Arbeitsschutzmanagement im Handel: Pilotprojekt REWE

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Arbeitsschutzmanagement im Handel: Pilotprojekt REWE
Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
- Forschungsanwendung Fa 60
J. Larisch
W. Ritter
A. Saßmannshausen
K.-H. Lang
R. Pieper
W. Hien
Arbeitsschutzmanagement
im Handel:
Pilotprojekt REWE
Dortmund/Berlin/Dresden 2005
Diese Veröffentlichung ist eine Zusammenfassung des Abschlussberichts zum Projekt „Arbeitsschutzmanagement im Handel: Pilotprojekt REWE“ - Projekt F 2088 - im Auftrag der
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Die Verantwortung für den Inhalt dieser
Veröffentlichung liegt bei den Autoren.
Autoren:
Herausgeber:
1
Dipl.-Oec. Dipl.-Soz. Joachim Larisch
1
Dr. Wolfgang Ritter
Dipl.-Psych. Andreas Saßmannshausen2
Dipl.-Ing. Karl-Heinz Lang2
Dr. Ralf Pieper3
Dr. Wolfgang Hien1
1
Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS)
Linzer Str. 10, 28359 Bremen
2
Institut ASER e. V. an der Bergischen Universität Wuppertal
Corneliusstr. 31, 42329 Wuppertal
3
Bergische Universität Wuppertal,
Fachgebiet Sicherheits- und Qualitätsrecht
Gaußstr. 20, 42097 Wuppertal
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3
1
Einleitung
Im Jahr 2001 veröffentlichte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) den Leitfaden für Arbeitsschutzmanagementsysteme (ILO-OSH 2001). Nach den ILO Regularien gibt es keine formale Regelung zur Übernahme der Regelungen in nationales
Recht. Aus diesem Grund kann die Übernahme in ein nationales Arbeitsschutzmanagementsystem (AMS) nur auf freiwilliger Basis erfolgen. In Deutschland wurde ein
nationaler Leitfaden für AMS entwickelt, und es gibt verschiedene Initiativen branchenspezifische AMS-Leitfäden zu implementieren. In einem Vorhaben mit REWE,
einem führenden deutschen Handelsunternehmen mit etwa 9.000 Verkaufsstellen in
Deutschland, 135.000 Beschäftigten und einem jährlichen Umsatz von netto 31,5
Mrd. EUR wurde die Umsetzung des nationalen AMS-Leitfadens in einem Handelsunternehmen untersucht.
2
Das internationale und das nationale Konzept
für Arbeitsschutzmanagementsysteme (AMS)
Seit 2001 bildet der ILO-AMS-Leitfaden den Rahmen für nationale Initiativen zur Implementierung von Arbeitsschutzmanagementsystemen. Die beiden vorrangigen
Ziele des ILO-AMS-Leitfadens bestehen in der Unterstützung nationaler Anstrengungen zur Einführung von Arbeitsschutzmanagementsystemen und in der Unterstützung einzelner Organisationen bei der Integration von AMS-Elementen in ihre Managementsysteme und organisationspolitische Ausrichtung.
Abb. 1
Arbeitsschutzmanagementsystem (ILO-OSH 2001: 5)
4
Der ILO-AMS-Leitfaden besteht aus drei Teilen: Einen kurzen Abschnitt zu den Zielen, einen Abschnitt zur Umsetzung des Leitfadens in die nationale Praxis und einen
Abschnitt zur Integration des AMS in die Organisation. Dieser dritte Abschnitt enthält
21 Themen, darunter die Arbeitsschutzpolitik des Unternehmers, die Beteiligung der
Beschäftigten, die Verantwortung und Zuständigkeit, Schulung, Gefährdungsvermeidung, Messung und Bewertung, Verbesserungsmaßnahmen und kontinuierliche Verbesserung (Bennett 2002). Das AMS sollte die Elemente Politik, Organisation, Planung und Umsetzung, Messung und Bewertung und Verbesserungsmaßnahmen
enthalten (Abbildung 1). Auf nationaler Ebene haben die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), die staatlichen Arbeitsschutzinstitutionen, die Berufsgenossenschaften und Unternehmensverbände eine gemeinsame Initiative entwickelt, um einen auf den ILO-AMS-Leitfaden bezogenen nationalen AMS-Leitfaden
zu entwickeln, die auch die Entwicklung spezieller Leitfäden für unterschiedliche
Branchen umfaßt (vgl. BAuA Toolbox: www.baua.de/prax/ams).
3
Integratives Arbeitsschutzmanagement als lernende Organisation
Organisationen sind mit unterschiedlichen Herausforderungen und Problemen konfrontiert: Neue und sich entwickelnde Märkte, neue und veränderte technologische
Prozesse, neue Strukturen in den Arbeitsbedingungen und sich verändernde Einstellungen zu den Belegschaften. Um diese Herausforderungen zu bewältigen sollten
Organisationen ein Lernkonzept entwickeln, mit dem ein hoher Grad an Flexibilität
und eine effiziente Nutzung des Wissens und der Potientale der Beschäftigten sichergestellt wird. Zugleich sind für die Einführung von Arbeitsschutzmanagementsystemen Organisationsstrukturen erforderlich, die jedes Mitglied zur Teilnahme an diesem Prozeß, dessen zentraler Bestandteil es ist, befähigen. Die lernende Organisation beruht auf Lernprozessen des Individuums, und sie erfordert eine gemeinsame
Wissensbasis, die durch Lernprozesse und -strukturen errichtet wird. In dieser Weise
kann die Verbesserung von Sicherheit und Gesundheit in Organisationen als mehrstufiger Prozess beschrieben werden, in welchem Sicherheit und Gesundheit systematisch organisiert und in ein vollständiges Managementsystem integriert wird, welches hoch innovativ ist, indem es Dynamik und Stabilität im Rahmen einer „lernenden Organisation“ ausgleicht.
4
Wirtschaftliche und soziale Bedingungen für
AMS im Handel
Der Handel ist einer der bedeutendsten Wirtschaftsbereiche in der Europäischen
Union mit fünf Millionen Unternehmen, 22 Millionen Beschäftigten und einem Anteil
von 13 % am Bruttoinlandsprodukt. In Deutschland sind im Handel 2,8 Millionen Beschäftigte in mehr als 400.000 Unternehmen tätig. Durchschnittlich sind 9,2 Personen in den Handelsunternehmen tätig, und die Mehrheit ist weiblich und arbeitet in
Teilzeit. Der Einzelhandel hat in den vergangenen Jahrzehnten erhebliche strukturelle Veränderungen erfahren. Im Ergebnis hat der Wettbewerb erheblich zugenommen und die Unternehmensgewinne haben sich entsprechend vermindert. Der Wett-
5
bewerb im Lebensmitteleinzelhandel bezieht sich über-wiegend auf die Personalkosten, die zwischen 4,5 % bei Discountern und 12 - 20 % in Warenhäusern betragen
(Glaubitz 1996: 27). Im letzten Jahrzehnt waren deutsche Handelsunternehmen recht
aktiv in anderen europäischen Staaten und weltweit. Die Direktinvestitionen im Ausland haben sich verdreifacht, während internationale Wettbewerber deutsche Unternehmen auf ihrem Heimatmarkt wegen der sehr geringen Gewinnspannen kaum
herausfordern konnten (Jacobsen 2002: 23). Unter dem Druck des erhöhten Wettbewerbs und durch Unternehmenszusammenschlüsse in Europa hat insbesondere
im Lebensmitteleinzelhandel eine Konzentration und Zentralisation auf Unternehmensebene stattgefunden. Etwa 60 % des deutschen Lebensmittelhandels wird von
nur fünf Unternehmen bestimmt (Wortmann 2003: 3; Boylaud / Nicoletti 2001: 257).
Dies führt nicht notwendigerweise zu einer Konzentration auf der Ebene der Verkaufsstellen, da ein signifikanter Bereich des Lebensmittelhandels auf unabhängigen
genossenschaftlich organisierten Einzelhändlern beruht, die über Unternehmen wie
z.B. REWE oder EDEKA verbunden sind (Wortmann 2003: 7).
Erhebungen zu den Arbeitsbedingungen zeigen, daß die Beschäftigten schwere körperliche Arbeit verrichten, aggressivem Verhalten der Kunden ausgesetzt sind, über
Zeitdruck klagen, repetitive Tätigkeiten verrichten und gewaltsamen Angriffen von
Ladendieben ausgesetzt sind (Infratest Burke 1997: App. 4). Auf europäischer Ebene
durchgeführte Erhebungen zeigen, dass 22 % der Beschäftigten im Einzelhandel und
in der Kfz-Reparatur über schwere körperliche Arbeit klagen (Forstwirtschaft: 43 %;
Bauwirtschaft: 41 %). Durch Arbeitsunfälle bedingte Fehlzeiten sind allerdings bemerkenswert niedrig (Dupré / Dyreborg 1998: 147). Daten über 46.635 Beschäftigte
in Supermärkten, Warenhäusern, Warenlägern und in der Verwaltung in Deutschland
zeigen hohe Risiken für Beschäftigte in Warenlägern und an Supermarktkassen
(Bellwinkel et al. 1998). Teilzeitbeschäftigung und der Ersatz von Teilen der Belegschaft durch geringfügig Beschäftigte scheint ebenfalls die Risiken zu erhöhen
(Kirsch et al. 1999). Es ist jedoch festzustellen, daß beträchtliche Forschungsdefizite
bezüglich der Situation von Frauen, Auszubildenden und älteren Beschäftigten bestehen.
5
AMS in der REWE-Gruppe: Ansätze und Beispiele
Zur Übernahme des nationalen AMS-Leitfadens sind in Handelsunternehmen die
unterschiedlichen Entscheidungs- und Handlungsebenen zu beachten. Konzentration
und Zentralisation sind im Lebensmitteleinzelhandel oft verbunden mit einer recht
hohen Dezentralisierung der finanziellen Ressourcen. Zusätzlich sind regionale Entscheidungsstränge zu beachten, und nicht zuletzt sollte das Management in den
Verkaufsstellen bei diesem Prozeß beteiligt werden. Vorzugsweise sollte Sicherheit
und Gesundheit im Personalwesens angesiedelt werden zur Sicherung des Stellenwerts dieses Aufgabenbereichs in der funktionellen Struktur der Unternehmung. Da
Aufgaben des Personalwesens auch in kleinen und mittleren Unternehmen wahrzunehmen sind, ergeben sich insoweit keine spezifischen, aus der Unternehmensgröße
resultierenden Unterschiede. Es erscheint als sinnvoll, bei der Einführung von AMS
vorhandene Managementsysteme zu nutzen (European Agency 2002).
6
Tab. 1
Kerndimensionen, Stärken und Schwächen in der Arbeitsschutzorganisation bei REWE
Kerndimension
1. Geeignete
Organisation
aufbauen
2. Geeignete
Arbeitsschutzpersonen und
-fachleute
bestellen
3. Erforderliche
Mittel
bereitstellen
4. Arbeitsbedingungen
beurteilen
5. Erforderliche
Maßnahmen
treffen
6. Wirksamkeit
der Maßnahmen
überprüfen
7. Ergebnisse
dokumentieren
8. Unterweisungen
durchführen
Stärken
Schwächen
• Schriftliche Arbeitsschutzpolitik liegt vor
• Bei der Zentralorganisation sollte
(REWE Führungsgrundsätze Arbeitsein Koordinator für Sicherheit
schutz; Luxemburger Deklaration zur
und Gesundheit bestellt werden
betrieblichen Gesundheitsförderung)
• Strukturen und Prozesse sollten
• Management-Verantwortung ist festgelegt
synchronisiert werden
• Beteiligung der Beschäftigten (Betriebsrat) • Andere Unternehmensbereiche
(Qualitätsmanagement, Bauabteilung) sollten stärker einbezogen werden
• Arbeitsschutzpersonen sind auf zentraler, • Die Kommunikation sollte unter
regionaler und lokaler Ebene bestellt und
Nutzung elektronischer Medien
tätig
verbessert werden
• Arbeitsgruppen wurden eingerichtet
• Betriebsärzte sollten integriert
(Gefährliche Güter, Brandschutz)
und in allen Regionen bestellt
werden
• Arbeitsschutzpersonen werden
regelmässig fortgebildet
• Finanzielle Budgets bestehen auf
• Die Transparenz sollte erhöht
zentraler, regionaler und lokaler Ebene
werden (Kosten-NutzenÜbersichten)
• Psychosoziale Faktoren sollten
• Gefährdungsbeurteilungen liegen auf
bei Gefährdungsbeurteilungen
regionaler Ebene vor
berücksichtigt werden
• Ein Arbeitsschutzhandbuch ist in den
• Daten aus internen Erhebungen
Verkaufsstellen vorhanden
des Personalwesens sollten
• In Zusammenarbeit mit der Betriebsebenfalls genutzt werden
krankenkasse werden Gesundheitszirkel
• Marktleiter und Bezirksleiter
durchgeführt
sollten für Gefährdungsbeurtei• Die Betriebskrankenkasse erstellt
lungen geschult werden
jährliche Gesundheitsberichte
• Die Kooperation mit anderen
• Die zeitnahe Entscheidung für MaßAbteilungen sollte verbessert
nah-men ist gewährleistet
werden (Bauabteilung)
• Lösungen werden mit den Arbeitsschutz• Interne Datenbank mit Praxisbeiinstitutionen besprochen
spielen (Models of good practice)
• Die Beteiligung der Beschäftigten ist
sollte geschaffen werden
gesichert
• Die psychologische Betreuung nach
Überfällen wird angeboten
• Sicherheitsfachkräfte überprüfen die
• Die Bewertungskriterien sollten
Standards in den Märkten und Lägern
standardisiert werden
• Bei komplexen Problemen wird externer
• Interne Datenbank mit PraxisbeiSachverstand herangezogen
spielen (Models of good practice)
sollte geschaffen werden
• Dokumentation sollte
• Eine Dokumentation besteht auf
regionaler und lokaler Ebene
standardisiert werden
• Arbeitsschutzstandard wird regelmäßig
• Evaluation der Dokumente sollte
mit Managern und Betriebsräten überprüft
zentral organisiert werden
• Die Information über Sicherheitsbestimmungen ist sichergestellt
• Fortbildung von Arbeitsschutzpersonen
• Schulungen für Bezirks- und
wird regelmäßig unter Einbeziehung
Marktleiter sollten systematisiert
externer Einrichtungen organisiert
werden
• Schulung für Manager auf regionaler und • Schulungsunterlagen sollten
lokaler Ebene besteht
auf Unternehmensebene
standardisiert werden
• Computer Based Training (CBT) wurde
kürzlich eingeführt
7
5.1
Evaluation der Arbeitsschutz-Qualität in der REWE-Gruppe
Eine Evaluation mit dem “Management-Instrument zur Bewertung der Qualität des
Arbeitsschutzes im Unternehmen”, welches die aus den Arbeitsschutzvorschriften
extrahierten “Kerndimensionen des Arbeitsschutzes” mit dem “EFQM-Modell für Excellence” der “European Foundation for Quality Management (EFQM)” verknüpft, ergab gute Ergebnisse für die REWE-Gruppe. In einer Erhebung, die aus organisatorischen Gründen auf nur eine REWE-Niederlassung begrenzt wurde, wurden elf
Marktleiter, sieben Sicherheitsfachkräfte und vier Manager aus der Niederlassung
und der Zentrale befragt. Ferner wurden sieben Verkaufsstellen im Discountbereich
besichtigt. Eine detaillierte Analyse von Stärken und Schwächen wurde mit Unternehmensvertretern und Sicherheitsfachkräften diskutiert. Die Bereiche “Dokumentation”, “Standardisierung” und “Verbesserung der Information” sind die Gebiete, auf
denen das Unternehmen Verbesserungsbedarf aufweist.
Darüber hinaus wurden 110 Begehungsberichte der BG Einzelhandel ausgewertet
und 28 Marktleiter und ihre Stellvertreter wurden durch die BG Einzelhandel befragt.
Stärken und Schwächen der Arbeitsschutz-Qualität bei REWE sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
5.2
Sicherheits- und Gesundheitsmanagement: Elemente des
nationalen Leitfadens und Ansätze in der REWE-Gruppe
Die REWE-Handelsgruppe wurde 1927 als Zentralorganisation von 17 unabhängigen
Einkaufsgenossenschaften gegründet und ist nach wie vor eine genossenschaftlich
organisierte Handelsgruppe im Besitz von etwa 3.000 unabhängigen Einzelhändlern.
Drei Viertel des Einzelhandelsumsatzes wird jedoch über Filialbetriebe erreicht. Der
Lebensmitteleinzelhandel ist der wichtigste Geschäftsbereich der REWE-Gruppe auf
den 83 % des europäischen Umsatzes von 39 Mrd. EUR im Jahr 2003 entfallen.
Politik
- Interne Zielver-
Zentrale
Politik
- Führungsgrundsätze
Arbeitsschutz
- Lux. Deklaration
zur BGF vom
Mai 1998
- HACCP
- Umweltschutz
- Qualitätsmanagement
einbarungen
- Personalabteilung
- Einkauf
- Qualität
- Bauabteilung
- Verkauf
- GesundheitsRegion
- Personal
- Bauten
- Verkauf
- Supermärkte
(HL / miniMAL)
- Discounter
(Penny)
- Baumärkte
- Unterhaltungselektronik
Verkaufsstelle
Abb. 2
AMS im Handel: Politik
berichte
- Gesundheitszirkel
Politik
Lokale Planung:
- Schulung (CBT)
- Verbesserung der
Kassenarbeitsplätze
8
Der Geschäftsbereich wird von Discount-Geschäften (Penny) und Supermärkten (HL,
miniMAL) dominiert. Obwohl REWE eine bedeutende Handelsgruppe in Europa ist
und zu den zehn führenden Handelsunternehmen in der Welt gehört, können Discounter und Supermärkte als kleine oder mittlere Unternehmen betrachtet werden
mit weniger als zehn oder 50 Beschäftigten. Sicherheit und Gesundheit sind Teil des
Personalwesens. Etwa 30 Sicherheitsfachkräfte sind auf zentraler und regionaler
Ebene tätig und besuchen etwa 600 - 800 Verkaufsstellen pro Jahr. Der Leiter des
Personalwesens stellt in Fragen von Sicherheit und Gesundheit den Kontakt zu anderen Unternehmensbereichen wie den Einkauf, die Logistik, das Marketing, die
Bauabteilung und den Verkauf her (Abbildung 2).
Die Elemente “Politik” und “Organisation” des nationalen AMS-Leitfadens und deren
Umsetzung in der REWE-Gruppe sind detailliert in den Tabellen 2 und 3 dargestellt.
In gleicher Weise wurden die Elemente “Planung und Umsetzung”, “Messung und
Bewertung” und “Verbesserungsmaßnahmen” untersucht.
Tab. 2
Das Element “Politik” im REWE-Führungssystem
Element
1.
Spezifizierung
Umsetzung REWE
Politik
1.1 Arbeitsschutzpolitik
• Schriftstück der obersten Leitung
• Beteiligung der Beschäftigten
• Unfallverhütung
• Kontinuierliche Verbesserung
1.2 Arbeitsschutzziele
• REWE-Führungsgrundsätze
im Arbeits- und Gesundheitsschutz vom Mai 1998
• REWE-Statement „Dem Unfall
keine Chance“ (2003)
• Kompatibel zu bestehenden
Managementsystemen
• Luxemburger Deklaration zur
betrieblichen Gesundheitsförderung (November 1997,
unterzeichnet von der REWEHandelsgruppe im Mai 1998)
• Vorgabe der obersten Leitung
• Jährlicher Bericht der Unternehmensleitung zu Sicherheit
und Gesundheit
• Definition und Quantifizierung
• Plan zur Zielerreichung
• Messkriterien
• Zielsetzungen:
- Senkung der Arbeitsunfälle
- Verbesserung der
Kassenarbeitsplätze
Die Arbeitsschutzpolitik wird auf zentraler Ebene definiert (Top-Down-Ansatz). Im
Lebensmitteleinzelhandel sollten bestehende Qualitätsmanagementsysteme wie Hazard Analysis and Critical Control Points (HACCP), die sich auf die Lebensmittelsicherheit beziehen, und Umweltschutzmanagementsysteme in die Arbeitsschutzpolitik
einbezogen werden. Seit dem Jahr 2000 hat REWE für die selbständigen Einzelhändler ein auf dem EFQM-System beruhendes Qualitätsmanagementsystem eingeführt, welches extern überprüft wird. Bislang wurde kein vollständiges Managementsystem für Filialbetriebe eingeführt, es werden jedoch interne Überprüfungen
und standardisierte Inspektionen durch das Management durchgeführt. Eine spezifische Arbeitsschutzpolitik auf regionaler oder lokaler Ebene erscheint nicht als angemessen, es gibt jedoch Zielvereinbarungen für Sicherheit und Gesundheit, die zwi-
9
schen dem regionalen Management, den Sicherheitsfachkräften und den Betriebsärzten geschlossen werden und die mit den Betriebsräten abgestimmt werden.
Tab. 3
Das Element “Organisation” im REWE-Führungssystem
Element
2.
Spezifizierung
Umsetzung REWE
Organisation
2.1 Ressourcen
• Finanzielles Budget
• Zentrale: Budget “Sozialwesen”
• Personal
• Leiter Arbeitssicherheit, Brandschutz,
Gefahrgut
• Sachmittel
• Zeit
• Region: Personalleiter, Sicherheitsfachkräfte, Betriebsarzt
• Markt: Marktleiter, CBT-Schulung für
Beschäftigte während der Arbeitszeit
• Budget: 1,8 Mio. EUR p.a.
• Kooperation mit der BKK (externe Kosten): 0.2 Mio. EUR p.a. (Gesundheitszirkel, medizinisches Screening)
2.2 Zuständigkeit,
Verantwortung
• Linienmanagement
• Region: Personalleiter
• Markt: Vertrag Marktleiter
• Gefährdungsbeurteilung
• Zentrale / Region: Sicherheitsfachkraft
• Markt: Marktleiter
2.3 Mitwirkung der
Beschäftigten
• Interne Konferenzen
• Manager-Schulung
• Betriebsrat
• Tagungen zu Sicherheitsfragen
• Prävention
• Beratungen mit dem Betriebsrat
• Besprechungen mit Arbeitsschutzbehörden und BKK
2.4 Schulung
• Schulungsprogramme
• Evaluation
• Zentrale: CBT zur Arbeitssicherheit
(CD-ROM)
• Region: Ersthelferausbildung;
Schulungen für Auszubildende
• Markt: Schulungen zum Arbeitsschutz
2.5 Dokumentation
• Dokumentation der Gefährdungsbeurteilung (Sicherheitsfachkraft,
Marktleiter)
• Ordner “Arbeitssicherheit” für
Marktleiter
• Periodische Begehungsberichte
(Qualität, Sicherheit)
2.6 Kommunikation,
Kooperation
• Zentrale: Auswertung der Berichte
• Region: Besprechungen mit
Managern, Sicherheitsfachkräften,
Betriebsärzten, Betriebsrat
10
5.3
Evaluation und Verbesserung der Arbeitsbedingungen im
Handel: Instrumente
Den REWE-Managern, Sicherheitsfachkräften und Betriebsratsmitgliedern wurden
verschiedene Instrumente zur Erleichterung der Gefährdungsbeurteilung und zur
Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorgestellt. Beispielsweise wurde das Verfahren “Bildschirm-Fragebogen” vorgestellt, der 60 Items umfasst. Zur Verminderung
der physischen Arbeitsbelastung wurde die Leitmerkmalmethode mit REWEExperten diskutiert. Darüber hinaus wurde ein elektronisches Informationssystem für
den Arbeitsschutz vorgestellt, welches 130 qualifizierte Quellen nutzt und seit 2000
entwickelt wurde (www.asinfo.de). In verschiedenen Konferenzen mit Managern,
Sicherheitsfachkräften und Betriebsratsmit-gliedern wurden die unterschiedlichen
Funktionalitäten erläutert und erprobt. Eine Implementierung im Intranet der REWE
erscheint jedoch wegen zahlreicher Restriktionen als schwierig.
6
Eckpunkte für einen nationalen AMS-Leitfaden
im Handel
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind im Handel 82 Wirtschaftszweige
zu unterscheiden. Die BGE differenziert nach 26 Gefahrtarifklassen. Bezüglich der
Anzahl der Unternehmen und der Beschäftigten gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Wirtschaftszweigen im Handel (Larisch / von Diecken
2005).
600.000
Betriebe
Beschäftigte
500.000
400.000
300.000
200.000
100.000
0
< 10
10 - 99
100 - 999
> 999
nicht
verteilbar
Betriebe
281.512
13.842
1.003
150
8.217
Beschäftigte
502.438
304.441
309.516
564.629
0
Abb. 3
Unternehmen und Beschäftigte im deutschen Einzelhandel (Quelle:
BGE 2001)
11
Nach den BGE-Statistiken wurden 2001 1,7 Mio. Personen in 305.000 Unternehmen
versichert. Etwa 280.000 (92 % aller Unternehmen) beschäftigten weniger als 10
Personen. Die Anzahl der in diesen Unternehmen tätigen Personen (Eigentümer,
Ehegatten und Beschäftigte, umgerechnet in Vollzeit) betrug 502.000 (30 % aller
Versicherten). Andererseits wurden mehr als 560.000 Personen in 150 Unternehmen
mit mehr als 999 Beschäftigten angestellt. Etwa 15.000 Unternehmen mit
10 - 999 Beschäftigten wiesen 610.000 Personen aus (Abbildung 3).
Es erscheint daher als sinnvoll, spezifische Leitfäden zumindest den unterschiedlichen Unternehmensgrößen anzupassen. Da zwei der größten Lebensmittelhandelsunternehmen in Deutschland genossenschaftlich organisiert sind, können EDEKA
und REWE AMS-Elemente für selbständige Einzelhändler einführen, indem sie Initiativen zur Verbesserung der Qualität nutzen. Auf diese Weise könnten 7.400 kleine
und kleinste Unternehmen erreicht werden. Mit der Nutzung des Sicherheitschecks
der BGE für kleine Unternehmen, der Qualitätskontrollen durch die Lieferanten
(REWE, EDEKA) und unterstützt von den staatlichen Arbeitsschutzbehörden könnte
ein wesentlicher Fortschritt für Sicherheit und Gesundheit im Handel erreicht werden.
In diesem Sinne könnte ein systematischer Ansatz für Sicherheit und Gesundheit in
Großunternehmen auch ein notwendiger Schritt für den Fortschritt bei Sicherheit und
Gesundheit in kleinen Unternehmen sein.
7
Literatur
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Wortmann, M. (2003): Structural Change and Globalization of the German Retail
Industry, Discussion Paper SP III 2003-202b, Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin
für Sozialforschung

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