Von Joachim Pietzsch Illustration Sacha Waldman

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Von Joachim Pietzsch Illustration Sacha Waldman
In theYear
Von Joachim Pietzsch
Illustration Sacha Waldman
2525
Ewige Jugend und Gesundheit.
Wer träumt nicht davon? Die Medizin hat
uns diesem Traum schrittweise näher
gebracht. Aber manche Hoffnung blieb
auch Illusion. Gesundheit und Krankheit
im dritten Jahrtausend: Ein Ausblick
s gibt Tage, an die sich jeder erinnert, der sie erlebt hat. Sonntag, der 20. Juli 1969, war so ein Tag. Für mich zum Beispiel
war es ein Ferientag an der Ostsee. Ich spielte abends noch
Fußball auf der Wiese, als meine Mutter mich ins Haus rief. „Du willst
doch wohl die Mondlandung nicht verpassen?“ Verschwitzt und
staunend sah ich dann in schwarzweißen Bildern, wie die Raumkapsel dem Mond entgegenschwebte. Das war unheimlich aufregend für
einen zehnjährigen Jungen wie mich. Aufregend, weil ich begeistert
war, was wir Menschen alles können. Unheimlich, weil ich dabei die
Kälte des Weltraums zu spüren glaubte. Ich bekam eine Gänsehaut,
so ähnlich wie bei dem Lied, das ich tagsüber am Strand im Radio
gehört hatte: „In the year 2525“.
Das war der amerikanische Sommerhit des Jahres 1969. Am
12. Juli hatte er den ersten Platz der Billboard-Charts erklommen, wo
er sich sechs Wochen lang hielt. Mit fünf Millionen verkauften
Exemplaren wurde das Lied der bis heute weltweit größte Einmal-
E
bis heute allein die Vereinigten Staaten die Krebsforschung mit
öffentlichen Mitteln in Höhe von 46 Milliarden Dollar unterstützt
haben. Die Forscher mussten erkennen, dass sich hinter dem Namen
Krebs keine einheitliche Krankheit verbirgt, sondern eine Vielzahl
verschiedener Erkrankungen mit äußerst komplexen pathophysiologischen Prozessen und sehr unterschiedlichen Ursachen. Zwar sind
Leukämien bei Kindern, wie auch manche eher seltene Krebsformen,
in 90 Prozent der Fälle heilbar – aber an den großen Killern wie Lungen-, Brust- und Darmkrebs sterben heute mehr Menschen als in den
späten sechziger Jahren.
Fortschritte, aber auch unerfüllte Hoffnungen
An die Heilung von Krankheiten hatten Zager und Evans in ihrer
Zukunftsvision gar nicht gedacht. Im Jahr 3535 ihres Liedes
schlucken die Menschen ihre täglichen Pillen nicht, um zu gesunden,
sondern um ihre Freiheit loszuwerden: „Everything you think, do, and
Bevölkerungsanteil
der über 59-Jährigen im Jahr
2002
bis 9%
10%–19%
20%–24%
Hit. Von seinen Interpreten Zager und Evans hörte man danach nichts
mehr. Mit diesem Lied aber hatten sie einen Nerv der Zeit getroffen.
Es klang wie die monotone Moritat eines Leierkastenmanns, der auf
einem belebten Rummelplatz kurz vor Anbruch der Dämmerung die
Gefahren der Nacht beschwört: „Im Jahr 2525, wenn es dann noch
Menschen geben wird...“ Es war die in eine harmlose Melodie verpackte Mahnung, dem technischen Fortschritt nicht blind zu vertrauen. Sein düsterer Text entsprach den einst schon von Aldous Huxley
formulierten Ängsten vieler Menschen vor der „Schönen Neuen
Welt“ von morgen und spiegelte damit die Kehrseite der Medaille
wider, die dem Triumph der ersten Mondlandung gewidmet war.
Dem Krebs den „Krieg“ erklärt
Armstrongs Schritt war ein großer Schritt für die Menschheit, besonders aber für die Vereinigten Staaten. Sofort nach dem SputnikSchock – die Sowjetunion schoss im Oktober 1957 mit Sputnik 1 den
ersten Satelliten auf eine Erdumlaufbahn – hatten die Amerikaner die
Weltraumbehörde Nasa gegründet. Im Mai 1961 hatte Präsident Kennedy versprochen, dass noch im Laufe der sechziger Jahre ein
bemanntes amerikanisches Raumschiff auf dem Mond landen werde.
Der 20. Juli 1969 markierte die Erfüllung dieses Versprechens.
Nicht alle Rätsel lassen sich so zügig lösen wie die der Raumfahrt. Technische Fragen scheinen leichter beantwortbar als biologische Fragen. Denn den Krebs haben wir bis heute nicht besiegt –
obwohl Präsident Nixon, beflügelt vom Erfolg der Apollo-Mission,
im Dezember 1971 dem Krebs den „Krieg“ erklärte, verbunden mit
dem Versprechen, mithilfe gewaltiger Forschungsinvestitionen noch
im Laufe der siebziger Jahre ein Heilmittel für diese schreckliche
Krankheit zu entdecken. Das gibt es noch immer nicht, wenngleich
say / Is in the pill you took today...” Wäre aber nicht auch das Gegenteil denkbar? Könnten pharmazeutische Substanzen uns in Zukunft
nicht auch frei machen? Frei von Krankheit? Frei zu einem beliebig
langen Leben? Hat die Medizin nicht schon in den 33 Jahren seit der
ersten Mondlandung erstaunliche Fortschritte gezeitigt? Ja, gewiss,
es ließe sich eine seitenlange Liste dieser Fortschritte aufstellen. Sie
reichte von erstaunlichen Möglichkeiten der modernen Chirurgie bis
zu den Verfeinerungen der Diagnostik, von routinemäßigen Transplantationen lebenswichtiger Körperorgane zu minimalinvasiven
Eingriffen, von Endoskopien bis zu Computertomogrammen. Sie
würde Medikamente umfassen, deren Effektivität teure Krankenhausaufenthalte fast überflüssig gemacht haben, wie auch die vielen
therapeutischen Proteine, die durch die 1973 erfundene Gentechnik
überhaupt erst hergestellt werden konnten. Aus allen Teilgebieten der
Medizin, von der Kinderheilkunde bis zur Gerontologie, von der Neurologie bis zur Dermatologie würde diese Liste viele Belege für den
Fortschritt der Medizin beibringen können.
Freilich hat dieser Fortschritt uns Menschen, global gesehen, nicht
gesünder gemacht. Die Zahl der Typ-2-Diabetiker in den Industrieländern ist dramatisch gestiegen, degenerative Leiden wie die
Alzheimerkrankheit oder Autoimmunerkrankungen wie die Rheumatoide Arthritis greifen in einem 1969 kaum vorhersehbaren Maße
um sich, und stellen nicht nur die Medizin, sondern auch die Sozialsysteme vor ernste Herausforderungen. Und selbst die nicht nachlassende Innovationskraft der Kardiologen, selbst deren zunehmend
differenziertes Arsenal an Herz-Kreislauf-Medikamenten, hat nicht
verhindern können, dass der Herztod in den westlichen Industrienationen noch immer die Todesursache Nummer eins ist. Auch die
klassischen Antibiotika, deren Entdeckung und Einführung vielleicht
als der folgenreichste medizinische Durchbruch des 20. Jahrhunderts
gelten darf, sind wegen zunehmender Resistenz mancher Bakterienstämme teilweise zu einer stumpfen Waffe geworden. Zudem tauchte mit der erworbenen Immunschwäche Aids vor zwanzig Jahren eine
völlig neue Viruskrankheit auf, gegen die es bis heute nur palliative
und teure Chemotherapien gibt, aber noch kein Heilmittel. Das
20. Jahrhundert endete mit einer traurigen Bilanz von 18,8 Millionen
Aids-Toten. Ende 1999 gab es nach Angaben der Vereinten Nationen
(UN) weltweit schätzungsweise 35 Millionen HIV-infizierte Menschen, 71 Prozent in Afrika südlich der Sahara.
Nun hängen die großen Errungenschaften der Medizin mit den
negativen Entwicklungen der Gesundheitsstatistik zumindest teilweise eng zusammen: Die degenerativen Krankheiten nehmen
deshalb zu, weil die Menschen älter werden und dabei, wohlstandsbedingt, ungesünder leben. Und Herz-Kreislauf-Krankheiten sind
deshalb noch immer der Killer Nummer eins, weil heute viele ältere
gesunden Leben. Lebenslang immer nur gesund zu sein: Das ist ohnehin kaum vorstellbar. Denn Gesundheit und Krankheit gehören
zum Leben wie Tag und Nacht zum Vergehen der Zeit. Gesund können wir uns nur fühlen, wenn wir erfahren haben, was es heißt, krank
zu sein. Und Krankheit wird uns Menschen oft zu einer Erfahrung
der Einkehr und Neuorientierung, aus der wir Lebensmut und schöpferische Kraft gewinnen. Hätte Beethoven zum Beispiel seine späten
Streichquartette und Klaviersonaten als Gesunder schreiben können?
Ja, selbst seine neunte Sinfonie verdankt ihre bezwingende Schönheit der Krankheitserfahrung!
Daraus dürfen wir natürlich nicht folgern, dass wir Krankheiten
hinnehmen sollten, statt mit aller Macht und Phantasie Behandlungsmöglichkeiten für sie zu verwirklichen. Besonders die quälenden, chronischen Krankheiten des Alterns verdienen höchste
Aufmerksamkeit. Die medizinische Forschung, beflügelt durch die
Entzifferung der Sequenz des Humangenoms, arbeitet mit Hochdruck
Bevölkerungsanteil
der über 59-Jährigen im Jahr
2050
Jahre
Altersaufbau der
Weltbevölkerung
bis 9%
10%–19%
20%–24%
25%–29%
mehr als 30%
Menschen daran sterben, die früher lange vorher an einer anderen
Krankheit gestorben wären.
Tatsächlich erhöht sich die Lebenserwartung der Menschen mit
immer größerer Geschwindigkeit, was nicht nur den wachsenden
Möglichkeiten der Medizin, sondern auch besserer Hygiene sowie
gesünderer Lebensweise und Ernährung zuzuschreiben ist. Im Jahr
1900 zum Beispiel wurden nicht einmal die Hälfte aller Amerikaner
65 Jahre alt; heute sind es über 80 Prozent. Die durchschnittliche
Lebenserwartung der Weltbevölkerung (zum Zeitpunkt der Geburt)
hat sich nach Angaben der Vereinten Nationen seit 1950 von 46 auf
66 Jahre erhöht. In Deutschland liegt die Lebenserwartung für Männer inzwischen bei 74, für Frauen sogar bei 81 Jahren. Im Jahr 2002,
so hat die UN ermittelt, sind zehn Prozent der Weltbevölkerung, nämlich 629 Millionen Menschen, älter als 60 Jahre. Im Jahr 2050 wird
deren Zahl schon rund zwei Milliarden betragen, das werden dann 21
Prozent der Weltbevölkerung sein. Die Zahl der über 60-Jährigen wird
dann erstmals größer sein als die Zahl der bis zu 14-Jährigen. 3,2 Millionen Menschen werden, so extrapoliert die UN, im Jahr 2050 älter
als 100 Jahre sein – fünfzehnmal so viel wie heute!
Leben ohne Krankheit?
Die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen (und können), beschäftigt deshalb viele helle Köpfe, so auch im Jahr 2000 bei dem von der
Aventis Foundation getragenen „Triangle Forum“. Hinsichtlich der
Gesundheit der Menschen fürchten manche Experten, dass wir immer
kränker werden, wenn wir immer älter werden können. Unser Leben
wird länger, und mit ihm die Zeit der Schmerzen, der Behinderung,
der Bettlägerigkeit, der Zahl der degenerativen Erkrankungen. Ein
langes Leben ist also nicht unbedingt gleichbedeutend mit einem
300 Mio. Männer
Frauen 300 Mio.
daran, hierfür therapeutische Perspektiven zu eröffnen. So lichtet die
Genomforschung zum Beispiel zunehmend das bislang undurchdringliche Dickicht der Pathophysiologie verschiedener Krebsarten.
Die biologischen Grenzen erreichen
Endlos wird sich unser Leben nicht verlängern lassen. Rund 120
Lebensjahre scheinen nach allen derzeitigen wissenschaftlichen
Erkenntnissen unser oberstes Limit zu sein. Der älteste Mensch, von
dem wir wissen, starb kürzlich in Frankreich im Alter von 122 Jahren. Erstaunlicherweise ist diese Lebensgrenze schon in der Bibel
präzise angegeben, nämlich in Genesis 6,3: „Mein Geist soll nicht
immerdar im Menschen walten, denn auch der Mensch ist Fleisch.
Ich will ihm als Lebenszeit geben hundertundzwanzig Jahre.“
Wir wissen nicht, ob die durchschnittliche Lebenserwartung der
Menschheit jemals diese Grenze erreichen wird. Wir müssen aber annehmen, dass keine Wissenschaft und kein medizinischer Fortschritt
jemals alle Krankheiten aus der Welt schaffen können – diese bleibt
ein integraler Bestandteil unseres Daseins, denn die Natur bleibt
erfinderisch. Dennoch müssen wir alles tun, um menschliches Leiden zu minimieren. Dabei werden wir aber immer wieder feststellen,
dass unser Leben nicht allein in unserer Hand liegt. Sich in diese Einsicht zu schicken, hat nichts mit Resignation zu tun, sondern mit
Lebenskunst. Mit der Fähigkeit, loslassen zu können. Weil man das
Wasser aus dem Fluss nur mit entspannter Hand, nicht aber mit verkrampfter Faust schöpft. Vom Leben auf einem großen Fluss handelte ein anderer Hit des Jahres 1969: „Proud Mary“ von Creedence
Clearwater Revival. Sein Refrain klang, auch wenn er von einem
Schaufelraddampfer handelte, nach einer menschlichen Zukunft:
“Rollin’, rollin’, rollin’ on the river.”
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