Gerade dies erregt Aufsehen.
Was will ein Kammerdiener im Keller? Die Antwort: Er ist
tief gefallen und versorgt die inzwischen 17jährige Kronprinzessin Marie mit berauschenden Mitteln aus den Weinfässern der Hofkellerei.
Unfaßbar aber ist, was nach diesem Liebestrank, eigentlich bessere K.-o.-Tropfen, der jungen Frau weiter eingeflößt
wird. Aus den Memorabilien Klenzes geht eindeutig hervor,
daß Maximilian II. den Italiener Giuseppe Tambosi zu seinem
Stellvertreter über Marie gekürt hat, worüber er auch dreimal
mit dem Architekten spricht. Das erstemal sagt der König:
„Ich weiß sehr wohl, daß es ein Betrüger und elender Kerl
ist, aber – ich kann ihn zu Allem vortrefflich gebrauchen!“
Kurz danach vertraut Maximilian dem Memoirenschreiber
an, er bräuchte mehr als zwei Söhne, damit der Thron des
kinderlosen Bruders Otto von Griechenland für das Haus
Wittelsbach gesichert werden könne.
Maximilian läßt diese Sorge nicht los und hofft weiter auf
die Dienste des „verschmitzten Welschtyrolers“ Tambosi. So
hört Klenze ein zweitesmal die Äußerung des Königs: „Ich
weiß es sehr wohl, Tambosi ist der schlechteste Kerl, welchen
ich in meinen Diensten habe, aber – ich kann ihn beßer als
irgend einen anderen gebrauchen.“
Schließlich der Gipfel! Klenze spricht die „Liebes- und
Affectionsverhältniße“ am Hofe an. Tambosis Dienstvorgesetzter, der königliche Freund Wilhelm Dönniges aus
Stettin, erhält Monat für Monat 1000 Gulden „für geheime
Zwecke“. Unmittelbar darauf erzählt der Architekt von „der
Kränklichkeit des Königs“, die ihm ein weiterer Kammerdiener Maximilians persönlich mitgeteilt habe. Offensichtlich erzählte dieser die äußerst peinliche Geschichte auch
anderen. Und das muß er büßen. Er wird kurzerhand nach
Ebenhausen versetzt und dann von einem Wildschützen
eiskalt erschossen.
Gleich nach dieser schauerlichen Feststellung fährt Klenze
fort: „Ich will diese Details hier nicht wiederholen, sie gehören
einer Jugendepoche des Königs an und beweisen nur, daß der
Ausspruch deßelben: Ich weiß sehr wohl, daß Tambosi der
schlechteste Kerl in meinem Staate ist, aber – ich kann ihn
gar zu gut brauchen, völlig richtig und berechtigt ist.“
Der ganze Vorgang stützt sich auf eine Bibelstelle. Lot
und seine Töchter! Die eine sagt, um die Familie zu erhalten,
zu ihrer Schwester: „Laß uns unserm Vater Wein zu trinken
geben und bei ihm schlafen“ (1. Mose 19,32). Das Ergebnis:
„Also wurden beide Töchter Lots schwanger von ihrem
Vater“ (1. Mose 19,36). Diese Szene ist meisterlich von Hans
Mielich gestaltet in den Münchner Bußpsalmen (heute Bayerische Staatsbibliothek).
Spiegelbildliches in München und Hohenschwangau!
Dort verabreicht man der Preußin Marie den Rotwein, den
man womöglich noch als Medizin ausgibt, legt sie in das Bett
und vergeht sich an ihr. Absolut geheim kann dieses seltsame
Treiben schon deswegen nicht bleiben, weil man (aus längst
bekannten Gründen) über den Zyklus der Frau wachen, sie
Der „Märchenkönig“
zwischen Mond und Mord
Ludwigs Leben beginnt so mysteriös wie es auch endet!
„Der Mond war sein Gestirn“, schreibt die Münchnerin Luise Kobell, die den König gut kennt und deren
Ehemann August Eisenhart zeitweise dessen Kabinettssekretär ist. Egal, ob sich Ludwig als Schwanenritter
auf dem Alpsee darstellen läßt oder nächtens bei der
Ausfahrt, immer scheint der Erdtrabant in seiner Fülle
über ihm. Als 1866 die Nachricht von seinem Aufenthalt auf der Roseninsel durchsickert, spürt man ihn dort
mit seinem Freund Paul Taxis – „als Barbarossa und
Lohengrin kostümiert in einem dunklen Saale bei künstlichem Mondschein“ (!) auf, wie der Schriftsteller Fröbel
berichtet. Auch der in Berlin geborne Diplomat Hugo
Philipp Lerchenfeld erzählt, Paul Taxis „mußte in einer
Mondnacht (!) in einem eigens konstruierten Schiffe, das
einen Schwan darstellte, den Lohengrin auf dem Starnberger See bei Berg mimen“.
Wir erfahren schließlich, in seinen Schlafzimmern
läßt der König einen künstlichen Mond anbringen.
Natürlich ist für Ludwig dann auch der vom Mond
abgeleitete Montag ein besonderer Tag. Schon erstaunlich,
seine Konzeption (25. November 1844) fällt auf einen
Montag und in die Nacht einer totalen Mondfinsternis.
Geboren wird er dann nach offizieller Angabe ebenfalls
an einem Montag (25. August 1845). Und auch seine
zwei wichtigsten persönlichen Entscheidungen fällt er an
einem Montag – die Verlobung (22. Januar 1867) mit
Sophie in Bayern und die Lösung dieses Eheversprechens
(7. Oktober 1867). Und auch das gehört zu Ludwigs
Vita: Sein unnatürlicher Tod im Starnberger See wird an
einem Montag festgestellt.
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auf ihre weinseligen Stunden vorbereiten, Tambosi von seiner
Familie wegholen, ihn betreuen und die Hofkasse bezahlen
muß. Und so erzählt der Schriftsteller Friedrich Bodenstedt
(* 1819) aus Peine bei Braunschweig in seinen Erinnerungen,
man pflegte darob ständig „wichtige, vertrauliche, für die
Öffentlichkeit nicht geeignete Unterhaltungen“.
Dann die erste Schwangerschaft! Am 13. Mai 1843 meldet
Kast, der österreichische Gesandte in München, seinem Chef
Metternich eine Fehlgeburt Maries, „die man vor der Patientin
geheim halten konnte“. Man stelle sich das vor: Ein Ambassadeur weiß Intimes einer Frau, die davon keine Ahnung hat!
Die Fehlgeburt bestätigt auch der Leibarzt der Kronprinzessin, der vor einer unlösbaren Aufgabe steht. Einerseits soll
er den Tripper Maximilians kurieren, andererseits Marie zu
einer Schwangerschaft verhelfen. Klar, daß da gelogen und
geschoben werden muß. Vorerst vermerken wir nur, daß
Maximilian seinen Vertreter Tambosi, in seinen Augen einen
„Betrüger und elenden Kerl“, zum Herold des Ritterordens
vom Heiligen Hubertus schlägt und ihm die goldene Ehrenmünze des Königlichen Verdienstordens überreicht.
Normalerweise maßlos übertrieben, im besonderen Falle
hat der Italiener dies aber verdient. Am oder um den 25.
August 1845 liegt nämlich ein gesunder Sohn in der Wiege:
Ludwig II. Sogleich spricht Kronprinz Maximilian davon,
daß seiner Frau Marie „der Herr“ einen Sohn geschenkt hat.
Man muß diese Aussage zweimal lesen, um den Inhalt ganz
zu verstehen! Die Hofschranzen wissen längst, daß er nicht
der Vater sein kann. Tripper ist ansteckend, und die Kronprinzessin hat diese Krankheit nachweislich nicht.
Wir müssen noch bei Mutter Marie verbleiben, denn an
ihrem Schicksal hängt zunächst auch das Ludwigs. Man kann
es kurz machen: Sie wird nicht als normale Frau behandelt,
sie darf nichts, und man weiß nicht so recht, wann (und ob)
sie richtig aufgeklärt wird. So kann sie darüber auch nicht
mit Ludwig sprechen. Dieser fragt denn dann auch als Jüngling einen Hofbeamten, was ein „natürlicher Sohn“ und eine
„Notzucht“ ist.
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Angesichts der Verkommenheit am Hof könnten die
Fragen gar nicht anschaulicher formuliert werden. Was ist
Notzucht? Was ist ein natürlicher Sohn? Arme Marie von
Preußen – du bist die so demütigende Antwort dieser Fragen
selbst, müßte man sagen, wenn nicht alles so traurig, so tieftraurig wäre. Sie darf nicht einmal das gesprochene Wort
Liebe hören.
Was muß da nicht das Fräulein Küster, eine Tochter des
früheren preußischen Gesandten in München, alles erleben!
Sie wird der Kronprinzessin kurz nach der Hochzeit 1842
zugeordnet. Paul Heyse (* 1830) aus Berlin lernt sie kennen
und schreibt: „Sie hatte dabei gewisse sittliche Rücksichten
zu nehmen, deren man sonst gegenüber jungen Frauen überhoben zu sein pflegt. Man erzählte gar, es sei ihr zur Pflicht
gemacht worden, beim Vorlesen von Romanen und Novellen
das Wort Liebe stets durch Freundschaft zu ersetzen.“
So erlebt Dichter Heyse wahrhaft dramatische Zeiten.
Man muß höllisch aufpassen! Er selbst darf vor Marie nur
saubere Verse vorlesen. Die Braut von Cypern akzeptiert man,
Hochzeitsreise an den Walchensee nicht. Letzteres Gedicht ist
voller Momente, die Marie und Maximilian nie kennengelernt haben. Heyse schildert das ganze phantastische Glück
zweier junger Leute, die sich vom Altar weg auf eine wundervolle Hochzeitsreise begeben. „Fahrt zu, ihr Glücklichen“,
dichtet er. „Ihr habt es gut, Ihr mühet euch nicht, Idyllen zu
erdenken; Ihr seid ja selber eins in Fleisch und Blut.“
Nein, so etwas darf Marie nicht hören. Wie hervorragend
paßt dagegen in dieses sterile und skurrile Klima der Residenz
Heyses Gedicht über Die Braut von Cypern. Ihr „Cimone
blieb daheim und schlug gelassen die Tage, Wochen, Jahre
tot nach Kräften“. Von Gott Amor will er „nichts wissen“.
Da paßt sie gut zu ihm, wenn sie erwidert: „Ich will mit
Liebe nichts zu schaffen haben.“ Daß Heyse nicht übertreibt,
zeigen Berichte anderer Zeitgenossen. Bevor der aus Lindau
gebürtige Arzt Hermann Lingg (* 1820) zum Rezitieren
seiner Werke kommt, fragt ihn Maximilian ausdrücklich,
„ob auch Liebesgedichte dabei seien“.
Knabenträume: Tannhäuser und Lohengrin
Parallel prüde die Erziehung Ludwigs! Doch prallt bei ihm
die konservative Lehre voll ins Leere. Dem ihm aufoktroyierten Religionsunterricht setzt er eine unglaubliche Begierde
nach einem breiten Wissen auf den Gebieten Literatur und
Kunst entgegen. Beschlagen wie wenige Zeitgenossen ist
er auf dem weiten Feld der antiken Mythologie. Um den
Olymp, auf dem die Hauptgötter oftmals mehr menschliche Schwächen zeigen als die Menschen selbst, kreisen viele
seiner Empfindungen.
Natürlich muß der Kronprinz Ludwig 1860 die Passionsspiele in Oberammergau besuchen, natürlich kommt er den
üblichen Konventionen an Festtagen nicht aus, doch er saugt
andererseits alle geistigen Strömungen der Zeit begierig auf.
Er lernt Dramen Schillers auswendig, die er ein Leben lang
rezitieren kann. Wie sein späterer Kabinettssekretär Buerkel
erzählt, spielt er leidenschaftlich im Theater mit, „entsprechend prunkvoll gekleidet“. Er lernt leicht, hat ganz einfach
ein „phänomenales Gedächtnis“. Ähnlich urteilt der badische Gesandte in München, der in Stuttgart geborne Robert
Mohl (* 1799), in seinen Lebenserinnerungen: „An leichter
Auffassung und an Urteil fehlte es ihm nicht.“
Natürlich gehören diese Geistesgaben, diese ungewöhnlichen Geistesgaben, zum Bild Ludwigs. Das muß man um so
stärker würdigen, als er immer das schlimmste, man muß es
wiederholen, das schlimmste von seinem Stiefvater Maximilian zu erwarten hat, der denn auch diesen Namen verdient.
Das Verhältnis beider Schloßbewohner kann man ruhig
als Katastrophe bezeichnen. Mohls Recherchen über den
jungen Ludwig lauten: „Seine Erziehung war streng, aber
wie es scheint sehr verkehrt gewesen. Gewohnheit und das
Bedürfnis einer ernsten Beschäftigung und das Gefühl einer
Verantwortlichkeit und einer Verbindlichkeit zur Pflichter-
füllung gar nicht erweckt worden.“ Aber auch Mutter Marie
kommt nicht gut weg: Sie war einst sehr schön – „aber ohne
hervorragende Geistesgaben“.
Natürlich ehrt es Maximilian II., daß er diese seine Frau
nicht ansteckt, was er jedoch mit Ludwig anstellt, gehört
zum pädagogischen Gruselkabinett. Um konkret zu werden:
Er drischt unentwegt auf den Buben ein, was der Historiker Wilhelm Heinrich Riehl (* 1823) aus Biebrich am
Rhein in seinen Memoiren (Kulturgeschichte Charakterköpfe)
erzählt, und läßt ihn bewußt hungern. Keine Liebe, keine
Nestwärme! Liest man die Berichte genau, so hat man den
Eindruck, über dem Hof der Wittelsbacher kreisen immerzu
Rabeneltern und Schmutzfinken.
Riehl zitiert in diesem Zusammenhang die Erzieherin
Marie Schultze, „eine Freundin von Königin Marie“, mit
folgender Passage über das Verhältnis des Königspaares zu
den zwei Sprößlingen Ludwig und Otto, der 1848 geboren
wird: „Auch die Königin verstand es sehr wenig, ihre Prinzen
an sich anzuziehen. Sie besuchte sie zwar häufiger in ihren
Zimmern, wußte sich aber nicht mit ihnen abzugeben, wie
Kinder es eben verlangen. Das zog die Söhnchen auch nicht
an die Mutter.“
Ludwig zieht es somit bald und dann immer mehr zu
seinem Baukasten. „Im Alter von 13 Jahren“, so berichtet in
ihren Memoiren (Unter den ersten vier Königen Bayerns) die
Münchner Schriftstellerin Luise Kobell (* 1827), „entwarf er
ein am Hintersee bei Berchtesgaden zu erbauendes Jagdhaus.“
Die Erzieher seien zwar brave Männer, „aber für das Geniale
in ihres Zöglings Wesen hatten sie wenig Verständnis“. Und
weiter: „Eine zeitweise, wenn auch nur scheinbare Mitbegeisterung, zu dem Zwecke, seinen Ideenflug zu lenken und in
die rechten Bahnen zu bringen, hätte ihn erwärmt und ihm
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genützt. Der pädagogische Grenzwall trieb Ludwigs Schwärmereien in dessen Seelenwinkel zurück.“
Nach Riehl gehört es „zu den Erziehungsmaximen“ des
Königspaares, „den jungen Kronprinzen Ludwig stets auf
die Besonderheit seiner hohen Stellung hinzuweisen, was
bei dem phantasievollen Knaben auf fruchtbaren Boden
fällt, allerdings zu Ergebnissen führt, die seine Lehrer und
Eltern erschrecken“. Dazu liefert Frau Schultes ein „typisches
Ereignis“.
„Es war im Sommer des Jahres 1857“, so erzählt sie,
„während des Aufenthaltes des Hofes in Berchtesgaden.“
Da tummeln sich die Brüder Ludwig und Otto im Park der
königlichen Villa. „Als ein Hofbeamter zufällig des Weges
kam, bot sich ihm folgendes Schauspiel: Prinz Otto lag an
Händen und Füßen gebunden auf dem Rasen, ein Knebel
steckte ihm im Mund, und um den Hals hatte er ein Sacktuch geschlungen, an welchem der zwölfjährige Ludwig
heftig zerrte. Der Hofbeamte eilte erschrocken hinzu, um
den schwächlichen Prinzen Otto zu befreien, doch Prinz
Ludwig widersetzte sich ihm, indem er zornig rief: Er ist
mein Vasall und wagt es, ungehorsam zu sein – ich muß ihn
hinrichten.“ Das ist glasklar das Echo einer idiotischen Erziehung! Und anstatt sich des Kronprinzen mehr anzunehmen,
spricht Maximilian „eine empfindliche Strafe“ aus.
Der Kommentar Riehls: „König Max wußte sich in
solchen Fällen nur zu helfen, indem er höchst persönlich
seinem ältesten Sohn eine Tracht Prügel verabreichte. Über
die tieferen Gründe solcher Fehlentwicklungen und Fehlhaltungen seines Sohnes wurde der Vater sich nie klar. Er
antwortete mit mehr Strenge, verstärkte die Aufsicht, legte
den Tagesablauf und den Gang des Privatunterrichts noch
genauer fest. Umgang mit Gleichaltrigen wurde auf ein
Minimum beschränkt, weil sich eine königliche Persönlichkeit am besten in der Stille entwickeln könne. Spartanisch war
auch die Verköstigung. Ludwig stand selten satt gegessen vom
Tisch auf, weil der Vater und die ihn beratenden Pädagogen
der Ansicht waren, daß Hunger den Charakter forme.“
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Und da wundert sich Maximilian, wenn er mehr und mehr
abgelehnt wird. Schon sehr bezeichnend sein Satz über Ludwig:
„Es interessiert ihn nichts, was ich anrege.“ Das wiederum
spricht für den Jüngling. Dazu erzählt die vorzügliche Wittelsbach-Kennerin Eugenie Schleussinger, deren Großvater Carl
amtlicher Protokollführer beim Tode Ludwigs II. und deren
Vater Otto Schleussinger einer der ersten am Unglücksort Berg
war, am 23. März 1980 dem Verfasser dieses Buches: Maximilian habe ernsthaft geglaubt, aus der Wissenschaft lasse sich ein
Gesetz ableiten, wonach „den Herrschern im Diesseits auch
drüben eine Ausnahmestellung“ eingeräumt sei.
Daß dieser Blödsinn nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen
die Memorabilien Klenzes. Und die Abneigungen des Kronprinzen gegen solchen Wahnsinn sind mehrfach belegt. So
spricht der in Amberg geborne wittelsbachische Kabinettssekretär Franz Seraph Pfistermeister (* 1820), also ein Kronzeuge, „von tiefgehender Abneigung“ Ludwigs gegen Maximilian. Wir werden noch mehr über diesen Informanten
hören, an den noch heute eine Tafel an dessen Münchner
Wohnhaus am Thomas-Wimmer-Ring erinnert.
Doch zurück zur Jugend Ludwigs! Irgendwann in der
langen Phase der Demütigungen steckt ein mitleidsvoller
Hofbediensteter dem mit Prügeln und Hunger geschlagenen
Kronprinzen die Botschaft zu, die sein ganzes Wesen und
Wirken verändert: Sein Peiniger ist nicht nur ein Tyrann,
sondern auch nicht sein leiblicher Vater. Prompt wirft Ludwig
der Mutter später auch vor, „ihn nicht aus der Ehe mit König
Max empfangen zu haben“. Der in Königsberg geborne und
in München tätige Diplomat Philipp Eulenburg-Hertefeld
(* 1847) erzählt das wortwörtlich so.
Wahrscheinlich hat Marie auf die entsprechenden
Einwände ihres Sohnes auch nicht die Wahrheit sagen
können. Sie war ja betrunken, als man sie schändete. Und
schon aus diesem Grund wird sie sich die Fragen verbitten.
So wie Lohengrin, der die in Bedrängnis geratene Elsa auffordert, weder seinen Namen noch seine Herkunft zu erforschen: „Nie sollst du mich befragen.“
Damit sind wir schon mitten im Fasching 1861. Ludwig
zählt 15 Jahr und fünf Monat, wie man damals sagt, und
sieht (am 2. Februar) erstmals eine Wagner-Oper: Lohengrin
(Uraufführung 1850 in Weimar). Hier der Schwanenritter
Lohengrin mit dem Spruch „Nie sollst du mich befragen“,
dort Tambosi, Ludwigs Vater! Gegenüber die Mutter, die
nichts oder nicht sehr viel weiß. Daneben ihr geschlechtskranker Ehemann Maximilian, der im Venusberg Ungarns
über Gebühr verkehrte und somit die Vaterrolle aus eigenem
Verschulden nie spielt und spielen kann.
Er hat dem jungen Kronprinzen bis zu diesem Lichtmeßtag die Oper verboten. Umfassende Lektüre über den
in Leipzig gebornen Richard Wagner (* 1813) und seine
Musik liegt denn auch in der Residenz nicht auf. Wohl aber
im Palast des Herzogs Max in Bayern, des Vaters der Kaiserin
Elisabeth (Sissi), an der Ludwigstraße!
Als der Jüngling am 2. Februar 1861 in seiner Loge
„Thränen höchsten Entzückens“ vergießt, wie sich sein erster
und namhaftester Biograph, Gottfried Böhm, ausdrückt, rüstet man im Theaterflügel am Max-Joseph-Platz gerade zum
Faschingsendspurt. Schon am 5. Februar schreitet Ludwig
hinter dem Königspaar und neben seinem Bruder Otto (12)
zur „maskirten Akademie“. Eine zierliche „Colombine“
verdreht den Männern die Köpfe, nicht dem Kronprinzen,
der nur an Lohengrin denkt – und seinen Wahn auf dem
Schwan, an die Hochzeit, die eine und keine ist!
Am 11. Februar (Rosenmontag) findet dann in der Oper
der große Maskenball statt. Kapellmeister Widder steht am
Pult und die Brüder Giuseppe und Louis Tambosi am Büfett.
Ersterer versieht das Amt des königlichen Hofkellermeisters
und Kammerdieners, letzterer führt das gleichnamige Café
vor dem Hofgartentor. Wenn Ludwig diese Namen hört, wird
er schwermütig und zornig, gehässig und traurig zugleich.
Die Reden am Hof werden auch ungenierter. Man nimmt
mit eigenen Augen wahr, wie die Körpergrößen von Maximilian und Ludwig immer deutlicher auseinanderklaffen.
Der Kronprinz schießt ungewöhnlich in die Höhe, nur noch
Hehre Zeiten und Zeichen
Studiert man Ludwigs II. Bildprogramm, so fallen drei
Symbole auf, die er immer wieder in den Vordergrund
stellt: Venus, Schwan und Mond. Erstere sieht er nach
antiker Manier als sein Konzeptionszeichen (Schütze =
Amor der Göttin) an, den Schwan als deren Begleitung,
den Mond als extravagante Himmelserscheinung exakt
zur Stunde seiner Konzeption! Für ihn unvergeßlich in
der Landshuter Residenz der Schwanenwagen, der von
der nackten Venus gesteuert wird!
Dem unmittelbaren Vorbild des Bayernherrschers, Ludwig XIV. von Frankreich, dem „Sonnenkönig“, schreibt
man auch drei Signa zu: Venus, Schwan und Sonne. Dessen
Konzeption fällt ebenfalls in das Tierkreiszeichen Schütze,
ergo sind Venus und Schwan erklärlich, der sein persönliches
Gütesiegel wird, das man – wie bei Ludwig II. – überall
in seinen Schlössern (dort oft mit Leda) sieht. Der „Sonnenkönig“ verschenkt die Prachtvögel als Ehrengaben
und macht sie zum Entzücken der Untertanen in Paris
an und auf der Seine heimisch.
Diese Manier, sich mit erhabenen Zeichen zu umgeben, geht weit zurück – auch auf den Kaiser Augustus.
Dessen Hauptsymbole sind: Venus, Steinbock, Sonne. Die
Göttin der Liebe betrachtet er als seine Ahnin, den Steinbock als sein Konzeptionszeichen, mit dem er sich sogar
auf Münzen abbilden läßt, die Sonne leitet er von seinem
Lieblingsgott und mythischen Vater Apollo ab.
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wenige Zentimeter fehlen zur Zweimetermarke, Maximilian
dagegen erscheint als Zwerg.
Dann eine zweite Diskrepanz: Der schwarzhaarige Junge
entpuppt sich immer mehr als strahlende Schönheit, den die
Frauenwelt anhimmelt. Maximilian tritt als glattes Gegenteil
in die Öffentlichkeit. Weiter sieht Ludwig II. seinem vorgeschobenen Vater überhaupt nicht gleich, sondern vielmehr
der wirklich hübschen in München gebornen Leopoldine
Tambosi (* 1830), der Tochter des königlichen Ersatzmannes
und Kammerdieners.
Mitten in die gedrückte Stimmung fällt dann ein weiteres
Erlebnis Ludwigs, das ihn bis zu seinem Lebensende fesselt,
im wahrsten Sinne des Wortes. Plötzlich wird er nämlich der
Attraktivität seines Konzeptionszeichens gewahr, der Venus.
„In der Oper kommt Sonntags Tannhäuser und am 2. Weihnachts-Feiertag Boieldieu’s Rothkäppchen zur Aufführung“,
lesen die Münchner am 21. Dezember 1861 in den Neuesten
Nachrichten. Endlich darf Ludwig das Epos um Venusberg,
Versuchung und Verbannung sehen, endlich abermals dem
Melodienrausch Wagners lauschen.
Nicht oft ist der Kronprinz so glücklich wie an jenem
22. Dezember 1861, als er dieses sprühende Feuerwerk
aus den hellen und grellen Farben, die für die knisternden
Umarmungen und den rasanten Höllensturz stehen, in der
Münchner Oper bestaunen darf. Im Venusberg hat sich sein
offizieller Vater Maximilian seinerzeit in einer schönen, aber
kranken Badmagd Budapests infiziert, was ihm die Hölle
schon auf Erden beschied. Der Papst schickte Tannhäuser
direkt dorthin.
Insofern decken sich die Schemen. Ludwig mag dies auch
so empfinden. Denn: Zu einer differenzierteren Betrachtungsweise dürfte er noch nicht fähig sein. Man bringt sie
ihm auch in seinem Residenzkloster nicht bei. Wie der
bereits erwähnte Paul Heyse aus Berlin und dessen Freund
Emanuel Geibel (* 1815) aus Lübeck feststellen, ergibt man
sich dort diesbezüglich nur noch Kasteiungen.
Zur Natur des Menschen gehören und passen diese
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König Ludwig II. hat noch eine bekannte Schwester, die
Halbschwester Leopoldine, die in das reiche italienische
Herzogsgeschlecht derer von Bacinetti heiratet. Beider
Vater Giuseppe Tambosi stammt aus Riva am Gardasee.
Die Ähnlichkeit der Kinder stützt Leo Klenzes eindeutige
Aussagen in dessen Memorabilien. Von Tambosi, der am
Südlichen Friedhof von München bestattet ist, konnte
leider kein Bildnis aufgetrieben werden.
In Memoiren, Briefen und Tagebüchern der Zeitgenossen wird die Familie aus dem Süden als Intriganten-Clan beschrieben, der in der Herrschaftszeit des
Königs Maximilian II. (1848 bis 1864) die Personalpolitik mitbestimmt.
Einmal berichtet der Theater-Intendant Franz Dingelstedt in seinen Memoiren (Münchener Bilderbogen),
zu seiner Frau sei einmal Tambosis Bruder Luigi im
Auftrag Maximilians II. gekommen und habe nur gesagt:
„Quando vengo la prossima volta, sarà per il Signor Intendente; mà sicuramente!“ Und der Schreiber fügt hinzu:
„Guter Luigi, du wußtest recht gut, besser und eher als
ich, was von da droben für mich unterwegs war.“ Die
Entlassung! Links: Leopoldine Tambosi (Bildausschnitt),
die nach den Maßen ihrer Ober- und Unterarme laut
Expertenbericht fast 1,85 Meter groß ist.
bestimmt nicht. Schon gar nicht zu der eines jungen
Mannes, der einmal König von Bayern werden soll. Wer in
seinem Alter und Stand liebt und deshalb glaubt, verdammt
zu werden, tut gut daran, ein solch bescheuertes Urteil in
das Genre Posse und Gosse zu verdrängen. Nur dann darf er
sich frei fühlen, frei für das Schönste, das die Schöpfung dem
Menschen gab und gibt.
Nur am Rande: Klassisch und vor aller Welt demonstriert haben dieses paradiesische und aphrodisische Sujet
Mitte Oktober 2005 Christian Thielemann und seine
Münchner Philharmoniker, die dem deutschen Papst
und seiner Hierarchie im Vatikan ein erlesenes Ständchen
brachten. Dieses beendeten sie mit der aufpeitschenden
Als Intendant Dingelstedt in München den Tannhäuser
aufführen will, wird ihm laut seinen Memoiren der Vorwurf gemacht, er „gibt ein Werk des Social-Demokraten, des
Revolutionärs, des rothen Republikaners, Richard Wagner“.
Ouvertüre des Tannhäuser, „die, wie Thielemann vorher
noch lachend gemutmaßt hatte, mit ihrem Venusthema
vielleicht den einen oder anderen Kardinal an seine Jugendsünden denken läßt“ (FAZ, 23. Oktober 2005).
Ja, der Venusberg! Der damals 16jährige Ludwig ist
1861 vielleicht noch zu jung, um die Verstrickungen der
Menschen allgemein und die seines offiziellen Vaters speziell
abschließend beurteilen zu können. Ihm fehlte ganz einfach
ein kluger Freund und Lehrer, der ihn aus den spießbürgerlichen Gefilden seiner Familie gerettet und ihm das Epos
erklärt hätte. Das Königspaar kann man als pädagogische
Versager bezeichnen. Ludwig entbehrte jegliche Zuwendung und Zärtlichkeiten. Einst durchzog wenigstens partiell
und ideell heiterer Sinn die Residenz. Ludwig I. streichelte
nicht nur seine Mätressen, sondern auch seine Frau und die
gemeinsamen Kinder. Nach ihm residieren und regieren hier
Keuschheit und Kapuzinergeist.
Symbolträchtiges Bayreuth. Das Denkmal König Maximilians
II. sieht man dort neben den tief dekolletierten Schönheiten
der Alten Residenz. Wahrscheinlich spielt man damit auf die
Amouren des Wittelsbachers in den Budapester Bädern und ihre
fatalen Folgen an. Mit seinem Tod 1864 beginnt die Weltkarriere Ludwigs II., der nicht sein Sohn sein kann.
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Wie weiland Kaiser Augustus gedenkt
Ludwig II. stets der Venus, weshalb diese
sehr oft in und vor seinen Schlössern auftritt. Das hängt mit antikem Gedankengut
ebenso dringend und zwingend zusammen
wie sein Faible für den Mond.
Dennoch ist er ein ganz moderner Monarch, der in München die Technische
Hochschule und den Wetterdienst gründet,
große Forscher holt und avantgardistische
Künstler auszeichnet, die Weltidylle St.
Bartholomä rettet und Münchner Fabriken und Brauereien besucht, sich in der
Fischerliesl am Schliersee vergnügt und
die Evolutionstheorie Darwins gutheißt,
die Bayreuther Festspiele ermöglicht und
Schlösser baut, die heute die Welt besucht
und bewundert.
Allein seine ungewöhnliche Herkunft führt
1886 zu seiner brutalen Ermordung, was
dieses Buch minuziös beweist. So hoch der
Adler fliegt, so gigantisch sein Absturz!
Rudolf Reiser, Schüler von Karl Bosl, hat
bisher völlig unbekannte Quellen aus den
Archiven Europas, Privatbeständen und der
Bayerischen Staatsbibliothek erschlossen,
die alte Klischees erheblich korrigieren.
ISBN 978-3-934863-80-4

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