Vorsichtig bis zum Sahnetopf
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Vorsichtig bis zum Sahnetopf
Vorsichtig bis zum Sahnetopf Lina Lavendel fällt es überhaupt nicht schwer, den Weg zu finden. Sie muss nur dem herrlichen Duft folgen, der ihr in die Nase steigt. Und so weiß die kleine Fee bereits einige Meter bevor sie das Haus in der Schulstraße 5 erreicht hat, dass sie hier richtig ist. Lina setzt sich auf den weiß gestrichenen Holzzaun und sieht sich vorsichtig um. Die Waldfee hat keine Lust, wieder so beschimpft zu werden wie von Sebastian der Vogelscheuche. Voller Bewunderung betrachtet die Fee den hübschen kleinen Garten vor dem Haus von Oma Erna: Hier blühen rosa und lila Astern und auf dem Boden wachsen dicke, gelbe Kürbisse. Der wilde Wein, der am Haus hoch klettert, hat schon ganz leuchtend rote Blätter. Der Kuchenduft kommt aus dem offenen Fenster links neben der orangeroten Haustür. „Dort muss wohl die Küche sein“, denkt sich Lina. Bis zum Fensterbrett wagt sie sich vor und späht vorsichtig durch die Gardinen. Erwachsene Menschen sehen Waldfeen normalerweise nicht. Sie glauben nicht mehr daran, dass es Feen überhaupt gibt. Erwachsene sind meistens zu sehr damit beschäftigt, zu arbeiten, zu putzen oder ähnlich nützliche Dinge zu tun, so dass sie ganz vergessen, auch das Schöne zu sehen. Doch Kinder und Tiere können Lina entdecken, wenn sie genau hinschauen. Aber nicht alle sind freundlich zu Feen. Manche wollen ihnen sogar die Flügel ausreißen. Tja, die wissen nicht, dass Feen sich das nicht gefallen lassen! Da muss Lina kichern, denn ihr fällt plötzlich wieder eine alte Geschichte ein: „Vor vielen, vielen Jahren hat meine Oma Helene einem solchen Bösewicht zur Strafe kurzerhand blaue Haare gezaubert. Der Kerl ist so schnell wie er konnte weggerannt.“ Zum Glück kommt so etwas nur selten vor. 12 „Na ja, etwas Vorsicht kann trotzdem nicht schaden“, denkt sich die kleine Fee. Aber die Luft ist rein. In der Küche ist niemand. Dort steht nur der leckere Pflaumenkuchen. Ach ja, und ein riesiger, blauer Topf mit Schlagsahne. Lina Lavendel liebt Schlagsahne! Jetzt ist sie nicht mehr zu bremsen. Voller Vorfreude landet sie auf dem Rand des Topfes, zieht ihren Finger durch die Sahne und schleckt ihn genüsslich ab. Mit vollem Mund schmatzt die Waldfee: „Mmh, ist das lecker!!!“ 13 Lina braucht Hilfe! Plötzlich wird die Küchentür geöffnet. Es gibt einen Windzug und Lina verliert das Gleichgewicht. „Aaaaahhh!!!“, schreit die kleine Fee erschrocken auf. Dann purzelt sie in den Sahnetopf und steckt mit beiden Beinen bis zu den Knien in der süßen Creme fest. „So ein Mist aber auch!“, schimpft die Waldfee verärgert. Die Frau, die jetzt in die Küche kommt, ist etwa sechzig Jahre alt und hat kurze, braune, gewellte Haare. Sie trägt einen hellblauen Pullover und eine schwarze Hose. „Das muss wohl Oma Erna sein“, überlegt Lina. Ganz in Gedanken murmelt Oma Erna: „Ich hab’ ja was vergessen.“ Deshalb dreht sie sich wieder um und will gerade aus der Küche gehen, als sie mit einem Jungen zusammenstößt. „Hoppla Jannik, mach’ langsam! Ich geh’ nur kurz zu deinem Opa“, ruft sie ihrem Enkel zu. Jannik hat ein fröhliches Gesicht. Seine blauen Augen strahlen und er plappert aufgeregt vor sich hin: „Der Drachen ist fertig! Der Drachen ist fertig! Ich habe mit Opa Bernd einen Drachen gebaut und nachher probieren wir aus, ob er fliegt. Oh, wie toll!“ Dieser Junge kann vielleicht Linas Rettung sein. Aber wird er sie auch sehen? Na, das ist gar kein Problem, denn Jannik ist genau so ein Schleckermäulchen wie die kleine Fee. Er geht direkt auf den Sahnetopf zu. Doch dann macht er einen ziemlich verdutzten Gesichtsausdruck. Es dauert einen Moment bis er neugierig fragt: „Was ist denn das? – Du siehst nicht wie eine Fliege aus und auch nicht wie ein Schmetterling. … Aber was gibt es sonst noch mit Flügeln?“ „Hilf mir! Ich bin eine Fee“, ruft Lina und winkt wild mit den Armen. „Gib mir deinen Finger und zieh’ mich hier heraus.“ Jannik reibt sich die Augen und sieht noch einmal hin. Das kleine Wesen mit dem Wollschal ist immer noch da. Also hält er seinen Finger kurz über Linas Kopf. Die Waldfee umklammert ihn mit ihren Armen und ‚Plopp’ – jetzt ist sie frei. Allerdings ist Linas Strumpfhose voll Sahne und deshalb nass und kalt. 14 15 Kalte Füße und Pflaumenkuchen „Eijeijeijeijei, was für ein Tag! Wie bekomme ich bloß wieder warme Füße und eine trockene Strumpfhose?“, fragt sich Lina. Eigentlich hat die kleine Fee mehr oder weniger mit sich selbst gesprochen, aber Jannik hat es gehört und weiß die Lösung: „Zieh’ deine Strumpfhose aus und kuschel’ dich hier hinein!“ Der Junge holt ein sauberes, weiches Stofftaschentuch aus seiner Jeans. „Ich wasche deine Hose aus und trocken wird sie auch ganz schnell. Gleich kommen Oma und Opa. Dann gibt’s endlich den Kuchen“, meint Jannik aufmunternd. Es dauert etwas bis Lina Jannik erklärt hat, dass seine Großeltern Feen wahrscheinlich gar nicht sehen können, auch wenn sie die besten Großeltern auf der Welt sind. Deshalb vereinbaren die Beiden, dass die kleine Fee auf dem Rand von Janniks Kuchenteller sitzt und mitnascht. Bloß aus Vorsicht, damit sie nicht wieder in der Sahne landet und vielleicht sogar aus Versehen mit aufgegessen wird. Na ja, Erwachsene sehen Feen nun mal nicht. Gesagt, getan. Das Essen ist super und alle stopfen sich den Bauch mit Pflaumenkuchen voll. Doch auch als sie pappsatt sind, ist Linas Strumpfhose leider immer noch nicht trocken. „Oje, da werde ich mir wohl einen Schnupfen holen“, seufzt die Waldfee. „Ganz bestimmt nicht“, antwortet Jannik fröhlich. „Ich habe dir doch gesagt, dass wir die Hose wieder trocken bekommen. Wart’s mal ab.“ Jannik läuft los und holt seinen roten Anorak. Auch Opa Bernd hat sich eine Jacke angezogen. Er trägt den selbst gebauten Drachen unter dem Arm. 16 Die Beiden wollen raus auf die Felder am Ortsrand. „Und was mache ich?“, fragt Lina Lavendel etwas ratlos. Dabei sitzt sie fest in das Taschentuch eingemummelt auf dem Küchentisch. „Du kommst natürlich mit “, sagt Jannik und setzt Lina ganz vorsichtig in die Kapuze seiner Jacke, die auf seinem Rücken herunter hängt. 17