Helga Maria Nießen, Bürgermeisterin von Kellinghusen

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Helga Maria Nießen, Bürgermeisterin von Kellinghusen
Helga Nießen: Geht nicht, gibt's nicht! - Von der Bürokauffrau zur Bürgermeisterin
Wer sich dem Büro des Kellinghusener Stadtoberhauptes nähert, wird am Eingang von
ausgedienten Kellinghusener Bürgermeistern mit strengem Blick begrüßt. Ein Platz ist noch frei in
der Ahnengalerie. Da wird ab 1. April 2010 ein Foto von Helga Nießen hängen. Sie ist die erste
und letzte hauptamtliche weibliche Bürgermeisterin, die Kellinghusen regiert. Nicht das erste Mal in
ihrem Leben hat sie ihre eigene Stelle wegrationalisiert. Es war ihre Entscheidung, aus drei
Verwaltungen eine und sich selbst damit überflüssig zu machen. Die Aussicht auf die eigene
bürgermeisterliche Vergänglichkeit tut dem Elan, mit dem sie ihr Amt angeht, allerdings keinen
Abbruch. Ihr Foto wird bestimmt keins mit strengem Blick.
Vom ersten Moment an hat die kleine, drahtige Frau mit fransig geschnittenen kurzen weißen
Haaren um Kellinghusen gekämpft. Für sich selbst gekämpft, weil sie mit ihren damals 49 Jahren
nach einer neuen Quelle für ihren Lebensunterhalt suchte. Stolz trägt sie ihren persönlichen
Bürgermeisterinnen-Orden: einen auffällig großen Kettenanhänger mit einem blauen Opal und
gewellten Weißgoldstäbchen: Er wurde der Wasser-Fanatikerin zum Amtsantritt geschenkt.
Aber nur für sich selbst zu kämpfen, reichte ihr noch nie. Die Bürgermeisterin nimmt ihre ovale
randlose Brille ab, um auf dem Foto ihren eigenen Wahlslogan erkennen zu können. “Es gibt viel
zu tun. Packen wir's an!” sagt ihr rot geschminkter Mund und unterstreichen ihre tatenbereiten
Hände auf dem Wahlplakat. Viel ist seitdem passiert – in dem nach eigener Aussage “bisher
interessantesten Job ihres Lebens”.
Und dabei war das Leben des agilen Energiebündels auch davor alles andere als uninteressant.
Sie wurde 1954 als ältestes Mädchen von sechs Kindern in Trier geboren. Von ihrem Vater, einem
Berufssoldaten, lernte sie, für die eigenen Überzeugungen zu kämpfen. Das Beispiel ihrer Mutter
lehrte sie, nie in einer Opferrolle zu verharren, sondern das eigene Leben selbstverantwortlich in
die Hand zu nehmen.
Entscheidender als ihr Beruf war der gelernten Bürokauffrau während ihrer elfjährigen Tätigkeit als
Büroangestellte jedoch ihre Berufung: das Schreiben. Ihr dritter Gedichtband gewann den Preis de
la Poésie in Paris und ebnete ihren Weg in die Verlagsbranche. Mit 29 Jahren stieg sie hier als
Verlegerin, Vertreterin, Dozentin und Vertriebsleiterin ein, um ihre Leidenschaft für Bücher zum
Beruf zu machen. Als Vertriebsleiterin mit Verantwortung für einen jährlichen Umsatz von sechs
Millionen Euro und für 18 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wurde sie im Februar 2003 in die
Arbeitslosigkeit entlassen.
Helga Nießen jammert nicht. Aber 600 erfolglose Bewerbungen in 20 verschiedenen Berufen von
Chauffeurin bis Vorleserin in Deutschland, Schweiz und Österreich rissen ihr doch zeitweise den
Boden unter den Füßen weg. “Zu alt für den Markt”, musste sie sich immer wieder anhören.
Auch zu alt für ein Bürgermeisteramt? In ihrem vorherigen Wohnort Leonberg bei Stuttgart hatte
sie bereits mit dem Chefsessel der Stadt geliebäugelt. Der dortige Oberbürgermeister machte ihr
jedoch keine Hoffnungen. In ihrem Alter käme, wenn überhaupt, nur ein kleiner Ort für die
Kandidatur in Frage. 'Ein kleiner Ort wie Kellinghusen...', dachte sich Helga Nießen, als sie die
Stellenausschreibung für das Bürgermeisteramt in einer überregionalen Zeitung entdeckte. 8.150
Einwohner und Einwohnerinnen zählt die Stadt an der Schleswig-Holsteinischen Stör.
Die geschiedene Mutter zweier erwachsener Kinder packte ihre Koffer. Von ihrem neuen Leben
trennten sie noch zwei Schritte: die Zulassung zum Wahlkampf und dessen Gewinn.
Einmal pro Stunde fährt eine Regionalbahn von Hamburg in das 70 Kilometer entfernte
Kellinghusen. Die erste Nacht in der Stadt, wo sie wenige Monate später Bürgermeisterin sein
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wird, verbringt Helga Nießen in einer Pension, deren deftige deutsche Küche auch lokales
Publikum anlockt. Noch am selben Abend fängt sie an, unter den Kneipengästen die 95
Unterschriften zu sammeln, die sie von Kellinghusener Wahlberechtigten für die Zulassung ihrer
Bewerbung um das Bürgermeisteramt braucht. “Wahlvorschlag der Bewerberin” heißt das im
kommunalpolitischen Jargon. Im Nadelstreifenkostüm auf dem Kellinghusener Marktplatz setzt sie
am nächsten Morgen ihre Werbung in eigener Sache fort. Bei ihrer sympathischen, ehrlichen und
aufgeschlossenen Art nicht wirklich ein Problem. Mit 120 Unterschriften in der Tasche kann sie
wieder zurück ins Baden-Württembergische Zuhause fahren, wo sie ihre Zelte erst abbrechen wird,
wenn der Wahlkampf gewonnen ist.
Helga Nießen ist nicht nur die erste Frau, die als Bürgermeisterin in Kellinghusen kandidiert. Sie ist
auch noch Außenseiterin. Als nicht-Kellinghusenerin von ganz weit her ist sie ein “no-name”, der
man nicht nur Skepsis entgegen bringt, sondern auch Sektenmitgliedschaft und Rattenfängerei
nachsagt. Als Parteilose muss sie ihren Wahlkampf ohne parteipolitische Rückendeckung aus
eigener Tasche führen und ihre Wahlplakate alleine kleben. Werden die Kellinghusener so einer
Außenseiterin die eigene Stadt anvertrauen? Sie meint ja: “Ich kann reden, ich kann kämpfen, ich
habe Ideen.”
Erneuerung von Kellinghusen nach innen und nach außen ist ihr Programm. Den angesammelten
“Dreck rausholen.” Wie ein Unternehmen will sie die Störstadt führen. Angesichts des
Haushaltsminus von mehr als einer Million Euro muss sie zunächst das Sparzepter schwingen. Als
gestandene Führungskraft aus der Wirtschaft nimmt man ihr ab, dass sie das kann. Besser als die
anderen. Denn sie sagt selbst, dass “sie nie in Kellinghusen hätte landen können, wenn die Leute
hier mit der Politik zufrieden gewesen wären.” Als “inhaltsleer” tat der konkurrierende
Bürgermeisterkandidat die Wahlversprechen der Kandidatin ohne politischen oder administrativen
Hintergrund ab. Und unterschätzte sie damit bis zum für ihn bitteren Ausgang der Stichwahl. “Ich
hab' gewonnen, weil ich mich nicht – wie die anderen - auf's Bekämpfen, sondern auf's Gewinnen
konzentriert habe.”
Sie steht zu dem, was sie sagt. Sie findet es wichtig, ehrlich und authentisch zu sein und keine
Spielchen zu spielen. Das sind große Worte für eine Politikerin. Es scheint ihr jedoch zu gelingen.
Genau darin sieht sie das Geheimnis ihres Erfolgs, 66 Prozent der zur Wahl gegangenen
Kellinghusener davon überzeugt zu haben, ihr im zweiten Wahlgang ihr Vertrauen zu schenken.
Die Monate zwischen ihrer Wahl und ihrem Amtsantritt nutzt die angehende Bürgermeisterin zur
intensiven Vorbereitung auf ihre Tätigkeit. Bürgernähe schreibt sie von Anfang an groß. Ihre
Handy-Nummer steht für Fragen und Anregungen in der Zeitung; unter einer Dienstnummer für
Notfälle ist sie auch Zuhause erreichbar. Sie will nicht aus dem Elfenbeinturm regieren. Wenn sie
auf den Straßen Kellinghusens unterwegs ist, ist sie gern eine “Bürgermeisterin zum Anfassen.”
Drei Meinungsumfragen lässt sie die Kellinghusener Bürger und Bürgerinnen vor ihrem Amtsantritt
ausfüllen und wertet sie in mühevoller Kleinarbeit auf eigene Rechnung aus: Was gefällt Ihnen an
Kellinghusen besonders gut? Was würden Sie gerne als erstes ändern wollen? Was würden Sie
persönlich dazu beitragen, etwas zu verändern? Es interessiert sie auch, wie die Bürgerinnen und
Bürger die Qualität der städtischen Serviceleistungen und die Atmosphäre in der Stadt aktuell
empfinden. Effizienz und ein menschenfreundliches Rathaus sind ihr wichtig.
Sie erschließt sich aber nicht nur die Situation in der Stadt, die sie sechs Jahre regieren wird. Sie
setzt sich auch noch mal auf die Schulbank, um sich kommunalpolitische Fachkompetenz
anzueignen. Sie bittet um Hospitationen und Gespräche bei erfolgreichen Bürgermeisterinnen und
Bürgermeistern und kauft sich Einzelberatung von Experten und Expertinnen der
Verwaltungsakademie Bordesholm ein. Ihr Spaß am Lernen kommt ihr dabei zupass. Und wenn's
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der Sache dient, ist sie sich für nichts zu fein.
Im Februar 2003 noch mit ihrem Schicksal als Arbeitslose und Inhaberin einer
Unternehmensberatung hadernd, zieht sie am 1. April 2004 als Bürgermeisterin ins Kellinghusener
Rathaus ein. Dass sie vor ihrer Bewerbung um das Amt noch nicht mal gewusst hat, wo
Kellinghusen auf der Landkarte liegt, findet sie vorteilhaft. “Man ist noch nicht so integriert in die
ganzen Geschichten. ... Man ist im Denken noch nicht so eingefahren.” Sie ist noch nicht
betriebsblind. Ihrer Meinung nach ist es genau diese Unabhängigkeit von überlieferten Routinen
und muffigem Parteienklüngel, warum sie sich für ein Bürgermeisteramt eignet. Sie findet die
Vorstellung, dass Parteiinteressen mit Stadtinteressen kollidieren und sie sich ersteren
unterordnen müsste, ganz furchtbar.
Gespräche im vierwöchigen Rhythmus mit allen Fraktionsvorsitzenden helfen, trotzdem
mehrheitsfähige Entscheidungen herbei zu führen. Wenn man heraus gefunden hat, wie die
Menschen denken, fühlen und sich verhalten, sowie verstanden hat, welche Gründe dahinter
stecken, lassen sich die gemeinsamen Nenner schneller finden und die politischen Kompromisse
besser auf den Weg bringen. So ihre Erfahrung. Gemeinsam mit der Politik für alle Bereiche Ziele
zu definieren und am Jahresende über das Erreichte in der Öffentlichkeit zu berichten, ist für sie
der einzig machbare Weg.
Das politische Geschäft bringt so manche Höhen und Tiefen mit sich. “Das bedeutet, auch mal
daheim zu sitzen und zu heulen und sich zu fragen: Womit hab' ich das verdient – ich hab' doch
gar nichts gemacht.” Man muss “Kloppe von allen Seiten” aushalten können. “Man muss kämpfen
können für eine Sache - auch mal gegen alle, wenn's sein muss.” Beim letzten Mal hat sie sechs
Wochen und viel Kraft gebraucht, um persönliche Angriffe gegen sich glimpflich abzuwenden. So
etwas geht richtig an die Substanz. Seitdem versucht sie noch mehr als vorher, bei allen
Ausschusssitzungen dabei zu sein und geht nur noch in der sitzungsfreien Zeit in den Urlaub. Da
kann sie ihre Vertreter und Vertreterinnen noch so gut vorbereiten – für brenzlige Situationen sind
sie einfach nicht gut genug gewappnet.
Die Kommunalpolitikerin will nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, aber sie erwartet
Fairplay. “Ich finde, man muss erst mal die eine, dann die andere Seite hören und sich dann eine
Meinung bilden. Aber nicht einfach irgendwas behaupten, auch noch während meiner
Abwesenheit.” Da kennt sie kein Pardon. Journalisten, die in solchen Fällen über sie berichten,
ohne sie anzuhören, gibt sie - soweit möglich - keine Interviews mehr oder teilt ihnen nur noch das
Notwendigste mit. Und die Politiker, die die Gerüchte über sie in die Welt gesetzt haben, hat sie
nachdrücklich zur Rede gestellt. “Für mich ist immer ganz wichtig, dass man ordentlich miteinander
umgeht. Ich finde es nicht in Ordnung, dass man unterhalb der Gürtellinie zuschlägt.” Nicht zuletzt
der eigenen Psychohygiene wegen ist sie nicht nachtragend. Aber eine “Schmutz- und
Gefahrenzulage” müsste man in diesem Job bezahlt bekommen, sagt sie mit verschmitzter Mine.
Auch die “Batsche” der Bürgerinnen und Bürger muss man als Bürgermeisterin abkönnen. “Die
sind dann so in Stress und Wut, wenn sie persönlich betroffen sind, dass sie gar nicht zuhören ...
und einen am liebsten erschlagen würden.” Das individuelle Angebot, ins Rathaus zu kommen und
gemeinsam mit der Stadtchefin nach individuellen Lösungen für Probleme zu suchen, steht jedem
offen.
Lob für das, was sie täglich leistet, hört sie selten. Sie muss ihre Freude daraus ziehen, was in der
Stadt von ihrer Arbeit sichtbar wird: zum Beispiel die neue Skulptur auf dem Marktplatz, der
Naturerlebnispfad um den Rensinger See, und der Aufbau einer Gemeinschaftsschule. An ihren
Bürowänden sind Momentaufnahmen aus der Arbeit der Kellinghusener Bürgermeisterin
festgehalten. Man sieht Helga Nießen mit Müllsack, mit Schubkarre, mit Nikolaus-Mütze, um nur
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einige Beispiele zu nennen. Die Fotos und teilweise selbst gemalten Bilder erinnern sie daran,
warum sie ihr Amt so gern mag: “Sie haben selten so viele spannende Geschäftsfelder wie hier.”
Sie helfen ihr auch, jammernde Besucher und Besucherinnen davon zu überzeugen, dass in
dieser Stadt nicht nur Schlechtes passiert.
Wenn sie als ehemalige Vertriebsleiterin eins wirklich gut kann, dann ist das Verkaufen. Wie man
Bücher als Erlebnisse verkauft, hat sie in ihrem Buch “Erlebnishandel” nieder geschrieben. Nun
verkauft sie mit demselben Herzblut die Stärken ihrer Stadt. “Ich bin Kellinghusen systematisch mit
meinem Fotoapparat abgelaufen ... und habe überlegt, was man daraus machen kann.” Sie
sprudelt nur so vor Ideen. Um diese im Laptop festzuhalten, steht sie manchmal sogar nachts auf.
Und zu Jahresbeginn pinnt sie sie auf Karten an die Pinnwand in ihrem Büro. Um die Ideen
umzusetzen, holt sie die Beteiligten an einen Tisch. Gemeinsam werden Vorschläge erarbeitet, die
den Gremien zur Beschlussfassung vorgelegt werden. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es,
eine Imagebroschüre und schließlich eine Imagemappe von Kellinghusen anfertigen zu lassen.
Alles mit gesponserten Geldern, ohne den städtischen Haushalt in Anspruch zu nehmen.
“Emotionale Werbung” nennt sich das im Vertriebsjargon. Helga Nießen steuert das Kanu auf dem
Foto, das die Vorderseite der Imagemappe schmückt.
Seit ihrer Amtsübernahme fährt Kellinghusen einen strikten Sparkurs. Überstunden der
Rathausmitarbeiterinnen und –mitarbeiter werden nicht mehr bezahlt; und Rathausgäste werden
ab jetzt nur noch mit Kaffee, Tee und Wasser bewirtet. Wenn das Geld für Projektvorhaben hinten
und vorne nicht reicht, steuert die gleichermaßen pragmatische wie großzügige Bürgermeisterin
dem Kinder- und Jugendparlament oder der Jugendfeuerwehr auch mal eigene FlohmarktEinnahmen bei. Für die Verschönerung des Rathauses stellte sie persönliche Geburtstagseuros
zur Verfügung. Auf ihrem Weihnachtsgeld, das sie ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur
Finanzierung von Vorschlägen für die Umsetzung einer freundlicheren Bürogestaltung angeboten
hatte, blieb sie jedoch sitzen.
Der Tag der Chefin von Wasserwerk, Bauhof, Klärwerk, Kultur- und Tourismusamt,
Jugendaufbauwerk, Volkshochschule, Schwimmbad, Museum und Bücherei beginnt um sieben
Uhr und endet in Sitzungszeiten häufig erst nach 14 bis 16 Stunden. Oft ohne Mittagspause. Auch
an den Wochenenden sind drei Einsätze am Tag keine Ausnahme.
Dem allmorgendlichen Blick in den Terminkalender folgt der Blick in den Kleiderschrank, um die
passende Garderobe auszuwählen. Wegen der häufigen Außentermine mitten am Tag oder der zu
transportierenden Unterlagen steigt die Bürgermeisterin für den Weg zur Arbeit häufiger ins Auto
als ihr lieb ist. Im Büro angekommen, wertet sie bei einem Tee die Zeitung – meistens die
Norddeutsche Rundschau – bezüglich dessen aus, was für sie und ihre Arbeit wichtig ist. Der Tag
nimmt dann ab acht oder neun Uhr seinen offiziellen Lauf mit Gesprächs- und Sitzungsterminen.
Zwischendurch erledigt die Bürgermeisterin Schreibtischangelegenheiten und tauscht sich
wenigstens ein paar Minuten am Tag mit ihrer Vorzimmer-Assistentin über das aktuelle
Tagesgeschehen aus. “Wie ein altes Ehepaar” beschreibt Helga Nießen die Zusammenarbeit der
beiden, zwischen deren Büros sich nur in Ausnahmefällen mal die Tür schließt. “Es ist schön,
jemanden im Vorzimmer sitzen zu haben, der sich ein bisschen um mich kümmert”. Die Assistentin
hält ihr unnötige Termine vom Leib und hat ihr auch schon das eine oder andere Mal ein Brot
geschmiert oder sie nach Hause geschickt.
Obwohl das Amt sie mehr Kraft kostet als die Bürgermeisterin erwartet hatte, hat sie sich ein
Leben neben dem Job bewahrt. Rückgrat im Job und Rückhalt im Leben gehören für sie
zusammen. “Sie müssen jeden Tag eine ganze Menge verkraften. Das stecken Sie nicht einfach
weg. Sie müssen etwas finden, was Sie wieder auftankt. ... Sie müssen dafür sorgen, dass Sie bei
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Kräften bleiben.”
Das hätte die energiegeladene Anfang-Fünfzigerin vor ein paar Jahren noch nicht so gesagt. Allen
Widrigkeiten, die sich ihr in den Weg stellen wollten, begegnete sie stets mit einer klaren “Ich bin
stärker...”-Ansage. Auch ihrem eigenen Körper. Bis sie vor einigen Jahren von ihrem Arzt gesagt
bekam, dass sie Werte wie kurz vor einem Herzinfarkt habe und eine mehrwöchige Kneipp-Kur
antrat. Vom veränderten Lebensgefühl, das die heißen und kalten Wassergüsse, eine gesündere
Ernährung und regelmäßiger Sport ihr damals beschert haben, war sie selbst überrascht.
Zweimal in der Woche kann man der Bürgermeisterin seitdem an den Geräten und in der Sauna
des Fitness-Centers Kellinghusen zusehen. Manchmal bereitet sich Helga Nießen auch mittels
Sport mental vor, um entspannter in schwierige Termine hinein zu gehen.
Der Geruch nach Heilkräutern, der einem beim Betreten ihrer 120 Quadratmeter
Dachgeschosswohnung in die Nase steigt, lässt auch in den eigenen vier Wänden ein WellnessProgramm vermuten. Das allabendliche heiße Melissen- oder Eukalyptusbad ist zu einem Ritual
geworden, um die Arbeit hinter sich zu lassen und “das Unangenehme vom Tag abzuspülen”.
Danach lässt sich die Genießerin noch ein bis zwei Stunden von Büchern in eine andere Welt
entführen. Lesen ist für sie die beste Abschaltmethode. Manchmal muss sie vorher noch an den
Computer loswerden, was sie beschäftigt.
Wenn das Wetter schön ist, sitzt sie auf dem breiten Sims eines ihrer vielen Fenster und guckt
über ihre Stadt. Mit einem anderen Blickwinkel aus jedem Zimmer. Früher war ihre Wohnung eine
Tanzschule – und auch heute wird hier so manches Mal getanzt: vorzugsweise orientalisch.
Obwohl sie das noch viel lieber versunken in Trommelmusik aus Ohrstöpseln an einsamen
Meeresstränden bei Sonnenauf- und -untergang tut.
Bis vor einigen Monaten hat ihr Lebenspartner, der kürzlich an Krebs verstarb, ihr beim
tänzerischen Geschichtenerzählen zugesehen. Helga Nießen hätte nicht gedacht, dass ihr mit 49
Jahren noch die Liebe ihres Lebens begegnen würde. Mit einem “Partner, Freund und
Lehrmeister” an der Seite fiel ihr das Auftanken um einiges leichter. “Der Rückhalt ist wichtig jemand, der das mit auffängt. Sie müssen sich mal fallen lassen, mal entspannen, mal wirklich
Ruhe haben von allem. Das kriegen Sie nicht unbedingt hin, wenn Sie niemanden haben.“ Ihr
verstorbener Partner, ein Unternehmer aus Dortmund, hat die Bürgermeisterin nicht nur im
Hintergrund unterstützt. Wann immer es offizielle Anlässe an Wochenenden erforderten, ist er als
Mann an ihrer Seite in Erscheinung getreten und hat aktiv für Kellinghusen mit angepackt.
Das beiden waren aber auch nicht böse, wenn sie sich an den gemeinsamen Wochenenden und
im Urlaub gegenseitig “Freizeit beibringen” konnten. Für das Entspannungs-, Bewegungs- und
Kulturprogramm bewahrt Helga Nießen im Auto alles auf, was man dafür braucht: etwas zu trinken
sowie Schlafsack, Isomatte, Schwimm-, Sport- und Tanzutensilien sowie einen Walkman.
So sehr sie die abendlichen Telefonate mit ihrem Partner vermisst und so gern sie ein längeres
Stück Weg mit ihm zurück gelegt hätte – die Kraft, die er ihr gegeben hat, lebt weiter. Nicht nur in
ihrem persönlichen Bürgermeisterinnen-Orden und den Bildern, die er selbst oder die sie
gemeinsam gemalt haben. Wenn sie vor Trauer meint, morgens nicht aufstehen zu können, hört
sie seine Stimme: 'Jetzt reiß dich aber mal zusammen. Es bringt nichts, sich hängen zu lassen...'
An solchen Tagen bedeckt sie ihr Gesicht dann ausnahmsweise auch mal mit einer MakeupSchicht. Wenn man sich die Fotogalerie von den beiden in ihrer Wohnung anschaut, auf denen sie
wie das blühende Leben aussieht, versteht man auch, was sie mit “Ich sehe heute nicht so gut
aus...” meint.
An solchen Tagen gelingt es ihr auch nicht, durchgängig zu funktionieren. Wenn sie auf ihre
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Situation angesprochen wird, fließt durchaus auch die eine oder andere Träne in der Öffentlichkeit.
Aber sie ist davon überzeugt, “dass sie die Menschen auch genau deshalb mögen: weil sie eben
Mensch ist.” Bluffen ist einfach nicht ihre Stärke. Sie steht auch ohne ihre Frau.
Ihr Lebensmotto “Warum Trübsal blasen?” und ihre Haltung, Barrieren als Herausforderungen zu
sehen, tragen sie auch durch schwierige Zeiten hindurch. Es ist ihr wichtig, die Höhen und Tiefen
des Lebens bewusst zu spüren und ihre Neugier und Abenteuerlust auszuleben. Sich ein dickes
Fell anzulegen, ist nicht ihr's. Dennoch wünscht sie sich, noch gelassener und dadurch
unangreifbarer zu werden. Sie kann sich selber Mut machen. Und sieht ihre Lebensaufgabe darin,
auch anderen Mut zu machen. “Strategien für ein erfolgreiches und erfülltes Leben” bot ihr 2001
nebenberuflich gegründetes Institut Forte Sensua Frauen an, die mehr vom Leben wollen.
Auch bei Helga Nießen bricht langsam wieder eine Zeit des Entrümpelns und der Zukunftsplanung
an. Was wird ihr nächster Schritt sein, wenn sie am 31. März 2010 dem Kellinghusener Rathaus
den Rücken kehrt?
Drei Dinge, die ihr noch während ihrer Zeit als Vertriebsleiterin von einem Mönch in Sri Lanka
vorausgesagt wurden, sind bereits in Erfüllung gegangen: der Verlust ihres Jobs, die Begegnung
mit dem Mann ihres Lebens und die Ausübung eines ihr bisher unbekannten Berufes. Die vierte
Vorhersage steht noch aus: Reichtum. Sie hat sich schon mal die Kopie eines Schecks über eine
Million Euro an ihre Schreibtischwand gehängt. Damit sich Ziele erfüllen, muss man sie
visualisieren, hat Helga Nießen in einem Buch gelesen. Vielleicht findet ja ihre geplante
Veröffentlichung “Wie werde ich Bürgermeisterin?” reißenden Absatz?
Wenn sie nicht Bürgermeisterin geworden wäre, hätte sie ein Ayurveda-Institut eröffnet oder die
Geschäftsführung einer Bürodesign-Firma übernommen. Es ist also nicht weit hergeholt, sich als
nächste mögliche berufliche Herausforderung die Leitung einer Wellness-Abteilung in einem Hotel
oder Aktivitäten im Tourismus-, Event- oder Gesundheitsbereich vorzustellen.
Vom Lebensabend in der Toskana träumt die Kellinghusener Bürgermeisterin jedenfalls nicht mehr.
Sie hat was Besseres gefunden: Schleswig-Holstein. Die Sonnenaufgänge und -untergänge an der
Ostsee nicht nur am Wochenende genießen können, sondern jeden Tag. Das würde ihr gefallen.
Sie ist oben angekommen – beruflich und geographisch.
Uta Kletzing
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