AUFSÄTZE Zivilrecht Strafrecht DIDAKTISCHE BEITRÄGE

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AUFSÄTZE Zivilrecht Strafrecht DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Inhalt
AUFSÄTZE
Zivilrecht
Rechtsformwahl und Rechtsfragen bei der Gründung
eines „Social Business“
Von Ref. iur. Shila Allabaei, Berlin
119
Der VW-Abgasskandal in der juristischen Praxis
Von Florian Fuhrmann, Erlangen
124
Strafrecht
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB
– Teil 1
Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 2
Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel
132
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Zivilrecht
Arbeitsrecht im Rahmen eines Unternehmenskaufes
Von Dr. Christine Gömöry, Köln
150
Öffentliches Recht
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht
in der Flüchtlingskrise
Von Wiss. Mitarbeiter Torben Ellerbrok,
Wiss. Mitarbeiter Lucas Hartmann, Heidelberg
157
Rechtscharakter polizeilicher Maßnahmen
Von Wiss. Mitarbeiterin Diane Jahr, Augsburg
181
Strafrecht
Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt
– ein unbekannter Straftatbestand
Von cand. iur. Tobias Wickel, Heidelberg
189
Inhalt (Forts.)
2/2016
ÜBUNGSFÄLLE
Zivilrecht
Fortgeschrittenenklausur: Rast mit Hindernissen
Von Wiss. Mitarbeiter Yannick Diehl, Potsdam
200
Öffentliches Recht
Fortgeschrittenenhausarbeit: Profit, Moral und
die rechtlichen Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1
Von Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M.,
Wiss. Mitarbeiter Herbert Rosenfeldt, Passau
207
Übungsfall: Die Antiterrordatei
Von Diplom-Jurist Maik Knaust, Göttingen
219
Strafrecht
Übungsfall: Ein zauderndes Trio
Von Prof. Dr. Georg Steinberg, Potsdam,
stud. iur. Vida Malakooti, Wiesbaden
228
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende
Rachegelüste
Von Wiss. Mitarbeiter Christopher Penkuhn, Göttingen
232
ENTSCHEIDUNGSBESPRECHUNGEN
Strafrecht
EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)
(Entscheidungen mit beschränkter Rechtkraft als
grenzüberschreitendes Verfahrenshindernis)
(Prof. Dr. Martin Böse, Bonn)
245
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Zivilrecht
BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14
(Kein Ausschluss des Widerrufsrechts des Verbrauchers
bei Fernabsatzverträgen über die Lieferung von Heizöl)
(Wiss. Mitarbeiter Jan Singbartl,
stud. iur. Johannes Rübbeck, München)
251
OLG Thüringen, Urt. v. 18.3.2015 – 2 U 674/14
(Musik auf Wahlkampfveranstaltungen – auch bei
möglicherweise verfassungsfeindlichen Parteien?)
(Ref. iur. Dr. Alexander Simokat,
Mag. iur. Sebastian-B. Köhler, Hamburg)
256
Öffentliches Recht
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14
(Einzelfallbezogener, menschenwürderadizierter
Grundrechtsschutz im Rahmen der Identitätskontrolle)
(Wiss. Mitarbeiter Philip Bender, Maître en droit
[München/ Paris])
260
Inhalt (Forts.)
2/2016
REZENSIONEN
Zivilrecht
Kilian/Wendt, Europäisches Wirtschaftsrecht,
5. Aufl. 2016
(Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Bielefeld)
266
Strafrecht
Barton, Einführung in die Strafverteidigung,
2. Aufl. 2013
(Prof. Dr. Jürgen Wessing, Düsseldorf)
267
Ostendorf, Jugendstrafrecht, 8. Aufl. 2015
(Akad. Mitarbeiterin Dr. Konstantina Papathanasiou,
LL.M., Heidelberg)
268
VARIA
Allgemeines
Mit der Arbeitsgruppe zum Prädikat
Von Ref. iur. Robert Klose,
Wiss. Mitarbeiter Stefan Küster,
Wiss. Mitarbeiter Leon Radde, Greifswald
270
Rechtsformwahl und Rechtsfragen bei der Gründung eines „Social Business“
Von Ref. iur. Shila Allabaei, Berlin*
Immer häufiger besteht der Wunsch danach, Flüchtlingshilfe
in Deutschland zu koordinieren und zu repräsentieren. Nicht
selten soll das Engagement einen größeren Umfang einnehmen, z.B. über die Grenzen der Bundesländer hinweg. Daraus folgt das Bedürfnis der Helfer für einen Zusammenschluss, der eine angemessene Vernetzung und Handlungsfähigkeit ermöglicht. Bei der Wahl der richtigen Rechtsform
stehen nicht nur Nichtjuristen vor großen Herausforderungen
und vielen offenen Fragen.
I. Einleitung
Der Begriff des „Social Business“ geht zurück auf den Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus und beschreibt eine
Unternehmensform, in der die Lösung sozialer Probleme
unter Verzicht auf spekulative Geschäfte im Vordergrund
steht. Angesichts der vermehrten Aufnahme von Flüchtlingen
in der Bundesrepublik Deutschland und dem hohen Engagement ehrenamtlicher Helfer in diesem Zusammenhang stellt
sich die Frage, in welcher Rechtsform sich gründende Verbünde agieren sollten. Im Vordergrund steht hierbei natürlich
immer die genaue Zweckverfolgung der jeweiligen Gruppe.
Der folgende Aufsatz soll Ansätze und Hilfestellungen bei
der Beantwortung dieser mitunter komplexen Entscheidung
bieten. Um in den Genuss steuerrechtlicher Vorteile zu kommen, bietet es sich zudem an, eine gemeinnützige Körperschaft zu gründen. Daher soll auch auf die Grundzüge der
Gemeinnützigkeit sowie damit zusammenhängende Themen,
insbesondere Spenden und Sponsoring eingegangen werden.
II. Rechtsformwahl
Meist wird sich die Gründung eines Vereins, einer GmbH
oder einer Unternehmergesellschaft anbieten, sodass der
Fokus auf diesen Rechtsformen liegt. Von der vergleichsweisen Betrachtung ausgenommen wurden die Stiftung und die
eingetragene Genossenschaft (eG). Beide erscheinen für die
Vielzahl der Fälle eher ungeeignet. So ist die e.G. auf die
Förderung ihrer eigenen Mitglieder ausgerichtet, während der
Zweck des zu gründenden Social Business meist außerhalb
des eigenen Mitgliederbestandes angesiedelt sein wird. Die
Stiftung wiederum dient allein dem in ihrer Satzung festgehaltenen Stiftungszweck; dieser ist statisch und kann nicht
flexibel an aktuelle Begebenheiten angepasst werden. Außerdem unterliegt die Stiftung der strengen Stiftungsaufsicht.
1. Verein
Eine mögliche Variante ist die Gründung des Social Business
in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Die Vereinsform ist insbesondere dann ratsam, wenn ein großer Mitgliederbestand gewünscht ist und eine starke Fluktuation erwartet
werden kann bzw. möglich sein soll.
a) Gründung
Für die Gründung eines Vereins ist eine Satzung zu entwerfen. Diese ist dem zuständigen Finanzamt empfehlenswerter
Weise zur Vorabstimmung in Entwurfsform vorzulegen,
sofern eine Anerkennung als gemeinnützig gewünscht ist.
Die Prüfung kann je nach Auslastung des zuständigen Finanzamtes mehrere Wochen in Anspruch nehmen, erspart im
Gegenzug aber böse Überraschungen im weiteren Verfahren.
Nur für den Fall, dass die Satzung ungewöhnliche Regelungen enthält, sollte ferner eine Abstimmung mit dem Vereinsregister (parallel zur Abstimmung mit dem Finanzamt) stattfinden. Als nächster Schritt ist eine Mitgliederversammlung
zur Gründung des Vereins einzuberufen. Zur Vereinsgründung sind sieben Gründungsmitglieder notwendig; danach
genügen zum Fortbestand des Vereins drei Mitglieder. Die
Gründungsmitglieder bestimmen zu Beginn ein oder mehrere
Vorstandsmitglieder, die den Verein vertreten. Auch sollte
der Antrag auf vorläufige Anerkennung der Gemeinnützigkeit beim Finanzamt erfolgen. Schließlich erfolgt die Anmeldung zum Vereinsregister; die Eintragung erfolgt zumeist
binnen weniger Tage.
b) Verwaltung
Die Organe des Vereins sind der Vereinsvorstand sowie die
Mitgliederversammlung, vgl. §§ 26, 32 BGB. Wesentliche
Entscheidungen werden basisdemokratisch von der Mitgliederversammlung getroffen. Die Aufgabenverteilung zwischen
diesen Organen kann sehr flexibel ausgestaltet werden.
Wechsel in der Mitgliedschaft erfolgen durch Ein- und Austritt, wobei Eintritte regelmäßig von der Zustimmung des
Vorstands abhängig gemacht werden. Zudem besteht die
Möglichkeit, verschiedene „Mitgliederklassen“ zu schaffen
(außerordentliche Mitglieder, fördernde Mitglieder, passive
Mitglieder, Ehrenmitglieder). Gesellschaftsanteile, die - wie
bei einer GmbH - veräußert werden, gibt es bei Vereinen
nicht, da die Mitgliedschaft als solche kein Vermögensrecht
ist, sondern ein Personenrechtsverhältnis begründet.
c) Vorteile
Zu den Vorteilen eines Vereins zählt, dass der Gründungsaufwand gering ist. Insbesondere muss der Verein kein Mindestkapital oder -vermögen bereithalten. Auch die Aufnahme
bzw. der Austritt von Mitgliedern erfolgt ohne Beurkundung
durch einen Notar. So können sämtliche Unterstützer eines zu
gründenden Vereins ohne Umstände Mitglied werden. Auch
unterliegt der Verein keinen Bilanzierungspflichten, wie sie
für eine GmbH vorgesehen sind; lediglich eine Einnahmenüberschussrechnung ist zu erstellen. Die Verwaltung eines
Vereins ist daher einfacher und kostengünstiger als die einer
GmbH. Ein weiterer Vorteil ist das geringe persönliche Haftungsrisiko der Vereinsvorstände im Vergleich zu GmbHGeschäftsführern, vgl. hierzu § 31a BGB.
* Die Autorin ist Rechtsreferendarin am Kammergericht
Berlin. Zurzeit absolviert sie ihre Anwaltsstation.
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119
AUFSÄTZE
Shila Allabaei
d) Nachteile
Im Verein ist der Vorstand zwar ausführendes Organ, ist
jedoch erheblich auf den Willen und die Abstimmung der
Mitgliederversammlung angewiesen. Diese tagt üblicherweise selten (§ 36 BGB) und beinhaltet eine große Anzahl von
Personen, die es zu überzeugen gilt, was sich unmittelbar auf
die Handlungsfähigkeit des Vereins auswirken kann.
e) Abgrenzung Idealverein vom wirtschaftlichen Verein
Des Weiteren ist im Verein, in Abgrenzung zur Gesellschaft,
eine wirtschaftliche Tätigkeit nur in begrenztem Ausmaß
zulässig.
aa) Idealverein § 21 BGB
Die Organisation in Form eines eingetragenen Vereins (e.V.)
ist nur möglich (und im Vereinsregister eintragungsfähig) als
sog. „Idealverein“, vgl. § 21 BGB. Dessen Hauptzweck muss
ideeller, also nicht-wirtschaftlicher Natur sein, d.h. insbesondere rein gesellige, sportliche, kulturelle, wissenschaftliche,
soziale, politische, religiöse oder weltanschauliche Zwecksetzungen zum Gegenstand haben.1 Für die Einordnung und
Abgrenzung der Vereinstypen nach § 21 BGB einerseits und
§ 22 BGB andererseits ist die Absicht, Gewinne zu erzielen,
nicht maßgeblich.2 Auch kann eine Einordnung als Idealverein nicht (nur) unter Verweis auf die Anerkennung als gemeinnützig seitens des Finanzamts erfolgen.3
Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb des Idealvereins ist
jedoch möglich und nicht für die Einordnung als Idealverein
schädigend, solange es sich nur um eine Nebentätigkeit gegenüber der nichtunternehmerischen Haupttätigkeit des Vereins handelt (Nebentätigkeitsprivileg).4 Die Vorschriften der
§§ 21, 22 BGB verfolgen den Zweck, die Sicherheit des
Rechtsverkehrs, insbesondere aber den Schutz von Gläubigern zu wahren, indem Vereine mit wirtschaftlicher Zielsetzung auf die dafür zur Verfügung stehenden, handelsrechtlichen Formen verwiesen werden.5 Der Gläubigerschutz hat in
den Vorschriften des für juristische Personen und Kaufleute
geltenden Handelsrechts eine stärkere Berücksichtigung gefunden, was sich insbesondere aus den Vorschriften zu Mindestkapitalausstattung, Bilanzierungs- und Publizitätspflichten und der unbeschränkbaren Vertretungsmacht ergibt. Diese
Schutzinteressen sind nicht tangiert, wenn der Verein im
Rahmen des Nebenzweckprivilegs handelt.
Der BGH fordert hierzu eine funktionale Unterordnung
(objektiver Maßstab) sowie einen idealen Hauptzweck (subjektiver Maßstab).6 Die unternehmerische Tätigkeit muss also
dem nichtwirtschaftlichen Hauptzweck zu- und untergeordnet
1
Dörner, in: Schulze u.a., Handkommentar zum BGB,
8. Aufl. 2014, § 21 Rn. 3.
2
OLG Frankfurt a.M. NJW-RR 2006, 1698.
3
KG ZStV 2012, 62; Reuter, in: Münchener Kommentar zum
BGB, 7. Aufl. 2015, § 22 Rn. 19b.
4
Mansel, in: Jauernig, Kommentar zum BGB, 16. Aufl.
2015, § 21 Rn. 4.
5
BGH NJW 1983, 569 (570).
6
BGHZ 85, 88 (93); OLG Hamm NJW-RR 2003, 899.
sowie Hilfsmittel zu dessen Erreichung sein.7 Dies ist beispielsweise bei dem Betrieb eines Restaurants im Vereinsheim der Fall.
bb) Wirtschaftlicher Verein § 22 BGB
Unterhält der Verein als Hauptzweck einen wirtschaftlichen
Geschäftsbetrieb, handelt es sich hingegen um einen wirtschaftlicher Verein im Sinne des § 22 BGB. Ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb ist anzunehmen, wenn ein Verein (1.)
unternehmerisch tätig ist, indem er planmäßig und dauerhaft
Leistungen gegen Entgelt in einem „äußeren Markt“ anbietet,
(2.) seinen Mitgliedern in einem „inneren Markt“ planmäßig
und entgeltlich dauerhaft Leistungen zur Verfügung stellt
(Scientology Church; Buchgemeinschaft, Einkaufszentralen)
oder (3.) einer „genossenschaftlichen Kooperation“ dient,
indem Unternehmer einen Teil ihrer Tätigkeit ausgliedern
und auf einen Verein übertragen (Taxirufzentrale, ärztliche
Abrechnungsstellen).8
Der wirtschaftliche Verein erlangt erst durch staatliche
Verleihung bzw. Konzessionierung Rechtsfähigkeit.9 Nach
der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss es
der Vereinigung unzumutbar sein, sich in einer anderen, für
wirtschaftliche Zusammenschlüsse bundesgesetzlich bereitgestellten Rechtsform zu organisieren (Stichwort Subsidiaritätsgrundsatz).10 Für die Unzumutbarkeit müssen atypische
Umstände dargelegt werden, die die Gründung eines wirtschaftlichen Vereins rechtfertigen könnten. Bislang anerkannt
und durch staatliche Verleihung rechtsfähig wurden beispielsweise Trägervereine von Kitas und Schulen, die Betreuungs- und Unterrichtsleistungen gegen Entgelt anbieten.
In der Diskussion stehen auch Vereine, deren Gegenstand der
„Dienst am Menschen“ ist.11 Ob eine Verleihung erfolgt,
obliegt der Einzelfallentscheidung der zuständigen Behörde
nach pflichtgemäßem Ermessen; es besteht insofern Rechtsunsicherheit für die Bewerber.
cc) Umwandlung
Es stellt sich die Frage, welche Konsequenzen eine Änderung
der vom Verein betriebenen Aktivitäten hätte, wenn diese
nachträglich, d.h. nach Eintragung in das Vereinsregister als
wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb einzustufen wären. Durch
Anmeldung des Idealvereins bei dem zuständigen Amtsgericht durch den Vereinsvorstand (§§ 55, 59 BGB) und die
darauf folgende Eintragung in das Vereinsregister wird der
Verein rechtsfähige juristische Person. Eine Zurückweisung
der Anmeldung (vor Eintragung) ist gem. § 60 BGB dann
möglich, wenn die Voraussetzungen der §§ 56-59 BGB nicht
erfüllt sind. Fallen die Voraussetzungen der Eintragung in das
Vereinsregister nachträglich weg, bleibt der Verein rechtsfähig, bis der Registerrichter die Eintragung nach § 395 FamFG
7
Reuter (Fn. 3), § 22 Rn. 8, 19d.
BVerfG NJW 1998, 1166; OLG Hamm NJW-RR 2003,
899; Mansel (Fn. 4), § 21 Rn. 4, Dörner (Fn. 1), § 21 Rn. 3.
9
Reuter (Fn. 3), § 22 Rn. 55.
10
BVerwG NJW 1979, 2261.
11
Weitere Einzelbeispiele Reuter (Fn. 3), § 22 Rn. 46.
8
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ZJS 2/2016
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Rechtsformwahl und Rechtsfragen bei der Gründung eines „Social Business“
löscht. Vor der eigentlichen Löschung wird der Verein benachrichtigt. Auch hat er das Recht zum Widerspruch, vgl.
§ 395 Abs. 2 FamFG. Aus der Löschung folgt dann die Auflösung des Vereins. Eingeleitet wird ein solches Löschungsverfahren von Amts wegen, auf Anregung eines Außenstehenden (§ 24 Abs. 1 FamFG) oder auf Antrag der berufsständischen Organe (§ 380 FamFG).
Um die mit der Löschung verbundene Auflösung des
Vereins zu verhindern, müsste bei Bekanntwerden der neuen
Voraussetzungen rechtzeitig eine Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft angestrebt oder ein (rechtsunsicherer) Antrag
auf staatliche Verleihung nach § 22 BGB gestellt werden.
Der hier in Betracht kommende Formwechsel von eingetragenem Verein zur GmbH/UG ist nach § 272 Abs. 1
UmwG möglich durch notariell zu beurkundenden Umwandlungsbeschluss (§ 193 Abs. 3 S. 1 UmwG) der Vereinsmitglieder. Soll der bisherige Vereinszweck in neuer Rechtsform
fortgeführt werden, muss der Beschluss 3/4 der anwesenden
Stimmberechtigten umfassen, vgl. §§ 275 Abs. 2 S. 1, 184
Abs. 2 UmwG. Soll der Vereinszweck hingegen geändert
werden (§ 33 Abs. 1 S. 2 BGB), müssen alle Mitglieder, d.h.
sowohl die anwesenden als auch die nicht erschienenen Mitglieder, zustimmen, vgl. § 275 Abs. 1 UmwG. Des Weiteren
muss der Verein die Rechtsform einer Kapitalgesellschaft
oder eingetragenen Genossenschaft erlangen. Nach § 272
Abs. 2 UmwG ist der Rechtsformwechsel nur zulässig, wenn
die Vereinssatzung und landesrechtliche Bestimmungen12
nicht entgegenstehen.
Durch den Formwechsel werden die bisherigen Mitgliedschaften zu Anteilen an der Gesellschaft und zu Teilrechten,
vgl. § 280 UmwG. Jedoch müssen nicht alle bisherigen Mitglieder Gesellschafter werden, vgl. § 283 UmwG. Für gemeinnützige Vereine gelten i.Ü. die Vorschriften zur Abfindung (§§ 207-212 UmwG) nicht, vgl. § 282 Abs. 2 UmwG.
2. GmbH
Eine weitere Variante wäre die Gründung in der Rechtsform
einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Die
GmbH ist nur geeignet, wenn der Gesellschafterbestand auf
Dauer angelegt und nicht von häufiger Fluktuation geprägt
sein soll, da die Gesellschaft auf einen kleineren Gesellschafterkreis ausgelegt ist.
a) Gründung
Für die Gründung ist mindestens ein Gründungsgesellschafter
erforderlich, vgl. § 1 GmbHG. Außerdem ist ein Gesellschaftsvertrag im Sinne des § 3 GmbHG zu entwerfen. Dieser
ist, wie bei der Vereinsgründung, dem Finanzamt vorzulegen.
Bei der Gründung bestellt die Gründungsgesellschaft einen
oder mehrere Geschäftsführer, die die Geschäfte führen und
die Gesellschaft gegenüber Dritten vertreten, § 6 GmbHG. Es
folgt die notarielle Beurkundung des Gesellschaftsvertrages,
12
Betrifft nur kraft staatlicher Verleihung rechtsfähige Vereine; bisher keine anderweitigen, landesrechtlichen Bestimmungen ersichtlich, vgl. Katschinski, in: Semler/Stengel,
Kommentar zum UmwG, 3. Aufl. 2012, § 272 Rn. 18.
ZIVILRECHT
§ 2 Abs. 1 GmbHG. Sodann ist, sofern gewünscht, ein Antrag
auf vorläufige Anerkennung der Gemeinnützigkeit bei dem
Finanzamt zu stellen. Es folgen die Kontoeröffnung und die
Einzahlung des Stammkapitals. Das Stammkapital muss mindestens 25.000 € betragen, wovon bei Anmeldung der Gesellschaft 12.500 € eingezahlt sein müssen, vgl. § 5 GmbHG.
Schließlich erfolgt nach § 7 GmbHG die Eintragung der
Gesellschaft bei dem zuständigen Handelsregister, sowie die
steuerliche Anmeldung bei Finanzamt.
b) Verwaltung
Organe der Gesellschaft sind der oder die Geschäftsführer
(§ 35 GmbHG) sowie die Gesellschafterversammlung (§ 48
GmbHG). Die Gesellschafterversammlung ist das höchste
Entscheidungsgremium. Es lenkt die Geschäftstätigkeit und
bestimmt Leitlinien und Schwerpunkte der gesellschaftlichen
Tätigkeit. Es handelt sich hier, im Gegensatz zur vereinsrechtlichen Mitgliederversammlung, üblicherweise jedoch
nicht um einen ständig wechselnden, beliebig großen Personenkreis; der Gesellschafterbestand ist vielmehr auf Dauer
und Beständigkeit in einem überschaubaren Rahmen angelegt.
c) Vorteile
Vorteil einer GmbH ist die Wahrnehmung nach außen als
„unternehmerische“ Rechtsform, wenn die Ausgestaltung des
„Business“ im Social Business unterstrichen werden soll. Die
GmbH ist durch die überschaubare Anzahl von Gesellschaftern insgesamt handlungsfähiger. Auch können den Geschäftsführern Weisungen erteilt werden. Die GmbH steht
zudem im Eigentum der Gesellschafter, vgl. § 14 GmbHG.
d) Nachteile
Auf Grund der Erfordernisse notarieller Beurkundung der
Satzung, sowie des Eintritts der Gesellschafter geht mit der
GmbH ein höherer Gründungsaufwand einher. Dadurch sind
gleichzeitig die Gründungskosten höher als bei der Vereinsgründung. Auch im weiteren Gesellschaftsalltag sind Einund Austritte von Gesellschaftern notariell zu beurkunden.
Schließlich ergeben sich im Rahmen der laufenden Gesellschaftsverwaltung erhöhte Anforderungen an eine kaufmännische Buchführung, da die GmbH nicht nur eine Einnahmenüberschussrechnung zu erstellen hat, sondern nach dem
Handelsgesetzbuch bilanzierungspflichtig ist.
3. Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt)
Als Abwandlung bzw. Variante der GmbH kann auch eine
Gründung in der Rechtsform einer Unternehmergesellschaft
(UG) angestrebt werden. In diesem Fall muss nicht auf Anhieb ein Stammkapital von 25.000 € eingezahlt, sondern es
kann ein beliebiger, geringerer Betrag gewählt werden, vgl.
§ 5a GmbHG. Das heißt, auch ein Stammkapital von nur
einem Euro ist möglich. 25% des jährlichen Gewinns sind zur
Rücklagenbildung abzuführen, bis der Betrag von 25.000 €
erreicht (und damit eine Umwandlung in eine GmbH möglich) ist, vgl. § 5a Abs. 3 GmbHG. Bis zum Abschluss der
Rücklagenbildung im Sinne des § 5 Abs. 4 GmbHG geht
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121
AUFSÄTZE
Shila Allabaei
diese Pflicht dem steuerrechtlichen Gebot der zeitnahen Mittelverwendung (§ 55 Abs. 1 Nr. 5 AO) vor.13
Der Vorteil der UG besteht darin, dass im Fall des Scheiterns des Projekts keine großen Geldbeträge rückabgewickelt
werden müssten. Das einer GmbH auf Grund des höheren
Stammkapitals entgegengebrachte, größere Vertrauen wird
auf Grund der wahrscheinlich vorliegenden, gemeinnützigen
Zweckverfolgung wohl kein ausschlaggebendes Argument
sein, das für die sofortige Gründung in Form einer GmbH
spricht.
4. Sonderform: Ausgliederung einer GmbH durch Verein
Möglich ist auch die Gründung eines Vereins, der seinerseits
eine gemeinnützige GmbH ausgliedert. Der Verein behält die
Einordnung als Idealverein, wenn eine rechtliche und organisatorische Trennung von der Gesellschaft besteht. Dann wird
die geschäftliche Tätigkeit der Gesellschaft nicht als eigene
unternehmerische Betätigung des Vereins eingeordnet, welche ggf. nicht mit den Zwecken des Idealvereins vereinbar
wäre.14 Hierfür ist wesentlich, dass die ausgegliederte Gesellschaft ihren Gläubigern alle Sicherheiten bietet, die mit der
Rechtsform einer solchen Gesellschaft verbunden sind. Sind
diese Voraussetzungen erfüllt, ist ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb im Sinne der §§ 21, 22 BGB auch dann nicht
zu erblicken, wenn dem Verein sämtliche Anteile gehören
und er mit ihr personell in vielfacher Hinsicht verflochten ist
und geschäftsleitende Befugnisse in der von ihm allein beherrschten Gesellschaft ausübt.15
Die Ausgliederung ist solange problemlos möglich, wie
lediglich eine der Körperschaften den Status der Gemeinnützigkeit aufweisen soll. Sofern sowohl Verein, als auch ausgegliederte Gesellschaft den Status der Gemeinnützigkeit haben
sollen, können mitunter Komplikationen auftreten. Insbesondere kann es zu Problemen mit der Tatbestandsvoraussetzung
der „Unmittelbarkeit“ der Verfolgung steuerbegünstigter
Zwecke kommen, vgl. § 57 AO. Zudem kann ein im Steuerbegünstigungsrecht zulässiger Zweckbetrieb (§ 65 AO) des
Vereins einen im Sinne der §§ 21, 22 BGB nicht mehr vom
Nebenzweckprivileg umfassten wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb darstellen und der Einordnung als Idealverein entgegenstehen. Daran anknüpfend kann ein steuerfreier Zweckbetrieb
im Sinne von § 65 AO abgelehnt, und stattdessen ein steuerpflichtiger wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb (§ 14 AO) von
den Behörden angenommen werden.
meinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet
selbstlos zu fördern. Als Förderung der Allgemeinheit gesetzlich anerkannt ist insbesondere die Förderung der Hilfe für
politisch, rassisch oder religiös Verfolgte und für Flüchtlinge
(§ 52 Abs. 2 Nr. 10 AO). Außerdem muss die Zweckverfolgung den Voraussetzungen der Selbstlosigkeit (§ 55 AO),
Ausschließlichkeit (§ 56 AO), Unmittelbarkeit (§ 57 AO) und
dem danach ausgerichteten Satzungsinhalt (§ 59 AO) entsprechen. Es ist zudem zu beachten, dass die Steuerpflicht bereits im Gründungsstadium entsteht, nicht erst mit der Eintragung in das Handels- oder Vereinsregister.
Die Anerkennung als gemeinnützig führt zur Befreiung
von der Körperschaftsteuer (sonst 15% des zu versteuernden
Einkommens), Gewerbesteuer (sonst mind. 7% des Ertrags),
Grundsteuer (je nach Einheitswert), Erbschaft- und Schenkungsteuer (7-30% je nach Vermögen) und Grunderwerbsteuer (je nach Bundesland 3,5-6,5% der Bemessungsgrundlage). Die Umsatzsteuer ermäßigt sich grundsätzlich von 19%
auf 7%.
Ein bewusst herbeigeführter Ausstieg der Körperschaft
aus der Gemeinnützigkeit ist möglich und könnte durch
Zweckänderung oder Umstrukturierung erreicht werden. Damit geht allerdings auch die Beendigung der steuerbegünstigten Tätigkeit und der Eintritt in die volle Steuerpflicht einher.
Gleichzeitig würde die Gesellschaft von den gemeinnützigkeitsrechtlichen Restriktionen entbunden. Zu beachten wäre
in diesem Fall, dass Spenden nicht mehr empfangen werden
dürften. Das bisher eingenommene Vermögen unterläge auch
nachträglich der Vermögensbindung an die gemeinnützigen
Zwecke.16
2. Keine Bereicherung
In § 55 Abs. 1 Nr. 1 S. 2 AO ist geregelt, dass die Gesellschafter einer gemeinnützigen Körperschaft keine Gewinnanteile und sonstigen Zuwendungen aus Mitteln der Körperschaft erhalten dürfen. Sowohl offene als auch verdeckte Gewinnausschüttungen sind damit von vornherein untersagt.
Auch besteht ein allgemeines Begünstigungsverbot gem. § 55
Abs. 1 Nr. 3 AO sowie ein Angemessenheitsgebot.17 Ist die
Körperschaft als gemeinnützig anerkannt, gilt im Übrigen das
Prinzip der Selbstlosigkeit, § 55 AO. Hierzu gehören folgende Grundsätze:
Mittel dürfen nur für die satzungsmäßigen Zwecke verwendet werden. Die Mitglieder oder Gesellschafter dürfen
keine Gewinnanteile und in ihrer Eigenschaft als Mitglieder auch keine sonstigen Zuwendungen aus Mitteln der
Körperschaft erhalten.
Die Mitglieder dürfen im Fall der GmbH bei ihrem Ausscheiden oder bei Auflösung der Körperschaft nicht mehr
als ihre eingezahlten Kapitalanteile zurückerhalten.
Keine Person darf durch Ausgaben, die dem Zweck der
Körperschaft fremd sind, oder durch unverhältnismäßig
hohe Vergütungen begünstigt werden.
III. Sonstiges
1. Verfolgung gemeinnütziger Zwecke
Die Voraussetzungen der Anerkennung einer Körperschaft
als gemeinnützig lassen sich den §§ 51 ff. AO entnehmen.
Neben dem Erfordernis einer Körperschaft im Sinne des § 1
Abs. 1 KStG richtet sich die Gemeinnützigkeit als solche
nach § 52 AO. Eine Körperschaft verfolgt gemeinnützige
Zwecke, wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allge13
Oberbeck/Winheller, DStR 2009, 516.
BGH NJW 1983, 569 (570).
15
BGH NJW 1983, 569 (571).
14
16
Schauhoff, Handbuch der Gemeinnützigkeit, 3. Aufl. 2010,
§ 10 Rn. 130 ff.
17
Schauhoff (Fn. 16), § 9 Rn. 114 ff.
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ZJS 2/2016
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Rechtsformwahl und Rechtsfragen bei der Gründung eines „Social Business“
Bei Auflösung der Körperschaft oder bei Wegfall ihres
bisherigen Zwecks darf das Vermögen, soweit es die eingezahlten Kapitalanteile der Mitglieder übersteigt, nur für
steuerbegünstigte Zwecke verwendet werden (Grundsatz
der Vermögensbindung).
Mittel müssen grundsätzlich zeitnah für ihre steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke verwendet werden
Verstöße der Gesellschafter bzw. Geschäftsführer gegen die
Zweckbindung des Vermögens können strafrechtlich, insbesondere wegen Untreue (§ 266 StGB), geahndet werden.
Der Befürchtung, einzelne Gesellschafter könnten ihre
Anteile (gewinnbringend) weiterveräußern, kann in der Satzung zudem durch Aufnahme einer Vinkulierungsvorschrift
begegnet werden. Darin würde bestimmt, dass der Anteilsverkauf nur mit Zustimmung der übrigen Gesellschafter erfolgen darf. Auch können Gründe aufgeführt werden, aus
denen die Zustimmung verweigert werden kann.
3. Aufsicht
Unabhängig davon, ob eine Gründung in Form einer GmbH,
Unternehmergesellschaft oder als Verein erfolgt, sind keine
Aufsichtszwänge zu befürchten. So gibt es keine der „Stiftungsaufsicht“ (§§ 80-88 BGB sowie jeweilige Landesstiftungsgesetze) vergleichbare Kontrolle. Lediglich für den
Bereich von Bankgeschäften und Finanzdienstleistungen
sieht § 32 Abs. 1 KWG die Erlaubnispflicht seitens der BaFin
vor.
4. Zuwendungsbestätigung (= Spendenquittung), Sponsoring
Zuwendungen werden in § 10b EStG definiert als Spenden
und Mitgliedsbeiträge. Spenden sind freiwillige Leistungen
zur Förderung gemeinnütziger Zwecke, die ohne Anspruch
auf eine Gegenleistung gegeben werden. Die Zuwendung
muss an eine gemeinnützige Körperschaft erfolgen, d.h. die
Körperschaft muss zu diesem Zeitpunkt im Hinblick auf die
Zuwendungsbestätigung bereits gegründet sein. Zuwendungsbestätigungen können jedoch bereits dann ausgestellt
werden, wenn die Körperschaft vom Finanzamt als vorläufig
gemeinnützig erklärt wurde. Für die Bestätigungen müssen
die Mustervordrucke des BMF verwendet werden. Die Spende muss zudem unentgeltlich erfolgen, was in Fällen des sog.
Sponsoring nicht erfüllt ist.18 Das von Spenden abzugrenzende Sponsoring bezeichnet die Gewährung von Geld oder
geldwerten Vorteilen durch Unternehmen zur Förderung von
Personen, Gruppen und/oder Organisationen in sportlichen,
kulturellen, kirchlichen, wissenschaftlichen, sozialen, ökologischen oder ähnlich bedeutsamen gesellschaftspolitischen
Bereichen. Diese Leistung erfolgt jedoch nicht nur aus altruistischen Zwecken, sondern ist zugleich auf die Förderung
des eigenen Unternehmens, insbesondere durch Marketing,
gerichtet.
Sponsoring umfasst die aktive Mitwirkung an Werbemaßnahmen, indem z.B. ein Link auf der Homepage der
Körperschaft zum Sponsor führt, oder Werbeanzeigen in
Publikationen geschaltet werden. Der Status der Gemeinnützigkeit wird durch das Sponsoring nicht gefährdet. Jedoch ist
zu beachten, dass Tätigkeiten, die als wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb einzustufen sind, der Umsatzsteuerpflicht unterfallen. Kein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb und damit
umsatzsteuerfrei wäre ein Hinweis (ohne Hervorhebung/
Link) auf die Unterstützung durch den Sponsor, bzw. die
Erlaubnis an den Sponsor, selbst mit dem Namen der Körperschaft bzw. dessen Unterstützung zu werben. Nur eine am
Markt anbietende Tätigkeit führt zur Steuerpflicht. Diese
Pflicht wird durch das bloße Akquirieren von Spenden nicht
ausgelöst, da eine lediglich nachfragende, im Gegensatz zur
anbietenden, Tätigkeit vorläge.19 Sobald im Austausch von
Leistung und Gegenleistung gehandelt wird, ist ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb zu bejahen (für den im Falle des
Vereins allerdings wiederum das Nebenzweckprivileg greifen
kann).
Bei umsatzsteuerpflichtigem Sponsoring entsteht eine
Umsatzsteuer in Höhe von 19% auf die Leistung des Sponsors; dies gilt auch für Sachspenden, deren Wert durch Schätzung ermittelt wird (Ausnahme: Sachmittel ist nur geringwertiges Geschenk, d.h. der Wert liegt nicht über 35 €). Als Gegenausnahme bleibt es dabei, dass keine Umsatzsteuerpflicht
besteht, wenn es sich um Kleinunternehmer handelt (Umsätze
des vorangegangenen Jahres unter 17.500 €, geschätzter Umsatz des laufenden Jahres nicht über 50.000 €).20
IV. Ergebnis
Die Gründung des Social Business ist in der Rechtsform
eines eingetragenen Vereins, einer GmbH oder einer Unternehmergesellschaft möglich. Sofern der Zweck der Körperschaft ein „unternehmerisches Auftreten“ beinhaltet, bietet
sich die GmbH bzw. Unternehmergesellschaft an. Sofern
sämtliche Unterstützer beteiligt werden sollen, wäre eher der
Verein zu empfehlen. Beim Verein sollte aber regelmäßig
kontrolliert werden, ob die wirtschaftliche Tätigkeit noch
vom Nebenzweckprivileg erfasst ist. Ist dies nicht mehr der
Fall, kann die Körperschaft in eine GmbH umgewandelt
werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, in den Genuss
steuerlicher Befreiungen durch die Anerkennung der Körperschaft als gemeinnützig zu kommen. Bei der Entgegennahme
von Spenden sollte zudem stets die Abgrenzung zum Sponsoring beachtet werden, um nicht die auf Gemeinnützigkeit
basierenden Vorteile nachträglich einzubüßen.
19
18
Schauhoff (Fn. 16), § 11 Rn. 21 ff., 41 ff.
ZIVILRECHT
20
Reuter (Fn. 3), § 22 Rn. 28.
Schauhoff (Fn. 16), § 7 Rn. 52 ff.
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123
Der VW-Abgasskandal in der juristischen Praxis
Von Florian Fuhrmann, Erlangen*
Der Abgasskandal hat in den letzten Monaten viele Gemüter
erhitzt. Grund genug, bedenkliche Verkaufspraktiken, Äußerungen der Medien und der Betroffenen juristisch aufzuarbeiten und dabei Lösungsansätze für die Praxis und das Studium
aufzuzeigen. Ziel des Beitrages ist es, manipulierte Motorsteuerelektronik im Kauf- und Deliktsrecht greifbar zu machen. Dabei soll geklärt werden, ob diese einen Sachmangel
darstellt und ob dieser durch AGB, wie bislang in den Prospekten und Verträgen der Vertragshändler und Hersteller
üblich, ausgeschlossen werden kann. Im Anschluss daran soll
geprüft werden, ob in der relativen On-/Off-Fehlerhaftigkeit
der Software eine neue Form des Weiterfressers liegt und ob
dieser eine entschädigungspflichtige Eigentumsverletzung
begründet. Darüber hinaus soll erörtert werden, ob Ansprüche aus dem ProdHaftG und der Produzentenhaftung bestehen. Abschließend wird auf die Frage eingegangen, ob Steuerstrafzahlungen und Steuernachzahlungen einen ersatzfähigen Schaden darstellen und ob diese in einem letzten Schritt
auf den Produzent umgelegt werden können.
I. Vertragliche Probleme
1. Manipulierte Motorelektronik als Sachmangel
Als Beispiel für die folgenden Ausführungen soll ein im
Jahre 2010 hergestellter und verkaufter VW Passat Variant
dienen, der mit dem aus der Presse bekannten fehlerhaften
Motor des Typs EA 189 bestückt und für einen Listenpreis
von 30.000 € verkauft wurde.
Dabei ist davon auszugehen, dass die angegebene Abgasnorm „Euro 5 – Besonders Schadstoffarm“ nicht eingehalten
wurde. Fraglich ist, ob dies einen Sachmangel im Sinne des
§ 434 Abs. 1 S. 2 BGB darstellt.
Der Gesetzgeber hat ausdrücklich auf eine Definition des
Begriffs der „Beschaffenheit“ verzichtet, um den Parteien
einen Handlungsspielraum zu eröffnen. Damit lässt er offen,
ob der Begriff im Einzelfall nur Eigenschaften umfasst, die
der Kaufsache unmittelbar anhaften oder auch Umstände
erfasst, die ihr von außen zugewiesen werden.1 Rechtlich ist
die Beschaffenheit nicht auf physische Merkmale limitiert.
Davon ausgehend können auch der Sache anhaftende Eigenschaften wie Verbrauch und Leistung maßgeblich sein.2 Die
Abgaswerte eines Fahrzeugs sind maßgeblich für die Bemessung der Kraftfahrzeugsteuer und damit auch für die Wertbestimmung des Fahrzeuges. Des Weiteren sind die Abgaswerte
eines Fahrzeugs auch für die Nutzbarkeit des Fahrzeugs in
Umweltzonen von Bedeutung. Fahrzeugen, die die vorgegebenen Werte nicht einhalten, ist der Zugang in die Schutzräume verwehrt. Damit ist die Abgasnorm eine der Sache
* Der Autor ist Mitarbeiter am Fachbereich Rechtswissenschaften in der Serviceeinheit „Lehre und Studienberatung“
der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
1
Weidenkaff, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl.
2016, § 434 Rn. 9.
2
Weidenkaff (Fn. 1), § 434 Rn. 10.
zugewiesene Eigenschaft, die bei ihrem Nichtvorliegen einen
Sachmangel im Sinne des § 434 Abs. 1 S. 2 begründet.
2. Ausschluss der Sachmangelhaftigkeit durch AGB
Fraglich ist, ob der Verkäufer die in der Werbung angegebenen und beworbenen Eigenschaften des Kaufgegenstandes
ausschließen kann. Sowohl VW als auch der Vertragshändler
verweisen in ihren AGB auf einen „*-Zusatz“. Hierin wird
beschrieben, dass sich die Angaben zu den Abgaswerten
nicht auf das einzelne Fahrzeug beziehen, sondern nur zu
Vergleichszwecken dienen und als solche nicht Bestandteil
des Angebots und späteren Vertrages werden würden.
a) AGB-Kontrolle
Ob dies rechtmäßig ist, ist im Rahmen einer AGB-Kontrolle
zu klären. Entsprechend der gesetzlichen Definition in § 305
Abs. 1 BGB sind „Allgemeine Geschäftsbedingungen“ alle
für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierten Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen
Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt. AGB sind
demnach Regelungen die den Inhalt eines vertraglichen
Rechtsverhältnisses einseitig gestalten.3 Hieran fehlt es, wenn
die Zusätze nur unverbindliche Hinweise sind.4 Vertragshändler werden sich in der Praxis darauf berufen, dass die
Abgasnorm nur Vergleichszwecken diene. Damit könnte der
AGB-Charakter entfallen, da es sich dem Anschein nach
lediglich um einen allgemeinen Hinweis handeln könnte. Ein
allgemeiner Hinweis kann aber zur rechtlichen Vertragsbedingung werden, wenn er nach seinem objektiven Wortlaut
im Empfängerhorizont eines verständigen, rechtlich nicht
vorgebildeten Dritten, den Eindruck erweckt, dass hierin der
Inhalt eines Vertrages bestimmt werden soll.5 Vorliegend will
der Verwender einseitig unter dem Deckmantel der Vergleichbarkeit die Abgasnorm vom Vertrag ausnehmen, wodurch mittels Vertragsbedingung in den Vertragsinhalt eingegriffen wird. Damit handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen.
Der „*-Zusatz“ müsste als AGB wirksam in den Vertrag
einbezogen worden sein. Nach § 305 Abs. 2 BGB werden
Allgemeine Geschäftsbedingungen Bestandteil eines Vertrags, wenn der Verwender bei Vertragsschluss die andere
Vertragspartei ausdrücklich auf das Vorhandensein von AGB
hinweist, ihr auch die Möglichkeit verschafft, in zumutbarer
Weise von deren Inhalt Kenntnis zu nehmen und wenn die
andere Vertragspartei sich mit ihrer Geltung einverstanden
erklärt. Der Hinweis auf die AGB kann dabei schriftlich oder
mündlich erfolgen. Die Vertragshändler werden in der Regel
im Vertrag auf die umseitig abgedruckten Vertragsbedingungen hinweisen und den Kunden dadurch Möglichkeit verschaffen, von ihnen Kenntnis zu nehmen. Die Einverständ3
BGHZ 133, 187.
BGHZ 133, 187 (188).
5
Berger, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum
BGB, 10. Aufl. 2015, § 305 Rn. 19.
4
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ZJS 2/2016
124
Der VW-Abgasskandal in der juristischen Praxis
niserklärung des Käufers kann als Willenserklärung auch
konkludent erklärt werden.6 Durch Unterschrift hat sich der
Kunde konkludent mit der Geltung der umseitig abgedruckten AGB einverstanden erklärt und zwar unabhängig davon,
ob er sie gelesen hat oder nicht. Damit wurde die Klausel
gemäß § 305 Abs. 2 BGB wirksamer Bestandteil des Vertrages.
b) Unwirksamkeit der Klausel als „Überraschende Klausel“
Unwirksamkeit ist nach § 305c Abs. 1 BGB gegeben, wenn
eine Klausel von dem abweicht, was der redliche Geschäftsverkehr nach den Umständen des Vertrags erwarten kann.
Eine pauschale Unwirksamkeit nach dem „Wenn-Dann-Ausschlussprinzip“ kennt unser Gesetz nicht. Sie muss stets im
Einzelfall ermittelt werden. Die Klausel muss hierfür objektiv
verkehrsfremd (also ungewöhnlich) und für den Vertragspartner subjektiv überraschend (Übertölpelungseffekt) sein.7
Im deutschen Handel mit Kraftfahrzeugen spielen Abgaswerte eine besondere Rolle. Daher ist eine besondere
Handhabe dieser grundsätzlich nicht verkehrsfremd. Anders
verhält es sich, wenn dem Käufer dadurch essentielle Rechte
genommen werden. Auf den ersten Blick erscheint es informativ, dem Kunden die Abgaswerte einzelner Fahrzeuge zu
Vergleichszwecken zur Verfügung zu stellen. Umso ungewöhnlicher ist es, wenn genau dieser Vergleich dazu dient,
Abgaswerte zu pauschalisieren und dem jeweiligen Angebot
und späteren Vertrag zu entziehen, da jene sich nicht auf das
jeweilige Fahrzeug beziehen sollen.
Dies steht im Widerspruch zum Fahrzeugschein (Zulassungsbescheinigung Teil I), den der Käufer bei der Zulassung
erhält. Darin wird ihm zugesichert, dass sein Fahrzeug mit
der einzigartigen Fahrgestellnummer (Punkt E im Fahrzeugschein), der Abgasnorm Euro 5 (Punkt 14 im Fahrzeugschein) entspricht. Im Feld „K“ des Fahrzeugscheins steht,
dass das Fahrzeug über eine EG-Typengenehmigung verfügt,
die vom Kraftfahrzeugbundesamt (KBA) anerkannt wurde.
Dadurch soll die Einhaltung der gesetzlichen Sicherheits- und
Umweltstandards garantiert werden.
Daher ist es ungewöhnlich, dass ein für die Zulassung
wesentliches Merkmal dem Kaufvertrag einseitig durch Klausel entzogen werden soll, weshalb der objektive Tatbestand
des § 305c BGB erfüllt ist.
Der subjektive Tatbestand erfordert eine Überrumpelung
des Käufers. Zwischen den Erwartungen des Käufers und
dem Inhalt der Klausel muss eine deutliche Diskrepanz bestehen.8 Ob die Klausel überraschend ist, ist nach dem Erkenntnisstand eines Durchschnittskunden zu ermitteln. Ein
verständiger Autokäufer erwartet in AGB Regelungen zu
seinen Gewährleistungsrechten und nicht deren Ausschluss
unter dem Deckmantel der bloßen Vergleichbarkeit. Solche
Ausschlüsse sind nicht nur für Laien, sondern auch für „Kenner“ überraschend.
ZIVILRECHT
c) Unwirksamkeit der Klausel nach § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1
BGB
Für den Fall, dass eine überraschende Klausel mit dem Argument der „allgemeinen Bekanntheit“ einer solchen Regelung abgewiesen werden sollte, ist hilfsweise eine Inhaltskontrolle wegen „unangemessener Benachteiligung“ durchzuführen.
Die Prüfung einer Unwirksamkeit nach § 307 BGB ist
nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Klausel schon nicht
nach § 305c BGB Vertragsbestandteil geworden ist. Wegen
Überschneidung von § 305c BGB mit der Inhaltskontrolle ist
die Klausel unter Gesichtspunkten § 307 Abs. 1, 2 Nr. 1 BGB
weiter zu prüfen.9
Gemäß § 307 Abs. 1 BGB ist eine Regelung unzulässig,
wenn sie wesentliche Rechte einer Partei derart einschränkt,
dass die Erfüllung der Hauptleistungspflicht gefährdet ist.
Hauptleistungspflicht des Verkäufers ist es nach § 433 Abs. 1
S. 2 BGB, dem Käufer eine mangelfreie Sache zu übereignen. Im Falle der Mangelhaftigkeit stehen dem Käufer Gewährleistungsrechte zu, die ihm die Mangelfreiheit gewähren
sollen. Werden Umstände, die bei ihrem Vorliegen einen
Mangel begründen, durch AGB dem Vertrag entzogen, würden die Mängelrechte ausgehebelt werden.
Genau das geschieht durch den „*-Zusatz“ in den AGB.
Darin heißt es „Die Emissionswerte sind nach den vorgeschriebenen Messverfahren (Euro 5 VO [EG] 715/2007 in
den gegenwärtig geltenden Fassungen) ermittelt. Die Angaben beziehen sich nicht auf ein einzelnes Fahrzeug und sind
nicht Bestandteil des Angebotes, sondern dienen allein Vergleichszwecken zwischen den verschiedenen Fahrzeugtypen.“
Indem Händler die Abgaswerte durch AGB dem jeweiligen Kaufvertrag entziehen, untergraben sie die Mängelrechte
des Käufers, für den Fall, dass das Fahrzeug die Abgaswerte
nicht einhält. Damit stellt es ihn rechtslos und macht es ihm
unmöglich, die Mangelfreiheit für das Nichteinhalten der
Abgasnorm einzufordern.
Der bloße Hinweis, dass die Angabe der Abgaswerte lediglich Vergleichszwecken diene, vermag hieran nichts zu
ändern, da alle Angaben zur Kaufsache der Unterscheidbarkeit zu anderen Sachen dienen und als solche wesentlich für
die Ermittlung des festzulegenden Kaufpreises sind. Ein
Fahrzeug, das die Abgasnorm nicht einhält, hat auf dem
Markt wegen höheren Steuern für den Käufer einen geringeren Wert als eines das normkonform verkauft wird und die
Abgaswerte einhält. Der Verkäufer schließt so die Mängelrechte hinsichtlich der Emissionswerte aus, womit die Klausel unwirksam ist. Gemäß § 306 Abs. 1 BGB bleibt der Vertrag im Übrigen wirksam.
6
Berger (Fn. 5), § 305 Rn. 31.
Berger (Fn. 5), § 305c Rn. 5.
8
BGHZ 84, 112.
7
9
Grüneberg, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl.
2016, § 305c Rn. 5.
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125
AUFSÄTZE
Florian Fuhrmann
3. Probleme im Rahmen der Nacherfüllung
a) Nacherfüllung durch Inzahlungnahme des mangelhaften
Fahrzeugs?
Anders als Rücktritt und Minderung erfordert die Nacherfüllung eine unmittelbare Leistung des Verkäufers, die Kosten
verursachen kann.10 Diese treffen den Verkäufer wegen der
Vertragswidrigkeit seines Handelns nach § 433 Abs. 1 S. 2
BGB.
In Konzern- und Händlerkreisen wurde diskutiert, ob man
zum Zweck der Nacherfüllung das mangelhafte Fahrzeug in
Zahlung nehmen könnte, um damit den Absatz weiter anzukurbeln und dem Kunden ein mangelfreies Fahrzeug zu liefern.
Ein solches Vorgehen widerspricht jedoch den Grundsätzen der Nacherfüllung, da dem Kunden dadurch faktisch
Mehrkosten auferlegt würden, die er ohne die Mangelhaftigkeit nicht gehabt hätte. Der Gesetzgeber wollte den Käufer
gerade vor solchen zusätzlichen Kosten schützen, wie § 439
Abs. 1 S. 2 BGB belegt. Die Inzahlungnahme gegen Kauf
eines Neufahrzeugs ist damit unzulässig.
b) Mangelhaftigkeit der ganzen Gattung
Bei Fahrzeugen gleicher Gattung besteht die Möglichkeit
einer Ersatzlieferung nur solange diese noch lieferbar sind
oder hergestellt werden. Dabei ist jedoch zu beachten, dass
bei Mängeln, die die ganze Gattung betreffen, eine Ersatzlieferung ausscheidet, da alle Fahrzeuge der betroffenen Baureihe den gleichen Mangel aufweisen und als solche untauglich zur Nacherfüllung sind. Die Nacherfüllung für den Motor
des Typ EA 189 ist damit objektiv für alle Händler unmöglich. Beim aktuellen Stand der Technik ist nicht ersichtlich
wie die Spitzenleistungsangaben ohne weiteres abgaskonform
umgesetzt werden können.
c) Unzumutbarkeit für den Käufer
Ungeachtet der Möglichkeit der Nacherfüllung ist zu prüfen,
ob eine solche dem Käufer in Anbetracht aller Umstände
überhaupt zugemutet werden kann.
Aus Sicht des Käufers ist zu ermitteln, ob die gewählte
Art der Nacherfüllung, verglichen mit der sofortigen Geltendmachung von Schadensersatz oder der sofortigen Ausübung des Rücktrittsrechts, für ihn unzumutbar ist.11 Die
Rechtsprechung hat hierbei anerkannt, dass eine Nacherfüllung für den Käufer unzumutbar ist, wenn dieser berechtigterweise sein Vertrauen in den Verkäufer verloren hat.12 Für
den Kunden bedeutet die Mangelhaftigkeit der Sache einen
herben Vertrauensverlust in die Marke, für die sein Vertragshändler steht. Da aufgrund der Nichteinhaltung der Abgaswerte ein Erlöschen der Betriebserlaubnis des Fahrzeugs im
Raum steht, wird sich der Kunde vor jedem Kauf eines Fahrzeugs der gleichen Marke fragen, ob die Werte beim Fahrzeug eingehalten wurden. Nicht selten wird es dazu kommen,
10
Weidenkaff (Fn. 1), § 439 Rn. 9.
Schmidt, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum
BGB, 10. Aufl. 2015, § 440 Rn. 9.
12
Schmidt (Fn. 11), § 440 Rn. 9.
11
dass der Kunde von der Marke ganz abkommen wird, da sein
Vertrauen zu sehr erschüttert wurde.
Da eine Stilllegung durch Gesetz und KBA droht, muss
die Mangelhaftigkeit sofort behoben werden, da Käufer ohne
Betriebserlaubnis ihr Fahrzeug nicht mehr in Betrieb nehmen
dürfen. Damit ist die langwierige Nacherfüllung nicht mehr
zumutbar.
4. Rücktritt vom Kaufvertrag
Um wirksam vom Kaufvertrag zurücktreten zu können, muss
der Mangel erheblich sein. Ist der Beseitigungsaufwand nicht
absehbar, ist er erheblich. Dies gilt für den Fall, dass eine
Reparatur ohne Folgemängel auszulösen derzeit nicht möglich ist. Die Einhaltung der Abgasnorm ist wesentlich für die
Zulassung und damit für den Gebrauch im öffentlichen Straßenverkehr. Damit ist der Mangel erheblich.
Grundsätzlich kann vom Kaufvertrag nur nach vorheriger
Fristsetzung zurückgetreten werden. Gemäß § 323 Abs. 2
Nr. 3 BGB ist eine Frist bei Abwägung der beiderseitigen
Interessen zur Schadensbegrenzung entbehrlich und ein sofortiger Rücktritt gerechtfertigt. Der Kunde kann sofort zurücktreten.
5. Erlöschen durch Anfechtung
In Betracht kommt eine Anfechtung wegen Eigenschaftsirrtums gemäß § 119 Abs. 2 BGB, sowie wegen arglistiger
Täuschung gemäß § 123 Abs. 1 BGB. Dazu müssten die
Vorschriften §§ 119 ff. BGB neben den Gewährleistungsrechten anwendbar sein.
a) Anwendbarkeit
Im Falle der Fehleridentität sind die Regeln der Anfechtung
aus § 119 Abs. 2 BGB für den Käufer nicht anwendbar, da
mit ihnen die 2-jährige Frist für die Gewährleistungsrechte
durch eine bis zu 10 Jahre lang laufende Anfechtungsmöglichkeit unterlaufen würden. Gleiches gilt für den Verkäufer,
der sich andernfalls durch eine Anfechtung seiner Pflichten
aus der Mängelgewährleistung entziehen könnte.
Fehleridentität bedeutet, dass die verkehrswesentliche Eigenschaft zur gleichen Zeit dem Mangel der Kaufsache entspricht. Eine verkehrswesentliche Eigenschaft ist ein Attribut,
das nach der Verkehrsanschauung für die Wertschätzung oder
Verwendbarkeit der Sache von Bedeutung ist.13
Bei der Euro 5-Abgasnorm handelt es sich um einen
wertbildenden Faktor und damit um eine verkehrswesentliche
Eigenschaft. Deren Nichteinhaltung begründet zugleich den
Sachmangel, weshalb Fehleridentität gegeben ist und die
Regeln der Anfechtung des § 119 Abs. 2 BGB nicht anwendbar sind.
Fraglich ist, ob § 123 BGB neben den Gewährleistungsrechten anwendbar ist oder ob hier wie bei § 119 Abs. 2 BGB
eine Anwendung ausscheidet.
Anders als § 119 Abs. 2 BGB, der verkehrswesentliche
Eigenschaften schützt, ist es Aufgabe von § 123 BGB die
freie Willensbildungs- und Entschließungsfreiheit zu schüt13
BGHZ 34, 32 (34).
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ZJS 2/2016
126
Der VW-Abgasskandal in der juristischen Praxis
zen. Die Vorschrift beruht auf dem Grundgedanken, dass der
Wille nur frei gefasst werden kann, wenn er nicht durch Täuschung oder Drohung fremdbestimmt wurde.14 Damit hat die
Vorschrift eine andere Schutzrichtung als die Mängelgewährleistungsrechte, die dem Käufer die Mangelfreiheit gewähren
sollen. Aufgrund dieser Idealkonkurrenz sind die Regeln der
§ 123 BGB anwendbar.
b) „Arglistige Täuschung“
Das Autohaus müsste den Kunden arglistig getäuscht haben.
Der Begriff „arglistige Täuschung“ setzt, wie der strafrechtliche Betrug, eine Täuschung zum Zweck der Erregung oder
Bestehenlassen eines Irrtums voraus.15 Anders als beim Betrug bedarf es dabei weder einer Bereicherungs- noch einer
Schädigungsabsicht.
Der Kunde glaubte aufgrund der Ausführungen des Herstellers und Händlers an die Abgaskonformität und wurde
damit getäuscht. Dieser Irrtum müsste bewusst hervorgerufen
worden sein, d.h. dem Autohaus müsste insoweit Vorsatz im
Hinblick auf die Täuschung und die dadurch bedingte Irrtumserregung vorgeworfen werden können. Die Autohäuser
wussten bei Verkauf nichts von der fehlenden Abgaskonformität, weshalb der Tatbestand nicht erfüllt ist. Eine Anfechtungsmöglichkeit gemäß § 123 BGB besteht nicht. Der Anspruch ist nicht erloschen.
6. Durchsetzbarkeit
Der Anspruch müsste durchsetzbar sein, d.h. es dürfen keine
rechtshindernden Einreden bestehen. Diese Einreden sind
nicht von Amts wegen zu berücksichtigen, sondern müssen
von demjenigen, der sich darauf beruft, erhoben werden.
Kaufrechtliche Mängelansprüche verjähren gemäß § 438
Abs. 1 Nr. 2 BGB mit Ablauf von 2 Jahren nach Ablieferung
der Sache. Da der Rücktritt ein Gestaltungsrecht und kein
Anspruch ist, kann dieser grundsätzlich nicht verjähren. Gemäß § 438 Abs. 4 BGB kann das Gestaltungsrecht jedoch
nicht mehr ausgeübt werden, wenn der Primäranspruch aus
dem Kaufrecht verjährt ist. Etwaige Ansprüche gegen den
Vertragshändler sind damit für Altfälle aus 2010 bis 2012
bereits verjährt.
II. Deliktische Ansprüche gegen den Hersteller
1. § 1 Produkthaftungsgesetz
§ 1 Abs. 1 ProdHaftG statuiert eine verschuldensunabhängige
Gefährdungshaftung des Herstellers. Durch sie haftet der
Hersteller einzelner Produkte für Rechtsgutsverletzungen, die
dem Verwender durch den Gebrauch seiner Produkte entstehen. Im Falle der Sachbeschädigung gilt das nach § 1 Abs. 1
S. 2 ProdHaftG nur wenn eine andere Sache als das fehlerhafte Produkt beschädigt wird.
Der Passat Variant ist als bewegliche Sache ein Produkt
im Sinne des ProdHaftG. Nach § 3 ProdHaftG hat ein Produkt einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die
14
Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl.
2016, § 123 Rn. 1.
15
Ellenberger (Fn. 14), § 123 Rn. 2.
ZIVILRECHT
unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise
erwartet werden kann. Vorliegend kann von einem Neufahrzeug erwartet werden, dass es die erforderlichen Abgasnormen einhält, um dem Umweltschutz gerecht zu werden. Da es
das nachweislich nicht tut, ist es fehlerhaft. Dadurch müsste
eine andere Sache beschädigt worden sein. Hieran fehlt es, da
das Produkthaftungsgesetz das Fahrzeug als ein einheitliches
Produkt betrachtet, so dass das Restfahrzeug keine andere
Sache im Sinne der Vorschrift ist.
Damit ist der Tatbestand nicht erfüllt. Gemäß § 15 Abs. 2
ProdHaftG bleibt die Haftung des Herstellers aufgrund anderer Vorschriften unberührt, womit die Vorschriften des allgemeinen Deliktsrechts nicht verdrängt werden.16
2. Anspruch gegen den Hersteller VW auf Schadensersatz aus
§ 823 Abs. 1 BGB
a) Das Problem der relativen On-/Off-Mangelhaftigkeit
War bisher in der Rechtsprechung eine Sache entweder fehlerhaft oder fehlerfrei, zeigt sich im vorliegenden Fall die
Besonderheit, dass die manipulierte Steuerelektronik die
Mangelhaftigkeit des Fahrzeugs im Prüfbetrieb abschalten
kann, um nicht entdeckt zu werden. Damit handelt es sich um
einen temporären Zustand der von Normalbetrieb auf mangelhaften Betrieb umschalten kann. Diese On-/Off-Fehlerhaftigkeit ist ein Novum.
Fraglich ist, ob die On-/Off-Funktion, wenn sie auf Normalbetrieb geschaltet wird, eine Eigentumsverletzung am
Restfahrzeug begründet. Während vertragliche Ansprüche
das sog. Äquivalenzinteresse schützen, ist es Ziel des Deliktsrechts das Integritätsinteresse zu schützen. Das Kaufrecht
dient also dazu, eine mangelfreie Sache zu verschaffen, wohingegen es Aufgabe des Deliktsrechts ist, die sonstigen
Rechtsgüter des Erwerbers integer zu halten, mithin also vor
Schäden zu schützen.
Praktisch bedeutsam ist diese Unterscheidung bei sog.
Weiterfresserschäden, wenn bspw. ein Fehler an einem funktionell abgrenzbaren Teil geeignet ist, das hergestellte Endprodukt zu zerstören oder zu beschädigen.17 Soweit sich die
dadurch entstehenden Schäden nicht mit dem der Sache von
Anfang an anhaftenden Mangelunwert decken, ist ein Ersatzanspruch aus unerlaubter Handlung gegeben. Ein Anspruch
besteht daher nur, wenn das Integritätsinteresse und das Nutzungs- und Äquivalenzinteresse nicht stoffgleich sind. „Stoffgleichheit“ liegt vor, wenn sich der geltend gemachte Schaden mit dem im Augenblick des Eigentumsübergangs dem
Produkt anhaftenden Mangelunwert, d.h. der im Mangel
verkörperten Entwertung der Sache für das Äquivalenz- und
Nutzungsinteresse deckt.
Begründet wird dies damit, dass dabei von Anfang an eine fehlerhafte Sache übereignet wurde und damit gerade kein
Weiterfraß an sonstigen Rechten des Erwerbers stattfinden
kann, weshalb dessen Eigentum nicht verletzt wurde und die
Anwendbarkeit des Deliktsrechts nicht eröffnet ist.
16
Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016,
§ 15 ProdhaftG Rn. 4 f.
17
Sprau (Fn. 16), § 823 Rn. 178.
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127
AUFSÄTZE
Florian Fuhrmann
Fraglich ist, ob vorliegend ein abgrenzbarer Teil der Sache vorliegt. Solange sich das Fahrzeug im Prüfbetrieb der
Abgasmessung befindet, wird die Steuerelektronik des Motors umgeschaltet, so dass die Leistung herunter gefahren
wird, um einen schadstoffärmeren Ausstoß in der Messung zu
erzeugen. Hierdurch werden im Prüfbetrieb Werte in Bezug
auf CO, CO2, HC und NOx erzielt, die im Normalbetrieb
aufgrund der erhöhten Leistung nicht möglich sind. Das
Fahrzeug hält im Prüfbetrieb die Abgasnorm ein und ist damit hinsichtlich seines Schadstoffausstoßes mangelfrei. Lediglich das Umschalten auf die manipulierte (mangelhafte)
Steuersoftware im normalen Fahrbetrieb führt zu einem erhöhten Schadstoffausstoß und damit zur Mangelhaftigkeit
wegen Nichteinhaltung der Abgasnorm Euro 5.
Die Steuerelektronik eines Fahrzeugs besteht aus einer
auf einem Steuergerät aufgespielten Software, die aus austauschbaren Datensätzen erzeugt wird, die temporär oder
final auf einem Datenträger gespeichert und im Betrieb abgerufen werden. Als solche ist sie eine funktional vom Restfahrzeug abgrenzbare Sache, die selbständig tauschbar ist.
Damit ist zwischen dem Fahrzeug und dessen Steuerelektronik keine Stoffgleichheit gegeben. Das Deliktsrecht ist daher
anwendbar.
b) Eigentumsverletzung
Eine Integritätsverletzung des Eigentums erscheint auf den
ersten Blick fernliegend, da die On-/Off-Funktion vermeintlich nur zu einer Mangelhaftigkeit des Resteigentums und
nicht zu einer Beschädigung dessen führt.
Nach ständiger Rechtsprechung setzt eine Eigentumsverletzung einen physischen Eingriff in die Substanz durch Beschädigung nicht zwingend voraus. Vielmehr kann auch eine
nicht unerhebliche Beeinträchtigung der bestimmungsgemäßen Verwendung eine Eigentumsverletzung darstellen.18
Eine solche Beeinträchtigung kann sich aus den Folgen
des Mangels für den Eigentümer ergeben. Die Nichteinhaltung der Abgaswerte im Fahrbetrieb im öffentlichen Straßenverkehr führt gemäß § 19 Abs. 2 StVZO zum Erlöschen der
Betriebserlaubnis des Fahrzeugs, womit die Nutzbarkeit des
Eigentums mehr als nur unerheblich eingeschränkt wird, da
das Fahrzeug auf öffentlichen Straßen nicht mehr bewegt
werden darf.
Das Erlöschen muss in diesen Fällen nicht eigens von der
zuständigen Verkehrszulassungsbehörde durch Verwaltungsakt ausgesprochen werden, sondern erlischt in Fällen des § 19
Abs. 2 S. 2 Nr. 3 StVZO kraft Gesetz.19 Nach Nr. 214b Bußgeldkatalog-Verordnung (Anlage zu § 1 Abs. 1 BKatV) wird
jeder Verstoß gegen das Erlöschen der Betriebserlaubnis mit
einer Geldbuße von 90,- € pro Inbetriebnahme des Fahrzeugs
geahndet. Dass diese bislang nicht vollstreckt wird, lässt die
Tatbestandsmäßigkeit der Ordnungswidrigkeit unberührt.
Damit verliert das Fahrzeug für den Eigentümer strafbewehrt
seinen Nutzen. Dies stellt eine Beschränkung und damit Verletzung des Eigentums dar.
c) Kausalität/Adäquanz
Dass eine manipulierte Software für mehr Leistung für
schlechtere Abgaswerte aufgrund der höheren Verbrennungsenergie führt, ist nicht jenseits aller Wahrscheinlichkeit, da
eine erhöhte Kraftstoff- und Luftzufuhr einen höheren Verbrennungsausstoß erzeugt. Die Rechtsverletzung ist damit aus
der „ex ante“-Sicht adäquat kausal.
d) Rechtswidrigkeit
Nach der Lehre vom Erfolgsunrecht indiziert die Verwirklichung des Tatbestands die Rechtswidrigkeit.20 Das Streben
nach höheren Absatzzahlen ist kein zulässiger Rechtfertigungsgrund.
e) Verschulden
Verschulden setzt eine subjektive Vorwerfbarkeit voraus.
Diese muss sich auf den Tatbestand und dessen Rechtswidrigkeit beziehen. Die Vorwerfbarkeit setzt Verschuldensfähigkeit sowie Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit im Sinne des § 276 BGB voraus. Anders als im Strafrecht erfordert
Vorsatz hierbei auch das Bewusstsein, unrechtmäßig zu handeln.
Als juristische Person kann die Volkswagen AG selbst
nicht handeln. Sie nimmt durch ihre Organe am Rechtsverkehr teil. Diese bedienen sich zahlreicher Erfüllungsgehilfen
(interne und externe Entwicklerteams) zur Erfüllung ihrer
Aufgaben. Damit erfolgt eine Zurechnung nach den Grundsätzen der Organ- und Wissenstheorie nach § 31 BGB analog.21 Der Verweis auf Zulieferer ist damit unzulässig.
In den Entwicklungsabteilungen besteht Kenntnis, dass
Verbrennungen Abgase erzeugen. Das durch Anheben der
Motorleistung Werte erreicht werden, die die zulässigen
Abgasnormen überschreiten, ist in der Entwicklung den Ingenieuren als bekannt zu unterstellen, da diese die Rahmenbedingungen konzipieren, unter denen die Motoren entwickelt werden. Die Abgaskonformität kann daher nur mittels
manipulierter Steuersoftware durch Drosseln der Leistung im
Prüfbetrieb hergestellt werden. Dies erfordert, dass den Handelnden positiv bewusst ist, dass das Fahrzeug im Prüfbetrieb
die Grenzwerte normalerweise nicht einhält und deshalb
manipuliert werden muss, um normkonforme Werte zu erreichen. Dies stellt die Grundlage der Rechtsverletzung dar.
Damit handelten die Beteiligten in Kenntnis der Umstände.
Im Falle des Verschuldens einzelner Kettenglieder wird die
Verantwortung an deren Spitze getragen.22
Eine Exkulpation durch ausreichende Überwachung und
Auswahl kann hierbei nicht gelingen, da eine finale Abnahme
der Motorelektronik nach Entwicklung des Prüf- und Normalbetriebs Kernrisiko des Automobilherstellers ist.
20
18
BHGZ 138, 230; 117,183.
19
Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 19 StVZO Rn. 5.
Schaub, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum
BGB, 10. Aufl. 2015, § 823 Rn. 11.
21
Buck, Wissen und juristische Personen, 2001, S. 391.
22
Goldschmidt, Die Wissenszurechnung, 2001, S. 207 ff.
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ZJS 2/2016
128
Der VW-Abgasskandal in der juristischen Praxis
f) Schaden und Haftungsausfüllende Kausalität
Der Schaden ist grundsätzlich nach der Differenzmethode zu
ermitteln. Dabei wird die tatsächliche Lage, der Istzustand,
mit der hypothetischen Lage (Sollzustand) verglichen, die
bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis hinweggedacht werden würde. Während die haftungsbegründende
Kausalität den Zusammenhang zwischen Handlung und
Rechtsverletzung betrifft, betrifft die haftungsausfüllende
Kausalität den Zusammenhang zwischen der Rechtsverletzung und dem dadurch eingetretenen Schaden. Hierauf sind
die vorgenannten Grundsätze zu übertragen, so dass ein kausaler Zusammenhang gegeben ist. Ohne die manipulierte
Software wäre das Fahrzeug im Normalbetrieb im Straßenverkehr ohne Einschränkungen nutzbar und würde seine
Zulassung nicht verlieren.
g) Rechtsfolge
Der Schadensausgleich erfolgt gemäß §§ 249 ff. BGB grundsätzlich in Form der Naturalrestitution, d.h. dass der Zustand
herzustellen ist, den das Fahrzeug ohne die Rechtsverletzung
haben würde. Geschützt ist dabei das Integritätsinteresse.
Dem Gläubiger steht dabei ein Wahlrecht zu. Er kann
wählen, ob er gemäß § 249 Abs. 1 BGB den ursprünglichen
Zustand vom Schuldner herstellen lassen möchte, der bestehen würde, wenn der zum Ersatz verpflichtende Umstand
nicht eingetreten wäre oder gemäß § 249 Abs. 2 S. 1 BGB
vom Schuldner statt der Herstellung den dazu erforderlichen
Geldbetrag verlangen.
Für den Autokäufer bedeutet dies, dass er vom Hersteller
entweder nach § 249 Abs. 1 BGB die Beseitigung der fehlerhaften Software oder nach § 249 Abs. 2 S. 1 BGB den dafür
erforderlichen Geldbetrag verlangen kann. Falls das nicht
möglich sein sollte, ist gemäß § 251 BGB Ersatz der Folgeschäden zu leisten.
aa) Unmöglichkeit der Naturalrestitution/ Fehlerverlagerung
Würde man die Steuerelektronik abgaskonform gestalten,
behielte das Fahrzeug die Betriebserlaubnis, könnte jedoch
die angegeben Spitzenleistungen nicht mehr erbringen. Hierdurch wird faktisch durch Beseitigung der Rechtsverletzung
auf Deliktsebene ein Mangel auf Kaufebene begründet, was
nicht Ziel der Rechtsordnung sein kann.
Der Grundsatz der Naturalrestitution ist damit nicht anwendbar. In einem solchen Fall sieht die Rechtsordnung vor,
dass der Käufer Anspruch auf Ersatz des hierfür erforderlichen Wertverlustes hat. Anders als § 249 BGB, der das
Wiederherstellungs- und Integritätsinteresse ausgleicht, ersetzt § 251 BGB das Summeninteresse, welches der Wertminderung entspricht, die der Geschädigte erleidet.23 Unklar
ist, wie man eine solche Beeinträchtigung bemessen kann.
bb) Bezifferung des Umfangs der Eigentumsverletzung
Die Festsetzung der Höhe der Nutzungsausfallentschädigung
ist gem. § 287 ZPO dem Ermessen des Tatrichters unterstellt.
23
Luckey, in: Prütting/Wegen/Weinreich, Kommentar zum
BGB, 10. Aufl. 2015, § 251 Rn. 5.
ZIVILRECHT
Ein Anhaltspunkt für die Höhe des Schadens kann dabei der
übliche Mietzins eines gleichartigen Pkws sein.24 Dafür
spricht, dass dem Geschädigten eine Nutzungsentschädigung
für den Typ des Fahrzeugs zusteht, dessen Nutzung ihm entgangen ist.25 Bei einem manipulierten Fahrzeug ist dabei auf
ein fiktives normkonformes Fahrzeug abzustellen.
Da der Geschädigte das Kraftfahrzeug weiter gefahren
hat, erscheint es sinnvoll die Bezifferung des Schadens durch
eine analoge Anwendung der Nutzungsausfalltabellen von
Sanden/Danner/Küppersbusch26 vorzunehmen und dabei die
Nutzungsentschädigung mit den Vorhaltekosten zu verrechnen.
Bei einem Passat Variant 2.0 Liter BlueMotion, Baujahr
2010 belaufen sich die Vorhaltekosten je Kalendertag auf
15,99 €. Pro Jahr ergibt das einen Betrag von 5.836,35 €. Auf
5 Jahre hochgerechnet belaufen sich die Vorhaltekosten damit insgesamt auf 29.181,75 €.
cc) Vorteilsausgleich
Die Besonderheit des Abgasskandals liegt darin, dass der
Geschädigte in all der Zeit sein eigenes Kraftfahrzeug genutzt
hat, weshalb eine Kürzung wegen ersparter Aufwendungen in
Form von erspartem Eigenverschleiß für diesen Zeitraum
entfällt. Weiterhin abzugsfähig bleibt der Verzehr der Sache
durch Abnutzung durch den Eigentümer. Dies darf jedoch
nicht zu einer unbilligen Entlastung des Schädigers führen,
der dem Gläubiger den Schaden verursacht hat.27
Die Rechtsprechung hat hierzu verschiedene Formeln
entwickelt. War es früher gängige Praxis, gestaffelt Abzüge
anzusetzen (1% pro 1.000 km bis eine Gesamtlaufleistung
von 100.000 km)28, ist man in letzter Zeit dazu übergegangen, eine nutzungsäquivalente, lineare Betrachtung vorzunehmen. Daraus folgt, dass der Wert der Nutzung eines Fahrzeugs anhand des Neuwertes des Fahrzeugs und der zu erwartenden Gesamtlaufleistung zu erfolgen hat.29
Formel: Bruttokaufpreis × zurückgelegte Fahrstrecke /
voraussichtliche Gesamtlaufleistung = Gebrauchsvorteil30
Bei einer Laufleistung von 100.000 km (entspricht 20.000 km
pro Jahr bei 5 Jahren Laufzeit) folgt daraus [(30.000,00 € x
100.000 km) / 150.000 km] = 20.000,00 €.
Zieht man diesen Gebrauchsvorteil i.H.v. 20.000 € von
der dem Käufer zustehenden Nutzungsentschädigung i.H.v.
29.181,75 € ab, bleibt ein Schaden i.H.v. 9.181,75 € bestehen.
24
Schiemann, in: Staudinger Kommentar zum BGB, 2005,
§ 251 Rn. 75.
25
Schiemann (Fn. 24), § 251 Rn. 83.
26
NJW 2013, Beilage zu Heft 1/2.
27
BGHZ 54, 269 (272).
28
Gaier, in: Münchener Kommentar zum BGB, 7. Aufl.
2016, § 346 Rn. 27.
29
OLG Koblenz, Urt. v. 16.4.2009 – 6 U 574/09.
30
OLG Koblenz, Urt. v. 16.4.2009 – 6 U 574/09.
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129
AUFSÄTZE
Florian Fuhrmann
Um Ungerechtigkeiten bei der Höhe der Nutzungsentschädigung zu vermeiden, sollte die Höchstgrenze des Anspruchs
auf den Vermögenswert begrenzt werden, den der Geschädigte für die Nutzbarkeit des Eigentums aufgewendet hat. Dieser
wird regelmäßig im gezahlten Kaufpreis zu sehen sein, der
dem Käufer die spätere Nutzbarkeit der Sache als Eigentümer
einräumt.
h) Durchsetzbarkeit
Gemäß § 195 BGB beträgt die regelmäßige Verjährungsfrist
im Deliktsrecht 3 Jahre. Diese beginnt gemäß § 199 Abs. 1
BGB mit Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden
ist und der Gläubiger von den anspruchsbegründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder
ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. „Nach ständiger
Rechtsprechung ist die Kenntnis im Sinne von § 199 Abs. 1
BGB vorhanden, wenn dem Geschädigten die Erhebung einer
Schadensersatzklage und sei es auch nur in Form einer Feststellungsklage Erfolg versprechend, wenn auch nicht risikolos möglich ist. Erforderlich ist, dass der Geschädigte über
einen Kenntnisstand verfügt, der ihn in die Lage versetzt,
eine auf eine deliktische Anspruchsgrundlage gestützte Schadensersatzklage schlüssig zu begründen.“31 Der Abgasskandal ist erst im Oktober 2015 öffentlich geworden. Der Endkunde hatte vorher keine Kenntnis von der manipulierten
Software. Die 3-jährige Verjährungsfrist beginnt damit am
1.1.2016 zu laufen und endet mit Ablauf des 31.12.2018.
i) Ergebnis
Der Eigentümer hat einen Anspruch auf Schadensersatz aus
§ 823 Abs. 1 BGB i.H.v. 9.181,75 €.
3. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. den Grundsätzen
der Produzentenhaftung
Ursprünglich wurden die Grundzüge der Produzentenhaftung
in § 831 BGB entwickelt. Hintergrund hierfür war der Gedanke, dass Fehler bei übertragenen Aufgaben zur Entwicklung, Fertigung und Markteinführung nicht nur dem Hersteller selbst, sondern auch dessen Verrichtungsgehilfen unterlaufen können. Da sich der Hersteller dabei über die Exkulpationsmöglichkeit der Haftung entziehen konnte, wurde das
Instrument der Produzentenhaftung § 831 BGB entnommen
und § 823 BGB mit den Grundsätzen der Verkehrssicherungspflicht einverleibt.32
In Anbetracht der Größe des Konzerns erscheint es nicht
fernliegend, dass der Versuch unternommen werden könnte,
die Ursache der manipulierten Motorelektronik auf einen
Zulieferer und dessen Entwicklerteam abzuwälzen, um sich
selbst einer möglichen Haftung ausnehmen zu können. Nach
den Grundsätzen der Produzentenhaftung wäre ein solches
Vorgehen mit der Rechtsprechung hinsichtlich der geltenden
Rechtslage unvereinbar, weshalb im Folgenden ein direkter
Anspruch gegen den Hersteller zu prüfen ist.
Haftungsbegründende Handlung ist das Inverkehrbringen
eines fehlerhaften Produkts und damit die Nichteinhaltung
einer Verkehrssicherungspflicht. Nach der Rechtsprechung
des BGH erfasst diese Verkehrssicherungspflicht sowohl die
Konstruktions-, Produktions- als auch Markteinführungsphase33. Für den Fall, dass sich der Fehler erst nach Einführung
zeigen sollte, hat die Rechtsprechung dem Hersteller hierbei
eine weitergehende Produktüberwachungspflicht auferlegt.
Einen Haftungsausschluss gibt es nur für die Fallgruppe
der Ausreißer. Als Ausreißer gelten fehlerhafte Erzeugnisse,
wenn sie trotz aller zumutbaren Vorkehrungen unvermeidbar
sind.34 Als solche können Ausreißer mangels Verschulden
nur über das ProdHaftG, welches eine verschuldensunabhängige Haftung begründet, eingefangen werden. Vorliegend
wurde eine fehlerhafte Motorsteuersoftware für die betroffenen Fahrzeuge entwickelt und in mehreren 100.000 Fahrzeugen verbaut. Damit liegt ein Fehler in der Entwicklungsphase
vor. Eine Ausnahme in Form des „Ausreißers“ ist in Anbetracht der Umstände fernliegend.
Die Manipulation führt zum Schaden am Fahrzeug und ist
ursächlich für diesen, womit ein Ursachenzusammenhang
gegeben ist. Nach allgemeinen Darlegungs- und Beweisgrundsätzen muss der Geschädigte beweisen, dass ein Entwicklungsfehler vorliegt. Dies ist aufgrund der jüngsten Veröffentlichungen möglich geworden. Die von der Rechtsprechung entwickelte Beweislastumkehr35 führt dazu, dass
das Vorliegen einer Verkehrspflichtverletzung, deren haftungsbegründende Kausalität sowie ein Verschulden des
Produzenten vermutet wird. Dem Konzern obliegt es demnach zu beweisen, die notwendige Sorgfalt eingehalten zu
haben. Dies erscheint derzeit schwer möglich, da dem Unternehmen die Endkontrolle für Prüf- und Normalbetrieb obliegt. Die Manipulation erfolgte rechtswidrig und schuldhaft.
Der Produzent haftet daher für daraus folgende Schäden.
III. Erstattungsfähigkeit zukünftiger Steuerstrafen sowie
Steuernachzahlungen
Nach Rechtsprechung des BGH muss derjenige, der eine
Straftat oder Ordnungswidrigkeit begangen hat, die Strafe
nach ihrem Sinn und Zweck selbst tragen, indem er die ihm
auferlegte Geldbuße und Nachzahlung aus seinem eigenen
Vermögen leisten.36 Allein das schließt für sich genommen
die Ersatzfähigkeit eines Ersatzanspruchs gegen einen Dritten
begrifflich nicht aus. Die Ersatzfähigkeit könnte sich bei
Gesamtbetrachtung aller Umstände daraus ergeben, dass der
Dritte den Täter vor der Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit und deren Folgen durch richtlinienkonforme
Fertigung zu schützen hat.37 Der Hersteller eines Fahrzeugs
könnte dem Endkunden als technischen Laien gegenüber
verpflichtet sein, diesen davor zu bewahren, dass er seine
eigenen öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen dem Finanz-
33
Schaub (Fn. 20), § 823 Rn. 180 ff.
Schaub (Fn. 20), § 823 Rn. 184.
35
BGHZ 51, 91.
36
BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09.
37
BGHZ 23, 222 (225).
34
31
32
BGH VersR 2008, 129.
BGHZ 51, 91.
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ZJS 2/2016
130
Der VW-Abgasskandal in der juristischen Praxis
ZIVILRECHT
amt gegenüber vernachlässigt, weil er auf die Abgaskonformität seines Fahrzeugs vertrauen.
Begeht der Endkunde allein bspw. durch Umrüstung seines Fahrzeugs durch Chiptuning eine vorsätzliche Steuerhinterziehung, kann er die steuerstrafrechtlichen Folgen nicht
auf den Hersteller abwälzen, da er den Umstand durch Veränderung des Fahrzeugs selbst verursacht hat.
Anders muss es sich verhalten, wenn der Grund für die
leicht fahrlässige Steuerverkürzung und Geldbuße aus dem
Lager des Herstellers rührt. Dieser hat nach Durchlaufen des
EG-Genehmigungsverfahrens für die Abgaskonformität des
Fahrzeugs einzustehen, sofern dieses nicht nachträglich vom
Käufer verändert wurde. Die Geldstrafe und Nachzahlung ist
damit ein nach § 249 BGB erstattungsfähiger Schaden, der
dem Käufer dadurch entstanden ist, dass er auf die Rechtmäßigkeit der Angaben des Herstellers vertraut hat. Als solcher
ist die Strafe im vollen Umfang ersatzfähig und kann rechtlich auf den Hersteller umgelegt werden.
IV. Fazit
Der Abgasskandal belebt alte Probleme und stellt das Recht
vor neue Herausforderungen, die neben Problemen der Praxis
auch Probleme für kommende Klausuren im Studium offenbart. Obwohl die Altfälle von 2010 bis 2012 kaufrechtlich
bereits verjährt sind, bietet das Deliktsrecht einen Rückgriff
auf den Hersteller, der bei momentaner Rechtslage ggf. auch
für Steuerstraf- und Nachzahlungen der Endkunden aufkommen muss.
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131
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
Beiträge zum Medienstrafrecht – Teil 2*
Von Prof. Dr. Manfred Heinrich, Kiel
Im Rahmen des allgemeinen Strafrechts (d.h. außerhalb des
Regelungsbereichs des Jugendschutzgesetzes) ist die Strafbarkeit des Umgangs mit „einfacher“ bzw. „weicher“ Pornografie nach heutiger Gesetzeslage allein in § 184 StGB
geregelt (im Hinblick auf Rundfunk und Telemedien freilich
ergänzt durch § 184d Abs. 1 StGB), wohingegen die „harte“
Pornografie (Gewalt-, Tier-, Kinder- und Jugendpornografie) zum Gegenstand der §§ 184a, 184b, 184c StGB erhoben
wurde. Während der kommunikative Umgang mit letzterer
weitestgehend untersagt ist – bis hin zur Strafbarkeit schon
des Besitzes bei Kinder- und Jugendpornografie (§§ 184b
Abs. 3, 184c Abs. 3 StGB) – ist derjenige mit einfacher Pornografie unter Erwachsenen grundsätzlich straffrei und dient
§ 184 StGB im Wesentlichen nur dem Jugendschutz.
I. Der Pornografie-Begriff des § 184 StGB
Im Zentrum der Problematik des § 184 StGB steht die Frage,
was eigentlich unter „Pornografie“ im Sinne dieser Vorschrift
zu verstehen ist – angesichts fehlender gesetzlicher Definition1 eine höchst umstrittene Frage2, deren sicheren Beantwortung Grenzen gesetzt sind3: Die Antwort ist nämlich in starkem Maße von der Einstellung abhängig, mit welcher der
Sexualität zur jeweiligen Zeit in der Gesellschaft begegnet
wird4. So ging man bis zur Neufassung des § 184 StGB im
* Dieser Beitrag ist der zweite einer Reihe von Beiträgen des
Autors zum Medienstrafrecht, die sukzessive in der ZJS erscheinen. Thematisch sollen dabei insbesondere Besonderheiten der Verjährung, die Verbreitung pornographischer Schriften sowie im medialen Kontext bedeutsame Staats- und Friedensschutzdelikte behandelt werden. Der erste Beitrag – zu
Besonderheiten der Verjährung im Pressestrafrecht – ist in
ZJS 2016, 17 erschienen. Der zweite Beitrag wird in der im
Juni erscheinenden Ausgabe 3/2016 fortgesetzt.
1
Zum bewussten Verzicht des Gesetzgebers auf eine Legaldefinition vgl. BT-Drs. 6/3521, S. 60.
2
Vgl. hierzu bereits M. Heinrich, in: Rotsch/Brüning/Schady
(Hrsg.), Strafrecht – Jugendstrafrecht – Kriminalprävention
in Wissenschaft und Praxis, Festschrift für Heribert Ostendorf zum 70. Geburtstag am 7. Dezember 2015, 2015, S. 399
(404 ff.); einen Überblick über die verschiedenen Ansätze
und Kriterien geben Schroeder, Pornographie, Jugendschutz
und Kunstfreiheit, 1992, S. 16 ff.; Schreibauer, Das Pornographieverbot des § 184 StGB, 1999, S. 116 ff.; Ostendorf,
MSchrKrim 2001, 372 (376 ff.); Laubenthal, Handbuch Sexualstrafrecht, Die Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, 2012, Rn. 897 ff.
3
Vgl. Ostendorf, MSchrKrim 2001, 372 (384): „Der Pornografiebegriff […] kann auch mit Hilfe der juristischen Auslegungsmethoden […] nur in seinem Kern bestimmt werden.“
4
Vgl. Ostendorf, MSchrKrim 2001, 372 (384); Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 901, 907; siehe auch Eisele, in: Schönke/
Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014,
Jahre 19735 – im Einklang mit der damaligen Überschreibung
des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des StGB mit „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ – im Rahmen
des § 184 StGB a.F. noch vom Begriff der „unzüchtigen
Schrift“ aus. Demgegenüber ist nach heutigem Verständnis
der diesen ersetzende Begriff der „pornografischen Schrift“
– ganz im Zeichen wiederum der jetzigen Zusammenfassung
der im 13. Abschnitt enthaltenen Delikte als „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“6 – nunmehr aus jener
überkommenen, in unmittelbarer wertungsmäßiger Anbindung an die Kategorien von Moral und „guten Sitten“ erstarrten Verankerung herausgelöst7.
1. Die Tendenzkonzeption der h.M.
Als von vornherein untauglich wären bzw. sind daher jedenfalls solche (heute denn auch in Schrifttum und Rechtsprechung nicht mehr ernsthaft vertretenen) Begriffsausfüllungen zu erachten, die, allein an moralisch-sittlich orientierten Bewertungsmaßstäben bemessend (und damit im Ergebnis kaum anders, als bei dem auf „Scham- und Sittlichkeitsgefühl eines normalen Menschen“ abstellenden8 Begriff „unzüchtig“), „Pornografie“ etwa in eins setzen wollten mit
„obszöner (im Sinne von unanständiger, schamloser, schlüpfriger) Darstellung geschlechtlicher Vorgänge“9. Nach wie vor
richtig ist daran lediglich, dass pornografische Darstellungen
einerseits einen Sexualbezug aufweisen müssen (so dass etwa
reine Gewaltdarstellungen als solche nicht pornografisch
sind), ein solcher andererseits aber noch nicht per se zur
Annahme von Pornografie genügt, und zwar noch nicht einmal bei Darstellung der Genitalien oder gar des Geschlechtsverkehrs10.
Der Gesetzgeber des heutigen § 184 StGB ging vielmehr
von einer Neuorientierung dahingehend aus, dass unter „Pornografie“ zu verstehen seien: „Darstellungen, die 1. zum
Ausdruck bringen, daß sie ausschließlich oder überwiegend
auf die Erregung eines sexuellen Reizes bei dem Betrachter
abzielen und dabei 2. die im Einklang mit allgemeinen ge§ 184 Rn. 8 mit Hinweis auf den „durch das Kommunikationszeitalter bedingte[n] gesellschaftlichen Wandel“.
5
Änderung durch Art. 1 Nr. 16 (mit Übergangsregelung in
Art. 12 Abs. 3) des 4. StrRG v. 23.11.1973 = BGBl. I 1973,
S. 1725; zum Inkrafttreten vgl. Art. 12 Abs. 2 des Gesetzes.
6
Änderung ebenfalls durch das 4. StrRG (vgl. soeben Fn. 5);
insoweit in Kraft ab dem 28.11.1973, vgl. Art. 12 Abs. 1 des
Gesetzes.
7
Vgl. aber Laubenthal (Fn. 2), Rn. 900: „[…] erscheint der
Begriff der Pornographie kaum klarer“.
8
BGHSt 5, 346 (349); 23, 40 (41 f., zur „Unzüchtigkeit“ des
Buchs „Die Memoiren der Fanny Hill“).
9
So noch Duden, Bd. 5 – Fremdwörterbuch, 3. Aufl. 1974,
Stichworte „Pornographie“ und „obszön“.
10
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 898; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 10
m.w.N.; vgl. etwa das Beispiel hier im Text bei Fn. 42.
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ZJS 2/2016
132
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
sellschaftlichen Wertvorstellungen gezogenen Grenzen des
sexuellen Anstandes eindeutig überschreiten“11.
Diese wegen des Aspekts der Stimulierungstendenz sog.
Tendenzkonzeption12 ist von der Rechtsprechung ebenso
rezipiert worden wie von Teilen des Schrifttums13, wobei
jedoch der BGH eine partielle Umorientierung – bzw. in
seinen eigenen Worten: Weiterentwicklung14 – weg von der
Anstandsverletzung und stattdessen hin zu einem Aufdringlichkeitskriterium vornimmt: Pornografie im Sinne von „Darstellungen […], die unter Hintansetzung sonstiger menschlicher Bezüge sexuelle Vorgänge in grob aufdringlicher,
aufreißerischer Weise in den Vordergrund rücken und ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung sexueller
Reize abzielen“15. Dieses Ersetzen der in hohem Maße wertausfüllungsbedürftigen Formel „Grenzen des sexuellen Anstandes“, in welcher sich das schon beim Unzüchtigkeitsbegriff zu beklagende „Dilemma der Toleranzgrenze“ nahezu
unverändert fortsetzt16, ist insofern zu begrüßen, als es eine
aufgrund jener Formel zu besorgende bruchlose Rückkehr zu
sittlich-moralischen Kriterien17 zu hindern vermag.
In der Tat geht es gerade darum, einen Pornografiebegriff
aufzuspüren, der in möglichst weitgehender Umsetzung des
in der Überschrift des 13. Abschnitts des Besonderen Teils
zum Programm erhobenen Wandels (auch) des § 184 StGB
vom Delikt „wider die Sittlichkeit“ hin zur Straftat „gegen
die sexuelle Selbstbestimmung“ eben weder offen, noch
versteckt dem Schutze der Sittlichkeit verhaftet, sondern mit
hinreichender Treffsicherheit dem der sexuellen Selbstbestimmung verschrieben ist. Ganz in diesem Sinne ist denn
etwa auch Fischer zuzustimmen, wenn dieser – freilich eher
programmatisch – erklärt18: „Pornografie ist […] nicht das
11
BT-Drs. 6/3521, S. 60; vgl. hierzu auch Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 901, 905, 906 ff.
12
Begriff etwa bei Schroeder, Das neue Sexualstrafrecht,
1975, S. 64; Schreibauer (Fn. 2), S. 118; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 906 f.
13
Vgl. Heger, in: Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 184 Rn. 2; Laufhütte/Roggenbuck, in:
Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 6, 12. Aufl. 2009, § 184
Rn. 7; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 8; Otto, Grundkurs Strafrecht, Besonderer Teil, 7. Aufl. 2005, § 66 Rn. 100; Hörnle,
in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum
Strafgesetzbuch, Bd. 3, 2. Aufl. 2012, § 184 Rn. 17 (siehe
auch a.a.O., Rn. 25: „Masturbationsvorlage“).
14
BGHSt 37, 55 (60).
15
BGHSt 37, 55 (59 f. m.w.N.); seither gängige Rspr. (vgl.
dazu das Zitat hier im Text bei Fn. 40).
16
Vgl. Schroeder (Fn. 12), S. 64; Schreibauer (Fn. 2),
S. 118 f.; siehe auch Schroeder (Fn. 2), S. 17, 22.
17
I.d.S. krit. zu jener Formel auch Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 901, 907, 913; Schumann, in: Eser (Hrsg.), Festschrift für
Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998, S. 565 (571).
18
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
63. Aufl. 2016, § 184 Rn. 7b; zum Schutzgut des § 184 StGB
siehe auch Renzikowski, in: Joecks/Miebach (Fn. 13), Vor
§§ 174 ff. Rn. 49.
STRAFRECHT
‚Unanständige‘ an sich; der Begriff muss sich vielmehr an
den Grenzen orientieren, die das Rechtsgut der sexuellen
Selbstbestimmung setzt“.
2. Ein weiterer Ansatz: die Objektkonzeption
Wenn nun im Bemühen um eine Umsetzung des eben Gesagten darauf abgestellt wird, dass der pornografische Charakter
in erster Linie aus einer Inhumanität des Dargestellten, gar
einer Verletzung der Menschenwürde resultiert19 (sog. Objektkonzeption, d.h.: Degradierung des Menschen zum auswechselbaren Objekt sexueller Begierde), so ist das durchaus
ein Schritt in die richtige Richtung: Pornografie verstanden
als „die Darstellung entpersönlichter sexueller Verhaltensweisen, die die geschlechtliche Betätigung von personalen
und sozialen Sinnbezügen trennt und kein personales Anerkennungsverhältnis, sondern eine Subjekt-Objekt-Beziehung
zum Ausdruck bringt“20.
Aber auch bei diesem Ansatz steht angesichts der unabweislichen Notwendigkeit, in concreto zu benennen, wann
genau eine Darstellung als „entwürdigend“ zu betrachten ist
(auch bei Oralverkehr? Analverkehr? Gruppensex mehrerer
Männer mit einer Frau?21 überhaupt schon bei Darstellung
jeder – wovon genau? – „abweichenden“ Sexualpraktik?),
einerseits eine „Verwischung mit Moralvorstellungen“ zu
befürchten22, der sich wiederum andererseits nur dadurch
begegnen lässt, dass man sich mittels (zu!) weitgehender
Beschränkung auf den angesichts fortschreitender sexueller
Liberalisierung immer weiter schrumpfenden Bestand dessen
zurückzieht, „was eindeutig gegen die Würde verstößt“23.
3. Die Orientierung am Schutzzweck der Norm
Überzeugender als die Tendenzkonzeption der h.M. (oben 1.)
und die zu Recht von ihr abrückende Objektkonzeption (soeben 2.) erscheint mir24 eine dezidiert schutzzweckorientierte
19
Dreher, JR 1974, 45 (56); näher und krit. hierzu Laubenthal (Fn. 2), Rn. 908 f.; Schreibauer (Fn. 2), S. 122 f.
20
Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 7b (Hervorhebung im Original); ähnlich Ostendorf, MSchrKrim 2001, 372 (385 These 2).
21
Vgl. zu den vorstehenden Beispielen Wolters, in: Wolter
(Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch,
136. Lfg., Stand: Oktober 2012, § 184 Rn. 5; siehe auch
Schroeder (Fn. 2), S. 20, 30.
22
So ganz richtig Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5; siehe auch
Schreibauer (Fn. 2), S. 123.
23
Hierauf hinweisend Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5 (Hervorhebung im Original); krit. auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 915.
24
Ganz im Einklang mit dem von mir schon in Heinrich u.a.
(Hrsg.), Strafrecht als Scientia Universalis, Festschrift für
Claus Roxin zum 80. Geburtstag am 15. Mai 2011, Bd. 1,
2011, S. 131 (148 ff.) entwickelten und im Einzelnen dargelegten „Drei-Stufen-Schema des Rechtsgüterschutzes“, das
auf folgenden Fragen aufbaut: Was soll geschützt werden?
Wer soll geschützt werden? Wovor soll geschützt werden?
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133
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
Interpretation25, die sich strikt an den Fragen orientiert, was
das Schutzgut des jeweiligen Tatbestandes ist (hier: die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung), wer durch ihn in Bezug auf diese Freiheit und wogegen genau er geschützt sein
soll.
a) Die Frage nach dem wer ist zumindest im Rahmen des
§ 184 StGB (bei den §§ 184a/b/c StGB mag es insoweit anders aussehen26) dahingehend zu beantworten, dass nach Sinn
und Zweck der Norm weder – wie aber letztlich in den Augen
der soeben (unter 2.) besprochenen Objektkonzeption im
Hinblick auf die Inhumanität des Dargestellten bzw. die
Menschenwürdeverletzung – abstrakte Werte als solche, noch
die (typischer Weise ja freiwillig agierenden erwachsenen)
Akteure der pornografischen Darstellungen geschützt sein
sollen (deren – i.d.R. nicht benötigter – Schutz sich ggf. aus
§§ 177, 240 StGB ergeben mag), sondern die Adressaten –
soweit sie entweder Jugendliche sind oder aber Erwachsene,
die nicht auf Schritt und Tritt mit pornografischen Erzeugnissen konfrontiert sein wollen (zu eben diesen Schutzausrichtungen des § 184 StGB näher noch unten III. 1.).
Ist man sich demgemäß darüber im Klaren, wer durch die
Verbote des § 184 StGB geschützt werden soll, ist es bei der
Frage nach dem wovor zumindest in abstracto nicht schwierig
einzugrenzen, vor welchen Anbrandungen die betreffenden
Personen geschützt werden sollen: die Jugendlichen vor Darstellungen, die in erhöhtem Maße geeignet erscheinen, nachteiligen Einfluss auf ihre sexuelle Entwicklung zu nehmen27,
und die konfrontationsunwilligen Erwachsenen zumindest
vor Darstellungen, die eindeutig über das hinausgehen, was
im Einklang mit den allgemeinen gesellschaftlichen Wertvorstellungen steht und von daher von jedermann hingenommen
werden muss28.
b) Dass damit freilich noch keine trennscharfe Abgrenzung gefunden ist, ist offenkundig29. Nach wie vor bleibt es
von daher eine nicht einfach zu lösende Aufgabe30, mittels
handhabbarer Kriterien den „Verlauf der Toleranzgrenze“31
so zu bestimmen, dass einerseits den Schutzbestrebungen des
§ 184 StGB Genüge getan wird, andererseits aber nicht durch
die Hintertüre doch wieder eine originär an Sitte und Moral
orientierte Bewertung Einzug hält. Der Vorteil der hier favo25
So insb. auch Schroeder, in: Maurach/Schroeder/Maiwald,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 10. Aufl. 2009, 23/4 ff.;
ders. (Fn. 2), S. 21 ff., Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5.
26
Insb. bei § 184b StGB wird dem Darstellerschutz wesentliche Bedeutung zugemessen, vgl. nur Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 13), § 184 Rn. 2.
27
I.d.S. Schroeder (Fn. 2), S. 27 ff.; Eschelbach, in: Matt/
Renzikowski (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013,
§ 184 Rn. 13; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5.
28
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5: was „praktisch unbestritten
ist“; siehe auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 912 (krit. Rn. 913).
29
Näher Laubenthal (Fn. 2), Rn. 914 ff.; siehe auch Wolters
(Fn. 21), § 184 Rn. 6 zur Suche nach Indiz-„Umständen“.
30
Vgl. nur die ausführliche Suche nach „Indizien“ bei
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 899, 918 ff.
31
So die Überschrift bei Laubenthal (Fn. 2), vor Rn. 914; vgl.
schon Hanack, NJW 1974, 1 (7).
risierten rechtsgutsbezogenen Betrachtungsweise liegt jedoch
erkennbar darin, dass nicht schon der Ausgangspunkt der
Bewertung umnebelt bleibt – und damit der weiteren Ausformung kaum wirklich dienlich zu sein vermag –, sondern
mittels ihrer vergleichsweise klaren Konturen immerhin ein
Gerüst errichtet wird, das tragfähig genug erscheint, der im
Detail im Rahmen konkreter Fallgestaltung noch vorzunehmenden Ausfüllung eines sachgerechten Pornografiebegriffs
den erforderlichen Halt zu geben.
Aus der soeben erwähnten Orientierung am Gedanken des
Jugendschutzes lässt sich, da unter der Ägide des Grundgesetzes Ziel staatlichen Jugendschutzes jedenfalls sein muss,
„das Entstehen von Einstellungen zu verhindern, die dem von
der Anerkennung der Menschenwürde bestimmten Menschenbild des Grundgesetzes widersprechen“32, als erstes
ableiten, dass zumindest solche Darstellungen unmittelbarer
sexueller Interaktion pornografisch sind, die entweder eine
(schon per se das Rechtsgut sexueller Selbstbestimmung
verletzende) Straftat nach §§ 174 ff. StGB zum Gegenstand
haben33, oder die in sonstiger Weise „nicht gleichwertige,
einverständlich agierende Sexualpartner zeigen, sondern
Nötigungen, Täuschungen oder die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen“34, denn: „Konstituierende Faktoren der
Menschenwürde sind Unverfügbarkeit und Freiheit, Autonomie und Personqualität. Verletzt wird sie demnach, wenn die
Subjektqualität eines Menschen negiert oder seine Autonomie mißachtet wird, wenn er zum für andere verfügbaren
bloßen Objekt, zur vertretbaren Größe, herabgewürdigt wird,
seine Gleichwertigkeit mit anderen Menschen geleugnet oder
er verächtlich behandelt wird“35.
Darüber hinaus ist aber zweitens für das Gebiet der Sexualität Aufgabe des Jugendschutzes auch, „Fehlentwicklungen vorzubeugen, die aufgrund verfälschter Bilder von männlichem und weiblichem Sexualverhalten entstehen können,
auch wenn das Gezeigte einverständliche Sexualität ist“36.
Als pornografisch sind mithin auch solche Darstellungen
sexueller Vorgänge einzustufen, die „Interaktionsmuster […]
vermitteln […], die sozialen und biologischen Realitäten
nicht entsprechen und deren Nachahmung zu Schwierigkeiten
führen muss“37 – Darstellungen etwa, die in überzogener
Weise eine nie versiegende sexuelle Leistungskraft oder die
beständige Verfügbarkeit von Sexualpartnern bzw. deren
jederzeitige Bereitschaft zu jedweder auch nur immer gewünschten sexuellen Betätigung vorgaukeln.
Ob schließlich drittens auch unterhalb der soeben skizzierten Schwelle angesiedelte Darstellungen als pornogra32
So ganz richtig Schumann (Fn. 17), S. 577; hierzu auch
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5.
33
Vgl. (dabei auch die Prostitution nennend) Schroeder
(Fn. 2), S. 28 (aa, bb); Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5.
34
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 21; siehe auch Schroeder
(Fn. 2), S. 28 (unter bb).
35
Schumann (Fn. 17), S. 579 f.
36
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 21; siehe auch Schroeder
(Fn. 2), S. 29 (Überbewertung der Sexualität im Leben).
37
So ganz richtig Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 21; siehe auch
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5, 6.
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ZJS 2/2016
134
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
fisch zu begreifen sind – etwa in Richtung auf die vom BGH
vertretene modifizierte Tendenzkonzeption hin (vgl. oben 1.)
–, ist eine gewiss nicht einfache Frage, deren Beantwortung
jedoch ebenfalls an den Schutzerfordernissen des § 184 StGB
zu bemessen ist. Ich selbst neige dazu, die Frage zumindest
dem Grundsatze nach zu bejahen, nicht zuletzt schon deswegen, weil Jugendschutz doch (wie ich meine: vor allem) auch
Kinderschutz bedeutet, was zu der Überlegung führt, dass es
bei der Betrachtung der Auswirkungen sexuell konnotierter
Darstellungen nicht damit getan sein kann, nur – immerhin
zumindest bereits in der Pubertät stehende (oder gar nachpubertäre) und damit dem Konzept des Sexuellen nicht per se
noch völlig fernstehende – Jugendliche in den Blick zu nehmen – unter sachwidriger Nicht-Beachtung der in ihrer sexuellen Entwicklung noch weniger weit vorangeschrittenen
Kinder. Naheliegend erscheint es vielmehr, den Kreis der zur
Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung tauglichen Darstellungen im Hinblick auf Kinder (gerade auch jüngere Kinder) dementsprechend weiter zu fassen, etwa durch Einbeziehung auch von Darstellungen, die geeignet sind, bei ihnen
Angst oder Ekel hervorzurufen38 – mit der Folge entsprechend ausgedehnterer Umgrenzung eines am Jugend- und
Kinderschutz orientierten Pornografiebegriffs. Überdies wäre
damit auch dem Aspekt des Konfrontationsschutzes (vgl.
oben a) in weitreichendem Umfang Genüge getan.
4. Der Pornografiebegriff in der gerichtlichen Praxis
Ungeachtet jener soeben geschilderten Differenzen unterschiedlicher Bewertungsansätze – welche übrigens trotz unterschiedlicher Herangehensweise im Ergebnis gar nicht allzu
weit auseinander liegen – ist jedoch festzuhalten, dass die
gerichtliche Praxis im Kern nach wie vor auf den Spuren der
oben (in Abschnitt 1.) vorgestellten, vom BGH „weiterentwickelten“ Tendenzkonzeption wandelt und demgemäß das
Wesen der Pornografie letztlich in einer Verabsolutierung
sexuellen Lustgewinns und der Entmenschlichung der Sexualität verortet39. Insoweit ist im Vorfeld der nachfolgenden
Darstellung noch einmal daran zu erinnern: „Pornographie
liegt nach der Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte vor, wenn eine Darstellung unter Ausklammerung
aller sonstigen menschlichen Bezüge sexuelle Vorgänge in
grob aufdringlicher Weise in den Vordergrund rückt und ihre
Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf die Erregung eines sexuellen Reizes abzielt“40.
Wichtig – und richtig – ist aber jedenfalls (auch) auf dieser Grundlage, dass bei der konkreten Beurteilung einer Darstellung als „pornografisch“ stets eine Gesamtwürdigung vorzunehmen ist41; nicht also genügt es, nur einzelne explizite
bzw. besonders „drastische“ Merkmale, Bilder oder Szenen
herauszugreifen und isoliert zu bewerten. Dies soll ein im
Hinblick auf die Berücksichtigung der verschiedenen Beur38
Vgl. hierzu Schroeder (Fn. 25), 23/6 m.w.N.; Hörnle
(Fn. 13), § 184 Rn. 18; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 5.
39
So explizit Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 8.
40
KG NStZ 2009, 446 (447).
41
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 929: „stets auf die Typik des Gesamtwerks abzustellen“; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 10.
STRAFRECHT
teilungskriterien höchst instruktives Beispiel aus der Rechtsprechung illustrieren, in dem es um einen nach (richtiger)
Auffassung des Gerichts nicht pornografischen Kalender
geht, in dem Männer mit erigiertem Penis dargestellt werden42:
„Es kann dahinstehen, ob die zur Bebilderung eines Kalenders verwendeten Fotos überhaupt auf eine sexuelle Stimulation des Betrachters abzielen. Denn die Darstellungen
sind insgesamt nicht von einer Verabsolutierung sexuellen
Lustgewinns unter Außerachtlassung sämtlicher individueller
und emotionaler Bezüge gekennzeichnet. Die abgebildeten
Personen sind vielmehr unter Berücksichtigung ihrer Individualität abgelichtet worden. Es ist offensichtlich Wert darauf
gelegt worden, Männer unterschiedlicher Nationalität zu
präsentieren. Unterschiede hinsichtlich Hautfarbe, aber auch
Haarschnitt und Bartwuchs sind deutlich erkennbar dargestellt. […] Da die Kalender ausschließlich aus Ganzkörperfotos bestehen und auch nur ein Mann pro Bild zu sehen ist,
treten diese individuellen Merkmale auch nicht hinter anderen Aspekten wie der Nacktheit oder der Tatsache, dass die
Männer einen erigierten Penis haben, zurück. Ihnen kommt
aufgrund der Gesamtgestaltung des einzelnen Fotos aber auch
des gesamten Kalenders eigenständige Bedeutung zu. Daraus
folgt zugleich, dass die abgebildeten Männer nicht zu auswechselbaren Objekten degradiert werden. Eine solche Herabwürdigung wird von den Bildern auch deshalb nicht vermittelt, weil die abgebildeten Personen […] einen ausgesprochen selbstbewussten Eindruck machen. Sie präsentieren
ihren gesamten Körper mit Stolz. Eine ‚Entmenschlichung‘
von Sexualität […] liegt daher nicht vor. Darüber hinaus ist
auch das Kriterium einer aufdringlichen, vergröbernden oder
‚anreißerischen‘ Darstellung zu verneinen. Dies ergibt sich
insbesondere aus der Tatsache, dass dem jeweils abgebildeten
erigierten Penis zumindest optisch keine hervorgehobene
Bedeutung zukommt. […] Eine aufdringliche Hervorhebung
wird auch nicht durch entsprechende Gesten oder Stellungen
erzeugt. Die abgebildeten Personen nehmen überwiegend
recht natürliche Haltungen ein, die vor allem den muskulösen
Oberkörper betonen.“
Über diese Orientierung im Sinne einer Gesamtwürdigung hinaus ist noch zu beachten, dass es bei der Beurteilung
einer Darstellung als „pornografisch“ nicht auf die Intention
ihres Herstellers bzw. Verwenders ankommt, sondern auf
ihren objektiven Aussagegehalt43. Auch ist darauf hinzuweisen, dass die Darstellung selbst pornografisch sein muss, so
dass für die Feststellung ihres pornografischen Charakters
(anders freilich für die Frage nach der Verwirklichung der
jeweiligen Tathandlung) weder die Art und Weise ihrer Verwendung, noch deren Zweck von Bedeutung sind – und
42
KG NStZ 2009, 446 (448); siehe auch BGH UFITA 80,
203 und 208 zu den Filmen „Im Reich der Sinne“ (der mit
dem Prädikat „besonders wertvoll“ ausgezeichnet wurde!)
und „Die 120 Tage von Sodom“.
43
Vgl. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 8; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 17; Hilgendorf, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 184
Rn. 9.
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135
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
ebenso wenig der Adressatenkreis, an den sie sich in concreto
richtet44.
II. Kunst und Pornografie
In zwei richtungweisenden Entscheidungen45 haben der BGH
und das BVerfG in aller Klarheit dargetan: Kunst und Pornografie schließen einander nicht aus46. Anders als nach der bis
dahin überwiegend vertretenen sog. Exklusivitätstheorie47
geht es im Hinblick auf die Einordnung einer Darstellung als
„Kunst“ also nicht um die Frage, ob es sich um Pornografie
oder Kunst handelt, sondern darum, ob der gem. §§ 184 ff.
StGB tatbestandsrelevante Umgang mit einer pornografischen Darstellung nicht aufgrund ihrer Einstufung auch als
Kunst ggf. straflos bleibt48. Diese „Kollisionslösung“49 folgt
aus dem heute herrschenden offenen Kunstbegriff, der (zu
Recht) davon ausgeht, dass es eine allgemeingültige Definition von Kunst nicht gibt50: Kunst ist einer wie auch immer
gearteten „Niveaukontrolle“ nicht zugänglich51.
Ob nun bei einem (um es auch terminologisch auf den
Punkt zu bringen) pornografischen Kunstwerk die in Art. 5
Abs. 3 GG garantierte Freiheit der Kunst oder aber das in
§§ 184 ff. StGB normierte Pornografieverbot vorgeht, ist
keine Frage der Tatbestandlichkeit, sondern erfordert eine auf
der Stufe der Rechtswidrigkeit vorzunehmende Bewertung52.
Dabei ist jeweils im Einzelfall abzuwägen, welchem bzw.
welchen der geschützten Rechtsgüter der Vorrang zukommt53: denjenigen der §§ 184 ff. StGB – in § 184 StGB
dem Jugend- und Konfrontationsschutz (vgl. oben I. 3. a)
sowie nachf. III. 1.), in §§ 184a/b/c StGB aber auch anderen
Schutzzwecken (wie insb. in § 184b StGB in erster Linie dem
Darstellerschutz54) – oder aber der Kunstfreiheit. Weder dieser, noch dem Kinder- und Jugendschutz bzw. gar nur dem
Konfrontationsschutz gebührt hier von vornherein der Vorrang55 – ja noch nicht einmal dem (ja in hohem Maße ab44
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 922; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 10
a.E.; siehe auch Ostendorf, MSchrKrim 2001, 372 (381).
45
BGHSt 37, 55 (Opus Pistorum); BVerfGE 83, 130 (Josefine Mutzenbacher).
46
BGHSt 37, 55 (57); Laubenthal (Fn. 2), Rn. 927; Fischer
(Fn. 18), § 184 Rn. 8; Otto (Fn. 13), § 66 Rn. 100.
47
Näher zu ihr Laubenthal (Fn. 2), Rn. 924 f.; Schroeder
(Fn. 2), S. 48 f.; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 11.
48
Vgl. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 923; vgl. aber auch Eisele
(Fn. 4), § 184 Rn. 11.
49
Begriff etwa bei Laubenthal (Fn. 2), Rn. 928 (zum Inhalt
Rn. 927 ff.).
50
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 925, 926 ff.; siehe auch Eisele
(Fn. 4), § 184 Rn. 11; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 7.
51
BVerfGE 75, 369 (377); Laubenthal (Fn. 2), Rn. 926;
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 25; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 12.
52
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 928, 930; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 11; Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 12.
53
Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 8; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 923,
928 und (zu denkbaren Abwägungskriterien) 929, 931.
54
Vgl. hierzu bereits oben Fn. 26.
55
BVerfGE 83, 130 (143); BGHSt 37, 55 (64); Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 928, 931; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 11.
strakten, nur mittelbaren) Darstellerschutz in § 184b StGB,
wobei allerdings gerade im Bereich der Kinderpornografie
nur in seltenen Ausnahmefällen56 ein Überwiegen der Kunstfreiheit anzunehmen sein wird57.
III. Grundsätzliche Überlegungen zu § 184 StGB
1. Die Schutzziele der Norm58
Wie bereits angesprochen, dient § 184 StGB gemäß seinem
heutigen Zuschnitt als „Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (so die Überschrift des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des StGB) in erster Linie dem (Kinder- und)
Jugendschutz, daneben aber auch (vor allem in seiner Nr. 6)
dem Schutz Erwachsener vor ungewollter Konfrontation mit
Pornografie59 – sowie (in systemwidriger Durchbrechung
dieses „Zwei-Säulen-Ansatzes“ des Pornografiestrafrechts60)
in seiner Nr. 9 dem Schutz außenpolitischer Beziehungen für
den Fall, dass in anderen Staaten strengere Pornografieverbote als bei uns bestehen61.
Nicht zu übersehen ist dabei freilich, dass auch bei einigen jener Tathandlungen62, bei deren Erfassung es vermeintlich nur um den Jugendschutz geht, ihr Verbot (gewissermaßen im Sinne eines Schutzreflexes) zugleich auch dem Konfrontationsschutz dient – jedenfalls dort, wo die jeweilige
Regelung bestimmte Möglichkeiten nicht auf Eigeninitiative
beruhender Kenntnisnahme einzuschränken versucht. So ist
etwa an einem Ort, der gem. Nr. 2 aus Jugendschutzgründen
„pornografiefrei“ zu bleiben hat, auch der konfrontationsunwillige Erwachsene vor dem Kontakt mit Pornografie
geschützt63. Andererseits ist die ganz allgemein dem Konfrontationsschutz gewidmete Regelung der Nr. 6 – natürlich –
auch dem Jugendschutz dienlich. Und auch in den Vorbereitungshandlungen der Nr. 8 spiegeln sich beide Schutzzwecke
wider.
2. § 184 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt
Ungeachtet des noch andauernden Streits um die Frage, ob
Pornografie überhaupt geeignet ist, Minderjährige in ihrer
56
Man denke nur an den im Jahre 1978 entstandenen Film
„Pretty Baby“ mit der damals erst zwölfjährigen Brooke
Shields in der – durchaus auch explizite Nacktszenen aufweisenden – Rolle einer Kinderprostituierten im New Orleans
des beginnenden 20. Jahrhunderts.
57
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 932; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 12;
zu streng jedoch Hörnle (Fn. 13), § 184b Rn. 45.
58
Ausführlich hierzu bereits M. Heinrich (Fn. 2), S. 399.
59
So bereits BT-Drs. 6/3521, S. 58; siehe auch Wolters
(Fn. 21), § 184 Rn. 2; Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 6.
60
Näher zu dieser Grundjustierung des § 184 StGB M. Heinrich (Fn. 2), S. 399.
61
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 1048; siehe auch Schroeder
(Fn. 25), 23/2, 23/19; Otto (Fn. 13), § 66 Rn. 103; Hörnle
(Fn. 13), § 184 Rn. 9.
62
Hilgendorf ([Fn. 43], § 184 Rn. 6) nennt die Nr. 3-5, 7, 8,
Hörnle ([Fn. 13], § 184 Rn. 8) die Nr. 2, 3, 3a, 5.
63
Vgl. gar Schroeder (Fn. 2), S. 45: „vom 4. StrRG fälschlich
dem Minderjährigenschutz zugeschlagen“.
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ZJS 2/2016
136
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
sexuellen Entwicklung zu beeinträchtigen64 (wobei dem Gesetzgeber insoweit eine Einschätzungsprärogative zusteht65),
ist § 184 StGB in all seinen Begehensvarianten als abstraktes
Gefährdungsdelikt ausgestaltet, so dass es des Nachweises
einer Beeinträchtigung im Einzelfall ebenso wenig bedarf,
wie auch nur desjenigen einer konkreten Gefährdung66.
3. Zur Möglichkeit teleologischer Reduktion
Durchaus fraglich ist jedoch, ob nicht bei in concreto offensichtlich ausgeschlossener Gefährdung Minderjähiger die
Strafbarkeit entfallen kann. Dies wird (zumindest in dieser
pauschalen Form) in der Regel abgelehnt67 – gelegentlich
unter Hinweis auf die mögliche Berücksichtigung im Rahmen
der Strafzumessung oder im Hinblick auf eine Verfahrenseinstellung gem. § 153 StPO68.
a) Richtigerweise wird man aber im Hinblick auf die primär jugendschützenden Tatbestände (Nr. 1-5, 7) im Wege
teleologischer Reduktion jedenfalls dann eine Strafbarkeit
verneinen dürfen, wenn „eine Wahrnehmung pornografischer
Inhalte durch Kinder und Jugendliche völlig ausgeschlossen
ist“69, wie v.a. dann, wenn Maßnahmen ergriffen werden, die
eine wirksame Zugangshinderung gegenüber Minderjährigen
darstellen, etwa in Nr. 7 durch Ausweiskontrolle bei Einlass
ins Filmtheater (vgl. unten VI. 8. e), oder in Nr. 2 durch Einschweißen im Verkaufsraum ausliegender Pornografika in
Plastikfolie (unten VI. 2. d), aber auch in Nr. 1 durch Errichten effektiver Zugangsbeschränkungen (insbesondere in Form
von Altersverifikationssystemen) im Bereich von Rundfunk
und Telemedien (unten VI. 1. b) cc) – und zwar auch ohne
Rückgriff zu nehmen auf die in der Sache entsprechende
Regelung des (freilich nicht auf Schriften, sondern auf Inhalte
bezogenen) § 184d Abs. 1 S. 2 StGB (ausführlich zu alledem
noch bei den Erläuterungen zu den einzelnen Tathandlungen
unten in Abschnitt VI.).
64
Bejahend Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 2; Frommel, in:
Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar,
Strafgesetzbuch, Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 184d Rn. 8; siehe
auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 889 m.w.N.
65
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 3; zur Legitimität solch „weichen“ Paternalismusses Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 2.
66
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 2; Schreibauer (Fn. 2), S. 88;
siehe auch Laubenthal (Fn. 2), Rn. 933; Hörnle (Fn. 13),
§ 184 Rn. 3.
67
Gänzlich abl. Schreibauer (Fn. 2), S. 90 ff.; Heger
(Fn. 13), § 184 Rn. 1; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184
Rn. 3; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 3; diff. jedoch Hörnle
(Fn. 13), § 184 Rn. 5.
68
Schreibauer (Fn. 2), S. 93; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 3
Fn. 16; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 3.
69
So Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 20 – nur zu § 184 Abs. 1
Nr. 2 StGB, aber m.E. verallgemeinerungsfähig (dies explizit
abl. Hörnle [Fn. 13], § 184 Rn. 5); siehe auch Hilgendorf/
Valerius, Computer- und Internetstrafrecht, 2. Aufl. 2012,
Rn. 296 ff.; nicht pauschal, aber doch zu den meisten Tatvarianten i.E. wie hier Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 18 f., 26, 33,
36, 39, 54.
STRAFRECHT
Da in all diesen Fällen die genannten Maßnahmen zugleich auch geeignet sind, Erwachsene davor zu bewahren,
sich ungewollt pornografischen Inhalten gegenübergestellt zu
finden, sprechen überdies auch die Belange des (bereits oben
in I. 3. a) und III. 1. thematisierten) Konfrontationsschutzes
nicht gegen eine entsprechende Straflosstellung70.
b) Über den Fall wirksamer Zugangshinderung hinaus ist
unter dem Stichwort „teleologische Reduktion“ aber auch an
den Fall zu denken, dass ein (unbebilderter) pornografischer
Text einem Kind in die Hand gegeben wird, das noch nicht
lesen kann71 – nicht hingegen an den Fall des bzw. der schon
„sexuell erfahrenen“ Siebzehnjährigen72, da es in § 184 StGB
nicht um die Bewahrung der „Unschuld“ geht (und schon gar
nicht um die Ausrichtung des Schutzes am Grad der „Verderbtheit“), sondern darum, den Kontakt Jugendlicher mit
Pornografie zu begrenzen73; es ist das eine, selbst sexuelle
Erfahrungen zu sammeln, etwas ganz anderes jedoch, mit
pornografischen Darstellungen sexuellen Geschehens konfrontiert und ggf. von ihnen beeinflusst zu werden.
c) Die Möglichkeit teleologischer Reduktion besteht übrigens nicht nur für den (von vornherein im Grunde unproblematischen) Fall, dass sich die betreffende Strafbarkeitseinschränkung bereits über die Auslegung eines bestimmten
Tatbestandsmerkmals bewerkstelligen lässt74 (wie gerade
dargelegt in Nr. 1 mittels Verneinung des tatbestandlich erforderlichen „Zugänglichmachens“ aufgrund effektiver Zugangsbeschränkung, vgl. noch unten VI. 1. b), sondern ist
auch ohne einen solchen Anker im Gesetzestext zu berücksichtigen75 (wie eben in Nr. 7 bei Ausweiskontrollen am Eingang des Filmtheaters, vgl. unten VI. 8. e).
4. Zur Konvergenz der Schutzzwecke76
Bei alledem stellt sich freilich die Frage, wieviel Jugendschutz § 184 StGB denn eigentlich – heute noch – de facto zu
gewähren vermag77, nachdem die Erlangung zumindest „einfacher“ Pornografie über das mittlerweile – gerade auch bei
Kindern und Jugendlichen – allgegenwärtige Medium „Internet“ im wahrsten Sinne des Wortes „ein Kinderspiel“ und die
jederzeitige Verfügbarkeit von Pornografie im Internet zum
festen Bestandteil unserer Lebenswirklichkeit geworden ist78,
70
Dazu, dass diese Frage in aller Regel noch nicht einmal
thematisiert wird, vgl. M. Heinrich (Fn. 2), S. 409.
71
Wie hier Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 13; abl. Wolters (Fn. 21),
§ 184 Rn. 3; diff. Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 32.
72
So zu Recht Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 2, 32; Eisele
(Fn. 4), § 184 Rn. 13; siehe auch Wolters (Fn. 21), § 184
Rn. 3.
73
So ganz richtig Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 2, 6.
74
Für eine Beschränkung im Wesentlichen gerade auf diese
Fälle aber Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 5.
75
Wie hier i.E. auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 29 (zu Nr. 3),
36 (zu Nr. 3a), 54 (zu Nr. 7).
76
Ausf. hierzu bereits M. Heinrich (Fn. 2), S. 410 ff.
77
Äußerst krit. hierzu Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 3.
78
Vgl. hierzu nur Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 3; Fischer
(Fn. 18), § 184 Rn. 3b.
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137
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
was sich auch durch einen Straftatbestand wie den des § 184
StGB nicht einfach hinwegwünschen lässt.
Angesichts diesen Befundes eines letztlich unbegrenzten
und auch (zumindest derzeit) realiter kaum begrenzbaren
allgemeinen Zugangs zu Pornografie und eines damit zu
verzeichnenden (bzw. zu besorgenden) über alle Altersklassen hinweg ubiquitären Pornografiekonsums mag es nun
naheliegend erscheinen zu konstatieren, dass dem Strafrecht
die Kontrolle über die „einfache“ Pornografie mittlerweile
entglitten sei79 – was angesichts der hoffnungslosen Überalterung80 des noch aus der Vor-Internet-Zeit stammenden und
damit auf den Umgang mit herkömmlichen Medien zugeschnittenen § 184 StGB auch kaum zu verwundern vermöge.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese defätistische
Sicht jedoch – wie ich bereits an anderer Stelle ausführlich
erläutert habe81 – nur zum Teil als begründet: dort nämlich,
wo es um den Schutz von Minderjährigen geht, die von sich
aus, sei es aus Neugierde, sei es aber auch zum Zwecke sexuellen Lustgewinns, den Zugang zu Pornografie suchen. Sehr
wohl aber ermöglicht es unser Pornografiestrafrecht nach wie
vor in nicht unerheblichem Maße, jedenfalls nicht einschlägig
initiativ werdende Kinder und Jugendliche davor zu bewahren, ungewollt mit Pornografie in Kontakt zu geraten, insbesondere auch davor, in nicht schon per se sexuell konnotierten Zusammenhängen – im Sinne einer Übersexualisierung
des Alltags – mit ihr konfrontiert zu werden. Gerade bei
(insb. noch vorpubertären) Kindern sollte dieser Aspekt eines
den Schutz der sexuellen Entwicklung Minderjähriger in den
Blick nehmenden Pornografiestrafrechts nicht aus den Augen
verloren – und nicht zu gering geschätzt – werden.
Dass damit auch der Bereich effektiven Jugendschutzes
sich de facto in Richtung Konfrontationsschutz verengt82,
sollte in letzter Konsequenz zu dem Eingeständnis führen,
dass § 184 StGB seine Rechtfertigung im Grunde nicht
(mehr) aus einem deutlich voneinander zu unterscheidenden
umfassenden Jugendschutz einerseits und dem Konfrontationsschutz zugunsten Erwachsener andererseits zu ziehen
vermag, sondern vielmehr aus der Idee einer – im Sinne gewissermaßen einer Konvergenz der Schutzzwecke zu verstehenden – gerade am Aspekt umfassenden Konfrontationsschutzes orientierten Regelung zum Schutze von Kindern,
Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen. Mittels Akzeptanz einer solchen Umgewichtung in der Aufgabenstellung des § 184 StGB mag es gelingen, diese schon längst als
nicht mehr zeitgemäß erachtete83 Strafnorm mit neuem Sinn
zu erfüllen84.
79
In diesem Sinne letztlich Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 3;
Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 3b.
80
Vgl. nur Duttge/Hörnle/Renzikowski, NStZ 2001, 1065
(1069): Es bestehe „echter Reformbedarf“.
81
M. Heinrich (Fn. 2), S. 410 ff., 412.
82
Hierzu ausf. M. Heinrich (Fn. 2), S. 412 f.
83
Vgl. nur Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 4; Wolters (Fn. 21),
§ 184 Rn. 3 a.E.
84
Zu möglichen Konsequenzen eines so verstandenen effektiven Konfrontationsschutzes M. Heinrich (Fn. 2), S. 413 ff.
IV. Der Schriftenbegriff des § 11 Abs. 3 StGB
Gegenstand einer jeden Tat nach § 184 Abs. 1 StGB ist unverzichtbar eine pornografische Schrift – während es demgegenüber in der insoweit ergänzenden Norm des § 184d Abs. 1
StGB von vornherein um pornografische Inhalte geht (näher
hierzu unten VII. 1., 2. a).
Auskunft darüber, was unter einer „Schrift“ zu verstehen
ist, gibt § 11 Abs. 3 StGB – freilich nicht in Form einer Legaldefinition, sondern unter Zugrundelegung eines nicht näher erläuterten, letztlich als bekannt vorausgesetzten Begriffs
der Schrift im engeren Sinne (nachf. 1.), welcher dann mittels
der Formulierung „Den Schriften […] stehen gleich […]“
eine ganze Reihe weiterer Objektskategorien als gleichwertig
an die Seite gestellt werden. Der daraus resultierende erweiterte Schriftenbegriff – sprich: der Begriff der Schrift im
weiteren Sinne (unten 2.) – ist dann derjenige, welcher den
einzelnen Teiltatbeständen des § 184 Abs. 1 StGB zugrundegelegt ist.
1. Der Begriff der Schrift im engeren Sinne
Nach gängiger Auffassung ist unter einer Schrift im engeren
Sinne (Schrift i.e.S.) eine durch Augen oder Tastsinn wahrnehmbare, mittels Buchstaben, Bildern oder anderen Zeichen
(unter Einschluss von Zahlen, Noten, Chiffren, Blindenschrift
etc.) verkörperte Gedankenäußerung zu verstehen85, und
zwar86 unabhängig von der Art ihrer Herstellung (handschriftlich, Schreibmaschinenschrift, Computerausdruck), der
Art ihrer Wahrnehmbarkeit (ohne Weiteres oder nur mit
Hilfsmitteln wie z.B. Lupen), ihrem Fertigungszustand (Uroder Endfassung, Manuskript, Drucksatz, Matritze), der geistigen Erfassbarkeit (Fremd- oder Geheimsprache, Kurzschrift, Verschlüsselung) und unabhängig insbesondere auch
von der inhaltlichen Beschaffenheit oder gar ihrer Wertigkeit
(so dass zweifelsfrei auch pornografische Inhalte Gegenstand
einer „Schrift“ sein können).
Strittig ist hingegen, ob zur Bejahung einer „Schrift“ eine
„Bestimmung zur Vervielfältigung oder anderweitigen Verbreitung“ nötig ist87. Soweit nun der Begriff der Schrift im
85
Hilgendorf, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, Bd. 1,
12. Aufl. 2007, § 11 Rn. 116; Saliger, in: Kindhäuser/
Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013, § 11 Rn. 75; B. Heinrich, in:
Wandtke/Ohst (Hrsg.), Medienrecht, Bd. 4, 3. Aufl. 2014,
Rn. 57; vgl. schon RGSt 47, 223 (224), noch unter Einschluss
von Tonträgern (!); BGHSt 13, 375 (376).
86
Hierzu etwa Hilgendorf (Fn. 85), § 11 Rn. 116; Radtke, in:
Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 2011, § 11 Rn. 144; Saliger
(Fn. 85), § 11 Rn. 75.
87
So etwa Hilgendorf (Fn. 85), § 11 Rn. 116; Saliger
(Fn. 85), § 11 Rn. 75; soweit dabei BGHSt 13, 375 (376) in
Bezug genommen wird, geht dies insoweit fehl, als der BGH
sich hier gezielt nur zur „‚Schrift‘ i.S.d. § 93 StGB“ geäußert
hat; – a.A. Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 34; Radtke (Fn. 86),
§ 11 Rn. 144.
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ZJS 2/2016
138
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
Sinne des § 11 Abs. 3 StGB von vornherein im Zusammenhang gerade mit der Tathandlung des „Verbreitens“ (begriffsnotwendig: an eine Vielzahl von Personen) zum Tragen
kommt (wie etwa in § 130 Abs. 2 Nr. 1, aber auch in
§§ 184b/c Abs. 1 Nr. 1 – nicht aber in § 184 Abs. 1 StGB,
vgl. unten V.), ist es letztlich unerheblich, ob jener Verbreitungsaspekt schon beim Schriftenbegriff oder (richtigerweise)
erst unter dem Gesichtspunkt der tatbestandlichen Verbreitungshandlung Berücksichtigung findet, weil in diesen Fällen
ein an einen einzigen bestimmten Empfänger gerichtetes
Schreiben etc. (ob nun „Schrift“ oder nicht) dem jeweiligen
Tatbestand so oder so nicht unterfällt88.
Anders verhält es sich freilich dort, wo die tatbestandliche
Handlung nicht im „Verbreiten“ der Schrift (an eben eine
Vielzahl von Personen) liegt, sondern z.B. im Anbieten,
Überlassen oder Zugänglichmachen gegenüber einer einzelnen (etwa jugendlichen) Person, wie dies gerade im Rahmen
des § 184 Abs. 1 StGB der Fall ist (vgl. insb. § 184 Abs. 1
Nr. 1 StGB). Warum hier die Tatbestandlichkeit ungeachtet
der in der Norm als durchaus einschlägig aufscheinenden
Verhaltensweise daran scheitern sollte, dass das dem Jugendlichen angebotene, überlassene oder zugänglich gemachte
Exemplar nur ein nicht zu Vervielfältigung oder anderweitiger Verbreitung bestimmtes Unikat darstellt, ist mir nicht
ersichtlich.
2. Der Begriff der Schrift im weiteren Sinne
Gleichgestellt werden den Schriften i.e.S. in § 11 Abs. 3
StGB „Ton- und Bildträger, Datenspeicher, Abbildungen und
andere Darstellungen“. Dabei ist „Darstellung“ der Oberbegriff, der auch die anderen explizit genannten Objekte (einschließlich auch der Schrift i.e.S.89) mit umfasst90. Zu verstehen ist unter dem – weit auszulegenden91 – Begriff der „Darstellung“ nach allgemeiner Auffassung „jedes körperliche
Gebilde von gewisser Dauer, das, sinnlich wahrnehmbar, eine
Vorstellung oder einen Gedanken ausdrückt“92 (zum Aspekt
der Dauer noch unten b) bb)-dd).
a) Ton- und Bildträger
Dabei sind „Tonträger“ all jene Gegenstände, welche technisch (analog oder digital) gespeicherte Laute (Musik, Sprache, Geräusche) enthalten, die durch Hilfsmittel (insbesondere Wiedergabegeräte) dem Ohr wahrnehmbar gemacht wer-
88
In diesem Sinne auch Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 144;
Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 34.
89
So explizit schon RGSt 47, 404 (405 f.).
90
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 56, 62; Hilgendorf (Fn. 85), § 11
Rn. 125; Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 33.
91
Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 80; B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 56;
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 168.
92
So BT-Drs. 13/7385, S. 36; Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 80;
ähnlich Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 33; Hilgendorf (Fn. 85),
§ 11 Rn. 125; Heger (Fn. 13), § 11 Rn. 28; B. Heinrich
(Fn. 85), Rn. 56 (vgl. dort aber auch Rn. 62); Hilgendorf/
Valerius (Fn. 69), Rn. 168.
STRAFRECHT
den können93, wie Tonwalze, Schallplatte, Tonband, Compact Cassette, CD, DAT, USB-Stick etc. Entsprechend sind
„Bildträger“ Gegenstände, die technisch (analog oder digital)
gespeicherte Bilder, Bildfolgen, Grafiken etc. (aber auch
geschriebene Texte) enthalten, die durch Hilfsmittel für das
Auge wahrnehmbar gemacht werden können94, wie Videokassette, DVD, Blu-ray Disc, entsprechend bespielter USBStick etc.
Geht es bei den Ton- und Bildträgern in idealiter leicht
unterscheidbarer Weise um die (mittels geeigneter Hilfsmittel
ermöglichte) akustische Wahrnehmbarkeit hier bzw. visuelle
Wahrnehmbarkeit dort, so ist doch realiter eine trennscharfe
Abgrenzung zwischen den beiden Objektskategorien häufig
gar nicht möglich95 – man denke nur an die sowohl Audio-,
wie auch Videosignale perpetuierende DVD. Auch ist der
Übergang beider zu den in § 11 Abs. 3 StGB ebenfalls genannten Datenspeichern fließend96. All dies ist jedoch angesichts des sämtliche Einzelkategorien umspannenden Oberbegriffs der Darstellung (vgl. soeben vor a) letztlich belanglos97.
b) Datenspeicher
Die erst 199798 im Hinblick auf die Gegebenheiten moderner
Datentechnik – und mit dem erklärten Ziel ihrer „Einbeziehung in das strafrechtliche System“99 – eingefügten „Datenspeicher“ umfassen alle elektronischen, elektromagnetischen,
optischen, chemischen oder sonstigen Datenaufzeichnungen,
die gedankliche Inhalte verkörpern und nur unter Zuhilfenahme technischer Geräte (insbesondere eines Monitors oder
auch, bei Audio-Dateien, eines mp3-Players) wahrnehmbar
werden100.
aa) Erfasst ist damit jedenfalls jede erdenkliche Art von
Datenträger, wie Tonband, Diskette, CD, DVD, Blu-ray
Disc, USB-Stick, SIM-Karte etc. sowie Festplatten und interne Speicher einer EDV-Anlage101; wobei auch die lediglich
vorübergehende Speicherung und (gerade mit Blick auf PCSpeichermedien) insbesondere auch die (i.d.R. automatische)
93
Hilgendorf (Fn. 85), § 11 Rn. 117; Radtke (Fn. 86), § 11
Rn. 145; Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 76.
94
Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 146; Saliger (Fn. 85), § 11
Rn. 77; Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 35 (explizit auch „Texte“).
95
Wobei nichts dagegen einzuwenden ist, bei (im Grunde geradezu typischer) Kombination von Bild- und Audiosignalen
(z.B. DVD) von Bildträger zu sprechen; vgl. Hilgendorf
(Fn. 85), § 11 Rn. 118.
96
Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 77.
97
Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 77; vgl. auch Radtke (Fn. 86),
§ 11 Rn. 145.
98
Durch Art. 4 Nr. 1 IuKDG v. 22.7.1997 = BGBl. I 1997,
S. 1870; dazu BT-Drs. 13/7385, S. 36.
99
BT-Drs. 13/7385, S. 36; siehe auch Saliger (Fn. 85), § 11
Rn. 78; Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 167.
100
Vgl. BT-Drs. 13/7385, S. 36; Hilgendorf (Fn. 85), § 11
Rn. 121; Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 147.
101
Vgl. nur Hilgendorf (Fn. 85), § 11 Rn. 121; Saliger
(Fn. 85), § 11 Rn. 78; Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 169.
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139
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
kurzfristige Abspeicherung aus dem Internet abgerufener Inhalte (etwa im Ordner „Temporary Internet Files“) genügt102.
bb) Angesichts des unter dem Aspekt der Gleichstellung
mit den übrigen Objektskategorien des § 11 Abs. 3 StGB
anzunehmenden Erfordernisses einer gewissen Dauerhaftigkeit der Perpetuierung103 zumindest problematisch104 erscheint die vom Gesetzgeber intendierte105 und von der h.M.
konsentierte106 Einbeziehung auch „elektronischer Arbeitsspeicher, welche die Inhalte nur vorübergehend bereithalten“.
Hierzu zählen neben dem Arbeitsspeicher eines PCs auch die
sog. Proxy-Cache-Server von Internet-Providern107, in deren
elektronischen Arbeitsspeichern zur Erleichterung künftiger
weiterer Kommunikationsvorgänge im Internet kurzzeitig Informationen vorrätig gehalten werden (sog. Caching gem. § 9
TMG).
Die Erfassung auch sog. flüchtiger Speicher (wie eben des
Arbeitsspeichers eines PCs), bei denen die Perpetuierung nur
mittels ununterbrochener Stromzufuhr aufrechterhalten werden kann, mag zwar (eben noch) mit dem Wortsinn von „Datenspeicher“ vereinbar sein108, „mit der Beschränkung von
§ 11 Abs. 3 auf Informationsverkörperungen von einer gewissen Dauerhaftigkeit aber wohl kaum“109 (vgl. noch unten
dd).
Zu denken geben sollte dabei auch der Umstand, dass
nicht nur das Ausschalten des Rechners110, sondern auch jede
körperliche Weitergabe des im sog. RAM111 zu verortenden
102
So ausdrücklich Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 172
m.w.N.; siehe auch BT-Drs. 13/7385, S. 36.
103
Vgl. Löhnig, JR 1997, 496 f.; Hilgendorf (Fn. 85), § 11
Rn. 121; Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 147.
104
So räumen selbst Vertreter der h.M. ein, dass diese die
Anforderungen an die Dauerhaftigkeit der Speicherung
„niedrig ansetze“ (Saliger [Fn. 85], § 11 Rn. 78), oder sehen
sich genötigt, im Wege der Vorwegverteidigung darzutun,
dass jene Anforderungen „nicht zu hoch anzusetzen“ seien
(Radtke [Fn. 86], § 11 Rn. 147; siehe auch Hilgendorf
[Fn. 85], § 11 Rn. 121); krit. auch Hilgendorf/Valerius
(Fn. 69), Rn. 170.
105
BT-Drs. 13/7385, S. 36.
106
BGHSt 47, 55 (58); OLG Hamburg NJW 2010, 1893
(1894); Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 78; Radtke (Fn. 86), § 11
Rn. 147 m.w.N.; zur Gegenauffassung vgl. Fn. 109.
107
So ganz richtig Barton, Multimedia-Strafrecht, 1999,
Rn. 175.
108
Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 78; insofern ebenso Rudolphi/
Stein, in: Wolter (Fn. 21), § 11 Rn. 61.
109
Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 61; siehe auch
Gounalakis/Rhode, K&R 1998, 312 (330); Lindemann/
Wachsmuth, JR 2002, 206 (208); Harms, NStZ 2003, 646
(648 f.); siehe auch Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 36, 36a, der
vom „eben nicht ‚permanenten‘, d.h. speicherunfähigen Arbeitsspeicher“ (Rn. 36a, Kursivsetzung nicht im Original)
spricht (siehe noch unten Fn. 118).
110
Worauf u.a. Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 61, und
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 170, kritisch hinweisen.
111
Zum Random-Access Memory (RAM) vgl.
Arbeitsspeichers aufgrund der mit ihr einhergehenden Trennung von der Stromversorgung unweigerlich zum Verlust der
gespeicherten Daten führt – sodass Ausbau und Übergabe des
entsprechenden RAM-Riegels nichts anderes ist als die Weitergabe einer inhaltslosen, leeren Hülle und damit von vornherein außerstande, einer auf dem Weitergabe-Erfordernis
fußenden Tathandlung, wie etwa derjenigen des Überlassens
einer pornografischen Schrift im Sinne des § 184 Abs. 1
Nr. 1 StGB, zu entsprechen (ist doch ein leerer RAM-Riegel,
da bar jeglichen Inhalts, wohl schwerlich als „pornografische
Schrift“ anzusprechen).
cc) Immerhin jedoch – und insoweit nunmehr zu Recht –
besteht andererseits auch dahingehend Einigkeit, dass die
(letztlich ja vollkommen körperlose) Übermittlung von Inhalten in Echtzeit bzw. echtzeit-entsprechend (wie die Liveübertragung im Fernseh- bzw. Hörfunk oder die paketweise Datenübermittlung in Echtzeit) nicht unter den Begriff des „Datenspeichers“ fällt, auch wenn die Inhalte am Fernsehbildschirm, am Monitor oder am Radio sicht- bzw. hörbar gemacht werden112.
dd) In Konsequenz dessen – und nicht minder zu Recht –
werden zum Zwecke der Echtzeitübermittlung erfolgende
kurzfristige Zwischenspeicherungen (z.B. im Telekommunikationsnetz113, aber auch im Zuge der internetgestützten
Übermittlung von Informationen gem. § 8 Abs. 1, 2 TMG)
ebenfalls als nicht dem Begriff „Datenspeicher“ unterfallend
angesehen114. Dies kommt insbesondere dem in § 8 TMG ins
Auge gefassten, letztlich nur die Durchleitung von Daten
ermöglichenden Network-Provider zugute, da somit die in
seinem Datennetzwerk ggf. erfolgende übermittlungsnotwendige Kurzzeit-Perpetuierung nicht zur Entstehung einer
„Schrift“ führt115.
Sachgerecht und wünschenswert wäre es nun, auch die
Ablage im Arbeitsspeicher (soeben bb) der kurzzeitigen Zwischenspeicherung gleichzusetzen; denn da „eine wesentliche
Funktion von Arbeitsspeichern gerade in der Ermöglichung
eines schnellen Wechsels der Speicherinhalte […] besteht“,
sind sie „eher vergleichbar mit Kurzzeit-Zwischenspeichern
bei der Übertragung von Informationen an den Wahrnehmenden als mit Permanentspeichern, die typischerweise eine von
sonstigen Programmabläufen und Benutzerverhalten unabhängige mehrfache Abrufbarkeit von einmal gesicherten
Daten gewährleisten“116.
http://de.wikipedia.org/wiki/Random_Access_Memory
(17.3.2016).
112
Vgl. hierzu nur BT-Drs. 13/7385, S. 36; Radtke (Fn. 86),
§ 11 Rn. 147; Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 78.
113
So als Beispiel in BT-Drs. 13/7385, S. 36 genannt; siehe
auch Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 78.
114
So schon BT-Drs. 13/7385, S. 36; ebenso Radtke (Fn. 86),
§ 11 Rn. 147; Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 78; ausf. auch
Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 60; h.M.
115
Vgl. hierzu Barton (Fn. 107), Rn. 175. Dieses Ergebnis
steht übrigens nunmehr auch im inhaltlichen Einklang mit der
entsprechenden Haftungsprivilegierung des § 8 Abs. 2 TMG.
116
So überzeugend Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 61;
siehe auch Lindemann/Wachsmuth, JR 2002, 206 (208).
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ZJS 2/2016
140
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
ee) Zu beachten ist bei alledem, dass „Datenspeicher“
stets nur das die Perpetuierung der Daten, nicht aber das die
Wiedergabe der perpetuierten Daten ermöglichende Objekt
ist, nur also der Datenträger (DVD, Festplatte, USB-Stick
etc.) bzw. Arbeitsspeicher, auf bzw. in dem sich die Daten
befinden, nicht aber das Wiedergabegerät, dessen es bedarf,
diese Daten sinnlich wahrnehmbar zu machen117. Der die
Daten anzeigende Monitor ist also niemals (!) „Datenspeicher“ im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB118.
ff) Vor allem aber ist streng zu unterscheiden zwischen
dem Datenspeicher und seinem Inhalt: Der Begriff des „Datenspeichers“ erfasst allein das gegenständliche Speichermedium119, nicht jedoch die auf ihm gespeicherten Daten als
solche120. Wenn der historische Gesetzgeber davon spricht121,
mit der Ausweitung des Schriftenbegriffs auf „Datenspeicher“ seien jetzt auch Inhalte in Datenträgern bzw. elektronischen Arbeitsspeichern erfasst, so ist dies insofern irreführend, als damit nicht etwa die Erstreckung des Schriftenbegriffs auf diese Inhalte gemeint ist, sondern nur, dass jetzt
auch diese Inhalte im Fokus von Delikten stehen, die an das
Merkmal „Schrift“ anknüpfen.
Zu weit (und über eine bloße Formulierungsschwäche
hinaus) geht es demgemäß122, wenn der BGH zur Verbreitung
kinderpornografischer Fotos im Internet erklärt123: „Den in
§§ […] genannten Schriften stehen Datenspeicher gleich
(§ 11 Abs. 3 StGB). Digitalisierte Fotos, die ins Internet
gestellt werden, sind Datenspeicher in diesem Sinne; genauer: auf einem Speichermedium – i.d.R. der Festplatte des
Servers – gespeicherte Daten.“124
Die darin liegende Einebnung der Unterscheidung von
Dateninhalt und Datenträger125 ist denn auch (teils unter
expliziter Zurückweisung der zu vermutenden Idee, eine
Datei sei so etwas wie ein auf einem Datenspeicher gespei117
Anders aber B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 60, 62 (Bildschirmanzeige als „Datenspeicher“).
118
Zu denken geben sollte insoweit das Monitum von Fischer
(Fn. 18), § 11 Rn. 36a, dass der auch den Arbeitsspeicher mit
einbeziehende „weite Begriff des ‚Datenspeichers‘“ (vgl. im
Text oben bb) „im Ergebnis als körperlichen Gegenstand die
Bildschirmanzeige des […] Arbeitsspeichers ansieht“.
119
So explizit auch Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 147; ganz entsprechend Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 171 m.w.N.
120
Vgl. nur Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 62: „Keinesfalls darf man Datenspeicher und gespeicherte Datei gleichsetzen; dadurch würde die Wortsinngrenze von ‚Datenspeicher‘ weit überschritten“.
121
In BT-Drs. 13/7385, S. 36.
122
Ausf. hierzu bereits M. Heinrich, in: Hefendehl (Hrsg.),
Streitbare Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Bernd
Schünemann zum 70. Geburtstag am 1. November 2014,
2014, S. 597 (600 ff.).
123
Unter Berufung auf die soeben erwähnten irreführenden
Worte in BT-Drs. 13/7385, S. 36.
124
BGHSt 47, 55 (58); dem kritiklos folgend Beater, Medienrecht, 2007, Rn. 1689.
125
So die ebenso schonungslose wie zutreffende Bewertung
bei Saliger (Fn. 85), § 11 Rn. 78 a.E.
STRAFRECHT
cherter Datenspeicher126) zu Recht auf Ablehnung gestoßen127. Und dass auch der (heutige) Gesetzgeber (genauer:
der des Jahres 2015) einer solchen Verselbständigung des
bloßen Inhalts eines Datenspeichers als „Schrift“ höchst
kritisch gegenüber steht, wird ersichtlich, wenn er (in seiner
Begründung zum 49. StÄG128) klarstellt129: „Für eine Schrift
ist kennzeichnend, dass Inhalt und Trägermedium grundsätzlich miteinander verbunden sind. Kenntnis vom Inhalt einer
Schrift im eigentlichen Sinne des Wortes kann nur der haben,
dem die Schrift als körperlicher Gegenstand vorliegt.“
Nun ist freilich nicht zu übersehen, dass der BGH nicht
grundlos diesen Pfad beschritten hat, sondern damit zu erreichen trachtet, im Rahmen der zahlreichen „Verbreitungsdelikte“ – insb. der Verbreitung kinderpornografischer Schriften
gem. § 184b StGB – auch die der Natur des Mediums Internet entsprechende, vom Trägermedium losgelöste (nichtkörperliche) Übermittlung von Inhalten (Dateien) als tatbestandliches „Verbreiten“ erfassen zu können. Doch so nachvollziehbar dieses Ansinnen auf den ersten Blick auch erscheinen
mag – obgleich freilich in allen einschlägigen Delikten (insb.
auch in § 184b StGB) die tatbestandliche Erfassung i.d.R.
auch über die Tathandlungsvariante des „Zugänglichmachens“ gewährleistet wäre130 – so paradox ist es doch, das
Gefäß (den Datenspeicher) mit seinem Inhalt (den gespeicherten Daten) gleichsetzen zu wollen. Ein wenig greifbarer
ausgedrückt: Übertragen auf ein Glas Wasser bedeutet der
Ansatz des BGH nichts anderes als die – ersichtlich unsinnige
– Behauptung, das Wasser (der Inhalt, die Datei) sei das Glas
(das Gefäß, der Datenspeicher) – eine klare Überschreitung
der Wortlautgrenze131 und damit ein eklatanter Verstoß gegen
das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG132.
c) Abbildungen
Mit der des Weiteren in § 11 Abs. 3 StGB aufgeführten Objektskategorie der „Abbildungen“ werden auch – und darin
liegt der Unterschied zu den ebenfalls in § 11 Abs. 3 StGB
genannten „Bildträgern“133 – unmittelbar durch Auge oder
Tastsinn wahrnehmbare Wiedergaben außenweltlicher Gegenstände oder Vorgänge in Fläche und Raum erfasst134; so
etwa Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Dias (aber auch Filme,
126
Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 36a.
Vgl. Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 36a; Saliger (Fn. 85), § 11
Rn. 78 a.E; Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 62; aber auch
Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 147; Hilgendorf/Valerius (Fn. 69),
Rn. 303 m.w.N.
128
49. StÄG v. 21.1.2015 = BGBl. I 2015, S. 10 ff., in Kraft
seit 27.1.2015.
129
BT-Drs. 18/2601, S. 16.
130
Was übrigens auch der BGH selbst zugesteht, vgl. (zu
§ 184 Abs. 3 StGB a.F.) BGHSt 47, 55 (60).
131
Vgl. bereits oben Fn. 120.
132
Vgl. bereits M. Heinrich (Fn. 122), S. 602 m.w.N.
133
Fischer (Fn. 18), § 11 Rn. 37: elektronische Speichermedien keine Abbildungen.
134
Hilgendorf (Fn. 85), § 11 Rn. 124; Saliger (Fn. 85), § 11
Rn. 79.
127
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AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
genauer: die entsprechenden Filmstreifen135) sowie sonstige
mit wahrnehmbaren Zeichen ausgestattete Verkörperungen
(wie bspw. im Falle eines entsprechend bedruckten Modellflugzeugs136).
d) Andere Darstellungen
Neben den soeben unter a)-c) genannten Objekten fallen
unter den Oberbegriff der „Darstellung“ (vgl. oben 2. vor a)
im Sinne von „anderer Darstellung“ – soweit nicht sowieso
bereits als „Abbildung“ (soeben c) ansprechbar137 – auch
sonstige Verkörperungen von gewisser Dauerhaftigkeit, wie
Plastiken oder Stickereien138 – nicht aber, mangels jeglicher
Körperlichkeit, Livedarbietungen (wie bspw. Theateraufführungen etc.) oder Liveübertragungen in Hörfunk und Fernsehen139 (bzw. im Internet140) sowie die bloße Anzeige von
Daten auf einem Monitor141 (siehe schon oben b) ee).
V. Das „Verbreiten“ pornografischer Schriften
Ein Letztes noch zur terminologischen Klarstellung: Wenn in
der Überschrift des § 184 StGB (wie auch in den Überschriften der §§ 184a-184c StGB sowie in § 176a Abs. 3 StGB)
von der „Verbreitung pornografischer Schriften“ die Rede ist,
so ist damit etwas anderes gemeint, als (nur) die Verwirklichung dieser Delikte im Sinne jenes tatbestandlichen „Verbreitens“, wie es als zentrale Tathandlung etwa in § 184a
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB oder in §§ 184b/c Abs. 1 Nr. 1 StGB
beschrieben wird. Gegenüber jenem Verbreitensbegriff im
engeren Sinne handelt es sich bei dem in den Überschriften
der §§ 184 ff. StGB – und insb. auch des § 184 StGB – (letztlich untechnisch) verwendeten Verbreitensbegriff im weiteren
Sinne gewissermaßen um eine – wichtig: als solche selbst
nicht unmittelbar subsumtionstaugliche (!) – Sammelbezeichnung für all die in dem jeweiligen Tatbestand genannten
inkriminierten Verhaltensweisen.142
135
RGSt 39, 183; 46, 390 (392); Hilgendorf (Fn. 85), § 11
Rn. 124.
136
BGHSt 28, 395 (397): mit Hakenkreuzen bedrucktes Modellflugzeug; völlig korrekt spricht der BGH hier übrigens
von der Verwendung des Hakenkreuzes „in Abbildungen“
(Hervorhebung des Verf.), denn genauer betrachtet ist nicht
das Hakenkreuz selbst, sondern erst das mit diesem Zeichen
bedruckte Objekt (das Modell) letztlich die Abbildung im
Sinne des § 11 Abs. 3 StGB.
137
Demgemäß Rudolphi/Stein (Fn. 108), § 11 Rn. 63: kaum
eigenständige Bedeutung der Auffangklausel.
138
Vgl. nur Hilgendorf (Fn. 85), § 11 Rn. 125; Saliger
(Fn. 85), § 11 Rn. 80.
139
Radtke (Fn. 86), § 11 Rn. 143; Rudolphi/Stein (Fn. 108),
§ 11 Rn. 63.
140
Etwa mittels Audio- oder Video-Streams, so Hilgendorf/
Valerius (Fn. 69), Rn. 173.
141
So aber (in bewusster Relativierung des Verkörperungserfordernisses) Barton (Fn. 107), Rn. 176. Wie hier jedoch
die h.M., siehe nur Eckstein, ZStW 117 (2005), 107 (117);
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 174 m.w.N.
142
Vgl. nur Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 9.
VI. Die einzelnen Tathandlungen des § 184 Abs. 1 StGB
Die „Verbreitung pornografischer Schriften“ in § 184 StGB
begrenzt den Anwendungsbereich dieser Vorschrift von vornherein auf Schriften im Sinne des § 11 Abs. 3 StGB (vgl.
oben IV.). Eine Ergänzung hierzu findet sich noch in dem
neu gefassten § 184d Abs. 1 S. 1 StGB, der die Strafbarkeit
auf das „Zugänglichmachen pornografischer Inhalte mittels
Rundfunk oder Telemedien“ erstreckt (näher hierzu unten
VII.).
Was jedoch mit alledem nicht erfasst wird, ist das Zugänglichmachen von einfach-pornografischen Life-Darbietungen vor Ort, so dass etwa derjenige, der einen Jugendlichen in ein Lokal mitnimmt, in dem auf offener Bühne der
Geschlechtsverkehr vollzogen wird, weder nach § 184 StGB,
noch nach § 184d StGB bestraft werden kann143 – und somit
letztlich straffrei bleibt; der neue § 184e StGB gilt nur für
kinder- und jugendpornografische Darbietungen. Dieses auf
den ersten Blick irritierende Ergebnis144, dass zwar derjenige,
der einen Jugendlichen mit Bildern sexuellen Geschehens
versorgt, sich ggf. gem. §§ 184 ff. StGB strafbar macht, derjenige hingegen, der dem Jugendlichen die Betrachtung eben
diesen sexuellen Geschehens selbst ermöglicht, straffrei
bleibt, ist freilich insofern nicht verwunderlich, als es nur
einfach dem entspricht, was Fischer treffend in die Worte
fasst: „Pornografie ist Kommunikation; pornografisch ist
nicht ein sexuelles Verhalten, sondern die Kommunikation
darüber“145.
1. § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB: Zugänglichmachen für Minderjährige
a) Die Tathandlungen der Nr. 1
Die erste Tatvariante erfasst den Fall, dass jemand eine pornografische Schrift „einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überlässt oder zugänglich macht“. Es geht hier darum,
dass durch die jeweilige Tathandlung einem bestimmten
Minderjährigen die konkrete Möglichkeit der Kenntnisnahme
pornografischer Inhalte unmittelbar eröffnet oder zumindest
in Aussicht gestellt wird146; dabei ist der (gleich noch näher
zu erläuternde) Unterschied zu der ebenfalls mit „Anbieten“
umschriebenen Tathandlung der Nr. 5 zu beachten.
aa) Das (individuelle) Anbieten
(1) Das „Anbieten“ in Nr. 1 ist strikt von dem – nicht von
ungefähr durch die Handlungsweise des „Bewerbens“ flan-
143
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 14 (ebenso a.a.O., Rn. 37 speziell zu Nr. 2); Laubenthal (Fn. 2), Rn. 895; siehe auch BTDrs. 18/2601, S. 14 (zur alten Rechtslage, aber bei erwachsenen Darstellern noch immer gültig): „Weder die Veranstaltung von noch das Zuschauen bei pornografischen Live-Darbietungen ist strafbar“.
144
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 37 spricht von „merkwürdiger
Inkonsistenz“.
145
Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 7b (Hervorhebung im Original).
146
Vgl. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 934.
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Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
kierten – feilbietenden „Anbieten“ in Nr. 5 zu trennen147.
Während jenes nur überindividuelle Angebote an mehrere
Personen, also eben die an einen unbestimmten Personenkreis
gerichtete Werbung meint (näher hierzu unten 6. a) aa), geht
es in Nr. 1 – letztlich ja als unmittelbare Vorstufe eines auf
eine bestimmte Person zielenden „Überlassens“ – ausschließlich um das individuelle Anbieten148, ist also ein konkretes
Angebot gegenüber einem bzw. mehreren bestimmten Adressaten erforderlich149. Nicht genügen damit etwa ein Zeitungsinserat150 oder das bloße Auslegen an einem Verkaufsstand,
im Schaufenster oder im Verkaufsregal151 – was ggf. aber
dem Tatbestand der Nr. 5 unterfallen mag.
(2) Nach h.M.152 muss das Angebot dabei auf das körperliche Überlassen der betreffenden Schrift im Sinne einer
Gewahrsamsübertragung153 gerichtet sein, während mitunter
aufgrund teleologischer Überlegungen – angesichts in diesen
Fällen nicht minder bestehender „konkreter Kontaktgefahr“154 – zu Recht dafür plädiert wird, auch das In-AussichtStellen bloß unkörperlichen Zugänglichmachens des geistigen Inhalts (der pornografischen Schrift) genügen zu lassen155.
Der Anbietende muss (explizit oder konkludent) seine Bereitschaft zum (entgeltlichen oder unentgeltlichen) Überlassen (bzw. Zugänglichmachen) bekunden156, ohne dass darin
aber ein zivilrechtliches Vertragsangebot zu liegen braucht157
– so dass das Fehlen eines Rechtsbindungswillens beim Anbietenden nicht schadet158. Der Angesprochene muss das
147
BGHSt 34, 94 (98); Schreibauer (Fn. 2), S. 188, 247;
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 27.
148
Schreibauer (Fn. 2), S. 247; siehe auch Hörnle (Fn. 13),
§ 184 Rn. 27; Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 14.
149
BGHSt 34, 94 (98); OLG Düsseldorf MDR 1987, 604;
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 936; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14;
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 185; Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 27.
150
OLG Düsseldorf MDR 1987, 604; Eckstein, wistra 1997,
47 (51); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14.
151
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 27; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 937; B. Heinrich (Fn. 85),
Rn. 185.
152
Heger (Fn. 13), § 184 Rn. 5; Wolters (Fn. 21), § 184
Rn. 18; Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 10; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 17; Hilgendorf (Fn. 43), § 184
Rn. 14.
153
Von „Besitzübertragung“ sprechen u.a. Eisele (Fn. 4),
§ 184 Rn. 14, und B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 185, was jedoch
aus den unten im Text bei Fn. 175 genannten Gründen nicht
ganz korrekt ist.
154
Schreibauer (Fn. 2), S. 187 f.
155
So mit ausf. Begründung Schreibauer (Fn. 2), S. 187 f.;
ohne Weiteres ebenso Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 27.
156
Vgl. nur Heger (Fn. 13), § 184 Rn. 5; siehe auch Hörnle
(Fn. 13), § 184 Rn. 27.
157
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; B. Heinrich (Fn. 85),
Rn. 185; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 936; Schreibauer (Fn. 2),
S. 188 Fn. 674.
158
Schreibauer (Fn. 2), S. 188 Fn. 674.
STRAFRECHT
Angebot als solches verstehen159 (nicht jedoch unbedingt
auch dessen pornografischen Inhalt160), braucht aber nicht
darauf zu reagieren, und auf eine Annahme oder gar Umsetzung kommt es erst recht nicht an161.
(3) Strittig ist, ob das angebotene Überlassen (bzw. Zugänglichmachen) gleich und ohne Weiteres an Ort und Stelle
möglich sein muss. Während einige Autoren dies verlangen162, begnügen sich andere damit, dass die betreffende
Schrift „tatsächlich verfügbar“ ist163, auch wenn der (ggf.
abwesende) Täter sie erst heranschaffen muss164 (so dass
telefonische Angebote eines nicht vor Ort befindlichen Anbieters genügen165), und halten wiederum andere es sogar für
ausreichend, wenn der Täter von vornherein nur anbietet, die
Schrift zu beschaffen166. Ersteres (an Ort und Stelle) greift
jedoch zu kurz – schon deswegen, weil damit der vom Gesetz
gesehenen Möglichkeit des „Anbietens“ im Versandhandel
(§ 184 Abs. 1 Nr. 3 StGB) von vornherein der Boden entzogen wäre167 – und Letzteres (bloßes Beschaffensangebot)
geht zu weit, da damit die Grenze zur Werbung verschwimmt. So ist mit der mittleren Auffassung zu verlangen,
dass die Schrift mit dem Anbieten bereits „in tatsächliche Abgabebeziehung [zu dem Angesprochenen] gebracht wird“168,
was zumindest erfordert, dass sie sich schon „in der Verfügungsgewalt des Täters befindet“.
bb) Das Überlassen
Erfasst das „Anbieten“ schon das Bereiterklären zur Überlassung (siehe soeben aa), geht es beim „Überlassen“ selbst um
den Übertragungsakt als solchen169. Gemeint ist die (entgeltliche oder unentgeltliche170) Übertragung eigenen Gewahrsams an der Schrift auf einen anderen zu eigener Verfügung
159
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 18; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 27; Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 17.
160
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 27; Heger (Fn. 13), § 184 Rn. 5; Wolters (Fn. 21), § 184
Rn. 18; so auch Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184
Rn. 17; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 939, die aber (anders als die
Vorgenannten) zumindest Erkennbarkeit fordern (dagegen
ausf. und richtig Schreibauer [Fn. 2], S. 189 f.).
161
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 18; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 27; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 936.
162
So Schreibauer (Fn. 2), S. 190.
163
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14; siehe auch Eckstein, wistra
1997, 47 (51); Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 18.
164
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 27; zum „Angebot an einen
Abwesenden“ Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 14.
165
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 27; a.A. mangels „unmittelbarer Kontaktgefahr“ Schreibauer (Fn. 2), S. 190.
166
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 27; a.A. Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 14; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 18.
167
Vgl. hierzu ganz richtig Eckstein, wistra 1997, 47 (51);
vgl. aber auch Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 61.
168
Hier und nachf. Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 18.
169
Schreibauer (Fn. 2), S. 190 f.
170
Schreibauer (Fn. 2), S. 191; Hilgendorf (Fn. 43), § 184
Rn. 14.
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143
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
oder zumindest zu eigenem Gebrauch171, ohne dass es auf
Kenntnis oder Erkennbarkeit des Inhalts ankäme172.
Wenn mitunter nur einfach von „Verschaffung“ des Gewahrsams die Rede ist173, so greift dies insofern zu weit, als
„Überlassen“ nur das Verschaffen zuvor eigenen Gewahrsams meint174. Von Übertragung/Verschaffung „des Besitzes“ zu sprechen175, ist insofern nicht korrekt, als es beim
körperlichen Überlassen „nicht auf den zivilrechtlichen Besitz mit seinen Fiktionsmöglichkeiten, sondern nur auf die
tatsächliche Möglichkeit des Zugriffs auf die Sache ankommen kann“176; entscheidend ist die Übertragung tatsächlicher
Gewalt177. Zu kurz greift es schließlich, wenn bloß die „eigene Verfügung“, nicht aber der „eigene Gebrauch“ erwähnt
wird178, da mit Letzterem (zu Recht) auch der Fall erfasst ist,
dass die Schrift nur zur vorübergehenden Nutzung überlassen
(z.B. verliehen, vermietet) wird179.
Nicht genügt es, wenn der andere die Schrift weder „zu
eigener Verfügung“ (z.B. als Käufer) noch „zu eigenem Gebrauch“ (etwa leih- oder mietweise) ausgehändigt bekommt,
sondern nur als Überbringer – d.h. als Bote – für einen Dritten180 (man denke an die durch einen Jugendlichen erfolgende
Abholung eines neutral verpackten Pornoheftes für den Vater181), da ihm hier die Schrift zwar übergeben, nicht aber
überlassen wird182. Insofern ist es zumindest irreführend,
wenn mitunter „Überlassen“ in abschließender Kürze nur mit
Übertragung bzw. Verschaffung von Gewahrsam umschrieben wird183.
171
In dieser Vollständigkeit letztlich nur Schreibauer (Fn. 2),
S. 191; siehe auch Eisele, Computer- und Medienstrafrecht,
2013, 6/10.
172
Schreibauer (Fn. 2), S. 191 f.; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 15; Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 31.
173
So bei Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 14; Hörnle (Fn. 13),
§ 184 Rn. 31; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15, und
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 181 („Verschaffung des Besitzes“).
174
So explizit BGHSt 28, 294: „Das folgt schon aus dem
Wortlaut dieser Tätigkeitsbeschreibung“.
175
So Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 85),
Rn. 181.
176
Schreibauer (Fn. 2), S. 191 Fn. 688; siehe auch Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 14 („tatsächliche Sachherrschaft“).
177
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 18.
178
So bei Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 31; Wolters (Fn. 21),
§ 184 Rn. 18.
179
So denn auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; i.E. auch
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 31.
180
RG GA 59 (1912), 314; Schreibauer (Fn. 2), S. 191;
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 15; B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 181.
181
Ähnlich gelagert war der Fall RG GA 59 (1912), 314
(Abholung durch 16-Jährigen für den Käufer).
182
So ganz richtig Schreibauer (Fn. 2), S. 191; in der Sache
ebenso bereits RG GA 59 (1912), 314.
183
So Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 18; Heger
(Fn. 13), § 184 Rn. 5; dazu Schreibauer (Fn. 2), S. 191.
cc) Das Zugänglichmachen
Unter „Zugänglichmachen“ einer Schrift ist nach gängiger
Auffassung das Ermöglichen der sinnlichen Wahrnehmung
ihres Inhalts zu verstehen184; eine körperliche Weitergabe ist
nicht erforderlich185.
(1) Erfasst ist damit jedenfalls das Ausstellen, Anschlagen
und Vorführen einer Schrift186 (was sich ja in § 74d Abs. 4
StGB bereits explizit als Beispielskatalog genannt findet),
doch ist auch das Vorlesen eines Textes, das Vorzeigen eines
Bildes, das Auslegen einer Neuerscheinung in einer Buchhandlung, das Aushängen einer Zeitung im Schaukasten des
Verlagshauses oder das Führen eines Aufklebers am Auto,
das Abspielen einer Tonaufnahme, das Ausstrahlen eines
Ton- oder Bilddokuments über Rundfunk oder Fernsehen
sowie das Anzeigen einer Datei auf dem Monitor als „Zugänglichmachen“ zu begreifen187.
Dabei kommt es nicht darauf an, ob damit – über den
geistig vermittelten inhaltlichen Zugang (d.h. über die bloße
Inhaltsvermittlung) hinaus – auch die Gelegenheit zu körperlichem Zugriff auf die Schrift eröffnet wird188, wie dies zwar
beim Anschlagen eines Plakats oder beim Führen eines Aufklebers der Fall ist, nicht aber notwendig auch beim Vorlesen
eines Buches oder beim Vorführen eines Filmes und gewiss
nicht beim Ausstrahlen über Rundfunk oder Fernsehen bzw.
beim Bereitstellen zum Abruf im Internet. Das „Zugänglichmachen“ ist somit nicht in eins zu setzen mit dem im
Verbreitensbegriff (etwa der §§ 184b/c Abs. 1 Nr. 1 StGB)
enthaltenen189, in der Sache dementsprechend enger umrissenen Erfordernis des „Körperlich-zugänglich-Machens“.
Ebenfalls ohne Bedeutung ist, ob auch wirklich jemand
Kenntnis von dem zugänglich gemachten Inhalt erlangt; es
genügt vielmehr, wenn jemandem die konkrete Möglichkeit
eröffnet wird, sich – entgeltlich oder unentgeltlich – Kenntnis
zu verschaffen190. Ausreichend ist dabei schon die nur kurzfristige Ermöglichung der Kenntnisnahme191 – wobei die
betreffende Zeitspanne aber ausgedehnt genug sein muss, um
184
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 291; siehe auch
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 172; Eisele (Fn. 171), 6/10.
185
Derksen, NJW 1997, 1878 (1881); B. Heinrich (Fn. 85),
Rn. 172.
186
Vgl. bereits BT-Drs. 18/2601, S. 24.
187
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 292; Eisele (Fn. 171),
6/10; a.A. zum Vorlesen Mitsch, Medienstrafrecht, 2012,
3/25; speziell zur Anzeige am Monitor Walther, NStZ 1990,
523; Sieber, JZ 1996, 494 (495); OLG Stuttgart NStZ 1992,
38.
188
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 291; ausf. Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 942 ff. (943, 945); Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 16.
189
BGH NJW 1999, 1979 (1980) i.A.a. BGHSt 18, 63 (64);
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 170; Eisele (Fn. 171), 6/36; Mitsch
(Fn. 187), 3/11, 25.
190
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 172 f.; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 28; Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 10; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 16.
191
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 172; siehe auch Fischer (Fn. 18),
§ 184 Rn. 10: „für kurze oder längere Zeit“.
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ZJS 2/2016
144
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
auch tatsächlich Kenntnis erlangen zu können; ein bloßes
kognitionsuntaugliches „Aufblitzenlassen“ genügt also nicht.
(2) Neben den bereits erwähnten herkömmlichen Formen
des Ermöglichens der Kenntnisnahme – etwa durch Vorzeigen, Vorführen, Aushändigen oder Auslegen im Ladengeschäft – ist Hauptanwendungsfall des Zugänglichmachens
längst schon jenes Geschehen geworden, das unter Involvierung elektronischer Kommunikationsmittel erfolgt192: durch
Zur-Verfügung-Stellen pornografiehaltiger Datenspeicher,
durch Einstellen einschlägiger Inhalte ins Internet oder durch
Versenden entsprechender E-Mails.
Dabei gilt auch für das Zugänglichmachen von Datenspeichern über das Internet, dass bereits die Ermöglichung
der Kenntnisnahme genügt, so dass bereits der bloße Upload
pornografischer Inhalte ins Internet genügt; um mit dem
BGH zu sprechen: „Ein Zugänglichmachen liegt bereits dann
vor, wenn eine Datei zum Lesezugriff ins Internet gestellt
wird. Hierfür reicht die bloße Zugriffsmöglichkeit aus; nicht
erforderlich ist, dass auch ein Zugriff des Internetnutzers
erfolgt“193. Erforderlich ist freilich auch hier, dass tatsächlich
jemand hätte zugreifen können – was nicht der Fall ist, wenn
Inhalte auf einem Internet-Server gespeichert, die nötigen
Zugangsdaten (die konkrete URL194) aber (noch) niemandem
mitgeteilt wurden, oder wenn die soeben gespeicherten Dateien unverzüglich wieder gelöscht werden.
Ob auch das Setzen von Hyperlinks ein täterschaftliches
Zugänglichmachen darstellt195, ist strittig, da die betreffenden
Inhalte sich nicht im Herrschaftsbereich des Verweisenden
befinden, so dass nur eine Beihilfehandlung anzunehmen
sei196. Richtigerweise wird man jedoch ein Zugänglichmachen, ohne dass es auf jenes Herrschaftskriterium ankäme
(welches das Zugänglichmachen sachwidrig auf den Fall des
Bereithaltens reduzierte), stets dann anzunehmen haben,
wenn der Linksetzer die betreffenden Inhalte in das eigene
„Angebot“ mit einbezieht, sie sich also zu eigen macht197.
Das Zurverfügungstellen eines Internetzugangs als solches (sei es durch den Internetprovider oder schlicht durch
eine Person, die jemand anderen ihren PC benutzen lässt) ist
192
Näher hierzu Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 17; Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 947, 948.
193
BGHSt 47, 55 (60); siehe auch B. Heinrich (Fn. 85),
Rn. 173; Eisele (Fn. 171), 6/39, 6/101; Hilgendorf/Valerius
(Fn. 69), Rn. 292, 293; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 11.
194
Kürzel für „Uniform Resource Locator“; nach üblichem
Sprachgebrauch: „die“ URL.
195
So etwa BGH NJW 2008, 1882 (1883 f.); OLG Stuttgart
MMR 2006, 387 (388); Eisele (Fn. 171), 6/39.
196
So etwa Hörnle, NJW 2002, 1008 (1010); dies. (Fn. 13),
§ 184 Rn. 48; LG Karlsruhe MMR 2009, 418 (419);
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 232, 246; siehe auch
Löhnig, JR 1997, 496 (497): Der Linksetzer mache die Zielseite nicht selbst zugänglich, er gebe „nur Informationen über
ihre Adresse im Netz“.
197
So etwa BGH NJW 2008, 1882 (1883 f.); krit. gegenüber
diesem Kriterium (jedenfalls bei §§ 86, 86a StGB) aber OLG
Stuttgart MMR 2006, 387 (388); wie hier letztlich auch
Eisele (Fn. 171), 3/15.
STRAFRECHT
nicht als Zugänglichmachen pornografischer Schriften im
Sinne des Nr. 1 zu werten (Gedanke der Sozialadäquanz)198,
selbst wenn es im Einzelfall im Wissen darum geschieht, dass
der Nutzer entsprechende Online-Adressen aufsuchen wird
(entsprechendes gilt im Hinblick auf das Zugänglichmachen
von Inhalten im Sinne des § 184d Abs. 1 StGB). Ebenso
wenig ist ein (öffentliches) Zugänglichmachen gegeben,
wenn jemand nur sein W-LAN nicht hinreichend absichert,
so dass – ohne sein Wissen – Dritte sich dies zum OnlineStellen pornografischer Inhalte über diesen Internet-Zugang
zunutze machen199.
(3) Der immer weiter angewachsenen Bedeutung des Zugänglichmachens über das Internet hat der Gesetzgeber erst
jüngst dadurch Rechnung getragen, dass § 184d Abs. 1 S. 1
StGB nun explizit auch denjenigen unter Strafe stellt, der
„einen pornographischen Inhalt mittels Rundfunk oder Telemedien einer anderen Person […] zugänglich macht“, worunter neben (durch § 184 Abs. 1 Nr. 1 StGB nicht erfassten)
Live-Übertragungen gerade auch solche Übermittlungen
fallen, die sich in der Wiedergabe einer zuvor gefertigten
Aufzeichnung (also letztlich dem Zugänglichmachen einer
Schrift) erschöpfen200 – und woraus sich eine Überschneidung mit dem originären Anwendungsbereich des § 184
Abs. 1 Nr. 1 StGB ergibt (näher hierzu noch unten VII. 1. c).
b) Zur Frage teleologischer Reduktion
Zu der angesichts der Rechtsnatur des § 184 StGB als abstraktes Gefährdungsdelikt (vgl. oben III. 2.) nicht einfach zu
beantwortenden Frage, ob ein Zugänglichmachen nicht vorliegt, wenn „objektive Hindernisse einer Kenntnisnahme von
dem Inhalt entgegenstehen und sich der Jugendliche nur unter
deren Überwindung Zugang verschaffen kann“201, vgl. bereits
oben III. 3. a).
Die einschlägigen Fallkonstellationen reichen hier vom
Vater, der seine Pornosammlung vor dem minderjährigen
Sohn versteckt bzw. einschlägige Dateien auf dem heimischen PC mittels Passworts vor dessen Zugriff sichert, über
den Tankstellenbetreiber, der die zum Verkauf ausgelegten
Pornografika in (an entscheidender Stelle undurchsichtige)
Plastikfolie verpackt202, bis hin zu technischen Zugangserschwerungen im Bereich von Internet und Rundfunk (PayTV), insbesondere in Form von Altersverifikationssystemen,
die es dem jeweiligen Anbieter ermöglichen sollen, die betreffenden Inhalte gezielt nur Erwachsenen zugänglich zu
machen – was im Rahmen des § 184 Abs. 1 StGB (mit Ausnahme der primär am Konfrontationsschutz orientierten Be-
198
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 295; Eisele (Fn. 171),
6/11; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 948; siehe auch Fischer
(Fn. 18), § 184 Rn. 10.
199
BGH MMR 2010, 565 (566); Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 45; siehe auch Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 77.
200
Vgl. BT-Drs. 18/2601, S. 16.
201
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 944.
202
Vgl. hierzu OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976) sowie
unten im Text bei und in Fn. 214, 215.
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145
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
gehungsweise der Nr. 6, vgl. oben III. 1.) ja per se nicht strafbar ist203.
aa) Die grundsätzliche Antwort lautet, dass im Zuge teleologischer Reduktion204 (nicht zuletzt auch in Anlehnung
an §§ 4 Abs. 2 S. 2 JMStV, 184d Abs. 1 S. 2 StGB205) eine
Strafbarkeit immer – und gerade auch bei Internetgeschehnissen sowie (ungeachtet der Beschränkung des § 184d Abs. 1
S. 2 StGB auf Telemedien) im Bereich des Rundfunks – dann
zu verneinen ist, wenn zum Zwecke der Abhaltung von Minderjährigen hinreichend wirksame Zugangshindernisse existieren bzw. geschaffen werden206. Diese müssen „nicht unüberwindbar sein, aber eine spürbare Hemmschwelle auch für
neugierige Minderjährige darstellen“207; zumindest „einfache,
nahe liegende und offensichtliche Umgehungsmöglichkeiten
müssen ausgeschlossen werden“208. Es geht mithin um das
Vorliegen ernsthafter Hindernisse209, die Errichtung einer
effektiven Barriere210. Wann dies gegeben ist, ist eine Frage
des Einzelfalles.
bb) So stellt es eine geeignete Maßnahme dar, das Betrachten bzw. den Verkauf jugendgefährdender Schriften oder
das Vorführen derartiger Filme an die Vorlage eines Personalausweises zu knüpfen211. Ebenso genügt das sorgsame
Verstecken einschlägigen Materials bzw. dessen Einschließen
in geeignete Behältnisse212, das Sichern von Dateien mittels
eines Passwortes213 oder das Einschweißen im Verkaufsraum
ausgelegter Pornografika in dünne teilverdeckende Plastikfolie214 – letzteres zumindest dann, wenn der Jugendliche nicht
unbeobachtet mit der so gesicherten Ware allein gelassen
wird215. Nicht ausreichend sind demgegenüber bloße rechtliche Verbote, etwa durch Aufhängen eines Schildes216, wie:
„Kein Zugang unter 18 Jahren“ oder: „Zutritt für Jugendliche
verboten“; es müssen vielmehr Kontrolle und ggf. auch
Durchsetzung des Verbots sichergestellt sein217, wobei weder
das Verlangen von Eintrittsgeld genügt218, noch eine Alterskontrolle erst an der Kasse219, da beides den Zugang zu den
Pornografika nicht zu verhindern vermag.
cc) Was die Tauglichkeit von Zugangshindernissen beim
Anbieten jugendgefährdenden Materials über das Fernsehen
(im Rahmen des verschlüsselt ausgestrahlten und nur mittels
Verwendung eines Decoders nutzbaren Pay-TV) oder das
Internet (im Rahmen sog. geschlossener Benutzergruppen im
Sinne des § 4 Abs. 2 S. 2 JMStV) anlangt, so sind ob zahlreicher Umgehungsmöglichkeiten hohe Anforderungen zu stellen220.
So wird man nach heutigem Stand der Technik in beiden
Bereichen ein zweistufiges Verfahren verlangen müssen221:
Erforderlich ist auf einer ersten Stufe gleich zu Anfang – d.h.
beim Erwerb des Pay-TV-Decoders bzw. bei erstmaliger
Anmeldung im Internet – eine Volljährigkeitsprüfung sowie
auf zweiter Stufe dann jeweils beim Zugriff auf konkrete
Inhalte222 eine spezielle Authentifizierung des Nutzers als
eben der auf erster Stufe als Erwachsener Ausgewiesene,
etwa durch Eingabe eines an ihn vergebenen PIN-Codes223 –
der sich freilich ganz spezifisch auf jugendgefährdende Inhalte beziehen muss224. Mit dem Fortschreiten technischer Möglichkeit wird es künftig aber vermutlich möglich sein, auf ein
einstufiges Verfahren zu vertrauen, etwa mittels unmittelbar
203
Woran übrigens auch die im Bereich des Rundfunks bestehende Möglichkeit der Sanktionierung als Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit gem. §§ 23 bzw. 24 Abs. 1 Nr. 2, 3 JMStV
nichts ändert.
204
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 296; Hilgendorf
(Fn. 43), § 184 Rn. 20.
205
So explizit auch Eisele (Fn. 171), 6/12 (freilich noch unter
Geltung des § 184d S. 2 StGB a.F.).
206
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 30; Wolters (Fn. 21), § 184
Rn. 18.
207
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 30; siehe auch Hilgendorf/
Valerius (Fn. 69), Rn. 296; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 18
Fn. 104.
208
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 296; strenger B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 176: „Zugriff […] nahezu ausschließen“.
209
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 16, 17, 18; ders. (Fn. 171), 6/12;
siehe auch B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 176.
210
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 296; Wolters (Fn. 21),
§ 184 Rn. 13; Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 11, 11a; Eisele
(Fn. 171), 6/14.
211
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 297.
212
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 30; Eisele (Fn. 4), § 184
Rn. 16.
213
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 17; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 30; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 947; Eisele (Fn. 171), 6/12.
214
OLG Karlsruhe NJW 1984, 1975 (1976); Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 944; a.A. Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 16.
215
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 30, 36, dabei maßgeblich auf
die fehlende Überwachung abstellend.
216
BGH NJW 1988, 272; Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 19;
Heger (Fn. 13), § 184 Rn. 5.
217
BGH NJW 1988, 272; Heger (Fn. 13), § 184 Rn. 5;
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 20.
218
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 20; Heger
(Fn. 13), § 184 Rn. 5.
219
BGH NJW 1988, 272: Es gehe darum, bereits das Betreten
der Videothek zu verhindern.
220
Zur ähnlichen Problematik der Automatenvideothek vgl.
bereits BGHSt 48, 278.
221
Braml/Hopf, ZUM 2010, 645 (650); Hörnle (Fn. 13),
§ 184 Rn. 46; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 18; ders. (Fn. 171),
6/13; in der Sache auch BGH NJW 2008, 1882 (1885); siehe
auch BGHSt 48, 278 (286) zur Automatenvideothek.
222
Vgl. BGH NJW 2008, 1882 (1885): „bei jedem einzelnen
Abruf“; siehe auch Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 46.
223
Eisele (Fn. 171), 6/13: „ggf. in Kombination mit Hardware – wie einem speziellen USB-Stick“; siehe auch BGH
NJW 2008, 1882 (1885: insb. Hardware-Schlüssel i.V.m.
einer PIN); Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 46.
224
Eisele (Fn. 171), 6/13; ders. (Fn. 4), § 184 Rn. 18;
Heghmanns, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2015, 6. Teil Rn. 301:
spezielle „Porno-PIN“.
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ZJS 2/2016
146
Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
vor dem konkreten Zugriff erfolgenden Einsatzes neuer Personalausweise mit eID-Funktion225.
Hinsichtlich der auf der ersten Stufe erforderlichen Altersverifizierung ist es – angesichts häufig geringer Schwierigkeit, auf das Girokonto der Eltern zuzugreifen – ohne
Bedeutung, ob es sich um ein kostenpflichtiges Angebot handelt226. Auch genügt es (selbstverständlich) nicht, wenn lediglich das Alter abgefragt wird227 (etwa durch Ankreuzen bzw.
Anklicken eines Kästchens: „Ich bin über 18 Jahre alt“) oder
wenn bei Bestellung bzw. Anmeldung über das Internet nur
die Eingabe der ID-Nummer des Personalausweises bzw.
einer Kreditkarte228 oder die Übersendung einer Ausweiskopie verlangt wird229; in all diesen Fällen ist leicht eine Täuschung möglich.
Erforderlich ist vielmehr i.d.R. eine „offline zu erfolgende
face to face-Kontrolle“230, d.h. eine Altersverifikation von
Angesicht zu Angesicht unter Vorlage eines Ausweises, durch
persönliche Kontrolle unmittelbar bei Erwerb des Decoders
bzw. Aushändigung der Zugangscodes231 oder auch im Rahmen des sog. Post-Ident-Verfahrens, bei dem man bei Abholung in einer Postfiliale oder bei Zustellung durch die Post
den Decoder bzw. die Codes nur unter Vorlage des Personalausweises und nach entsprechender Prüfung von Identität und
Alter durch den Postbediensteten ausgehändigt bekommt232;
auch die Versendung per persönlich zu unterzeichnendem
Übergabe-Einschreiben an bereits durch die Schufa als Erwachsene identifizierte Personen kommt in Betracht233.
Denkbar ist aber auch eine rein technische Altersverifikation, etwa durch elektronische Signaturen234, „durch einen
entsprechend zuverlässig gestalteten Webcam-Check“235 oder
unter Verwendung biometrischer Merkmale236.
STRAFRECHT
c) Das Erzieherprivileg des Abs. 2 S. 1
Gemäß dem sog. Erzieherprivileg des § 184 Abs. 2 S. 1 Hs. 1
StGB ist Abs. 1 Nr. 1 nicht anzuwenden, wenn der Personensorgeberechtigte handelt (zur ggf. analogen Anwendbarkeit
auf Nr. 2 vgl. unten 2. e). Der Tatbestandsausschluss237 entfällt gem. § 184 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 StGB jedoch, wenn der
Sorgeberechtigte durch sein Handeln „seine Erziehungspflicht gröblich verletzt“ – was i.d.R. dann anzunehmen sein
wird, wenn er aus erzieherischer Gleichgültigkeit heraus
regelmäßig in Anwesenheit der Kinder bzw. Jugendlichen
pornografische Filme abspielt oder pornografische Schriften
(nicht nur gelegentlich bzw. versehentlich) in der Wohnung
frei zugänglich aufbewahrt oder herumliegen lässt238, und erst
recht natürlich dann, wenn das Zugänglichmachen gar der
Verfolgung eigener sexueller Interessen dient239; nicht genügt
es jedoch, wenn der Sorgeberechtigte Jugendlichen (anders
ggf. bei Kindern) nur einfach einen unkontrollierten Internetzugang ermöglicht240.
Das Erzieherprivileg dient dem Ziel, mit dem Strafrecht
nicht in die Familie hineinzuwirken241, sowie insbesondere
auch dem in Art. 6 Abs. 2 GG verankerten Schutz elterlicher
Entscheidungsfreiheit in der Erziehung242 und ist überdies der
schon oben in Abschnitt III. 2. erwähnten Nichtbeweisbarkeit
schädlicher Auswirkungen von Pornografie auf Jugendliche
geschuldet243. Auch ist die Rede von der „immer wichtiger
werdenden Vermittlung von Medienkompetenz“244. Dem
Sorgeberechtigten soll „ein Spielraum eingeräumt werden,
um die nach seiner Auffassung bestehenden Erziehungsnotwendigkeiten zu verwirklichen“245, es soll ihm „ermöglicht
werden, im Rahmen seiner erzieherischen Eigenverantwortlichkeit den Jugendlichen aus pädagogischen Gründen mit
diesen Darstellungen zu konfrontieren“. Nicht überzeugend
225
Vgl. Altenhain/Heitkamp, K&R 2009, 619; Hörnle
(Fn. 13), § 184 Rn. 46; Eisele (Fn. 171), 6/13; einschränkend
jedoch Braml/Hopf, ZUM 2010, 645 (650).
226
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 176; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 36, 46; ausf. Heghmanns (Fn. 224), 6. Teil Rn. 299.
227
Heghmanns (Fn. 224), 6. Teil Rn. 298; B. Heinrich
(Fn. 85), Rn. 176.
228
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 176; Eisele (Fn. 171), 6/13;
Hilgendorf/Valerius (Fn. 69), Rn. 298; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 46.
229
B. Heinrich (Fn. 85), Rn. 176.
230
Heghmanns (Fn. 224), 6. Teil Rn. 301; Hörnle (Fn. 13),
§ 184 Rn. 46.
231
Heghmanns (Fn. 224), 6. Teil Rn. 301; siehe auch BGH
NJW 2008, 1882 (1885: „in einer Verkaufsstelle“).
232
BGH NJW 2008, 1882 (1885); Heghmanns (Fn. 224),
6. Teil Rn. 301; Eisele (Fn. 171), 6/13; Hilgendorf/Valerius
(Fn. 69), Rn. 297 m.w.N.; Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 46;
siehe auch Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 20.
233
BGH NJW 2008, 1882 (1885); Heghmanns (Fn. 224),
6. Teil Rn. 301; siehe auch Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 46.
234
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 46 m.w.N.
235
BGH NJW 2008, 1882 (1885); siehe auch Heghmanns
(Fn. 224), 6. Teil Rn. 301; Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 46.
236
Vgl. die Nennungen in Fn. 235; siehe auch BGHSt 48,
278 (287).
237
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 949; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 20.
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 99.
239
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 23; Laubenthal (Fn. 2),
Rn. 952.
240
Vgl. (zum gleichlautenden Erzieherprivileg des § 131
Abs. 3 StGB) Schäfer, in: Joecks/Miebach (Fn. 13), § 131
Rn. 56; Krauß, in Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 5,
12. Aufl. 2009, § 131 Rn. 52; Sternberg-Lieben, in: Schönke/
Schröder (Fn. 4), § 131 Rn. 15/16.
241
Vgl. BT-Drs. 15/350, S. 20; BT-Drs. 15/1311, S. 22.
242
Dagegen Schroeder, in: Warda/Waider/v. Hippel/Meurer
(Hrsg.), Festschrift für Richard Lange zum 70. Geburtstag,
1976, S. 391 (397 f.); Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 99 spricht
vom Erfordernis, Fehler der Sorgeberechtigten bis zu einer
gewissen Schwelle zu tolerieren; siehe auch Eisele (Fn. 4),
§ 184 Rn. 20.
243
Vgl. BT-Drs. 15/350, S. 20; BT-Drs. 15/1311, S. 22 f.
244
BT-Drs. 15/350, S. 20; BT-Drs. 15/1311, S. 23; Wolters
(Fn. 21), § 184 Rn. 22; krit. Laubenthal (Fn. 2), Rn. 950.
245
Hier und nachf. BT-Drs. 15/350, S. 20; BT-Drs. 15/1311,
S. 22.
238
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147
AUFSÄTZE
Manfred Heinrich
ist dagegen der Verweis auf eine geringere Gefährlichkeit des
Handelns Erziehungsberechtigter246.
Eine generelle Übertragbarkeit des Erzieherprivilegs auf
mit Zustimmung des Sorgeberechtigten (d.h. letztlich: auf mit
Erziehungsaufgaben betraute) täterschaftlich handelnde Dritte (sog. erweitertes Erzieherprivileg) ist abzulehnen247; es ist
jedoch anzuwenden auf täterschaftlich handelnde Dritte, die
lediglich eine vom Sorgeberechtigten selbst getroffene Entscheidung zur Ausführung bringen, da es keinen Unterschied
macht, ob dieser sie selbst oder mit Hilfe eines Dritten umsetzt248. Über diese Begünstigung täterschaftlichen Verhaltens hinaus hinaus erfasst das Privileg aber auch die bloße
Teilnehmerschaft des Sorgeberechtigten am Handeln Dritter,
und auch die Teilnahme Dritter an seinen täterschaftlichtatbestandslosen Handlungen ist straflos249.
2. § 184 Abs. 1 Nr. 2 StGB: Zugänglichmachen an bestimmten Orten
Wenn hier derjenige mit Strafe bedroht ist, der an Minderjährigen zugänglichen oder von ihnen einsehbaren Orten eine
pornografische Schrift anderen (insb. auch: erwachsenen)
Personen zugänglich macht – wobei dieses „Zugänglichmachen“ als Oberbegriff das (in § 74d Abs. 4 StGB beispielhaft
genannte) Ausstellen, Anschlagen und Vorführen mit umgreift (vgl. bereits oben bei und in Fn. 186) –, so werden
damit Geschehnisse im Vorfeld der Nr. 1 erfasst250: Erfordert
Nr. 1, dass die Schrift dem Minderjährigen tatsächlich zugänglich geworden ist, genügt es für Nr. 2, wenn sie in seinen
potentiellen Wahrnehmungsbereich gelangt, wenn also dort,
wo sie räumlich zugänglich ist, ein Minderjähriger anwesend
sein könnte251.
Im Gegensatz zu Nr. 1, bei der es um die Schaffung der
konkreten Möglichkeit der Kenntnisnahme durch Minderjährige geht, ist mithin bei Nr. 2 die abstrakte Möglichkeit einer
solchen Kenntnisnahme bereits ausreichend252; darauf, ob
sich im konkreten Einzelfall auch tatsächlich ein Minderjähriger im Einzugsbereich jenes – grundsätzlich auch Minderjährigen zugänglichen oder von ihnen einsehbaren – Ortes
befindet, kommt es also nicht an253 (zu der ganz anderen
Frage, ob denn die konkrete Tathandlung als solche ein Zugänglichwerden für Minderjährige überhaupt auch ermöglichen muss, vgl. noch unten d).
a) Die Zugänglichkeit des Ortes
Minderjährigen „zugänglich“ ist jeder Ort, der von ihnen
ohne Überwindung rechtlicher oder tatsächlicher Hindernisse
betreten werden kann254. Das sind255 Orte, die öffentlich zugänglich sind (wie Straßen, Plätze, Geschäfte, Gaststätten),
aber auch Orte, die nur einem begrenzten Personenkreis,
darunter jedoch auch Minderjährigen, offenstehen (wie Schulen, Bibliotheken, aber auch die elterliche Wohnung) – und
dabei insbesondere alle Orte, an denen Minderjährige ins
Internet gelangen können256.
Zugangsverbote genügen nur, wenn sie im Sinne einer effektiven Schranke auch wirksam sind, ihre Beachtung also
kontrolliert und ggf. auch durchgesetzt wird257, so dass das
bloße Aufhängen eines Schildes für sich alleine noch nicht
ausreicht258. Dabei muss die Kontrolle schon beim Betreten
erfolgen, nicht erst beim Bezahlen an der Kasse259. Bloße
Stichproben stellen keine hinreichende objektive Barriere dar.
Dass der Jugendliche sich bei nicht gestattetem Betreten ggf.
wegen Hausfriedensbruchs gem. § 123 StGB strafbar macht,
hindert nicht die Bejahung der Zugänglichkeit260.
b) Die Einsehbarkeit des Ortes
Ein Ort kann von Minderjährigen „eingesehen werden“,
wenn sie Zugang zu einem Ort haben, von dem aus eine entsprechende Einsichtnahme möglich ist261, etwa die Leinwand
des Autokinos vom Wohnhaus gegenüber gut sichtbar ist262;
die Sichtbarkeit allein neutraler, unverfänglicher Gegenstände oder Vorgänge bzw. bloß der vor Ort anwesenden Kunden
genügt für sich noch nicht263.
Keine „Einsehbarkeit“ ist gegeben, wenn erst besondere
Anstrengungen erforderlich sind, um die pornografischen
253
246
So aber (offenbar den verantwortlich Erziehenden vor
Augen) Schroeder (Fn. 242), S. 399; zu Recht dagegen
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 950, und (gerade das Gegenteil vermutend) Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 99.
247
So schon der Gesetzgeber (näher Schroeder [Fn. 242],
S. 394 ff.); ebenso die h.M., vgl. Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 13), § 184 Rn. 47; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 22; a.A.
jedoch Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 24.
248
So Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 47; Hörnle
(Fn. 13), § 184 Rn. 100; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 22;
Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 46; abl. jedoch Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 954.
249
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 955; Laufhütte/Roggenbuck
(Fn. 13), § 184 Rn. 51; Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 22, 24.
250
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 957; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 36 („ist die Strafbarkeit deutlich vorverlagert“).
251
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 23.
252
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 957; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 36.
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 957.
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 959; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 33.
255
Näher Laubenthal (Fn. 2), Rn. 959; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 33.
256
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 959; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 24;
Fischer (Fn. 18), § 184 Rn. 11a.
257
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 960; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 34.
258
Hilgendorf (Fn. 43), § 184 Rn. 19; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 34.
259
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 34; siehe auch Laubenthal
(Fn. 2), Rn. 998.
260
OLG Celle MDR 1985, 693; Hilgendorf (Fn. 43), § 184
Rn. 19.
261
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 963; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 35.
262
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 964.
263
So ganz richtig Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 35 m.w.N.;
a.A. jedoch OLG Hamburg NJW 1992, 1184.
254
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ZJS 2/2016
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Die Verbreitung von Pornografie gem. § 184 StGB – Teil 1
Darstellungen wahrnehmen zu können (man denke an das
Klettern durch ein Fenster oder den Einsatz eines Fernrohrs264), und – was letztlich dem insoweit klaren Gesetzestext („eingesehen werden kann“) geschuldet ist265 – auch
dann nicht, wenn nur eine akustische Wahrnehmbarkeit besteht, etwa die Stöhn-Geräusche eines Pornofilms durch Tür
oder Fenster nach außen dringen266.
c) Der maßgebliche Zeitpunkt
Erforderlich ist, dass Minderjährige gerade zu dem Zeitpunkt
Zutritt zu dem Ort (bzw. die Möglichkeit der Einsichtnahme)
haben, zu dem dort auch Pornografie präsentiert (d.h. ausgestellt, angeschlagen, vorgeführt, sonst zugänglich gemacht)
wird267. Der Tatbestand der Nr. 2 ist also nicht erfüllt, wenn
Minderjährige zwar sonst, nicht aber gerade zum Zeitpunkt
entsprechender Präsentation Zutritt haben – wie etwa, wenn
in der elterlichen Wohnung oder in dem (tagsüber auch
Jugendlichen offenstehenden) Autokino Pornofilme laufen,
während dieser Zeit jedoch die Anwesenheit Minderjähriger
sicher ausgeschlossen ist, weil die Kinder bspw. in der Schule oder verreist sind bzw. beim Einlass ins Autokino nunmehr
Ausweiskontrollen stattfinden268.
d) Das Zugänglichmachen der Schrift
Zum Zeitpunkt möglichen Zutritts bzw. möglicher Einsichtnahme durch Minderjährige muss die pornografische Schrift
an dem betreffenden Ort „zugänglich gemacht“ werden –
wobei es gerade um den Fall geht, dass (tatsächlich oder
zumindest potentiell anwesenden) erwachsenen Personen die
Möglichkeit der Kenntnisnahme von pornografischen Inhalten eröffnet wird; vgl. zur Tathandlung des „Zugänglichmachens“ bereits ausführlich oben 1. a) cc).
Ungeachtet des Umstandes, dass es für die „Einsehbarkeit“ eines Ortes nicht genügt, wenn nur eine akustische
Wahrnehmbarkeit pornografischer Inhalte gegeben ist (vgl.
oben b), erfasst der in § 74d Abs. 4 StGB genannte Begriff
des „Vorführens“ auch die nur akustische Wiedergabe von
Tonträgern269.
Bei alledem muss die konkrete Tathandlung als solche –
d.h. der konkrete Akt des Zugänglichmachens – ein Zugänglichwerden für (potentiell anwesende bzw. zusehende) Minderjährige überhaupt auch ermöglichen, was eine vom Problem der Zugangsbeschränkung zum jeweiligen Ort zu tren-
STRAFRECHT
nende Frage darstellt. Mittels teleologischer Reduktion (vgl.
bereits oben III. 3.) ist unter diesem Gesichtspunkt eine
Strafbarkeit abzulehnen, wenn in der konkreten Situation die
Wahrnehmung pornografischer Inhalte durch Minderjährige
auch dann ausgeschlossen wäre, wenn sie denn anwesend
wären, was – über den Fall hinaus, dass am betreffenden Ort
pornografisches Material nur in diskreter Weise (bspw. in
verpackter Form) einem Erwachsenen überreicht wird270, –
ganz allgemein immer dann gegeben ist, wenn eine (im Hinblick auf die Wahrnehmbarkeit vor Ort) wirksame Zugangshinderung gegenüber Minderjährigen besteht – wie bei der
Auslage von Pornoheften in teilverdeckender Plastikfolie
oder bei technischen Zugangserschwerungen durch Altersverifikationssysteme bei Inhalten im Fernsehen oder Internet
(vgl. zu alledem oben 1. b) bb)/cc) sowie zuvor schon
III. 3. a).
e) Zur Anwendbarkeit des Erzieherprivilegs
Das vom Gesetz explizit nur für Nr. 1 angeordnete Erzieherprivileg des Abs. 2 S. 1 (vgl. hierzu bereits oben 1. c) gilt –
argumentum a majore ad minus271 – in analoger Anwendung272 auch in den Fällen der Nr. 2, freilich nur unter der
Voraussetzung, dass sichergestellt ist, dass die pornografischen Inhalte lediglich solchen Kindern und Jugendlichen
wahrnehmbar werden können, die der Personensorge des
Handelnden unterliegen273.
Der Beitrag wird fortgesetzt.
264
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 964; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 25;
Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 29.
265
So ganz richtig Laubenthal (Fn. 2), Rn. 964.
266
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 25; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 964;
siehe auch Wolters (Fn. 21), § 184 Rn. 29, der stattdessen
aber bereits die erste Tatbestandsvariante (Zugänglichkeit des
Ortes) bejahen will (dagegen zu Recht Eisele a.a.O.).
267
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 961; Wolters (Fn. 21), § 184
Rn. 28.
268
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 963; Hörnle (Fn. 13), § 184
Rn. 33.
269
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 966; Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 26;
Laufhütte/Roggenbuck (Fn. 13), § 184 Rn. 21.
270
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 36.
Laubenthal (Fn. 2), Rn. 958; siehe auch Hörnle (Fn. 13),
§ 184 Rn. 38: um ein Leerlaufen des Privilegs zu verhindern.
272
Eisele (Fn. 4), § 184 Rn. 27; Laubenthal (Fn. 2), Rn. 958;
Hörnle (Fn. 13), § 184 Rn. 38; Wolters (Fn. 21), § 184
Rn. 33.
273
Vgl. die in Fn. 272 Genannten, die jedoch insoweit nur auf
die Zugänglichkeit des Ortes abstellen.
271
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149
Arbeitsrecht im Rahmen eines Unternehmenskaufes
Von Dr. Christine Gömöry, Köln*
In Heft 2/20151 wurde bereits auf die enorme Bedeutung von
Grundwissen zum Ablauf eines Unternehmenskaufs für wissenschaftliche Mitarbeiter, Referendare und Berufseinsteiger
hingewiesen. Sie werden häufig in Transaktionen eingebunden, so dass es in jedem Falle ratsam ist, einen Überblick
über den Prozess zu haben und auch ein Gefühl für typische
Fragestellungen und Probleme zu entwickeln, um im „Ernstfall“ die vom Vorgesetzten erhaltenen Aufgaben richtig einordnen und mit einer sachgerechten Lösung punkten zu können. Der folgende Beitrag legt den Fokus auf typische arbeitsrechtliche Probleme, mit denen im Rahmen der Due
Diligence, also der sorgfältigen Prüfung der Zielgesellschaft
durch den Kaufinteressenten, der Vertragsgestaltung sowie
der Integration der erworbenen Gesellschaft in die Strukturen des Erwerbers zu rechnen ist. Zudem zeigt dieser Beitrag
auf, dass das Arbeitsrecht – entgegen der unter Studenten
oftmals verbreiteten Annahme, es gehe nur um Kündigungen
– eine Vielzahl weiterer Fragestellungen beinhaltet, die von
größter Praxisrelevanz sind und hier erweiterte Grundkenntnisse bei der praktischen Tätigkeit durchaus von Vorteil sind.
I. Vorbemerkung
Dem Arbeitsrecht kommt für ein Unternehmen eine besonders hohe wirtschaftliche Bedeutung zu, stellen doch Gehaltszahlungen sowie die Lohnnebenkosten einen der wichtigsten Kostenblöcke in Unternehmen dar.2 Neben den Kosten ist auch das Interesse des Erwerbers eines Unternehmens,
besonders wichtige Mitarbeiter der Zielgesellschaft „an
Bord“ zu behalten, zu betonen. Freilich darf auch der persönliche Eindruck des Erwerbers von betrieblichem Klima, der
Motivation und Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter sowie vom
Verhältnis zwischen Geschäftsleitung und einem eventuell
vorhandenen Betriebsrat nicht unterschätzt werden. Dieser
wichtige Aspekt lässt sich nur schwerlich niederschreiben,
sondern erfordert einen Vor-Ort-Besuch, der auch ein Gespräch mit der Personalleitung beinhalten kann – ein besonderes Augenmerk muss hier auf die Frage, ob dies aus
Geheimhaltungsgesichtspunkten gestattet ist, gelegt werden.
II. Unterscheidung Share Deal/Asset Deal
Typischerweise wird bereits in einem frühen Stadium die
Transaktionsstruktur festgelegt, deren Grundverständnis für
jeden an der Transaktion Beteiligten unerlässlich ist. Zu unterscheiden ist, ob der Erwerb des Unternehmens oder Teilen
davon im Wege eines Asset oder eines Share Deals erfolgen
soll. Oftmals geben die steuerlichen Auswirkungen des Un* Die Autorin ist Rechtsanwältin und Leiterin des Studiengangs „Wirtschaftsrecht“ an der Hochschule Fresenius in
Köln.
1
Gömöry, ZJS 2015, 153.
2
Stratz/Hettler, in: Hettler/Stratz/Hörtnagl, Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, 2. Aufl. 2013, § 1 Rn. 16;
Uhl, in: Hettler/Stratz/Hörtnagl, Beck’sches Mandatshandbuch Unternehmenskauf, 2. Aufl. 2013, § 9 Rn. 8.
ternehmenskaufs sowie Haftungsrisiken den Ausschlag für
die Entscheidung3.
1. Asset Deal
Bei einem Asset Deal tritt die Gesellschaft selbst als Verkäufer auf, veräußert einzelne Vermögensgegenstände und überträgt Verträge sowie Verbindlichkeiten auf den Erwerber.
Arbeitsrechtlich von Bedeutung ist an dieser Stelle § 613a
BGB, der festlegt, dass bei dem Übergang eines Betriebs oder
Betriebsteils der neue Inhaber in die Rechte und Pflichten aus
den im Zeitpunkt des Betriebsübergangs bestehenden Arbeitsverhältnissen eintritt. Wenn feststeht, dass Arbeitsverhältnisse gem. § 613a BGB auf den Erwerber übergehen, ist
es für diesen wichtig, über die wirtschaftlichen Folgen und
Risiken des Übergangs sowie über die sonstigen Bedingungen der Arbeitsverträge informiert zu werden. An dieser
Stelle wird neben der Frage, ob im konkreten Einzelfall ein
Betriebsübergang vorliegt, unter anderem eine saubere Prüfung der Arbeitsverträge vorzunehmen sein, siehe unten unter
III. 2.
2. Share Deal
Demgegenüber werden beim Share Deal (alle oder ein gewisser Prozentsatz der) Anteile an dem Zielunternehmen („Target“) durch den oder die Gesellschafter veräußert. Es folgt
somit lediglich ein Wechsel im Gesellschafterkreis der Zielgesellschaft und die arbeitsrechtliche Zuordnung der Arbeitnehmer ändert sich nicht – sie bleiben bei der Zielgesellschaft
beschäftigt, ein Betriebsübergang findet nicht statt. Hier
besteht gleichermaßen ein Interesse des Erwerbers an einer
umfassenden Information über die Arbeitsverhältnisse und
eventueller Risiken, um den Wert der zu erwerbenden Beteiligung abschätzen zu können.
III. Arbeitsrecht in der Due Diligence
1. Begriff und Funktion einer Due Diligence
Eine Due Diligence stellt eine umfassende Prüfung („prospektive Risikoprüfung“4) der Zielgesellschaft dar, bei der vor
allem mögliche Risiken, die durch die Durchführung der
Transaktion (mittelbar) auf den Erwerber übergehen würden,
identifiziert werden. Der Käufer versucht durch diese Prüfung des Unternehmens den Informations- und Wissensvorsprung des Verkäufers zu reduzieren5 und die Wahrscheinlichkeit eines Fehlkaufes – der wegen der herausragenden
Bedeutung eines Unternehmenserwerbs tunlichst zu vermeiden ist – zu minimieren.6 Als weitere wichtige Funktionen
3
Osnabrügge, INF 2007, 151 (152).
Hörtnagl/Zwirner, in: Hettler/Stratz/Hörtnagl, Beck’sches
Mandatshandbuch Unternehmenskauf, 2. Aufl. 2013, § 2
Rn. 1.
5
Beisel/Klumpp, Der Unternehmenskauf, 5. Aufl. 2006,
S. 31.
6
Hörtnagl/Zwirner (Fn. 4), § 2 Rn. 2.
4
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ZJS 2/2016
150
Arbeitsrecht im Rahmen eines Unternehmenskaufes
sind vor allem die Überprüfung der bewertungs- und somit
kaufpreisrelevanten Faktoren des Zielunternehmens, die
Ermittlung einer Grundlage für den in den Unternehmenskaufvertrag aufzunehmenden Garantiekatalog sowie das Ziel,
eine optimale Transaktionsstruktur zu ermitteln, zu nennen.7
Zudem kann eine arbeitsrechtliche Due Diligence offenlegen,
welche Restrukturierungsmöglichkeiten bestehen oder Probleme, die im Rahmen einer unter Umständen geplanten Restrukturierung auftreten können, so rechtzeitig aufzeigen, dass
andere Gestaltungsmöglichkeiten in Erwägung gezogen werden.8 „Worst case“ ist die Identifizierung sog. „Deal Breaker“, also besonders gravierender, für den Erwerber nicht
akzeptabler Risiken, die nicht beseitigt werden können und
somit zum Scheitern des Kaufvorhabens führen.9 Als Arbeitsergebnis der Due Diligence wird dem Kaufinteressenten
(also aus Anwaltssicht dem Mandanten) eine Due Diligence
Report zur Verfügung gestellt, der die aufgedeckten Risiken
(„Findings“) und Hinweise, wie mit diesen umgegangen
werden sollte, anführt. Daneben sollten in dem Due Diligence
Report auch Umstände, die angefragt aber nicht aufgeklärt
werden konnten und somit eine gewisse Unsicherheit bergen,
offengelegt werden. Sofern der Mandant mit dem deutschen
Arbeitsrecht nicht vertraut ist, sind die arbeitnehmerschützenden Regelungen unseres Arbeitsrechts gegebenenfalls zu
betonen – gerade das deutsche Kündigungsschutzrecht ist Investoren aus dem US-amerikanischen Raum teilweise schwer
vermittelbar.
2. Typische arbeitsrechtliche Fragestellungen
Die Personalsituation der Zielgesellschaft wird einer ausführlichen Prüfung unterzogen, bei der oftmals eine Einbindung
von Referendaren, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Berufseinsteigern erfolgt.
a) Anforderung von Informationen und Dokumenten
Durch eine „Document Request List“ werden vom Verkäufer
Informationen angefragt, auf deren Basis die Due Diligence
durchgeführt wird. Diese Dokumente werden in einen virtuellen Datenraum, für den die Berater des Kaufinteressenten
Zugangsdaten erhalten, eingestellt. Angefordert werden im
Bereich Arbeitsrecht in der Regel folgende Dokumente10
(wobei freilich in jedem Einzelfall die folgende Liste kritisch
überprüft und gegebenenfalls zu kürzen oder zu ergänzen ist
– „schlechte“ Anforderungslisten können ein gutes Verhandlungsklima schnell ins Gegenteil verkehren und einen zeitund kostenintensiven Mehraufwand zur Folge haben):
Liste der Arbeitnehmer sowie leitender Angestellter mit
Angabe von Alter, Eintrittsdatum, Funktion, Vergütung
7
Hörtnagl/Zwirner (Fn. 4), § 2 Rn. 4-9.
Sandmann, in: Beisel/Andreas, Due Diligence, 2. Aufl.
2010, § 20 Rn. 1.
9
Hörtnagl/Zwirner (Fn. 4), § 2 Rn. 10 mit Beispielen für
typische Deal Breaker.
10
Vgl. hierzu auch beispielsweise die Liste bei Beisel/
Klumpp, Der Unternehmenskauf, 6. Aufl. 2009, § 20 Rn. 27.
ZIVILRECHT
sowie Angaben über besonderen Bestandsschutz; Informationen über Voll- oder Teilzeitbeschäftigung
Arbeits- und Dienstverträge über […] Euro (der genaue
Betrag ist nach den Verhältnissen des Unternehmens zu
bestimmen, oftmals ist ein Betrag zwischen 50.000 und
70.000 € sachgerecht) sowie Musterverträge für Arbeitnehmer, befristet angestellte Arbeitnehmer, Teilzeitbeschäftigte, freie Mitarbeiter etc.
Liste mit allen sonstigen Vereinbarungen bezüglich Gewinn- und Umsatzbeteiligungen sowie sonstiger Bezüge
Verträge mit Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern
bzw. Geschäftsführern
Angaben zu allen Betriebsvereinbarungen und Tarifverträgen
Angaben zu allen Vertragsverhältnissen mit möglichen
Verpflichtungen nach § 89 HGB
Beraterverträge
Informationen zu bereits ausgesprochenen oder bevorstehenden Kündigungen
Informationen zu arbeitsrechtlichen Rechtsstreiten.
Daneben ist es für die Gewinnung eines Überblicks über die
Zielgesellschaft sinnvoll, Organisationspläne sowie Organigramme anzufordern, aus denen sich Verantwortungsbereiche
ergeben. Hilfreich für ein Grundverständnis sind zudem Informationen über die Entwicklung des Personalbestandes in
den vergangenen Jahren inklusive Angaben über die Fluktuationsrate.11 Auch Angaben zu einem eventuell auffälligen
Krankenstand sind meist für den Erwerber interessant.12
b) Betriebsübergang
aa) Bedeutung des Betriebsübergangs
Soll ein Asset Deal erfolgen, ist die Frage nach dem Vorliegen eines Betriebsübergangs mit der Folge des Übergangs der
Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber gem. § 613a BGB von
essentieller Bedeutung. Im Falle eines Übergangs wird der
Erwerber verpflichtet, die Arbeitsleistung der übergegangenen Arbeitnehmer entgegenzunehmen und ihre Ansprüche
(Lohn, Urlaub etc.) zu erfüllen. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass der Erwerber auch in bereits entstandene Ansprüche der übergegangenen Arbeitnehmer eintritt. Veräußerer
und Erwerber haften gem. § 613a Abs. 2 BGB im Außenverhältnis gegenüber den Arbeitnehmern gesamtschuldnerisch
für diejenigen Ansprüche, die innerhalb eines Jahres beginnend an dem Tag des Übergangs geltend gemacht werden.
Zwar kann im Kaufvertrag im Innenverhältnis eine Haftung
des Veräußerers für derartige Alt-Ansprüche der Arbeitnehmer vereinbart werden, jedoch sind hier die oftmals vereinbarten Haftungsausschlüsse und Haftungsbegrenzungen genau zu beachten.13 Zudem trägt der Erwerber, der für die
übergegangenen Verpflichtungen gegenüber den Arbeitnehmern unmittelbar haftet, selbst bei einer im Kaufvertrag ver-
8
11
Sandmann (Fn. 8), § 20 Rn. 5, 7.
Sandmann (Fn. 8), § 20 Rn. 7.
13
Siehe hierzu Gömöry, ZJS 2015, 153 (156).
12
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151
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Christine Gömöry
einbarten Freistellung durch den Verkäufer dessen Insolvenzrisiko.
bb) Vorliegen eines Betriebsübergangs
Die Frage, ob ein Betriebsübergang vorliegt und wie die
Rechtsfolgen durch geeignete Maßnahmen umgangen werden
können, ist von größter Komplexität geprägt und wird wohl
nur selten durch einen Berufseinsteiger abschließend zu klären sein. Um ein Grund- und Problemverständnis hierfür zu
erhalten, sollte man sich mit den vom EuGH entwickelten
Kriterien14, dem sogenannten „Sieben-Punkte-Katalog“, sowie einschlägiger Literatur15 vertraut machen.
cc) Übergang von Arbeitsverhältnissen
Hinzuweisen ist darauf, dass von dem Übergang lediglich
Arbeitsverhältnisse und nicht etwa Rechtsverhältnisse mit
Organmitgliedern juristischer Personen – also Vorständen
und Geschäftsführern – erfasst sind, da diesen ein Dienstvertrag zugrunde liegt.16 Wird eine Weiterbeschäftigung durch
den Erwerber angestrebt, sind hierzu gesonderte Verhandlungen mit den jeweiligen Personen erforderlich. Auch Verträge
mit Beratern oder freien Mitarbeitern gehen nicht auf den
Erwerber über – anders ist dies freilich bei den sogenannten
„Scheinselbstständigen“, was zu vor allem finanziell unschönen Überraschungen führen kann17, siehe unten unter
III. 2. f).
Verträge mit Handelsvertretern gehen, da sie keine Arbeitnehmer sind, ebenfalls nicht nach § 613a BGB über. Sind
sie für die Aufrechterhaltung der Vertriebsstruktur wichtig,
sollte sich der Erwerber mit dem Handelsvertreter über eine
Aufrechterhaltung der Beziehung in Verbindung setzen. Risikobehaftet für den Veräußerer sind in diesem Zusammenhang
mögliche Ausgleichsansprüche des Handelsvertreters nach
§ 89b HGB18.
Im Zusammenhang mit dem Betriebsübergang sollte noch
auf eine weitere praxisrelevante Schwierigkeit hingewiesen
werden, und zwar auf die der Zuordnung von Arbeitnehmern,
sofern nur ein Betriebsteil auf den Erwerber gem. § 613a
BGB übergeht. Grundsatz ist, dass nur diejenigen Arbeitsverhältnisse übergehen, die dem übergehenden Betriebsteil
zugeordnet sind. Mitarbeiter in der Verwaltung oder in Querschnittsbereichen wie beispielsweise Personal, Buchhaltung,
IT werden danach zugeordnet, wo der absolute oder zumin-
dest relative Arbeitsplatzschwerpunkt ist19 – genaue Kriterien
für die Ermittlung des Schwerpunktes sind jedoch noch nicht
vorhanden.20
Die Fortgeltung von Betriebsvereinbarungen sowie Tarifverträgen sollte im Falle eines Betriebsübergangs ebenfalls
genau geprüft werden.21
dd) Unterrichtungsschreiben
Nach § 613a Abs. 5 BGB sind die von dem Betriebsübergang
betroffenen Arbeitnehmer über den (geplanten) Zeitpunkt,
den Grund, die rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen
Folgen des Übergangs sowie über die hinsichtlich der Arbeitnehmer in Aussicht gestellten Maßnahmen in Textform zu
unterrichten. Die Unterrichtung erfolgt durch den bisherigen
Arbeitgeber oder den neuen Inhaber. Für solche Unterrichtungsschreiben gibt es Muster, die jedoch kritisch überprüft
und genau auf den Einzelfall angepasst werden müssen. Hier
ist eine sorgfältige Zusammenarbeit von Veräußerer und
Erwerber erforderlich. Nach Zugang eines ordnungsgemäßen
Unterrichtungsschreibens hat jeder Arbeitnehmer gem.
§ 613a Abs. 6 BGB die Möglichkeit, dem Übergang des Arbeitsverhältnisses innerhalb eines Monats zu widersprechen.
Ein unrichtiges Unterrichtungsschreiben gem. § 613a
Abs. 5 BGB kann fatale Folgen haben wie beispielhaft der
BenQ-Fall zeigt: Der Erwerber wurde insolvent und die auf
ihn übergegangenen Arbeitnehmer konnten sich auf die Fehlerhaftigkeit des Unterrichtungsschreibens berufen – mit der
Folge, dass die Arbeitnehmer dem Übergang ihrer Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber auch noch mehr als ein Jahr
nach dem Zugang des Schreibens widersprechen konnten und
noch beim Veräußerer beschäftigt waren.22 Ein fehlerhaftes
Unterrichtungsschreiben setzt nämlich die genannte Widerspruchsfrist des Arbeitnehmers von einem Monat nach Zugang der Unterrichtung nicht in Gang, so dass dieser bis zur
Grenze der Verwirkung möglich bleibt. Dies verdeutlicht die
Bedeutung eines fehlerfreien Unterrichtungsschreibens.
c) Inhalt der Dienst- und Arbeitsverträge
Bei Arbeits- und Dienstverträgen geht es primär um die Aufdeckung der von der Zielgesellschaft gewährten Leistungen
und besonders kostenintensiver Klauseln.23
Besonderes Augenmerk ist in der Due Diligence ferner
auf die Überprüfung der Dienstverträge mit den unternehmensleitenden Personen, insbesondere den Organen, zu rich-
14
EuGH, Urt. v. 12.2.2009 – C-466/07; BAG, Urt. v.
17.12.2009 – 8 AZR 1019/08.
15
Aus der Ausbildungsliteratur sei hier beispielsweise genannt: Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2015,
Rn. 134 ff.; eine praxisgerechter Überblick findet sich auch
bei Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 33 ff.
16
Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 89 f. mit dem zutreffenden Hinweis
darauf, dass ggf. ein früherer Arbeitsvertrag mit einem Mitarbeiter, der zum Geschäftsführer bestellt wird, noch in Form
eines ruhenden Arbeitsverhältnisses bestehen kann.
17
Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 93.
18
Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 94b.
19
BAG, Urt. v. 22.7.2004 – 8 AZR 350/03.
Eine gute Darstellung unter Hinweis auf Rechtsprechung
und Literatur findet sich bei Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 97 ff.
21
Hier sei auf die einschlägige Literatur zu § 613a BGB
verwiesen; siehe hierzu beispielsweise Preis, in: Erfurter
Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016, § 613a BGB
Rn. 111 ff.
22
Siehe hierzu BAG, Urt. v. 23.7.2009 – 8 AZR 538/08 sowie http://www.manager-magazin.de/unternehmen/it/a-63790
0.html (22.3.2016).
23
Sandmann (Fn. 8), § 20 Rn. 9.
20
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ZJS 2/2016
152
Arbeitsrecht im Rahmen eines Unternehmenskaufes
ten.24 Möglicherweise ist es für den Erwerber wichtig, sich
rasch von Leitungspersonen zu trennen, um eine eigene Führungsriege zu etablieren, so dass die rechtliche Möglichkeit
einer Trennung sowie die damit verbundenen Kosten frühzeitig erkennbar werden sollen.25 Daneben ist die Kenntnis des
Erwerbers von wesentlichen Vertragsbestandteilen im Falle
des Fortbestands der Verträge wichtig.
Für einen Großteil der Arbeitnehmer können vom Verkäufer, insbesondere bei Unternehmen mit einer hohen Zahl
an Mitarbeitern, Musterarbeitsverträge bereitgestellt werden,
die dann einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Oftmals ist an dieser Stelle zu prüfen, ob einzelne arbeitsvertragliche Regelungen einer AGB-Prüfung standhalten. Beispielhaft seien hier die mögliche Unwirksamkeit einer Klausel zur
pauschalen Abgeltung von Überstunden26 sowie möglicherweise unwirksame Ausschlussklauseln27 genannt28. Auch
Vereinbarungen über Wettbewerbsverbote für wichtige Mitarbeiter sollten einer rechtlichen Prüfung unterzogen werden.29 Im Zusammenhang mit einer AGB-rechtlichen Prüfung
ist eine genaue Durchsicht der aktuellen Rechtsprechung und
Literatur dringend erforderlich. Gleiches gilt auch für Klauseln, die AGG-rechtlich bedenklich sind.
Der weitere Fokus bei einer Überprüfung der Dienst- und
Arbeitsverträge im Rahmen einer Due Diligence liegt insbesondere auf der Ermittlung der Dauer der Beschäftigung, der
Kündigungsfristen30 bzw. bei befristeten Verträgen der Restlaufzeit, des Bestehens von Change-of-Control Klauseln31
sowie der Entgeltansprüche (feste und variable Vergütungs24
Hörtnagl/Zwirner (Fn. 4), § 2 Rn. 167.
Hörtnagl/Zwirner (Fn. 4), § 2 Rn. 167.
26
Zu den Grenzen bei Regelungen zur pauschalen Abgeltung
von Überstunden siehe Wahling, in: Grobys/Panzer, Stichwortkommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2014, Stichwort
„Überstunden/Mehrarbeit“.
27
Zur Inhaltskontrolle von Ausschlussfristen in Formulararbeitsverträgen siehe beispielsweise Schönhoft, in: Grobys/
Panzer, Stichwortkommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl.
2014, Stichwort „Ausschlussfristen“.
28
Weitere Hinweise zu typischen Klauseln und ihrer
(Un-)Wirksamkeit finden sich bei Preis (Fn. 21), §§ 305-310
BGB Rn. 51 ff.
29
Relevant ist neben der Frage, ob überhaupt ein Wettbewerbsverbot besteht, die Prüfung der Wirksamkeit eines
solchen Verbots. Fokus ist hier auf Schriftform, Einhaltung
der zeitlichen, räumlichen sowie inhaltlichen Grenzen sowie
auf die Angemessenheit der Karenzentschädigung zu richten.
30
Hier ist zu klären, ob Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung mit ihren Kündigungsfristen Anwendung finden, ob der
Arbeitsvertrag Kündigungsfristen benennt oder ob § 622
BGB einschlägig ist.
31
Unter „Change-of-Control-Klauseln“ versteht man Klauseln, die die Rechtsfolge im Falle eines Kontrollwechsels
regeln. Teilweise sind hier Sonderkündigungsrechte vorgesehen, die im Due Diligence Report genannt werden müssen
und für den Erwerber insbesondere bei Organpersonen und
andere Schlüsselmitarbeitern wegen des Kündigungsrisikos
von Bedeutung sind.
25
ZIVILRECHT
bestandteile)32. Auch ein vertraglicher Anspruch auf die Zurverfügungstellung eines Dienstwagens, Lebens- oder Direktversicherungen kann nennenswerte finanzielle Folgen mit
sich bringen, über die der Erwerber informiert werden sollte.
Bei befristeten Arbeitsverträgen ist die Zulässigkeit der
Befristung insbesondere nach § 14 TzBfG zu überprüfen. Im
Falle einer unwirksamen Befristung hat der Arbeitnehmer die
Möglichkeit, diese Unwirksamkeit innerhalb einer Frist von
drei Wochen gem. § 17 TzBfG geltend zu machen mit der
Folge, dass ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht.
Neben den Arbeitsverträgen sind, sofern anwendbar, Tarifverträge und, sofern vorhanden, Betriebsvereinbarungen zu
analysieren. Auch hier liegt besonderes Augenmerk auf den
wirtschaftlichen Parametern wie Sonderzahlungen, Tantiemen und Gratifikationen.
Es sei auf ein mögliches Interesse des Erwerbers hingewiesen, dass bestimmte, besonders wichtige Arbeitnehmer
(oft „Key Employees“ genannt; wer darunter zählt, wird
meinst im Zuge der Due Diligence ermittelt) nach Vollzug
des Asset oder Share Deals bei ihm bzw. der Zielgesellschaft
weiterarbeiten und ihr Arbeitsverhältnis nicht kündigen. In
der Praxis wird diesen Key Employees oftmals eine Bleibeprämie angeboten.33
d) Betriebliche Übung
Die Frage, ob eine betriebliche Übung34 besteht, auf die im
Due Diligence Report hinzuweisen ist, lässt sich für außenstehende Berater nicht mit letzter Sicherheit beurteilen. Sie
sind auf zutreffende Angaben der Zielgesellschaft angewiesen und es sollte auf eine Absicherung im Garantiekatalog
des Kaufvertrages dahin gehend geachtet werden, dass nur
die in einer Anlage zum Kaufvertrag angeführten betrieblichen Übungen (und somit dem Käufer bekannten) bzw. gar
keine betrieblichen Übungen bestehen.
Der Bestand einer betrieblichen Übung, die Geldleistungen zum Gegenstand hat, ist für die Frage der Finanzplanung
seitens des Erwerbers von wesentlicher Bedeutung, zumal
dieser nicht davon ausgehen kann, eine betriebliche Übung
beenden zu können.35 Hat die betriebliche Übung andere
Inhalte, sind diese insbesondere für die Personalplanung von
Bedeutung, beispielsweise ein aus betrieblicher Übung resultierender Anspruch auf Freizeit an Brauchtumstagen.
e) Sonderkündigungsschutz
Nach deutschem Recht genießen bestimmte Personengruppen
einen Sonderkündigungsschutz, wie beispielsweise Schwerbehinderte und gleichgestellte Menschen (§ 85 SGB IX),
Betriebsratsmitglieder (§ 15 KSchG), Datenschutzbeauftragte
32
Hörtnagl/Zwirner (Fn. 4), § 2 Rn. 167.
Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 92.
34
Zum Begriff siehe beispielsweise Altenburg, in: Grobys/
Panzer, Stichwortkommentar zum Arbeitsrecht, 2. Aufl.
2014, Stichwort „Betriebliche Übung“.
35
Zu den Möglichkeiten, eine betriebliche Übung zu beenden, siehe Altenburg (Fn. 34), Stichwort „Betriebliche
Übung“ Rn. 12 ff.
33
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153
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Christine Gömöry
(§ 4f Abs. 3 S. 5 und 6 BDSG), Schwangere und Mütter nach
der Entbindung (§ 9 MuSchG), Mitarbeiter in Elternzeit (§ 18
Abs. 1 S. 1 BEEG) etc. Auch solche Informationen sind für
den Erwerber von Bedeutung und bedürfen einer Erwähnung
im Due Diligence Report.
f) Freie Mitarbeiter
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ sollte bei der Due
Diligence beachtet und auf diesbezügliche Risiken sollte
hingewiesen werden. Für die Abgrenzung zwischen freiem
Mitarbeiter und Arbeitnehmer sind nicht die Bezeichnung im
Vertrag, sondern die tatsächlichen Gegebenheiten, also die
gelebte Praxis, ausschlaggebend.36 Ein Arbeitnehmer ist in
die Betriebsorganisation des Arbeitgebers eingegliedert;
kennzeichnend für diese Eingliederung ist das Weisungsrecht
des Arbeitgebers betreffend die Ausübung der Tätigkeit.37
Diese Abhängigkeit ist zu verneinen, wenn der Mitarbeiter
frei und selbstständig über Zeit, Ort, Auftraggeber und Inhalt
seiner Tätigkeit entscheiden kann.38
Oftmals kann aufgrund der vom Veräußerer zur Verfügung gestellten Informationen die erforderliche Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles nicht erfolgen und
somit eine Einstufung nicht rechtssicher vorgenommen werden, so dass diese Unsicherheit in den Due Diligence Report
aufzunehmen ist – nebst der Risiken: Entpuppt sich ein freier
Mitarbeiter39 aufgrund der fehlenden Selbstständigkeit als
Arbeitnehmer („Scheinselbstständigkeit“), drohen vor allem
die folgenden Auswirkungen: im Falle eines Betriebsübergangs geht er wie ein Arbeitnehmer auf den Erwerber über –
ein „echter“ freier Mitarbeiter ist hingegen nicht von § 613a
Abs. 1 BGB erfasst – und es bestehen erhebliche Nachforderungen der Finanzämter sowie Sozialversicherungsträger
hinsichtlich Lohnsteuer (§ 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG) bzw. Sozialversicherung (§ 28e Abs. 1 SGB IV)40. Zudem gelten für
die betroffenen Mitarbeiter sämtliche arbeitsrechtlichen
Schutzvorschriften41, wie beispielsweise erschwerte Loslö-
sungsmöglichkeiten infolge der Geltung des Kündigungsschutzgesetzes.
g) Leiharbeitnehmer
Sofern die Zielgesellschaft Leiharbeitnehmer beschäftigt, ist
eine Prüfung insbesondere dahin vorzunehmen, ob die erforderlichen Erlaubnisse vorliegen, eine Vergütung nach dem
Grundsatz „equal pay“ erfolgt,42 ob die Überlassung „vorübergehend“ im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG erfolgt etc.
h) Sonstiges
Auf die finanzielle Bedeutung bestehender Regelungen zur
Altersversorgung sei an dieser Stelle hingewiesen. Hier erfolgt eine enge Abstimmung mit den Prüfern, die sich auf die
„Financial Due Diligence“ konzentrieren. Aufgrund der
Komplexität dieses Themas wird auf die Altersversorgung im
Rahmen dieses Beitrags nicht näher eingegangen.
Daneben gibt es noch zahlreiche weitere Themen,43 die
im Rahmen einer Due Diligence zu prüfen sind. Diese ergeben sich beispielsweise aus Hinweisen in den vorgelegten
Dokumenten, dem mit dem Mandanten vereinbarten Umfang
der Due Diligence und den Besonderheiten der Zielgesellschaft sowie den Wünschen des Mandanten im konkreten
Einzelfall.
IV. Beteiligungs- und Unterrichtungspflichten
Im Folgenden werden einige wichtige Beteiligungs- und
Unterrichtungspflichten dargestellt. Wegen der unterschiedlichen Struktur wird zwischen Share Deal und Asset Deal
unterschieden. Neben den dargestellten Beteiligungsrechten
können natürlich bei eventuell auf den Erwerb folgenden
Restrukturierungsmaßnahmen weitere Rechte des Betriebsrats zu berücksichtigen sein. Hierbei wird nicht eingegangen
auf Unterrichtungspflichten, die sich aus dem WpÜG ergeben, da diese nur für eine vergleichsweise geringe Anzahl
von Unternehmenskäufen relevant ist.44
36
Langer, in: Grobys/Panzer, Stichwortkommentar zum
Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2014, Stichwort „Freie Mitarbeit“,
Rn. 3.
37
Langer (Fn. 36), Stichwort „Freie Mitarbeit“ Rn. 3.
38
Uhl (Fn. 2), § 9 Rn. 93.
39
Neben freien Mitarbeitern können beispielsweise auch
Verträge mit Beratern, Handelsvertretern und mitarbeitenden
Gesellschaftern der Sozialversicherungspflicht unterliegen,
siehe Hoynigen-Huene, NJW 2000, 3233.
40
Hingewiesen sei auf die Erhöhung des Risikos für den
Erwerber durch lange Verjährungsfristen: Nachforderungen
des Sozialversicherungsträgers verjähren gem. § 25 Abs. 1
S. 1 SGB IV erst nach 4 Jahren und bei Vorsatz erst in 30
Jahren. Gegenüber dem betroffenen Mitarbeiter können
Rückforderungen des von ihm zu tragenden Teils des Gesamtsozialversicherungsbeitrags im Lohnabzugsverfahren
lediglich für die letzten drei Monate und nach seinem Ausscheiden meist überhaupt nicht mehr geltend gemacht werden; vgl. § 28g SGB IV sowie Kreikebohm, in: Kreikebohm,
Kommentar zum SGB IV, 2. Aufl. 2014, § 28g Rn. 3 f.
41
Langer (Fn. 36), Stichwort „Freie Mitarbeit“ Rn. 16.
42
§ 10 Abs. 4 AÜG verpflichtet den Verleiher, dem Leiharbeitnehmer für die Zeit der Überlassung an den Entleiher die
im Betrieb des Entleihers für einen vergleichbaren Arbeitnehmer des Entleihers geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen einschließlich des Arbeitsentgelts zu gewähren. Bei
einem Verstoß liegt eine Ordnungswidrigkeit gem. § 16
Abs. 1 Nr. 7a vor, die mit einer Geldbuße bis 30.000 € geahndet werden kann.
43
Wie beispielsweise Regelungen zur Altersteilzeit, mögliche
Verstöße gegen das AGG und Ergreifen geeigneter Maßnahmen im Sinne des § 12 AGG; ferner werden typischerweise
Informationen zu Rechtstreitigkeiten der vergangenen fünf
Jahre angefordert – insbesondere bei laufenden Kündigungsschutzverfahren sind hier Informationen zum Annahmeverzugslohnrisiko von Bedeutung. Auch das Bestehen von Konzernversetzungsklauseln in Arbeitsverträgen kann für den
Erwerber wichtig sein, um ihm eine hohe Flexibilität einzuräumen.
44
An das WpÜG muss im Falle eines Erwerbs von Wertpapieren, die zum Handel an einem organisierten Markt zuge-
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ZJS 2/2016
154
Arbeitsrecht im Rahmen eines Unternehmenskaufes
1. Share Deal
a) Wirtschaftsausschuss
Gem. § 106 Abs. 3 Nr. 9a, 10 BetrVG ist eine Information
des Wirtschaftsausschusses des Zielunternehmens, sofern ein
solcher gebildet worden ist45, erforderlich.46 Das BAG begründet dies in Bezug auf die Nr. 10 damit, dass von dieser
Generalklausel alle Fragen erfasst werden, die das wirtschaftliche Leben des Unternehmens in entscheidenden Punkten
betreffen, sofern möglich ist, dass eine erhebliche soziale
Auswirkung gegeben ist.47 Seit der Einfügung des § 106
Abs. 3 Nr. 9a BetrVG durch das Risikobegrenzungsgesetz im
September 2008 wird man bei einem Share Deal oft auf diese
Nummer 9a abstellen, die eine Mitteilungspflicht für den Fall
der Übernahme des Unternehmens vorsieht, sofern hiermit
ein Kontrollerwerb verbunden ist. Nicht explizit geregelt ist,
was unter „Übernahme“ und „Erwerb der Kontrolle“ zu verstehen ist. Die Grenze wird man wohl bei einem Erwerb von
mindestens 50% ziehen; eine darunterliegende Beteiligung
kann für einen Kontrollerwerb jedoch ausreichen, sofern
beispielsweise satzungsmäßige Sonderrechte wie eine Sperrminorität oder Mehrfachstimmrechte eingeräumt werden.48
Die – unaufgeforderte49 – Mitteilung muss die Tatsache
der Veräußerung, den Namen des Erwerbers, eventuelle Planungen über zukünftige Unternehmenspolitik sowie eventuelle Auswirkungen auf die Arbeitnehmer enthalten, siehe § 106
Abs. 2 BetrVG. Hervorzuheben ist, dass nach der Rechtsprechung des BAG eine Vorlage des Unternehmenskaufvertrages nicht erforderlich ist, da dessen Inhalt keine wirtschaftliche Angelegenheit des Unternehmens im Sinne des § 106
Abs. 3 Nr. 10 BetrVG betreffe.50 Hinzuweisen ist darauf, dass
die Verhandlungen über den Abschluss des Unternehmenskaufvertrages beim Share Deal nicht mit Vorstand/Geschäftsführern erfolgen, sondern mit den Anteilseignern mit der
Folge, dass von Vorstand/Geschäftsführung viele Informationen mangels Verfügbarkeit faktisch gar nicht verlangt werden
ZIVILRECHT
können, so dass nur über das unterrichtet werden muss, was
dem Unternehmer bekannt ist.51
Nach § 106 Abs. 2 BetrVG muss die Unterrichtung
„rechtzeitig“ erfolgen. Die genaue Bedeutung ist nicht abschließend geklärt.52 Teilweise wird vertreten, dass eine Unterrichtung erst dann erfolgen solle, wenn der Abschluss des
Unternehmenskaufvertrages kurz bevor stehe. Begründet
wird dies damit, dass eine frühere Unterrichtung zum einen
zu Unruhe im Unternehmen führen und zum anderen die
Transaktion noch scheitern könne.53 Eine Unterrichtung hat
umfassend zu sein und muss Umfang, Auswirkung sowie die
Gründe für die Maßnahme erkennen lassen.54 Für § 106
Abs. 3 Nr. 9a BetrVG ist die Regelung in Abs. 2 S. 2 zu beachten – es muss auch der potenzielle Erwerber genannt
werden, wobei fraglich ist, wer als „potenzieller Erwerber“
einzustufen ist.55
Eine Pflicht der Anteilseigner, sich mit dem Wirtschaftsausschuss zu beraten, sieht das Gesetz nicht vor. Zwar spricht
§ 106 Abs. 1 BetrVG von der Aufgabe des Wirtschaftsausschusses, wirtschaftliche Angelegenheiten mit dem Unternehmer zu beraten; jedoch erfolgen die Verhandlungen über
den Abschluss des Kaufvertrages nicht mit dem Unternehmer, sondern mit den Gesellschaftern, so dass eine Beratung
sinnlos wäre.56
Zu beachten ist, dass der Erwerb eines Unternehmens sowohl auf Käufer- als auch auf Verkäuferseite unter § 106
Abs. 3 BetrVG fällt, so dass auf beiden Seiten der Wirtschaftsausschuss, sofern vorhanden, zu unterrichten ist.
b) Betriebsrat
Sofern ein Fall des § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG, also der
Erwerb der Kontrolle über die Zielgesellschaft, vorliegt, ist,
sofern kein Wirtschaftsausschuss besteht57 (in diesem Fall
gilt das unter a) gesagte), der Betriebsrat gem. § 109a
BetrVG entsprechend den Vorgaben des § 106 Abs. 1 und 2
BetrVG zu beteiligen und insbesondere zu unterrichten. Sofern ein Wirtschaftsausschuss besteht, erfolgt die Unterrich-
51
lassen sind, gedacht werden. Zu denken ist dann insbesondere
an §§ 10 Abs. 5 S. 2, 3; 14 Abs. 4 S. 2, 3; 27 Abs. 3 S. 2
WpÜG.
45
Ein Wirtschaftsausschuss ist bei Unternehmen mit in der
Regel mehr als 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern zu
bilden, § 106 Abs. 1 BetrVG. Dieser hat die wesentliche Aufgabe, wirtschaftliche Angelegenheiten mit dem Unternehmer
zu beraten und den Betriebsrat zu unterrichten.
46
BAG, Beschl. v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/89 zu § 106 Abs. 3
Nr. 10; seit der Einfügung der Nr. 9a durch das Risikobegrenzungsgesetz im September 2008 wird man hier meist auf
diese Nummer abstellen.
47
BAG, Beschl. v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/89.
48
Weisser/Keßler, M&A Review 2011, 119 (120); siehe auch
Annuß, in: Richardi, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 14. Aufl. 2014, § 106 Rn. 55.
49
Annuß (Fn. 48), § 106 Rn. 23.
50
BAG, Beschl. v. 22.1.1991 – 1 ABR 38/89.
Kania, in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl.
2016, § 106 BetrVG Rn. 6a.
52
Siehe allgemein Annuß (Fn. 48), § 106 Rn. 24.
53
Weisser/Keßler, M&A Review 2011, 119 (121).
54
Annuß (Fn. 48), § 106 Rn. 25 ff.
55
Siehe hierzu beispielsweise Annuß (Fn. 48), § 106
Rn. 26a f.: Abgabe eines bindenden Übernahmeangebots erforderlich.
56
Weisser/Keßler, M&A Review 2011, 119 (121); Annuß
(Fn. 48), § 106 Rn. 26e; Kania (Fn. 51), § 106 BetrVG
Rn. 6a.
57
In diesem Zusammenhang geht die wohl überwiegende
Meinung davon aus, dass § 109a BetrVG nur dann einschlägig ist, wenn ein Wirtschaftsausschuss mangels Überschreiten der Grenze von 100 ständig beschäftigten Arbeitnehmern
nicht gebildet werden kann, nicht aber, wenn er aus anderen
Gründen nicht gebildet worden ist, siehe Annuß (Fn. 48),
§ 109a Rn. 2 m.w.N. sowie Kania (Fn. 51), § 109a BetrVG
Rn. 1.
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155
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Christine Gömöry
tung des Betriebsrats gem. § 106 Abs. 1 S. 2 BetrVG durch
diesen.
Sofern die Veränderung im Gesellschafterbestand nicht
zu betrieblichen Maßnahmen wie beispielsweise der Stilllegung von Teilbetrieben führt, liegt keine Betriebsänderung
im Sinne der §§ 111 ff. BetrVG vor, so dass eine daraus resultierende Unterrichtungs- und Beratungspflicht nicht gegeben ist.58
Arbeitnehmer erkennbar werden müssen64; auf Verlangen
sind dem Betriebsrat gem. § 80 Abs. 2 S. 2 BetrVG Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Sodann hat eine Beratung mit
dem Betriebsrat über die geplante Betriebsänderung zu erfolgen mit dem Ziel, einen Interessenausgleich herbeizuführen
sowie einen Sozialplan abzuschließen. Falls keine Einigung
zustande kommt, ist die Einigungsstelle gem. § 112 Abs. 2
BetrVG anzurufen.
2. Asset Deal
Auf das nach § 613a Abs. 5 BGB erforderliche Unterrichtungsschreiben an die Arbeitnehmer wurde bereits oben hingewiesen. Für die sorgfältige Erstellung sollte ausreichend
Zeit im Prozess eingeplant werden, um den bei Fehlern drohenden Nichtbeginn der Widerspruchsfrist zu vermeiden.
a) Wirtschaftsausschuss
Es wird auf die Ausführungen zum Share Deal verwiesen,
wobei § 106 Abs. 3 Nr. 9a BetrVG nicht anwendbar, sondern
auf § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG abzustellen ist.
b) Betriebsrat
Der Übergang eines Betriebes auf einen anderen Inhaber
stellt für sich genommen noch keine Betriebsänderung im
Sinne des § 111 BetrVG dar und lost somit keine Unterrichtungs- und Beratungspflicht mit dem Betriebsrat aus.59 Sofern
sich der rechtsgeschäftliche Betriebsübergang jedoch nicht in
dem bloßen Betriebsinhaberwechsel erschöpft, sondern mit
Maßnahmen verbunden ist, die als solche einen der Tatbestände des § 111 BetrVG erfüllen, sind die Beteiligungsrechte
des Betriebsrats nach §§ 111 f. BetrVG zu wahren.60 Die
Tatbestände ergeben sich aus dem Gesetz und den dazugehörigen Kommentierungen61; als typische Fälle seien hier die
Einführung neuer Arbeitsmethoden oder Personalabbau genannt.62
Ist eine Unterrichtung des Betriebsrats danach erforderlich, muss sie „rechtzeitig und umfassend“ erfolgen. Auch
hier ist ein besonderes Augenmerk auf den richtigen Zeitpunkt zu legen. Allgemein gesprochen muss die Unterrichtung so rechtzeitig erfolgen, dass dem Betriebsrat die Möglichkeit eingeräumt wird, das Ob und Wie der geplanten
Betriebsänderung beeinflussen zu können. Es darf also noch
nicht mit der Durchführung der Maßnahme begonnen worden
sein.63 In Bezug auf den Inhalt ist festzuhalten, dass Umfang,
Gründe sowie die Auswirkungen der Maßnahme auf die
58
Osnabrügge, INF 2007, 151 (153); siehe auch BAG BB
1980, 679.
59
Kania (Fn. 51), § 111 BetrVG Rn. 12.
60
BAG BB 1980, 679.
61
Beispielsweise Annuß (Fn. 48), § 111 Rn. 56 ff.; Kania
(Fn. 51), § 111 BetrVG Rn. 11 ff.
62
§ 111 S. 3 Nr. 1, 5 BetrVG, siehe Kania (Fn. 51), § 111
BetrVG Rn. 12.
63
Kania (Fn. 51), § 111 BetrVG Rn. 22; Annuß (Fn. 48),
§ 111 Rn. 144 ff.
64
Kania (Fn. 51), § 111 BetrVG Rn. 23; Annuß (Fn. 48),
§ 111 Rn. 150 ff.
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ZJS 2/2016
156
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise
Von Wiss. Mitarbeiter Torben Ellerbrok, Wiss. Mitarbeiter Lucas Hartmann, Heidelberg*
In der juristischen Ausbildung spielt das Asyl- und Flüchtlingsrecht lediglich eine untergeordnete Rolle. Die sog.
Flüchtlingskrise, die seit Monaten den politischen Diskurs
prägt, bietet jedoch Anlass, die zugrundeliegenden rechtlichen Maßgaben und Leitlinien für politisches und Verwaltungshandeln in den Fokus zu rücken. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich dabei auf zweierlei: Zunächst soll eine
Einführung in die Grundzüge des deutschen und europäischen Flüchtlingsrechts gegeben werden, im Rahmen derer
die unterschiedlichen Anerkennungsgründe (I.), die Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin III-VO (II.), Aspekte des
Asylverfahrens (III.) sowie das Verfahren zur Beendigung des
Aufenthalts (IV.) erläutert werden. Hierauf aufbauend werden dann (V.) aktuelle politische Forderungen und Vorhaben
zur Bewältigung der Flüchtlingskrise – die Einführung einer
sog. nationalen Obergrenze, die Beendigung des Aufenthalts
straffälliger Ausländer und Initiativen auf Unionsebene –
einer rechtlichen Bewertung unterzogen.1
I. Anerkennungsgründe
Aus rechtlicher Perspektive lassen sich im Wesentlichen vier
Konstellationen unterscheiden, in denen Ausländer als
schutzbedürftig anerkannt werden und daher in Deutschland
ein Aufenthaltsrecht erhalten. Diese werden im Folgenden
näher dargestellt. Zwei Anerkennungsgründe beruhen dabei
auf völker- und unionsrechtlichen Vorgaben und werden
daher auch als „internationaler Schutz“ bezeichnet (1.), während in den übrigen Konstellationen die Anerkennungsgründe
spezifisch national eingeführt worden sind (2.).
1. Internationaler Schutz
a) Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK gemäß § 3
Abs. 1 AsylG
Fall 1: Die syrische Staatsangehörige M gehört zur
Volksgruppe der Jesiden, die im gesamten syrischen
Staatsgebiet immer wieder durch Milizen des sog. Islamischen Staats körperlich angegriffen, getötet oder vertrieben werden. Da das syrische Regime die Übergriffe nicht
verhindern kann, flieht M nach Deutschland und stellt einen Asylantrag.
Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von
1951, der neben der Bundesrepublik Deutschland 146 weitere
Vertragsstaaten beigetreten sind, verbietet jede Zurückwei-
* Die Verf. sind wiss. Mitarbeiter am Institut für deutsches
und europäisches Verwaltungsrecht an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg (Prof. Dr. Wolfgang Kahl, M.A.).
Besonderer Dank für wertvolle Hinweise gilt den Herausgebern Prof. Dr. Matthias Cornils und Prof. Dr. Hinnerk
Wißmann sowie Herrn Jens Ritter.
1
Der Text wurde abgeschlossen am 26.2.2016. Einzelne
Änderungen und Aktualisierungen wurden noch später vorgenommen.
sung eines Flüchtlings2 in einen Staat, in dem er aufgrund
seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen
seiner politischen Überzeugung in seinem Leben oder seiner
Freiheit bedroht wäre. Dieses Zurückweisungsverbot in einen
Verfolgerstaat wird auch als Non-Refoulement-Prinzip bezeichnet.3 Über die völkerrechtliche Verpflichtung zur NichtZurückweisung hinaus geht die Regelung des Art. 13 der EUQualifikations-Richtlinie (RL 2011/95/EU), indem sie die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur positiven Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für verfolgte Schutzsuchende verpflichtet. Im deutschen Recht sind die supranationalen Vorgaben in den §§ 3 ff. AsylG umgesetzt worden, in
denen der gegenwärtig weitaus wichtigste Anerkennungstatbestand normiert wird.4 Die Tatbestandsvoraussetzungen sollen im Folgenden näher beleuchtet werden.
aa) Verfolgungshandlung
Eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt zunächst
eine Verfolgungshandlung voraus, die zwar noch nicht eingetreten sein, vor der aber jedenfalls gegenwärtig5 eine objektiv
begründete6 Furcht des Antragstellers7 bestehen muss. Für
die Qualifikation einer Handlung als Verfolgungshandlung
genügt noch nicht, dass diese eine Rechtsbeeinträchtigung
hervorruft. Vielmehr ist gemäß § 3a Abs. 1 AsylG erforderlich, dass die Handlung oder die Kumulation mehrerer Handlungen eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellt. Eine Verfolgungshandlung kann daher
insbesondere in physischer oder psychischer Gewaltanwendung liegen (§ 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG); aber auch diskriminierende polizeiliche oder justizielle Maßnahmen können
2
Zur Anwendbarkeit der GFK auf nach 1951 eingetretene
Fluchtgründe vgl. das New Yorker Protokoll von 1967.
3
Dazu Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 3. Aufl.
2014, Rn. 1223; Laskowski, in: Ehlers/Fehling/Pünder
(Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 3, 3. Aufl. 2013,
§ 73 Rn. 5; Kau, in: Graf Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, S. 223 f.
4
Knapp 99 % der 2015 positiv beschiedenen Anträge ergingen auf Grundlage des § 3 Abs. 1 AsylG, vgl. BAMF, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Januar 2016, S. 10, abrufbar unter
www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek
/Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.
pdf (18.3.2016).
5
BVerfGE 54, 359 (360).
6
Vgl. BVerwGE 88, 367 (377). Dies setzt eine Prognoseentscheidung voraus, ausf. Wittreck, in: Dreier, Kommentar
zum GG, Bd. I, 3. Aufl. 2013, Art. 16a Rn. 72. Gegen den
Maßstab einer „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ Hruschka/
Löhr, ZAR 2007, 180.
7
Allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit soll im Folgenden die männliche Form verwendet werden. Selbstverständlich gelten sämtliche Ausführungen unabhängig vom Geschlecht.
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157
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG derart einzuordnen sein.
Keine Verfolgungshandlung liegt hingegen etwa dann vor,
wenn die Notsituation in einer ökonomischen Krise oder
einer allgemeinen Mangelsituation begründet liegt oder
Handlungen jedenfalls dem entsprechen, was die „Bevölkerung des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen hat.“8
Hinsichtlich der vorzunehmenden Bewertung der Wahrscheinlichkeit, mit der der Schutzsuchende Opfer einer Verfolgungshandlung wird, ist eine Vorverfolgung des Ausländers wichtiges Indiz. Es ist aber zu beachten, dass sich eine
Verfolgung nicht stets gegen eine bestimmte Einzelperson
richtet (Individualverfolgung). Häufig wird gerade eine Vielzahl von Personen, die über ein gemeinsames Merkmal –
etwa ihre Religion oder Ethnie – verfügt, als Gruppe verfolgt
(gruppengerichtete Verfolgung). Eine persönliche Differenzierung nimmt der Verfolger hier nicht vor.9 Auch in diesem
Fall kann eine begründete Furcht vor Verfolgung vorliegen.
Dazu ist die Verfolgungsdichte gegenüber der Gesamtgruppe
zu ermitteln;10 erreicht diese einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad, so kann „vom Gruppenschicksal auf [das] Individualschicksal geschlossen“11 werden. Daneben findet sich in
der Rechtsprechung teilweise eine Einordnung von Fällen als
„Individualverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“,12 die
je nach Sachlage einen Unterfall einer der beiden erstgenannten Kategorien darstellt.13
bb) Verfolgungsgrund
Die Verfolgung muss gemäß § 3a Abs. 3 AsylG nach objektiver Betrachtungsweise14 zielgerichtet und individuell an
einem speziellen Merkmal anknüpfen, das dem Verfolgten
vom Verfolger zugeschrieben wird.15 Ein solcher Verfolgungsgrund kann gemäß § 3 Abs. 1 AsylG in der Rasse,
Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe liegen;
Begriffe, die in § 3b AsylG näher definiert werden. Entscheidend ist in erster Linie, dass das Merkmal für den Verfolgten
unverfügbar, in anderen Worten nicht autonom veränderbar
ist.16 Für das Vorliegen einer sozialen Gruppe ist zudem Voraussetzung, dass die Gesamtheit der Bürger, die ein Merkmal
– etwa eine homosexuelle Orientierung – aufweisen, von der
Gesamtbevölkerung als eine Gruppe mit eigener Identität
wahrgenommen wird.17
cc) Verfolgungsakteur
Regelmäßig wird die Verfolgung von einem staatlichen Hoheitsträger ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG). Gemäß § 3c Nr. 2
AsylG sind daneben aber auch andere Organisationen, die
einen Teil des Staatsgebiets faktisch beherrschen, taugliche
Verfolgungsakteure. Letztlich erweitert § 3c Nr. 3 AsylG den
Kreis potentieller Verfolger auf nicht-staatliche Akteure,
gegen die von staatlicher Seite kein wirksamer Schutz besteht. Ein besonderer Organisationsgrad ist dabei nicht erforderlich;18 somit kommt eine Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nicht nur bei einer Verfolgung durch Milizen oder Clans,
sondern auch durch Einzelpersonen in Betracht.19
dd) Kein Ausschluss
Gesetzlich ausgeschlossen ist eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zum einen gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG
i.V.m. § 3e AsylG, soweit im Herkunftsstaat Landesteile bestehen, in denen der Antragsteller keine Verfolgung zu gewärtigen hat (inländische Fluchtalternative).20 Zum anderen
normiert § 3 Abs. 2 AsylG – in Anlehnung an Art. 1 F GFK
sowie Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU – weitere Gründe, bei
deren Vorliegen die Zuerkennung zwingend als offensichtlich
unbegründet zu verweigern ist. Dies betrifft Fälle, in denen
schwerwiegende Anhaltspunkte bestehen, dass der Ausländer
ein Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit,
ein Kriegsverbrechen, ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb Deutschlands oder eine Zuwiderhandlung
gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen begangen hat oder daran beteiligt war.21 Ein Ausschluss kommt
mithin insbesondere für Mitglieder von Terrororganisationen
in Betracht, sofern ihnen eine individuelle Verantwortlichkeit
für eine der genannten Taten zugerechnet werden kann.22
Hinweis: In Fall 1 stellt die Verletzung der körperlichen
Unversehrtheit und Ermordung eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG dar. Da die Übergriffe systematisch und wiederkehrend erfolgen und M
dieser Religionsgruppe angehört, besteht auch für sie eine
gegenwärtige Gefährdung, ebenfalls Opfer einer Verfolgung zu werden (gruppengerichtete Verfolgung). Die
Verfolgungshandlungen beruhen gerade auf der religiösen
Überzeugung der Jesiden (§ 3b AsylG). Letztlich ist der
sog. Islamische Staat als Verfolgungsakteur im Sinne des
8
Vgl. BVerfGE 54, 341 (357).
Vgl. BVerwGE 105, 204 (208).
10
Dazu wird aus der Zahl der „Verfolgungsschläge“ in Beziehung zur Größe der Gesamtgruppe eine Verfolgungswahrscheinlichkeit ermittelt, vgl. etwa BVerwG NVwZ 2009,
1237 (1238).
11
Will, in: Sachs, Kommentar zum GG, 7. Aufl. 2014,
Art. 16a Rn. 40.
12
Vgl. BVerfGE 83, 216 (231 f.); BVerwGE 70, 232 (233 f.);
74, 31 (34 f.).
13
Will (Fn. 11), Art. 16a Rn. 43; vgl. auch Hailbronner
(Fn. 3), Rn. 1251.
14
Sog. finale Theorie; nicht entscheidend ist mithin die Motivation des Verfolgers, so aber BVerwGE 74, 41 (44 ff.).
15
Vgl. BVerfGE 76, 143 (166 ff.).
16
Dazu Tiedemann, Flüchtlingsrecht, 2015, Kap. 3 Rn. 76.
9
17
Möller, in: Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht,
2. Aufl. 2016, § 3b AsylVfG Rn. 10.
18
Möller (Fn. 17), § 3c AsylVfG Rn. 7.
19
BVerwGE 126, 243 (251); Hecht, in: Kluth/Hund/Maaßen
(Hrsg.), Zuwanderungsrecht, 2008, § 5 Rn. 158.
20
Ausf. Hailbronner (Fn. 3), Rn. 1275 ff.
21
Ausf. Kießling, Die Abwehr terroristischer und extremistischer Gefahren durch Ausweisung, 2012, S. 403 ff.
22
Vgl. EuGH NVwZ 2011, 285 (287); BVerwGE 140, 114
(132).
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158
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
§ 3c Nr. 2 AsylG einzuordnen. Sofern auch keine inländischen Fluchtalternativen bestehen, ist M die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
Hinweis: In Fall 2 weist B keinen speziellen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auf, so dass
eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht in Betracht kommt. Gleichwohl droht B in seinem Heimatland
aufgrund der schweren gewaltsamen Auseinandersetzungen mit hoher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden
an Leib und Leben. Ihm ist daher der Status als subsidiär
Schutzberechtigter gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG zuzuerkennen.
b) Internationaler subsidiärer Schutz gemäß § 4 Abs. 1 S. 1
AsylG
Fall 2: B ist Staatsbürger von Burundi, wo es derzeit im
gesamten Staatsgebiet fortwährend zu schweren gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Anhängern der Opposition und Regierungstruppen kommt, die zahlreiche Todesopfer fordern. B weist zwar keinerlei Merkmale auf,
die ihn im Vergleich zur Gesamtbevölkerung als besonderes Ziel für eine Verfolgung erscheinen lassen, er befürchtet jedoch, willkürliches Opfer der verfeindeten Gruppierungen zu werden. Nachdem bereits zahlreiche Verwandte und Freunde des B bei den Auseinandersetzungen verletzt wurden, entschließt sich B zu einer Flucht nach
Deutschland und stellt dort einen Asylantrag.23
Liegen die zuvor genannten Gründe für eine Flüchtlingseigenschaft nicht vor, kann ein Ausländer unter bestimmten
Voraussetzungen gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG als sog. subsidiär Schutzberechtigter anerkannt werden. Dieser Schutzstatus beruht auf der Regelung des Art. 18 der RL
2011/95/EU und wird daher – gemeinsam mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG –
dem internationalen Schutz zugeordnet.
Eine Zuerkennung internationalen subsidiären Schutzes
setzt voraus, dass der Ausländer zwar nicht mit individueller
Verfolgung rechnen muss, mithin nicht aus der Gesellschaft
ausgegrenzt wird, ihm in seinem Heimatstaat aber dennoch
ein ernsthafter Schaden an wichtigen Rechtsgütern wie Würde, Leben oder körperlicher Unversehrtheit droht. Subsidiärer
Schutz wird daher etwa bei der Gefahr von Todesstrafe oder
Folter, insbesondere aber Gefahr für Leib und Leben in bewaffneten Konflikten im Herkunftsstaat („Bürgerkrieg“) gewährt. Während mithin Flüchtlinge im Sinne des § 3 Abs. 1
AsylG Ziel individueller Verfolgung sind, drohen subsidiär
Schutzberechtigte im Sinne des § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG willkürlich Opfer von Gewalt zu werden. Ein ernsthafter Schaden
muss dabei mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintreten,
die anhand der Situation im Herkunftsstaat zu prognostizieren
ist.24 Aufgrund der Verweisungsnorm des § 4 Abs. 3 S. 1
AsylG gelten ansonsten dieselben Voraussetzungen wie für
den Flüchtlingsstatus. Insbesondere kann die Gefahr sowohl
von staatlichen als auch nicht-staatlichen Akteuren ausgehen
und sind inländische Fluchtalternativen vorrangig aufzusuchen.
23
Fall nach VG Hannover BeckRS 2015, 52969.
Zur notwendigen Gefahrenintensität ausf. Markard, NVwZ
2014, 565. Für eine stärker qualitative Bewertung Dietz,
NVwZ 2014, 1623; das kollektive Gedächtnis an Ereignisse
des Zweiten Weltkrieges nimmt Tiedemann, ZAR 2016, 53
zum Maßstab.
24
2. Nationaler Schutz
a) Asylberechtigung gemäß Art. 16a Abs. 1 GG
aa) Tatbestandsvoraussetzungen
Fall 3: Omani O ist Mitglied und Aktivist einer oppositionellen Minderheit. Aufgrund seines politischen Engagements wird er vom omanischen Regime gesucht, bei einer Verurteilung droht ihm die Todesstrafe. O gelingt es
sodann, an Bord eines Flugzeugs ohne Zwischenlandung
nach Frankfurt am Main zu fliehen, wo er unverzüglich
einen Asylantrag stellt.
Mit der Formulierung „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ wurde vor dem Hintergrund der Verfolgungen in der
Zeit des Nationalsozialismus in Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG ein
rechtsvergleichend sehr weitreichendes Asylgrundrecht in das
Grundgesetz aufgenommen, das Schutzbedürftigen vorbehaltlos ein individuelles Recht auf Asyl gewährt.25 Diese Regelung gilt bis heute, sie wurde 1993 wortgleich in Art. 16a
Abs. 1 GG ausgegliedert. Damit wird denjenigen Schutz
gewährt, die aufgrund für sie unverfügbarer Merkmale26 in
ihrem Heimatstaat verfolgt werden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 16a Abs. 1 GG entsprechen dabei im
Grundsatz den unionsrechtlich indizierten §§ 3 ff. AsylG.27
Wesentlicher Unterschied ist allerdings, dass im Rahmen des
Art. 16a GG die Verfolgung grundsätzlich von einem Staat
ausgehen muss.28 Ausreichend ist auch eine De-facto-Staatsgewalt, die über eine Territorialgewalt mit gewisser Stabilität
verfügt;29 die Legitimität der Herrschaft ist gerade nicht Voraussetzung.30 Ebenfalls um staatliche Verfolgung im Sinne
des Art. 16a Abs. 1 GG kann es sich handeln, wenn die Verfolgung zwar nicht unmittelbar von einem staatlichen Hoheitsträger ausgeht, der Staat aber eine Verfolgung durch
private Gruppierungen fördert oder zumindest durch sein
25
Vgl. Will (Fn. 11), Art. 16a Rn. 2 f.; Laskowski (Fn. 3),
§ 73 Rn. 33 f.
26
BVerwGE 80, 315 (333); Will (Fn. 11), Art. 16a Rn. 22.
27
Zu den Unterschieden siehe Tiedemann (Fn. 16), Kap. 3
Rn. 137 ff.
28
Vgl. BVerfGE 80, 315 (334).
29
Ausf. Becker, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar
zum GG, 6. Aufl. 2010, Art. 16a Abs. 1 Rn. 69 ff.
30
Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht,
2. Aufl. 2008, Rn. 1627.
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159
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
systematisches Nicht-Eingreifen billigt. Die Verfolgung ist
ihm dann zurechenbar.31
Soweit die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 16a
Abs. 1 GG vorliegen, kommt dem Asylgrundrecht eine Doppelfunktion zu: Zum einen schützt es als Abwehrgrundrecht
den Ausländer vor einer Zurückführung in den Verfolgerstaat; zum anderen verbürgt es als Leistungsgrundrecht einen
Anspruch auf staatliche Leistungen zur Sicherstellung eines
menschenwürdigen Lebens.32
bb) Einschränkungen
Zum 1.7.1993 ist das Asylgrundrecht durch die Einfügung
einer Drittstaatenregelung in Art. 16a Abs. 2-4 GG empfindlich eingeschränkt worden: Gemäß Art. 16a Abs. 2 GG kann
sich ein Ausländer auf das Recht auf Asyl gemäß Art. 16a
Abs. 1 GG nicht berufen, wenn er aus oder über sichere/n
Drittstaaten eingereist ist, in denen er keiner Verfolgung ausgesetzt war.33 Als solche sichere Drittstaaten sind verfassungsrechtlich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union
(Art. 16a Abs. 2 S. 1 GG) sowie in § 26a Abs. 2 i.V.m. Anhang I AsylG einfach-gesetzlich die Schweiz und Norwegen
eingeordnet worden. Damit knüpft Art. 16a Abs. 2 GG nicht
an den Fluchtgrund, sondern an den Fluchtweg an und unterstellt durch sein Konzept der „normativen Vergewisserung“34
die Sicherheit des Schutzsuchenden in bestimmten Drittstaaten. Eine Rechtsfolge trifft Art. 16a Abs. 2 GG nicht, die
Exklusion gilt mithin unabhängig davon, ob eine Rückführung möglich ist.35 Aufgrund der geografischen Binnenlage
Deutschlands, das von sicheren Drittstaaten umgeben ist,
kann eine Asylanerkennung damit nur noch bei einer Einreise
per Flugzeug oder Schiff in Betracht kommen. In der Praxis
ist das Asylgrundrecht daher nahezu bedeutungslos geworden.36
Hinweis: In Fall 3 droht O aufgrund seiner politischen
Überzeugung die Todesstrafe. Es besteht daher eine erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass er bei einem Verbleib
in seinem Heimatstaat Opfer einer staatlichen Verfolgungshandlung wird. Da O auch nicht über einen sicheren
31
Laskowski (Fn. 3), § 73 Rn. 49.
Vgl. Kluth, ZAR 2016, 1 (3); Huber/Göbel-Zimmermann
(Fn. 30), Rn. 1624; Randelzhofer, in: Isensee/Kirchhof
(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl. 2009,
§ 153 Rn. 63 ff.
33
Das BVerfG hat diese GG-Änderung gebilligt: BVerfGE
94, 49. Umstritten ist, wann eine „Einreise“ in einen Drittstaat anzunehmen ist, ausf. Will (Fn. 11), Art. 16a Rn. 71.
34
BVerfGE 94, 49 (95).
35
BVerfG NVwZ 1996, 700 (702); Renner, ZAR 1996, 103
(105); a.A. Möller/Schütz, DVBl. 1995, 864 (867).
36
Vgl. Huber/Göbel-Zimmermann (Fn. 30), Rn. 1620; Tiedemann (Fn. 16), Kap. 3 Rn. 7 f. Irreleitend und nur schwerlich
nachvollziehbar daher Hopfauf, ZRP 2015, 226 mit krit.
Erwiderung durch Nusser/Schulenberg, ZRP 2016, 26. Zur
heutigen Bedeutung des Art. 16a GG vgl. Hailbronner, ZAR
2009, 369.
32
Drittstaat gemäß Art. 16a Abs. 2 GG eingereist ist, ist ihm
Asyl gemäß Art. 16a Abs. 1 GG zu gewähren.
b) Nationaler subsidiärer Schutz gemäß § 60 Abs. 5 und 7
AufenthG
Fall 4: Guineerin G hat sich mit einem seltenen Virus infiziert. Ohne adäquate Behandlung droht die Erkrankung
tödlich zu verlaufen, jedoch ist eine Therapie in Guinea
mangels einer entsprechenden medizinischen Infrastruktur
und Zugangs zu notwendigen Medikamenten nicht möglich. Daher entschließt sich G zu einer Ausreise nach
Deutschland, wo sie einen Asylantrag stellt.37
Neben den internationalen subsidiären Schutz tritt ein nationaler subsidiärer Schutz gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG.
Nach diesen Regelungen darf ein Ausländer zum einen nicht
in seinen Herkunftsstaat zurückgeführt werden, soweit sich
dies aus der EMRK ergibt (§ 60 Abs. 5 AufenthG). In Betracht kommt hier etwa, dass dem Ausländer im Heimatstaat
ein unfairer Gerichtsprozess droht (Art. 6 EMRK).38 Zum
anderen ist Schutz zu gewähren, wenn im Zielstaat eine sonstige erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht
(§ 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG). Die Gefahr darf dabei nicht
allgemeiner Natur sein, so dass ihr etwa sämtliche Mitglieder
einer Bevölkerungsgruppe gleichermaßen ausgesetzt sind,
sondern muss konkret die Person des Antragstellers betreffen,39 unabhängig davon ob sie von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren ausgeht.40 Dies kann insbesondere dann
der Fall sein, wenn der Antragsteller erkrankt und eine medizinische Versorgung im Heimatstaat nicht gewährleistet ist.
Durch das „Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“41 aus dem sog. Asylpaket II sind die gesetzlichen
Anforderungen an ein Abschiebungsverbot konkretisiert
worden. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG sieht nunmehr vor, dass
allein lebensbedrohliche oder schwerwiegende Krankheiten,
die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern
würden, ein Abschiebungsverbot zu begründen vermögen.
Insbesondere psychische Krankheitsbilder werden daher in
Zukunft wohl weitaus seltener zu einem Abschiebungsverbot
im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG führen.42 Zudem
wird in § 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG klargestellt, dass in der
Regel eine medizinische Versorgung in einem Teil des Ziel37
Fall nach VG Braunschweig, Urt. v. 8.12.2008 – 7 A
320/07.
38
Tiedemann (Fn. 16), Kap. 3 Rn. 201.
39
Vgl. dazu Hailbronner (Fn. 3), Rn. 1316. Bei verfassungskonformer Auslegung „individualisiert“ sich eine allgemeine
Gefahr allerdings ausnahmsweise, wenn der Ausländer ansonsten „sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten
Verletzungen ausgeliefert würde“, vgl. BVerwGE 99, 324
(331).
40
BVerwGE 99, 324 (330); Hecht (Fn. 19), § 5 Rn. 187.
41
BT-Drs. 18/7538.
42
BT-Drs. 18/7538, S. 18 f.; krit. unter Hinweis auf den
Amtsermittlungsgrundsatz Kluth, Ausschuss-Drs. 18(4)511 F,
S. 12.
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ZJS 2/2016
160
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
staats ausreichend ist, unabhängig davon, ob der Antragsteller
dort seinen Wohnsitz hatte („inländische Gesundheitsalternative“43).
Hinweis: Da G nicht verfolgt wird und auch nicht droht
willkürlich einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kommt
in Fall 4 weder die Zuerkennung internationalen Schutzes
noch die Anerkennung als Asylberechtigte in Betracht.
Eine Abschiebung nach Guinea begründet jedoch mangels einer Möglichkeit einer ausreichenden medizinischen
Versorgung im gesamten Staatsgebiet die individuelle
Gefahr eines Versterbens. Es besteht daher ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. G soll
gem. § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden.
II. Das „Dublin“-Verfahren zur Bestimmung des für ein
Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaates
Die am 1.1.2014 in Kraft getretene VO EU/604/2013 (sog.
Dublin III-VO) regelt, welcher Mitgliedstaat44 für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und legt Kriterien und Verfahren
fest, anhand und im Rahmen derer diese Zuständigkeit zu
prüfen ist (Art. 1 VO EU/604/2013). Diese Verordnung gilt
in den Mitgliedstaaten unmittelbar (vgl. Art. 288 Abs. 2
AEUV), ist also von mitgliedstaatlichen Behörden zu beachten und anzuwenden. Sie verdrängt aufgrund des Vorrangs
des Unionsrechts im Kollisionsfalle entgegenstehende nationalrechtliche Vorschriften im Sinne eines Anwendungsvorrangs.45 Zu den vornehmlichen Zielen dieser Verordnung
zählt es einerseits, „Asylantragstourismus“ zu verhindern,
indem Schutzsuchenden keine Wahlfreiheit hinsichtlich des
für ihr Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaates eingeräumt
wird; konkret soll dadurch verhindert werden, dass Schutzsuchende, nachdem sie in einen Mitgliedstaat im Sinne des
Dublin III-VO eingereist sind, in andere Mitgliedstaaten
weiterreisen (sog. sekundäre Migration) und in mehreren
Mitgliedstaaten Asylanträge stellen.46 Andererseits wird mit
der Verordnung das Ziel verfolgt, aufgrund objektiver Kriterien jeweils einem Mitgliedstaat die ausschließliche Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags und damit die Verantwortung für die vollständige Durchführung eines Asylverfahrens zuzusprechen; damit soll zum einen verhindert werden, dass Schutzsuchende zwischen den Mitgliedstaaten, von
43
Thym, Ausschuss-Drs. 18(4)511 D, S. 7, der in der Gesetzesänderung im Wesentlichen eine Kodifikation bestehender
Rechtsprechung sieht.
44
Neben den Mitgliedstaaten der EU sind damit auch Island,
Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz bezeichnet, die
dieser Verordnung beigetreten sind.
45
Allg. zum Vorrang des Unionsrechts gegenüber mitgliedstaatlichem Recht Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 6. Aufl. 2014, § 10 Rn. 1 ff.
46
Hermann, in: Hailbronner (Hrsg.), EU Immigration and
Asylum Law, 2010, Ch. IV 5. C) Art. 1 Rn. 17 ff., 28 f. (zur
insoweit zielidentischen Dublin II-VO).
denen sich keiner zur Schutzgewähr zuständig sieht, hin- und
hergeschoben werden („refugees in orbit“) und zum anderen
spiegelbildlich erreicht werden, dass jeder in einem Mitgliedstaat gestellte Antrag auf internationalen Schutz tatsächlich
geprüft wird.47
Dementsprechend statuiert Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO
EU/604/2013 die Pflicht der Mitgliedstaaten, jeden Antrag
auf internationalen Schutz zu prüfen, der in ihrem Hoheitsgebiet einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen
gestellt wird; komplettiert wird diese Vorschrift durch Art. 18
Abs. 2 VO EU/604/2013, der den jeweils zuständigen Mitgliedstaat dazu anhält, die Prüfung des Antrages abzuschließen.48 Um die Erfüllung der Pflicht des Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO
EU/604/2013 sicherzustellen, soll für jeden Antrag die Zuständigkeit zweifelsfrei einem Mitgliedstaat zugeordnet werden können (Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO EU/604/2013) und bestehen zwei Alternativen des sog. Zuständigkeitsprüfungsverfahrens, von denen das erste von der Verordnung ausdrücklich geregelt, das zweite hingegen lediglich vorausgesetzt
wird.49 Im Rahmen beider Verfahrensalternativen geht es –
wie der Name schon sagt – darum herauszufinden, welcher
Mitgliedstaat für die inhaltliche Prüfung eines Antrages auf
internationalen Schutz zuständig ist. Während die erste Verfahrensalternative zum Ziel hat, bei noch nicht feststehender
Zuständigkeit die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates erst
positiv zu begründen (Verhinderung von „refugees in orbit“),
bezweckt die zweite Verfahrensalternative die Feststellung
und Realisierung einer bereits zuvor positiv begründeten und
damit feststehenden Zuständigkeit (Verhinderung von sekundärer Migration).50 Entsprechend der unterschiedlichen
Zwecksetzungen dieser beiden Verfahrensalternativen reagieren sie auf jeweils unterschiedliche Konstellationen: Die erste
Verfahrensalternative greift, wenn ein Antragsteller erstmalig
in einem Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen
Schutz stellt, während die zweite Verfahrensalternative einschlägig ist, wenn eine Person bereits zuvor in einem (oder
mehreren) Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen
Schutz gestellt hat.51 Für die Ermittlung der für die Zustän47
Vgl. Erwägungsgrund Nr. 5 der VO EU/604/2013;
Hermann (Fn. 46), Ch. IV 5. C) Art. 1 Rn. 20 ff., 26 f.;
Maiani/Hruschka, ZAR 2014, 69; Bast/Möllers, Verfassungsblog v. 16.1.2016, im Internet abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/dem-freistaat-zum-gefallen-ueber-u
do-di-fabios-gutachten-zur-staatsrechtlichen-beurteilung-derfluechtlingskrise/ (18.3.2016).
48
Filzwieser/Sprung, Kommentar zur Dublin III-Verordnung,
2014, Art. 3 K2.
49
Zu Letzterem genauer unten II. 2.
50
Vgl. Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 3 K6, Art. 20 K2, K5.
51
Diese Gegenüberstellung der beiden Verfahrensalternativen verdeutlicht zwar die zugrunde liegende Konzeption, ist
aber gleichwohl etwas verkürzend: So lassen sich die Sonderkonstellationen der Art. 20 Abs. 5 UAbs. 1 und Art. 19
Abs. 2, Art. 20 Abs. 5 UAbs. 2, 3 VO EU/604/2013 in diese
Darstellung nicht ohne Schwierigkeiten einordnen: Während
die Konstellation des Art. 20 Abs. 5 UAbs. 1 VO
EU/604/2013 auf die zweite Alternative des Zuständigkeits-
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
digkeitsprüfung jeweils relevanten Umstände ist u.a. auf eine
europäische Datenbank („Eurodac“52) zurückzugreifen, in der
beispielsweise Fingerabdrücke, die im Rahmen des Registrierungsprozesses nach erfolgter Einreise abzunehmen sind, und
Daten über den Stand bereits in Gang gesetzter Asylverfahren
gespeichert sind (vgl. VO EU/603/2013); daneben ist eine
Anhörung des Antragstellers durchzuführen (Art. 5 VO
EU/604/2013).53
1. Erste Alternative des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens
Ziel der ersten Verfahrensalternative ist es, anhand von bestimmten von der VO etablierten Kriterien die Zuständigkeit
für die inhaltliche Prüfung eines Antrags auf internationalen
Schutz einem einzigen Mitgliedstaat zuzuweisen (vgl. Art. 3
Abs. 1 S. 2 VO EU/604/2013). Gegenstand des Verfahrens ist
demgemäß die Prüfung, welches dieser Kriterien einschlägig
ist.
Fall 5: Der syrische Staatsbürger S ist von der Türkei aus
über den Seeweg nach Griechenland eingereist. Danach
zieht er über die „Balkanroute“ weiter bis an die deutsche
Grenze, ohne bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen
Antrag auf internationalen Schutz gestellt zu haben, und
begehrt nun gegenüber den Grenzbeamten in nichtschriftlicher Form internationalen Schutz.
Eingeleitet wird die erste Alternative des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein
Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird (Art. 20
Abs. 1 VO EU/604/2013). Gemäß Art. 20 Abs. 2 VO
EU/604/2013 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als
gestellt, wenn den zuständigen Behörden des betreffenden
Mitgliedstaats ein vom Antragsteller eingereichtes Formblatt
oder ein behördliches Protokoll zugegangen ist. Bei einem
nicht in schriftlicher Form gestellten Antrag sollte die Frist
zwischen der Abgabe der Willenserklärung und der Erstellung eines Protokolls so kurz wie möglich sein, Art. 20
Abs. 2 S. 2 VO EU/604/2013.54
Hinweis: In Fall 5 wird das Zuständigkeitsprüfungsverfahren durch den Zugang des über die Willenserklärung
anzufertigenden Protokolls bei der zuständigen deutschen
Behörde eingeleitet (zur zuständigen Behörde sogleich
unter 2.).
prüfungsverfahrens hinausläuft, obwohl die Zuständigkeit
nicht bereits einem Mitgliedstaat positiv zugewiesen wurde,
gilt im Fall der Art. 19 Abs. 2, Art. 20 Abs. 5 UAbs. 2, 3 VO
EU/604/2013 der tatsächlich zweite Antrag auf internationalen Schutz als erster mit der Konsequenz, dass die Zuständigkeitsprüfung in ihrer ersten Alternative zur Anwendung gelangt. Gleichwohl legt die Gegenüberstellung die Grundkonzeption offen und verdeutlicht die „Knackpunkte“ der derzeit
praxisrelevant(est)en Fälle.
52
Vgl. dazu VO EU/603/2013.
53
Zu beidem knapp Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 5. Aufl. 2015, § 9 Rn. 33.
54
Vgl. Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 2 K6, Art. 20 K6.
a) Zuständigkeit für die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens
Entsprechend des verfahrenseinleitenden Ereignisses ist für
die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens derjenige Mitgliedstaat zuständig, in dem dieser Antrag gestellt
wurde. Wird der Antrag jedoch gestellt, während der Antragsteller sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats
aufhält, obliegt die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats demjenigen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich
der Antragsteller aufhält, und gilt dieser dann für die Zwecke
der Verordnung als der Mitgliedstaat, bei dem der Antrag auf
internationalen Schutz gestellt wurde (Art. 20 Abs. 4 UAbs. 1
VO EU/604/2013).
Ein erst kürzlich in den Fokus gerücktes Problem ist die
Bestimmung der Zuständigkeit für das Zuständigkeitsprüfungsverfahren in dem Fall, in dem ein Antragsteller an einer
Binnengrenze innerhalb des Schengen-Raumes seinen Antrag
auf internationalen Schutz stellt. Relevant wird diese Frage
des an der Grenze vorgebrachten Schutzbegehrens nämlich
erst dann, wenn ein Mitgliedstaat an einer Binnengrenze
Grenzkontrollen durchführt; wird an der Binnengrenze hingegen nicht kontrolliert – wie dies vom Schengener Grenzkodex (VO EG/562/2006) als Normalfall normiert ist – so
können potentielle Antragsteller die Schengen-Binnengrenze
ungehindert überschreiten und mangelt es bei Abwesenheit
von Grenzbeamten an der praktischen Möglichkeit, den Antrag an der Binnengrenze vorzubringen. Die Frage, die sich
hier stellt, ist, ob eine Antragstellung an einer Binnengrenze
bereits als Antragstellung im Hoheitsgebiet des Staates, an
den der Antrag gerichtet ist, anzusehen ist oder ob diese Antragstellung noch vom Hoheitsgebiet des Staates aus erfolgt,
von dem aus die Einreise begehrt wird – und damit die Frage,
ob Art. 20 Abs. 4 VO EU/604/2013 zur Anwendung gelangt
oder nicht.55 Unter Hinzuziehung der Regelungen des Schengener Grenzkodex könnte nun argumentiert werden, dass ein
Antragsteller „de iure“ das Hoheitsgebiet desjenigen Staates,
an dessen Grenze er Schutz beantrage, solange noch nicht
betreten habe, als er dessen Grenzübergangsstelle noch nicht
passiert habe; die Antragstellung erfolge daher noch vom
Hoheitsgebiet desjenigen Staates aus, von dem die Einreise
begehrt werde – mit der Folge, dass von Letzterem nach
55
Zuerst hierzu Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke, FAZ
online v. 9.2.2016, im Internet abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskris
e-in-deutschland-rechtsstaatlich-machbar-14060376.html
(18.3.2016); mittlerweile hat sich hierzu eine regelrechte
Debatte entwickelt, vgl. nur Lehner, Verfassungsblog v.
26.2.2016, im Internet abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/grenze-zu-dank-art-20-abs-4-dublin
-iii-vo-eine-replik/ (18.3.2016); als Replik Peukert/
Hillgruber/Foerste/Putzke, Verfassungsblog v. 3.3.2016, im
Internet abrufbar unter:
http://verfassungsblog.de/nochmals-die-politik-offener-grenz
en-ist-nicht-rechtskonform/ (18.3.2016); Lübbe, Verfassungsblog v. 4.3.2016, im Internet abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/ist-der-deutsche-transit-oesterreichi
sches-hoheitsgebiet/ (18.3.2016).
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ZJS 2/2016
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Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
Art. 20 Abs. 4 VO EU/604/2013 das Zuständigkeitsprüfungsverfahren durchzuführen sei.56 Dieser Vorschlag ist sehr
spitzfindig – was ihm an sich weder zum Vorteil noch zum
Nachteil gereicht –, beruht jedoch auf einer weder dem
Schengener Grenzkodex noch der Dublin III-VO gerecht
werdenden Gleichsetzung von „Betreten des Hoheitsgebiets“
und „Einreise“. Denn wie sich aus Art. 2 Nr. 8a, 17 VO
EG/562/2006 ergibt, finden Grenzkontrollen – sofern es keine gemeinsamen im Sinne dieser Vorschriften sind – in der
Terminologie des Schengener Grenzkodex bereits auf dem
Hoheitsgebiet des kontrollierenden Mitgliedstaates statt.
Solange ein Schutzsuchender den Grenzposten noch nicht
passiert hat, mag er also zwar „de iure“ noch nicht eingereist
sein – das Hoheitsgebiet des Staates, in den er Einreise begehrt, hat er jedoch bereits betreten.57 Bei genauer Betrachtung trägt der Rückgriff auf die Bestimmungen des Schengener Grenzkodex das vorgebrachte Verständnis von Art. 20
Abs. 4 VO EU/604/2013 daher nicht.58 Gegen dieses Verständnis spricht im Übrigen auch Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO
EU/604/2013, der unter „Antragstellung im Hoheitsgebiet
eines Mitgliedstaates“ ausdrücklich auch die Antragstellung
an der Grenze fasst.59
56
Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke, FAZ online v.
9.2.2016, im Internet abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskris
e-in-deutschland-rechtsstaatlich-machbar-14060376.html
(18.3.2016) unter Verweis auf Art. 13 Abs. 4 i.V.m. Art. 2
Nr. 8-10 und 13 Schengener Grenzkodex (VO EG/562/2006)
und die dem entsprechende Regelung in § 13 Abs. 2 S. 1
AufenthG.
57
Vgl. Thym, Der Spiegel 7/2016, S. 36. Anders kann dies
nur im Fall gemeinsamer Grenzkontrollen im Sinne von
Art. 2 Nr. 8a, 17 VO EG/562/2006 sein, da diese sich dadurch auszeichnen, dass die Kontrollen auf dem Hoheitsgebiet nur eines der beiden kontrollierenden Staaten durchgeführt werden.
58
So auch Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 2 K6, Art. 20
K13, die den Anwendungsbereich von Art. 20 Abs. 4 VO
EU/604/2013 bzgl. gegenüber Grenzbeamten vorgebrachten
Schutzbegehren denn auch folgerichtig auf den Fall beschränken, dass bei gemeinsamen Grenzkontrollen auf dem
Hoheitsgebiet von Staat A ein Schutzbegehren gegenüber
einem Beamten des Staates B geäußert wird.
59
Dazu auch Bast/Möllers, Verfassungsblog v. 16.1.2016, im
Internet abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/dem-freistaat-zum-gefallen-ueberudo-di-fabios-gutachten-zur-staatsrechtlichen-beurteilung-der
-fluechtlingskrise/ (18.3.2016), die Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO
EU/604/2013 aber nicht nur als Indiz, sondern als Beleg
hierfür ansehen. Sie verkennen dabei, dass Art. 3 Abs. 1 S. 1
VO EU/604/2013 sich nicht auf das Zuständigkeitsprüfungsverfahren bezieht und demgemäß nicht demjenigen Mitgliedstaat, an dessen Grenze ein Antrag auf internationalen Schutz
gestellt wurde, die Zuständigkeit für das Zuständigkeitsprüfungsverfahren zuweist; Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO EU/604/2013
betrifft vielmehr die inhaltliche Prüfung eines Asylbegehrens
(vgl. die Definition von „Prüfung eines Antrags auf internati-
Die in Deutschland für die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungs- und Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens zuständige Behörde ist das BAMF.60
Hinweis: In der Konstellation des Falls 5 besteht Uneinigkeit: Nach hier befürwortetem Verständnis ist die BRD
für die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens zuständig; wer der Gegenauffassung folgt, weist
nach Art. 20 Abs. 4 VO EU/604/2013 die Zuständigkeit
für das Zuständigkeitsprüfungsverfahren Österreich zu.61
b) Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates
Ist das Zuständigkeitsprüfungsverfahren eingeleitet, so kann
sich die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die inhaltliche Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz im
Wesentlichen aus folgenden drei Aspekten ergeben.62
aa) Kriterien der Art. 8 – 15 VO EU/604/2013
(1) Die Kriterien
Fall 6: Wie Fall 5. Eine Woche nach seiner Antragstellung in Deutschland hatte der Vater des S in Schweden
einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt und
Schweden ist nach der VO EU/604/2013 für diesen Antrag zuständig.
Vorrangig ist der für die inhaltliche Prüfung eines Antrages
auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat anhand
der in den Art. 8-15 VO EU/604/2013 normierten Kriterien
zu bestimmen (Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO EU/604/2013), die nach
Maßgabe des Art. 7 VO EU/604/2013 zur Anwendung gelangen. Das bedeutet zum einen, dass die Kriterien in einer
der Reihenfolge ihrer Normierung entsprechenden Rangfolge
anzuwenden sind (Art. 7 Abs. 1 VO EU/604/2013). Zum
anderen ist bei der Prüfung der Kriterien gemäß Art. 7 Abs. 2
onalen Schutz“ in Art. 2 lit. d VO EU/604/2013) und enthält
– die historische Auslegung verdeutlicht dies – die materielle
Verpflichtung der Mitgliedstaaten insgesamt, dass für einen
Antragsteller (auch für denjenigen, der seinen Antrag an der
[Binnen]Grenze eines Mitgliedstaates stellt) überhaupt ein
Asylverfahren durchzuführen ist.
60
Vgl. BAMF, Rundschreiben v. 17.7.2013 zur Änderung der
Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des DublinVerfahrens im Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.; dazu Bruns,
in: Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016,
§ 18 AsylVfG Rn. 23.
61
So denn auch Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke, FAZ online v. 9.2.2016, im Internet abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskris
e-in-deutschland-rechtsstaatlich-machbar-14060376.html
(18.3.2016)
62
Die humanitäre Klausel des Art. 17 Abs. 2 VO
EU/604/2013 soll hier unberücksichtigt bleiben; siehe dazu
Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 17 K14 ff. Die Folgen einer
Fristversäumnis im Aufnahmeverfahren für die Zuständigkeitsbestimmung werden unter 3. behandelt.
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
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VO EU/604/2013 von der Situation auszugehen, die zum
Zeitpunkt der erstmaligen Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat besteht. Nach der
ersten Antragstellung erfolgende Vorkommnisse sind für die
Kriterienprüfung also ohne Belang.
digkeit Deutschlands für die Anträge der Familienangehörigen des S.
Fall 8: S ist im August 2015 illegal nach Griechenland
eingereist und wurde dort registriert, ohne einen Antrag
auf internationalen Schutz gestellt zu haben. Ende August
zieht S über Serbien weiter nach Ungarn, wo er sich ab
September einige Monate aufhält, bis er im Dezember
2015 in Deutschland ankommt. Im März 2016 wird im
Rahmen einer Personenkontrolle festgestellt, dass S sich
illegal in Deutschland aufhält, woraufhin S einen Antrag
auf internationalen Schutz stellt.
Hinweis: In Fall 6 ist für die Prüfung der in Art. 8-15 VO
EU/604/2013 enthaltenen Kriterien der Antrag des Vaters
von S in Schweden ohne Belang; denn die Antragstellung
des Vaters erfolgte nach erstmaliger Antragstellung durch
S und damit nach dem für die Prüfung der Kriterien maßgeblichen Zeitpunkt.
Entsprechend dem hohen Gewicht, das die Dublin III-VO
dem Wohlergehen minderjähriger Asylsuchender zuspricht
(Art. 6 VO EU/604/2013), betrifft das höchstrangige Kriterium unbegleitete Minderjährige. Bei diesen ist, sofern sich
bereits Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte63
rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, die Zuständigkeit nach deren Aufenthaltsort zu bestimmen (Art. 8 Abs. 1
bis 3 VO EU/604/2013). Andernfalls ist der Mitgliedstaat
zuständig, in dem der Minderjährige seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient (Art. 8 Abs. 4 VO EU/604/2013).
Fall 7: S hat in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, für den die BRD zuständig ist. Seine noch in Syrien lebenden Familienangehörigen machen
sich nun auf den Weg und gelangen über Griechenland,
die „Balkan-Route“ und Österreich in das deutsche Hoheitsgebiet und stellen nun einen Antrag auf internationalen Schutz. Sie äußern gegenüber dem BAMF schriftlich
den Wunsch, dass die BRD auch ihre Anträge bearbeitet.
Die in den Art. 9-11 VO EU/604/2013 enthaltenen Kriterien
folgen dem Gedanken, dass für mehrere Familienangehörige
eine einheitliche Zuständigkeit eines Mitgliedstaates begründet werden kann. Demzufolge ist für einen Antragsteller, der
Familienangehörige hat, die in einem Mitgliedstaat als Begünstigte internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt sind
bzw. bzgl. derer ein Mitgliedstaat für die inhaltliche Prüfung
des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist, ebendieser Mitgliedstaat zuständig, sofern der Antragsteller diesen Wunsch schriftlich kundtut (Art. 9 bzw. 10 VO
EU/604/2013). Art. 11 VO EU/604/2013 betrifft den Fall,
dass mehrere Familienangehörige in demselben Mitgliedstaat
gleichzeitig oder in großer zeitlicher Nähe einen Antrag auf
internationalen Schutz stellen, so dass das Zuständigkeitsprüfungsverfahren für alle gemeinsam durchgeführt werden
kann.
Hinweis: Da in Fall 7 Deutschland bereits für den Antrag
des S zuständig ist und seine Familienangehörigen den
Wunsch schriftlich geäußert haben, dass Deutschland
auch ihre Anträge bearbeitet, begründet dies die Zustän63
Zu den Begriffsbestimmungen siehe Art. 2 lit. g, h, i und j
VO EU/604/2013.
Art. 13 VO EU/604/2013 betrifft den Fall des illegalen
Grenzübertritts aus einem Drittstaat und den illegalen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat. Im Fall der illegalen Einreise
aus einem Drittstaat ist für die Prüfung des Antrages auf
internationalen Schutz derjenige Mitgliedstaat zuständig,
dessen Grenze der Antragsteller erstmals illegal überschritten
hat; diese Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag
des illegalen Grenzübertritts (Abs. 1). Ergibt sich keine Zuständigkeit aus Abs. 1 so kann die Zuständigkeitsvorschrift
des Abs. 2 eingreifen:64 Hat sich ein illegal Eingereister bzw.
ein Antragsteller, bei dem die Umstände der Einreise nicht
aufgeklärt werden können, vor der Antragstellung mindestens
fünf Monate in einem Mitgliedstaat aufgehalten, so ist dieser
für die Prüfung des Antrages zuständig (Abs. 2).
Hinweis: In Fall 8 hat S Griechenlands Grenze aus einem
Drittstaat kommend illegal überschritten und seither sind
keine zwölf Monate vergangen. Griechenland ist daher
nach Art. 13 Abs. 1 VO EU/604/2013 zuständig. Daran
ändert sich auch durch die erneute illegale Einreise in die
EU über Ungarn nichts: Denn zu diesem Zeitpunkt ist die
Zuständigkeit Griechenlands bereits begründet und nicht
wieder erloschen; eine ebenfalls auf Art. 13 Abs. 1 VO
EU/604/2013 gestützte Zuständigkeit Ungarns würde
Art. 3 Abs. 1 S. 2 VO EU/604/2013 widersprechen, da
dann eine Parallelzuständigkeit bestünde/bestehen könnte
und nicht nur im Sinne des Vorschrift ein Mitgliedstaat
zuständig wäre. Das Kriterium des Art. 13 Abs. 1 VO
EU/604/2013 muss daher als durch die Einreise nach
Griechenland verbraucht angesehen werden.65
(2) Zuständigkeit bei systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im eigentlich
zuständigen Mitgliedstaat
Bestehen in dem anhand der Kriterien eigentlich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat systemische Schwachstellen
hinsichtlich des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdi64
Dieser Vorrang des Abs. 1 ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2
Hs. 1 VO EU/604/2013; dazu Filzwieser/Sprung (Fn. 48),
Art. 13 K18.
65
Vgl. Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 33; zur wohl anderslautenden
Rechtsprechungspraxis der Verwaltungsgerichte Nusser/
Schulenberg, ZRP 2016, 26 (27).
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Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
genden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die
Prüfung der Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer
Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann (Art. 3
Abs. 2 UAbs. 2 VO EU/604/2013). Die Schwachstellen sind
systemisch, wenn sie im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis prägen
und diese Mängel den Einzelnen daher nicht unvorhersehbar
oder schicksalhaft treffen, sondern sich wegen ihrer systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren lassen.66
fung, welcher Mitgliedstaat aufgrund einer bereits abgeschlossenen Zuständigkeitsprüfung der ersten Variante zuständig ist. Das Verständnis für diese zweite Alternative des
Zuständigkeitsprüfungsverfahrens sowie für die Differenzierung in die zwei Verfahrensalternativen insgesamt wird dadurch erschwert, dass sich diesbezüglich in der Dublin IIIVO – im Gegensatz zur ersten Verfahrensalternative – keine
ausdrücklichen Regelungen finden, sondern die zweite Verfahrensalternative von dem in der Verordnung geregelten
Wiederaufnahmeverfahren (dazu II. 3.) lediglich vorausgesetzt wird.
bb) Erster Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde
Kann anhand der Kriterien der Art. 8-15 VO EU/604/2013
kein zuständiger Mitgliedstaat bestimmt werden oder kann
wegen systemischer Schwachstellen keine Überstellung an
den nach diesen Kriterien eigentlich zuständigen Mitgliedstaat erfolgen, so wird der Mitgliedstaat, in dem der erste
Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die inhaltliche Prüfung zuständig (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1, UAbs. 3
1. Alt. VO EU/604/2013). Dies ist in den Fällen der ersten
Variante des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens stets der die
Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, so dass für diese Verfahrensalternative Art. 3 UAbs. 3 2. Alt. VO EU/604/2013
ohne Anwendungsbereich ist.67
a) Verfahrenseinleitung
Da Art. 20 Abs. 1 VO EU/604/2013 die Verfahrenseinleitung
an die erstmalige Stellung eines Antrages auf internationalen
Schutz koppelt, kann diesem für die zweite Verfahrensvariante jedenfalls nicht direkt die Pflicht zur Verfahrenseinleitung
entnommen werden. Vielmehr kann die Vorschrift hier nur
analog dahingehend angewendet werden, dass bei erneuter
Antragstellung oder auch bei Aufgreifen einer Person, die in
einem anderen Mitgliedstaat bereits einen Antrag gestellt
hatte, aber nun keinen erneuten Antrag stellen möchte, ein
Zuständigkeitsprüfungsverfahren der zweiten Alternative
einzuleiten ist.71
cc) Selbsteintrittsrecht
Ein Mitgliedstaat kann, auch wenn sich anhand der Kriterien
zur Zuständigkeitsbestimmung die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates ergibt, beschließen, dass er selbst den
Antrag auf internationalen Schutz inhaltlich prüft; dieser
Entschluss hat zur Folge, dass er selbst zum allein zuständigen Mitgliedstaat wird (Art. 17 Abs. 1 VO EU/604/2013;
sog. Selbsteintrittsrecht).68 Das dem Mitgliedstaat eingeräumte Ermessen dürfte überschritten sein, wenn er das Selbsteintrittsrecht so extensiv handhabt, dass dadurch das Zuständigkeitssystem der Dublin III-VO unterhöhlt würde; die Ausübung des Selbsteintrittsrechts wäre in diesem Fall wegen
Verletzung des unionsrechtlichen Effektivitätsgebots unionsrechtswidrig.69
2. Zweite Alternative des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens
Ziel der zweiten Verfahrensalternative ist es, die Realisierung
einer bereits begründeten Zuständigkeit für die inhaltliche
Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz zu ermöglichen.70 Gegenstand des Verfahrens ist demgemäß die Prü-
b) Zuständigkeit für die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens
Zuständig für die Durchführung des Zuständigkeitsprüfungsverfahrens ist derjenige Mitgliedstaat, in dem der erneute
Antrag gestellt wird bzw. in dem die Person, die in einem
anderen Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen
Schutz gestellt hatte, aufgegriffen wird. Die zuständige Behörde ist auch hier das BAMF.
c) Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates
Da in einem vorgängig durchgeführten Zuständigkeitsprüfungsverfahren der ersten Alternative bereits der zuständige
Mitgliedstaat bestimmt worden ist, beschränkt sich die Prüfung hier darauf, festzustellen, welcher Mitgliedstaat für die
inhaltliche Prüfung des Antrags zuständig ist. Eine Prüfung
der Kriterien der Art. 8-15 VO EU/604/2013 findet hingegen
nicht mehr statt.72 Ergibt die Prüfung, dass ein Mitgliedstaat
zuständig ist, in den aufgrund systemischer Schwachstellen
des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen eine
Überstellung nicht erfolgen darf, wird der die Zuständigkeit
prüfende Mitgliedstaat für die inhaltliche Prüfung zuständig
(Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 VO EU/604/2013).73 Auch für die
zweite Verfahrensvariante besteht die Möglichkeit der Aus-
66
Fast wörtlich aus BVerwG NVwZ 2014, 1039 (1040).
Vgl. Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 3 K20.
68
Ausf. zum Selbsteintrittsrecht nach der inhaltsentsprechenden Vorgängervorschrift des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO
Lehnert/Pelzer, NVwZ 2010, 613.
69
Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 17 K2.
70
In der Konstellation des Art. 20 Abs. 5 VO EU/604/2013
daneben, die Durchführung eines in einem anderen Mitgliedstaat bereits begonnenen Zuständigkeitsprüfungsverfahrens
67
zu ermöglichen, vgl. dazu Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 20
K17 ff. Diese Konstellation soll in den nachfolgenden Erläuterungen aber unberücksichtigt bleiben.
71
Ähnlich Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 20 K2.
72
Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 20 K5.
73
In der zweiten Verfahrensvariante hat also auch Art. 3
Abs. 2 UAbs. 3 2. Alt. VO EU/604/2013 einen Anwendungsbereich; vgl. dazu Filzwieser/Sprung (Fn. 48), Art. 3 K20.
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übung des Selbsteintrittsrechts (Art. 17 Abs. 1 VO
EU/604/2013).
3. Folgen der Zuständigkeitsprüfung: Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren
Für den weiteren Verfahrenslauf ist danach zu unterscheiden,
ob anhand dieser Kriterien die Zuständigkeit eines anderen
als des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaates festgestellt werden kann oder nicht. Im ersten Fall kann der die
Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat ein Aufnahme- (in der
ersten Verfahrensvariante) bzw. ein Wiederaufnahmeverfahren (in der zweiten Verfahrensvariante) einleiten und den
Mitgliedstaat, den er für die inhaltliche Prüfung zuständig
hält, darum ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen bzw.
wiederaufzunehmen (Art. 21 bzw. 23, 24 VO EU/604/2013).
Daraufhin entscheidet der ersuchte Mitgliedstaat unter Würdigung der vom ersuchenden Mitgliedstaat vorgelegten Beweismittel und Indizien darüber, ob er den Antragsteller
(wieder-)aufnimmt (Art. 22 bzw. 25 VO EU/604/2013). Sowohl für das Ersuchen als auch die Antwort hierauf gelten
Fristbestimmungen,74 deren Versäumnis im Falle des Ersuchens die Zuständigkeit des das Zuständigkeitsprüfungsverfahren betreibenden Mitgliedstaates (Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3
bzw. 23 Abs. 3 VO EU/604/2013)75 und im Falle der ausbleibenden Antwort die Fiktion der Zustimmung zur Folge hat
(Art. 22 Abs. 7 bzw. 25 Abs. 2 VO EU/604/2013). Stimmt
der ersuchte Mitgliedstaat der (Wieder-)Aufnahme zu, ist
dies dem Antragsteller mitzuteilen und kann der Antragsteller
dann innerhalb einer Frist von regelmäßig 6 Monaten nach
der Annahme des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeersuchens an den ersuchten Mitgliedstaat überstellt werden
(Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 VO EU/604/2013);76 bleibt die
Überstellung aus, geht die Zuständigkeit für die inhaltliche
Prüfung des Schutzantrags auf den ersuchenden Mitgliedstaat
über (Art. 29 Abs. 2 S. 1 VO EU/604/2013). Ist hingegen der
die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat selbst zuständig, so
hat er mit der inhaltlichen Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz fortzufahren (Art. 3 Abs. 1, 18 Abs. 2 VO
EU/604/2013).
III. Grundzüge des Asylverfahrens
Im Folgenden soll nun eine an der Chronologie des Lebenssachverhalts orientierte Betrachtung in Angriff genommen
werden.77
1. Vorklärungen: Asylgesuch – Asylantrag – Antrag auf internationalen Schutz
Wichtig für das Verständnis ist die Unterscheidung zwischen
dem (materiellen) Asylgesuch, dem (formellen) Asylantrag
sowie dem Antrag auf internationalen Schutz im Sinne von
Art. 3, 20 VO EU/604/2013. Ein Asylgesuch ist jede schriftlich, mündlich oder auf andere Weise dargebotene Willensäußerung, aus der hervorgeht, dass der Äußernde im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung oder internationalen
Schutz begehrt. Der formelle Asylantrag zeichnet sich demgegenüber durch eine bestimmte Art und Weise des Vorbringens und durch einen bestimmten Adressaten der Erklärung
aus: Für einen Asylantrag muss der Schutzsuchende sein
materielles Anliegen (d.i. das Asylgesuch) persönlich bei der
zuständigen Außenstelle des BAMF bzw. dem BAMF vorbringen (§ 14 AsylG).78 Nicht ohne Schwierigkeiten lässt sich
anhand dieser nationalrechtlichen Vorprägung der Antrag auf
internationalen Schutz im Sinne des Dublin III-VO einordnen, der das Zuständigkeitsprüfungsverfahren auslöst. Die in
Art. 20 Abs. 2 VO EU/604/2013 getroffenen Regelungen
legen dabei nahe, dass der Antrag auf internationalen Schutz
mit dem materiellen Asylgesuch oder dem formellen Asylantrag im Sinne des AsylG zwar in eins fallen kann, jedoch
nicht zwingend identisch ist.79 Denn einerseits genügt für
einen Antrag im Sinne des Verordnung das reine Vorbringen
eines Schutzgesuchs nicht, andererseits ist aber auch eine
persönliche Antragstellung vor dem BAMF nicht gefordert –
es genügt etwa, wenn ein Asylgesuch z.B. bei der Grenzbehörde vorgebracht und von dieser protokolliert wird sowie
das erstellte Protokoll beim BAMF zugeht (dazu auch 2. b).
2. Verfahren von der Einreise bis zur förmlichen Antragstellung
Erreicht ein Schutzsuchender das Bundesgebiet, so stellt sich
die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen er einreisen darf. Die diesbezüglichen Einreisevoraussetzungen erschließen sich besser bei Kenntnis der im AufenthG enthaltenen allgemeinen Regelungen zur Einreise ins Bundesgebiet
durch Ausländer, die nicht Unionsbürger im Sinne des
Art. 20 AEUV sind.
78
74
Für das Ersuchen: Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 und 2, Abs. 2
UAbs. 1 bzw. Art. 23 Abs. 2, 24 Abs. 2 VO EU/604/2013;
für die Antwort auf das Ersuchen: Art. 22 Abs. 1 bzw. Art. 25
Abs. 1 VO EU/604/2013.
75
Im Fall des Art. 24 Abs. 3 VO EU/604/2013 muss die
Möglichkeit zur erneuten Antragstellung gegeben werden.
76
In Ausnahmefällen (z.B. betreffende Person ist flüchtig)
kann die Frist auf bis zu 18 Monate verlängert werden
(Art. 29 Abs. 2 S. 2 VO EU/604/2013).
77
Ausgeklammert bleiben Ausnahmekonstellationen wie das
sog. Flughafenverfahren (§ 18a AsylG).
Das Verständnis für die Unterscheidung zwischen Asylgesuch und Asylantrag wird dadurch erschwert, dass das AsylG
den Begriff „Asylantrag“ im doppelten Sinne verwendet, so
dass stets genau untersucht werden muss, ob damit nun das
materielle Asylgesuch oder der formelle Asylantrag gemeint
ist. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 13 AsylG Rn. 3; Bruns
(Fn. 60), § 13 AsylVfG Rn. 1.
79
Ob die tatsächliche Handhabung dahingehend erfolgt, dass
das BAMF das Dublin-Verfahren stets erst mit Stellung des
formellen Asylantrags im Sinne des § 14 AsylG einleitet,
kann und soll hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein;
eine solche Handhabung scheint aber der in der Verfahrenspraxis kundige Marx ([Fn. 53], § 9 Rn. 33) nahezulegen.
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Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
a) Inkurs: Allgemeine Bestimmungen zur Einreise von Ausländern
Was unter Einreise zu verstehen ist, bestimmt § 13 AufenthG.
Hiernach ist zu differenzieren zwischen dem Grenzübertritt
an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle und dem Grenzübertritt an der sog. grünen Grenze. Im ersten Fall erfolgt die
Einreise erst, wenn der Ausländer die Grenze überschritten
und die Grenzübergangsstelle passiert hat (§ 13 Abs. 2 S. 1
AufenthG). Im zweiten Fall ist der Ausländer eingereist,
sobald er die Grenze überschritten hat. Für die Einreise (und
den daran anschließenden Aufenthalt im Bundesgebiet) bedürfen Ausländer, die nicht Unionsbürger im Sinne des Art.
20 AEUV sind, i.d.R. eines Aufenthaltstitels (§ 4 Abs. 1 S. 1
AufenthG).80 Die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels
setzt u.a. voraus, dass der Lebensunterhalt des Ausländers
gesichert, seine Identität geklärt sowie der Passpflicht nach
§ 3 AufenthG Genüge getan ist (§ 5 Abs. 1 AufenthG). Wenn
der Ausländer den erforderlichen Pass oder Passersatz oder
den erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt, ist seine
Einreise unerlaubt und er ist an der Grenze zurückzuweisen
(§ 15 AufenthG).81
b) Vorbringen des Asylgesuchs und Einreise
Eine solche Zurückweisung ist jedoch dann verboten, wenn
dem Ausländer nach den Vorschriften des Asylgesetzes der
Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet ist (§ 15 Abs. 4 S. 2
AufenthG): In diesem Fall darf er auch ohne Erfüllung der
allgemeinen ausländerrechtlichen Einreisevoraussetzungen
ins Bundesgebiet einreisen.82
Fall 9: Syrer S möchte von Österreich aus nach Deutschland einreisen. Am Grenzkontrollposten bringt er gegenüber dem Grenzbeamten vor, dass er in Deutschland
Schutz vor Bürgerkrieg suche. Er hatte zuvor bereits einen Antrag auf internationalen Schutz in Griechenland
gestellt und Schweden ist nach der Dublin III-VO für die
inhaltliche Prüfung dieses Antrags zuständig (wegen Familienangehörigen).
Gemäß § 13 Abs. 3 AsylG ist ein in Deutschland um Schutz
Suchender, der nicht im Besitz der erforderlichen Einreisepapiere ist, verpflichtet, an der Grenze, d.h. gegenüber der
Grenzbehörde, um Asyl nachzusuchen. Missachtet der Ausländer diese Pflicht – sei es, weil diese Möglichkeit aufgrund
fehlender Grenzkontrollen nicht besteht, sei es, indem er
80
Aufenthaltstitel in diesem Sinne ist etwa ein Visum oder
eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt, vgl. § 4 Abs. 1 S. 2
AufenthG.
81
Ist seine Einreise bereits erfolgt, ist er grundsätzlich zur
Ausreise verpflichtet und hat das Bundesgebiet unverzüglich
bzw. bis zum Ablauf einer ihm gesetzten Frist zu verlassen
(§ 50 AufenthG).
82
Dieses Zusammenspiel von allgemeinen Einreisevoraussetzungen und Sonderregelungen für Schutzsuchende entspricht
dem im Schengener Grenzkodex geregelten Ansatz, vgl.
Art. 13 Abs. 1 VO EG/562/2006.
bestehende Grenzkontrollen umgeht –, so hat er sich unverzüglich bei einer Aufnahmeeinrichtung zu melden (§§ 13
Abs. 3 S. 2, 22 AsylG) oder bei der Ausländerbehörde oder
der Polizei um Asyl nachzusuchen (§§ 13 Abs. 3 S. 2, 19
AsylG). In beiden Fällen erhält der Ausländer mit dem Vorbringen des Asylgesuchs kraft Gesetzes eine Aufenthaltsgestattung als Einreise- und vorläufiges Bleiberecht für die
Dauer des Asylverfahrens (§ 55 Abs. 1 S. 1 AsylG); diese ist
kein Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 AufenthG, sondern ein
asylspezifisches verfahrensabhängiges Aufenthaltsrecht.83
Demgemäß ist dem Ausländer im ersten Fall die Einreise zu
gestatten (vgl. § 18 Abs. 1 AsylG), diese ist also nicht illegal;
im zweiten Fall hat die illegal erfolgte Einreise keine Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsstatus.
Die Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG und die darauf
aufbauenden Regelungen in §§ 18 Abs. 3, 19 Abs. 3 und § 55
Abs. 1 S. 3 AsylG legen eine andere Beurteilung der Rechtslage nahe in Fällen, in denen der Ausländer aus einem sicheren Drittstaat (Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Norwegen, Schweiz; dazu oben I. 2. a) bb) einreisen möchte bzw.
eingereist ist.84 Für den Fall der bevorstehenden Einreise aus
einem sicheren Drittstaat enthält § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG die
Verpflichtung der Grenzbehörde, dem Asylsuchenden die
Einreise nach Deutschland zu verweigern. Folgerichtig entsteht bei Begehren der Einreise aus einem sicheren Drittstaat
die Aufenthaltsgestattung nicht bereits mit Vorbringen des
Asylgesuchs, sondern erst mit dem formellen Asylantrag
(§ 55 Abs. 1 S. 3 AsylG).
Die Rechtslage scheint vergleichbar, wenn sich vor der
Einreise für die Grenzbehörde Anhaltspunkte dafür ergeben,
dass ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der
Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird: In diesem Fall ist dem Ausländer
gemäß § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG die Einreise zwingend zu
verweigern. Dem korrespondiert jedoch nicht eine Vorschrift
über ein erst mit formeller Antragstellung entstehendes Aufenthaltsrecht: Dem Ausländer ist die Einreise also trotz Entstehens eines Aufenthaltsrechts zu verweigern – die asylgesetzliche Konzeption ist an dieser Stelle nicht folgerichtig
ausgestaltet.
Die asylgesetzlichen Regelungen vermitteln hier jedoch
insgesamt einen missverständlichen Eindruck von der geltenden Rechtslage: Zu berücksichtigen sind nämlich zum einen
die aus der Dublin III-VO folgenden Verpflichtungen,85 die
bei einer Kollision – aufgrund des Anwendungsvorrangs des
Unionsrechts – nationalrechtliche Regelungen im Anwendungsfall verdrängen. Infolgedessen gelangt § 18 Abs. 2
Nr. 1 AsylG unter den Mitgliedstaaten im Sinne des Dublin
III-VO86 hinsichtlich der Anträge auf internationalen Schutz
83
Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 3.
Die folgende Darlegung beschränkt sich auf die Konstellation der noch nicht erfolgten, sondern erst begehrten Einreise.
85
Zugrunde gelegt wird dabei das oben entwickelte Verständnis der Vorschriften der Dublin III-VO.
86
Also nicht nur die Mitgliedstaaten der EU, sondern auch
Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz, dazu be84
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nicht zur Anwendung: Die Verordnung dient ja gerade dem
Zweck, dass Schutzsuchende nicht zwischen den Mitgliedstaaten hin- und hergeschoben werden können – auch nicht
mit der Begründung, der Schutzsuchende sei bereits in einem
anderen Mitgliedstaat vor Verfolgung oder schwerem Schaden sicher gewesen –, sondern die Dublin III-VO verpflichtet
den Mitgliedstaat, an den ein Antrag auf internationalen
Schutz adressiert ist, eine Zuständigkeitsprüfung vorzunehmen und den Antragsteller ggf. im Rahmen eines Aufnahmeoder Wiederaufnahmeverfahrens an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Die Einreiseverweigerung unter
Berufung auf das Konzept des sicheren Drittstaates verstößt
daher – insoweit es nicht nur das grundgesetzliche Asylrecht,
sondern auch den internationalen Schutz betrifft – gegen die
Dublin III-VO und kann daher im Verhältnis Deutschlands zu
anderen Dublin-Staaten in Bezug auf Anträge auf internationalen Schutz nicht zur Anwendung kommen: Denn diese sind
nicht „sichere Drittstaaten“ im Sinne des § 18 Abs. 2 Nr. 1
AsylG. Folgerichtig scheidet dann in diesem Verhältnis auch
die Anwendung all derer Vorschriften aus, die wie § 55
Abs. 1 S. 3 AsylG dadurch auf die praktische Verwirklichung
der Einreiseverweigerung bei begehrter Einreise aus einem
„sicheren Drittstaat“ gerichtet sind, dass sie die Einreise aus
einem sicheren Drittstaat als Tatbestandsvoraussetzung normieren. Da ein an der Grenze vorgebrachtes Schutzgesuch
entsprechend der Regelung des § 13 Abs. 2 AsylG zwingend
immer das Gesuch nach internationalem Schutz enthält, dadurch die Pflicht zur Protokollierung und Übermittlung des
Protokolls an das BAMF als für das Dublin-Verfahren zuständige Behörde auslöst (vgl. Art. 20 Abs. 2 VO
EU/604/2013) und sich dadurch für jedes an der Grenze vorgebrachte Asylgesuch die Anwendbarkeit der Dublin III-VO
ergibt, kann niemandem, der an der deutschen Grenze ein
Asylgesuch vorbringt, unter Berufung darauf, dass er aus
einem sicheren Drittstaat einreisen wolle, die Einreise verweigert werden.87
Zum anderen geht auch die Vorschrift des § 18 Abs. 2
Nr. 2 AsylG ins Leere: Die Einreiseverweigerung setzt nämlich in diesem Fall voraus, dass die Zuständigkeit nach der
Dublin III-VO überhaupt geprüft und ein Aufnahme- oder
Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird. Nach Wortlaut
und Regelungsstandort („Aufgaben der Grenzbehörde“)
müsste diese Prüfung und Verfahrenseinleitung von der
Grenzbehörde vorgenommen werden – nur wenn sie diese
Prüfung und Verfahrenseinleitung vornimmt, darf sie die
Einreise verweigern. Der Grenzbehörde mangelt es jedoch
gerade an der Zuständigkeit, ein Zuständigkeitsprüfungs- und
reits oben Fn. 44. Alle sicheren Drittstaaten sind also auch
Dublin-Staaten; vgl. dazu Bruns (Fn. 60), § 27a AsylVfG
Rn. 2.
87
Bruns (Fn. 60), § 18 AsylVfG Rn. 20; Marx, AsylVfG,
8. Aufl. 2014, § 18 Rn. 23; Winkelmann, in: Bergmann/
Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016,
§ 18 AsylG Rn. 28 f. Dies wird anders beurteilen, wer in den
Fällen des an der Grenze vorgebrachten Asylersuchens
Art. 20 Abs. 4 VO EU/604/2013 zur Anwendung bringen
möchte (dazu oben II. 1. a); siehe auch Fn. 170 bei V. 1. b).
Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren im Sinne des
Dublin III-VO vorzunehmen; zuständige Behörde im Sinne
des Art. 20 Abs. 2 VO EU/604/2013 ist vielmehr das BAMF.
Die Prüfung und Verfahrenseinleitung, die § 18 Abs. 2 Nr. 2
AsylG als von der Grenzbehörde zu erfüllende Voraussetzung für die Einreiseverweigerung normiert, kann von dieser
mangels Zuständigkeit also gar nicht erfüllt werden und demzufolge kann sie eine Einreiseverweigerungsentscheidung
auch nicht auf § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG stützen.88
Hinweis: In Fall 9 ist S die Einreise nach Deutschland zu
gewähren. Er erlangt durch sein Asylersuchen eine Einreise- und Aufenthaltsgestattung (§ 55 Abs. 1 S. 1
AsylG). Dass er aus Österreich und damit aus einem sicheren Drittstaat einreisen möchte, ist aufgrund der vorrangig anzuwendenden Dublin III-VO ohne Belang und
daher ist sowohl § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG als auch § 55
Abs. 1 S. 3 AsylG unanwendbar. Die Einreiseverweigerung kann auch nicht darauf gestützt werden, dass
Schweden für die inhaltliche Prüfung des Antrags zuständig ist: Denn für das Dublin-Verfahren ist die Grenzbehörde nicht zuständig, § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG kann daher nicht angewendet werden.
Ist somit schon aufgrund der Nichtanwendbarkeit der §§ 18
Abs. 2 Nr. 1, 55 Abs. 1 S. 3 AsylG eine Einreiseverweigerung bei Vorbringen eines Asylgesuchs rechtswidrig und
daher die Einreise und der Aufenthalt von vornherein zu
gestatten, so stellt sich die Frage der Anwendung des § 18
Abs. 4 AsylG mangels Eröffnung dessen Anwendungsbereichs nicht. Daher ist auch die öffentlich diskutierte Frage,
ob der Bundesinnenminister Thomas de Maizière gemäß § 18
Abs. 4 Nr. 2 AsylG ein Absehen von der Einreiseverweigerung durch Verwaltungsvorschrift angeordnet hat, ob eine
solche Anordnung rechtmäßig wäre und ob und wie diese
Anordnung ggf. eingesehen werden kann,89 ein vernachlässigenswerter Nebenkriegsschauplatz.90
88
Bruns (Fn. 60), § 18 AsylVfG Rn. 22 ff. mit Nachweisen
zur a.A.; Marx (Fn. 87), § 18 Rn. 27 f.; i.E. auch Bast/
Möllers, Verfassungsblog v. 16.1.2016, im Internet unter
http://verfassungsblog.de/dem-freistaat-zum-gefallen-ueberudo-di-fabios-gutachten-zur-staatsrechtlichen-beurteilung-der
-fluechtlingskrise/ (18.3.2016). Zwar geht Art. 21 Abs. 2
UAbs. 1 VO EU/604/2013 offenbar davon aus, dass einem
Antragsteller auch unter Geltung der Dublin III-VO die Einreise verweigert werden kann (vgl. Hailbronner, in: Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, 65 Lfg., Stand:
August 2009, § 18 AsylVfG Rn. 26). Da aber die VO nicht
selbst eine Ermächtigung zur Einreiseverweigerung enthält,
kann eine nationale Behörde die Einreise nur dann verweigern, wenn sie sich auf eine anwendbare nationale Ermächtigungsnorm stützen kann – eine solche stellt § 18 Abs. 2 Nr. 2
AsylG aber – wie eben gezeigt – gerade nicht dar.
89
Dazu Hillgruber, FAZ online v. 21.1.2016, im Internet
abrufbar unter
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ZJS 2/2016
168
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
3. Verfahren von der förmlichen Antragstellung bis zur verfahrensbeendenden Entscheidung
a) Stellen des förmlichen Asylantrags und Zuständigkeit
Das eigentliche Asylverfahren als Verwaltungsverfahren im
Sinne von § 9 VwVfG ist ein antragsabhängiges Verfahren
(§ 22 S. 2 Nr. 2 VwVfG) und beginnt demgemäß mit der
formellen Stellung des Asylantrags (§ 23 i.V.m. § 14 AsylG).
Der Ausländer, der in einer Aufnahmeeinrichtung aufgenommen ist, hat den Antrag unverzüglich oder zu dem von der
Aufnahmeeinrichtung genannten Termin persönlich zu stellen
(§ 23 Abs. 1 AsylG)91 – eine schriftliche Antragstellung genügt also nicht. Der Fall der Antragstellung zu einem genannten Termin ist – auch angesichts der Überlastung des BAMF
– Regelpraxis.92 Die Verbandszuständigkeit für die Bearbeitung eines Asylantrages richtet sich nach dem Ergebnis des
Zuständigkeitsprüfungsverfahrens (inkl. eines eventuellen
Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverfahrens) im Sinne des
Dublin III-VO (dazu ausführlich oben II.).
b) Sachverhaltsaufklärung und persönliche Anhörung des
Antragstellers
Herzstück des Asylverfahrens sind die Sachverhaltsaufklärung (§ 24 Abs. 1 S. 1 AsylG) sowie die persönliche Anhörung des Antragstellers (§ 25 AsylG).93 Für die Sachverhaltsaufklärung gilt entsprechend der allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschrift des § 24 VwVfG auch im
Asylverfahren der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 24 Abs. 1
S. 1 AsylG). Die Amtsermittlungspflicht bezieht sich dabei
auf alle Tatsachen, die für die Entscheidung über die Asylanerkennung, die Gewährung internationalen Schutzes sowie
www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/fluechtlinge-ein-g
eheimerlass-zur-oeffnung-der-grenze-14024916.html
(18.3.2016).
90
Die Frage der Anwendbarkeit und derzeitigen praktischen
Bedeutung des § 18 Abs. 4 AsylG (insb. der Nr. 2) ist durchaus umstritten und wird demgemäß auch unterschiedlich
beurteilt (vgl. nur Hillgruber, FAZ online v. 21.1.2016, im
Internet abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/fluechtlinge-ein-g
eheimerlass-zur-oeffnung-der-grenze-14024916.html
[15.3.2016]). Sofern die Drittstaatenregelung und damit auch
§ 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG als von der vorrangig anzuwendenden Dublin III-VO im Anwendungsfall verdrängt angesehen
wird, ist die Behauptung eines Anwendungsbereich von § 18
Abs. 4 AsylG aber jedenfalls inkonsequent, da das von § 18
Abs. 4 AsylG vorausgesetzte Tatbestandsmerkmal der Einreise aus einem sicheren Drittstaat bei Verdrängung der Regelung zu sicheren Drittstaaten durch die Dublin III-VO überhaupt nicht erfüllt werden kann; vgl. dazu nur Marx (Fn. 87),
§ 18 Rn. 34.
91
In den Fällen des § 14 Abs. 2 AsylG ist der Antrag beim
BAMF selbst zu stellen.
92
Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 17.
93
Bergmann (Fn. 78), § 24 AsylG Rn. 2; Fränkel, in:
Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016,
§ 25 AsylVfG Rn. 4; Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 91.
die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten (§ 24
Abs. 2 AsylG) von Bedeutung sind.94 Neben den Angaben
des Antragstellers (dazu sogleich) kann das BAMF als weitere Beweismittel etwa Zeugen, amtliche Auskünfte, Berichte
sachkundiger Organisationen, Sachverständigengutachten
oder auch Ergebnisse von Internetrecherchen heranziehen.95
Die Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung bezieht sich sowohl
auf die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat des Antragstellers, auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, Organisationen und politische Konflikte als auch auf das individuelle
Schicksal des Antragstellers. Im Rahmen der hierzu anzustellenden Ermittlungen praktiziert das BAMF auch die Einholung von Sprachanalysen, um die Angaben des Antragstellers
zu seinem Herkunftsland zu überprüfen.96
Zentrales Element der behördlichen Sachverhaltsermittlung ist die persönliche Anhörung des Antragstellers, die
die allgemein in § 15 AsylG niedergelegte Pflicht des Antragstellers zur Mitwirkung bei der Aufklärung des Sachverhalts konkretisiert und dadurch die von der Behörde zu betreibende Sachverhaltsaufklärung kanalisiert und begrenzt:
Die zuständige Außenstelle des BAMF braucht nicht in Ermittlungen einzutreten, die durch das Vorbringen des Antragstellers – insoweit die Darlegungslast reicht – nicht veranlasst
sind.97 Hinsichtlich des Inhalts und Umfangs der Darlegungslast des Antragstellers ist zu differenzieren zwischen der
persönlichen Sphäre des Antragstellers und der allgemeinen
Lage im Herkunftsstaat.98 Im Hinblick auf seine persönliche
Situation trifft den Antragsteller eine erhöhte Darlegungslast.
Dies liegt darin begründet, dass er in Bezug auf seine persönliche Situation im Herkunftsstaat häufig mangels anderweitiger Beweismittel das wichtigste Erkenntnismittel darstellt.99
Das Vorbringen zum individuellen Schicksal des Antragstellers muss geeignet sein, den Schutzanspruch zu tragen – der
Antragsteller hat daher in sich stimmig mit genauen Einzelheiten, konkret und lebensnah sowie erschöpfend die anspruchsbegründenden Tatsachen vorzutragen.100 Während ein
abstraktes und allgemein gehaltenes Vorbringen nicht dafür
94
Fränkel (Fn. 93), § 24 AsylVfG Rn. 4.
Bell, in: Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht,
88. Lfg., Stand: Oktober 2014, § 24 AsylVfG Rn. 23, 25 ff.;
Fränkel (Fn. 93), § 24 AsylVfG Rn. 5.
96
Aufgrund nicht immer eindeutiger Sprach- und Dialektgrenzen wird die Aussagekraft von Sprachanalysen von der
Rspr. ganz überwiegend auf eine Indizwirkung beschränkt,
vgl. Fränkel (Fn. 93), § 24 AsylVfG Rn. 10.
97
Bergmann (Fn. 78), § 24 AsylG Rn. 4; Bell (Fn. 95), § 24
AsylVfG Rn. 21.
98
Diese für das deutsche Asylgrundrecht schon seit langem
etablierte Handhabung entspricht der unionsrechtlich geregelten Darlegungslast; vgl. einerseits Art. 4 Abs. 1 RL
2011/95/EU und andererseits Art. 4 Abs. 3 lit. a RL
2011/95/EU.
99
Bergmann (Fn. 78), § 25 AsylG Rn. 3 f.; Marx (Fn. 53),
§ 9 Rn. 91, 94.
100
Fränkel (Fn. 93), § 25 AsylVfG Rn. 7; Hailbronner
(Fn. 88), 87. Lfg., Stand: September 2014, § 25 AsylVfG
Rn. 9 f.
95
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169
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
spricht, dass der Antragsteller das Vorgetragene wirklich
erlebt hat, spricht ein erlebnisfundiertes Vorbringen, in dem
zeitliche, örtliche und sonstige Umstände lebensnah vorgetragen werden, dafür, dass die Angaben des Antragstellers
der Wahrheit entsprechen.101 Bei der Bemessung des Wahrheitsgehalts ist auf ggf. (alters-, bildungs- oder krankheitsbedingt) fehlende intellektuelle Fähigkeiten oder Traumata
Rücksicht zu nehmen.102 Geht es dagegen um die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsstaat besteht für den Antragsteller von vornherein nur eine eingeschränkte Darlegungslast. Dies liegt darin begründet, dass die Erlebnisse und
Kenntnisse eines Antragstellers in der Regel auf das eigene
engere Lebensumfeld begrenzt sind und sich auf einen bereits
einige Zeit zurückliegenden Zeitpunkt beziehen.103
Hinzuweisen ist im Zusammenhang mit der Anhörung
schließlich noch auf die Präklusionsregelung des § 25 Abs. 3
S. 1 AsylG. Hiernach kann (Ermessen!) ein nach der persönlichen Anhörung erfolgendes Vorbringen des Antragstellers
unberücksichtigt bleiben, wenn andernfalls die Entscheidung
des Bundesamtes verzögert würde. Die Präklusion bezieht
sich dabei nur auf das Verwaltungsverfahren104 und betrifft
nur solche Umstände, die der Antragsteller bereits im Rahmen der Anhörung hätte vorbringen können; neue Tatsachen
und Beweismittel kann der Antragsteller also auch später
noch geltend machen.105
4. Die verfahrensbeendende Entscheidung
a) Unbeachtlichkeit
Sofern ein Ausländer bereits in einem sonstigen Drittstaat –
ausgenommen sind hier Staaten, die als (Dublin-III-)Vertragsstaat im Sinne des § 27a AsylG eingeordnet sind – evident Schutz vor politischer Verfolgung erlangt hat und die
Rückführung dorthin oder in einen sicheren Viertstaat innerhalb von drei Monaten objektiv möglich ist, so ist gemäß
§ 29 Abs. 1 AsylG vom BAMF die Unbeachtlichkeit des
Asylantrags festzustellen. Der Maßstab der Verfolgungssicherheit ergibt sich aus § 27 AsylG; sie wird also insbesondere vermutet, wenn der Ausländer bereits in einem Drittstaat
einen Reiseausweis im Sinne des Art. 28 GFK zuerkannt
bekommen hat, da sodann der Schutz des Ausländers in diesem Staat gewährleistet erscheint. Eine Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 16a GG sowie der §§ 3, 4
AsylG findet in der Folge nicht mehr statt,106 es ergeht keine
101
Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 91.
Fränkel (Fn. 93), § 25 AsylVfG Rn. 8.
103
Bell (Fn. 95), 88. Lfg., Stand: Oktober 2014, § 24
AsylVfG Rn. 20; Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 94.
104
Für das gerichtliche Verfahren gelten die §§ 36 Abs. 4
S. 3, 74 Abs. 2 S. 2 AsylG.
105
Fränkel (Fn. 93), § 25 AsylVfG Rn. 16; Hailbronner
(Fn. 88), 87. Lfg., Stand: September 2014, § 25 AsylVfG Rn.
16 ff.
106
Zu prüfen sind hingegen die Abschiebungsverbote des
§ 60 Abs. 5, 7 AufenthG.
102
Sachentscheidung.107 Der Ausländer hat gemäß § 36 Abs. 1
AsylG innerhalb von einer Woche auszureisen.
b) Positive Bescheidung des Antrags
Ist ein Asylantrag nicht unbeachtlich, so findet eine materielle Prüfung statt. Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen
eines der vier Anerkennungsgründe vor, so ist der Antrag
positiv zu bescheiden und der entsprechende Status wird
zuerkannt. Im Jahr 2015 betrug diese Schutzquote 49,8 %.108
Durch den Status als Schutzberechtigter besteht gemäß § 60
Abs. 1 AufenthG ein Abschiebungsschutz.
aa) Aufenthaltserlaubnis
Asylberechtigte gemäß Art. 16a Abs. 1 GG (0,7 %) und
Flüchtlinge gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (47,8 %) erhalten zudem durch die Statusentscheidung Anspruch auf Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis durch die örtliche Ausländerbehörde gemäß § 25 Abs. 1, 2 AufenthG, die zunächst für drei
Jahre gilt; anschließend kommt die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis in Betracht. Hinsichtlich der Rechtsfolgen
dieser beiden Schutzgründe besteht keine Differenzierung
mehr.109 Subsidiär schutzberechtigte Ausländer im Sinne des
§ 4 Abs. 1 S. 1 AsylG (0,6 %) haben gemäß § 25 Abs. 2
AufenthG ebenso Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die allerdings zunächst auf ein Jahr befristet ist.
Ausländern, die die Voraussetzungen eines nationalen subsidiären Abschiebungsschutzes gemäß § 60 Abs. 5 und 7
AufenthG erfüllen (0,7 %), „soll“ gemäß § 25 Abs. 3 S. 1
AufenthG eine mindestens einjährige Aufenthaltserlaubnis
erteilt werden. Hier besteht mithin ein Rechtsanspruch, soweit kein atypischer Fall vorliegt.110
bb) Familiennachzug
Gemäß § 29 Abs. 2 S. 2 AufenthG bestehen für international
Schutzberechtigte sowie Asylberechtigte erleichterte Voraussetzungen für den Nachzug von Ehepartnern und minderjährigen, ledigen Kindern.111 Durch die Einfügung eines § 104
Abs. 13 AufenthG ist die erst am 1.8.2015 in Kraft getretene
Gleichstellung international subsidiär Schutzberechtigter
allerdings für zwei Jahre ausgesetzt worden.112 Dies ist
107
Die Kategorie der Unbeachtlichkeit beruht noch auf der
früheren Zuständigkeitsverteilung zwischen Ausländerbehörde und BAMF, ist mittlerweile aber kaum mehr sinnvoll; so
auch Bergmann (Fn. 78), § 29 AsylG Rn. 2.
108
Zur Statistik siehe die in Fn. 4 angegebene Quelle.
109
Nach EuGH NVwZ 2011, 285 (289) sowie BVerwGE
140, 114 (128) ist die Gleichstellung der Rechtsfolgen zwingende Konsequenz der „Verwechselbarkeit“ der Anerkennungsgründe, da ansonsten die unionsrechtlichen Vorgaben
unterlaufen werden könnten.
110
Fränkel (Fn. 93), § 25 AufenthG Rn. 21; Hailbronner
(Fn. 3), Rn. 1328.
111
Ausf. dazu Müller, in: Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht, § 29 AufenthG Rn. 7 ff. Vgl. auch BT-Drs.
18/7200.
112
BT-Drs. 18/7538, S. 9.
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ZJS 2/2016
170
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
grundsätzlich unionsrechtlich zulässig, da subsidiär Schutzberechtigte vom Anwendungsbereich der RL 2003/86/EG
betreffend das Recht auf Familienzusammenführung gemäß
deren Art. 3 Abs. 2 lit. c nicht erfasst sind. Im Unterschied zu
Flüchtlingen ergibt sich mithin hier kein unionsrechtlicher
Anspruch.113 Dem wird teilweise entgegengehalten, dass die
Mitgliedstaaten gemäß dem später erlassenen Art. 23 Abs. 2
RL 2011/95/EU Sorge zu tragen haben, dass die Familienangehörigen aller international Schutzberechtigter einen Aufenthaltstitel erhalten können, auch wenn sie die Schutzvoraussetzungen selbst nicht erfüllen.114 Auch daraus lässt sich
jedoch keine Verpflichtung zur Gewährung eines Anspruchs
auf einen Nachzug von Familienangehörigen subsidiär
Schutzberechtigter ableiten, denn die Norm zielt allein auf
die Wahrung des Familienverbands. Dies setzt gemäß Art. 2
lit. j RL 2011/95/EU voraus, dass sich die Familienangehörigen bereits im Aufnahmestaat befinden.115
cc) Integrationskurse
International Schutzberechtigte sowie Asylberechtigte haben
Anspruch auf die Teilnahme an einem Integrationskurs (§ 44
Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG),116 der sich gemäß §§ 10-12 IntV
in einen Deutschkurs (600 Stunden) und einen Kurs zur Orientierung in der deutschen Kultur und Rechtsordnung (60
Stunden) gliedert.117
c) Negative Bescheidung des Antrags
Fall 10: Kosovarin K gehört zur Volksgruppe der Roma.
Aufgrund ihrer Ethnie wird sie im Kosovo immer wieder
Opfer von Übergriffen durch Angehörige der albanischen
und serbischen Volksgruppe, ihr Ehemann wurde ermordet. Die Polizei unternimmt weder Ermittlungen noch
schützt sie K vor Übergriffen. Nachdem wenig später
auch ihr Haus in Brand gesetzt wurde, flüchtet K nach
Deutschland und begehrt Zuerkennung internationalen
Schutzes.118
113
Nicht maßgeblich ist ein Rückgriff auf Art. 8 Abs. 1 RL
2003/86/EG, so aber Haber, BT-Drs. 18/7510, S. 22.
114
Vgl. Deutscher Anwaltverein, Ausschuss-Drs. 18(4)489,
S. 18. Zur Vereinbarkeit mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK
vgl. Kluth, Ausschuss-Drs. 18(4)511 F, S. 14 f.
115
So auch Lübbe, Verfassungsblog v. 12.1.2015, im Internet
abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/die-angst-vor-der-syrischen-grossfa
milie-familiennachzug-fuer-syrer-aussetzen/ (18.3.2016).
116
Zu Integrationskursen vgl. Dörig, ThürVBl. 2016, 1; sowie Art. 34 RL 2011/95/EU.
117
Durch Ergänzung des § 44 Abs. 4 S. 2 AufenthG wird
hervorgehoben, dass ein Integrationskurs schon während des
laufenden Anerkennungsverfahrens besucht werden kann,
soweit ausreichend Kapazitäten zur Verfügung stehen und ein
rechtmäßiger und dauerhafter Aufenthalt zu erwarten steht,
vgl. BT-Drs. 18/6185, S. 48 ff.
118
Fall nach VG Ansbach, Urt. v. 4.10.2011 – AN 14 K
11.30293.
Hinsichtlich einer abschlägigen Bescheidung eines Asylantrags ist zu differenzieren:
aa) Offensichtliche Unbegründetheit
An die Bescheidung eines Antrags als „offensichtlich unbegründet“ – dieser Begriff wird in Art. 16a Abs. 4 S. 1 GG
kreiert119 – werden verschärfte Rechtsfolgen geknüpft. Insbesondere entsteht kraft Gesetzes eine Ausreiseverpflichtung
mit einer Frist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG). Gegen
die Ablehnung kann der Antragsteller innerhalb einer verkürzten Klagefrist von nur einer Woche (§ 74 Abs. 1 Hs. 2
i.V.m. § 36 Abs. 3 S. 1 AsylG) Verpflichtungsklage gemäß
§ 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO erheben,120 die gemäß § 75 Abs. 1
AsylG keine aufschiebende Wirkung entfaltet.
(1) Sicherer Herkunftsstaat
Eine offensichtliche Unbegründetheit kann zum einen vorliegen, wenn der Antragsteller Staatsangehöriger eines sicheren
Herkunftsstaats ist (§ 29a Abs. 1 AsylG). Als sicherer Herkunftsstaat kann aufgrund der unions-121 sowie verfassungsrechtlichen Anforderungen (Art. 16a Abs. 3 S. 1 GG) ein
Staat nur dann eingeordnet werden, wenn sich anhand der
dortigen Rechtslage, der Anwendung der Rechtsvorschriften
in einem demokratischen System und der allgemeinen politischen Lage nachweisen lässt, dass dort generell weder eine
Verfolgung noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung noch Bedrohung infolge willkürlicher
Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zu befürchten sind. Die Einhaltung dieser Vorgaben ist vom Gesetzgeber, dem das Bundesverfassungsgericht allerdings einen
„Entscheidungs- und Wertungsspielraum“122 einräumt, mithin
landesspezifisch zu überprüfen.
Als sichere Herkunftsstaaten wurden in der Anlage II des
AsylG zunächst Ghana und Senegal, seit November 2014
Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien sowie zuletzt im Oktober 2015123 Albanien, Kosovo und Montenegro
eingeordnet. Angesichts der Praxis der Genitalverstümmelung in den afrikanischen Ländern124 sowie der Diskriminierung von Minderheiten in den Balkanstaaten125 werden immer wieder Bedenken laut, ob diese Einstufung zu rechtfertigen ist. Bei Lichte besehen handelt es sich bei dem Konzept
der sicheren Herkunftsstaaten um eine widerlegbare gesetzli-
119
Wittreck (Fn. 6), Art. 16a Rn. 110.
Ausf. zum Rechtsschutz bei Bescheidung als „offensichtlich unbegründet“ Fuerst, NVwZ 2012, 213.
121
Art. 37 i.V.m. Anhang II der RL 2013/32/EU.
122
BVerfGE 94, 115 (144); a.A. Sondervotum Limbach,
BVerfGE 94, 115 (157).
123
BT-Drs. 18/6185, S. 52 ff.
124
Vgl Wittreck (Fn. 6), Art. 16a Rn. 101 m.w.N.
125
Für Verfassungswidrigkeit der Einstufung Serbiens als
sicherer Herkunftsstaat etwa VG Münster BeckRS 2014,
58696; ausf. Bader, InfAuslR 2015, 69 (70 f.); a.A. VGH
BW NVwZ-RR 2015, 791 (792); Kluth, ZAR 2015, 337
(338).
120
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
che Vermutung:126 Es bleibt weiterhin eine Einzelfallprüfung
eines Asylantrags erforderlich, bei der allerdings dem Staatsangehörigen des sicheren Herkunftsstaats die Beweislast
auferlegt ist, substantiiert hinreichende Gründe darzulegen,
die die Vermutung einer Nicht-Verfolgung zu widerlegen
vermögen. Es wird mithin keinerlei materielle Beschränkung
der Anerkennungstatbestände vorgenommen, sondern ihr
verfahrensbezogener Gewährleistungsinhalt erheblich reduziert.127 Durch diese Differenzierung nach Gefährdungsstufen
soll eine Verfahrensentlastung und -beschleunigung erreicht
werden.128 Im Gesetzgebungsverfahren befindet sich derzeit
die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten um
die nordafrikanischen Staaten Algerien, Marokko und Tunesien,129 auch die dementsprechende Einstufung der Türkei
wurde angeregt.130 Dafür ist gemäß Art. 16a Abs. 2 GG die
Zustimmung des Bundesrats notwendig.131
Hinweis: In Fall 10 besteht für K aufgrund ihrer Herkunft
aus dem Kosovo, das gemäß § 29a Abs. 2 i.V.m. Anhang II AsylG als sicherer Herkunftsstaat eingeordnet ist,
zunächst die Vermutung einer Unbegründetheit ihres
Asylantrags. Hier aber liegt eine Verfolgung durch nichtstaatliche Gruppen aufgrund ihrer Ethnie vor, vor der sie
in ihrem Heimatstaat keinen Schutz erhalten kann. Kann
K dies substantiiert darlegen, ist ihr die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
(2) Evidenz, Täuschung, mangelnde Mitwirkung
Daneben ist ein Antrag auch dann offensichtlich unbegründet, wenn der Antragsteller keinerlei juristisch tragfähigen
Fluchtgründe dargelegt hat und die Voraussetzungen für die
Gewährung eines Schutzstatus daher evident nicht vorliegen
(§ 30 Abs. 1 AsylG), er vorsätzlich unrichtige Angaben gemacht hat oder seinen Mitwirkungspflichten nicht nachgekommen ist (§ 30 Abs. 4 AsylG).
126
Randelzhofer (Fn. 32), § 153 Rn. 106.
So BVerfGE 94, 115 (132) zu Art. 16a Abs. 3 GG.
128
Vgl. Kluth, ZAR 2015, 337 (338).
129
Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Einstufung der Demokratischen Volksrepublik Algerien, des Königreichs Marokko
und der Tunesischen Republik als sichere Herkunftsstaaten =
BR-Drs. 68/16.
130
Etwa durch Sigmar Gabriel, siehe FAZ online v.
27.1.2016, im Internet abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/gabriel-fuer-ein
stufung-der-tuerkei-als-sicheres-herkunftsland-14036438.htm
l (18.3.2016).
131
Wittreck ([Fn. 6], Art. 16a Rn. 101) weist darauf hin, dass
ein Grund für die Einordnung als Zustimmungsgesetz nicht
recht ersichtlich ist. Die Forderung von Lorenz Caffier (Pressemeldung des Ministeriums für Inneres und Sport M-V,
Nr. 8 v. 12.1.2016), dem Bundesinnenminister eine Verordnungsermächtigung einzuräumen, setzte eine GG-Änderung
voraus.
127
bb) Einfache Unbegründetheit
Sämtliche anderen Anträge, bei denen für keinen der Anerkennungsgründe die entsprechenden Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen, sind als einfach unbegründet abschlägig zu
bescheiden. Eine Ausreiseverpflichtung besteht sodann innerhalb einer Frist von dreißig Tagen (§ 38 Abs. 1 S. 1
AsylG). Eine Klage ist innerhalb von zwei Wochen (§ 74
Abs. 1 AsylG) einzureichen und entfaltet aufschiebende Wirkung (§ 75 Abs. 1 AsylG).
IV. Die Beendigung des Aufenthalts
1. Entstehung der Ausreiseverpflichtung
a) Bei Unbeachtlichkeit oder Unbegründetheit des Erstantrags
Gemäß § 67 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 AsylG erlischt die Aufenthaltsgestattung, die einem Ausländer für die Dauer des Asylverfahrens eingeräumt wird, mit der Unanfechtbarkeit der
Entscheidung des BAMF. Da sodann im Regelfall kein Aufenthaltsrecht mehr besteht, entsteht kraft Gesetzes gemäß
§ 50 Abs. 1 AufenthG eine Ausreiseverpflichtung,132 der
innerhalb einer Frist von einer Woche bzw. dreißig Tagen
nachzukommen ist.
b) Bei Begründetheit des Erstantrags
Gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG entsteht eine Ausreiseverpflichtung auch dann, wenn der Ausländer einen zunächst
vorliegenden Aufenthaltstitel nicht mehr besitzt. Dies kann
neben einer Rücknahme (§ 48 [L]VwVfG) insbesondere bei
einem Widerruf (§ 52 AufenthG) oder einer Ausweisung
(§ 53 AufenthG) der Fall sein.
aa) Widerruf
Ein Widerruf des Aufenthaltstitels durch die Ausländerbehörde ist insbesondere – nach Prüfung und Abwägung der
widerstreitenden Interessen im Einzelfall – dann möglich,
wenn die Anerkennung des Ausländers als Schutzberechtigter
erloschen ist (§ 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AufenthG). Dazu muss
die entsprechende Statusentscheidung vom BAMF bestandskräftig aufgehoben worden sein. Das BAMF ist verpflichtet,
spätestens drei Jahre nach seiner Erstentscheidung zu überprüfen, ob die Gründe für die Statusentscheidung fortbestehen (§ 73 Abs. 2a S. 1 AsylG).133 Ein Widerruf hat gemäß
§ 73 Abs. 1 AsylG134 zu erfolgen, wenn keine Verfolgungssituation im Herkunftsstaat mehr vorliegt, etwa weil der ver132
Vgl. Clodius, in: Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 67 AsylVfG Rn. 9.
133
Eine Abschaffung dieser Verpflichtung zur Entlastung des
BAMF erwägen Groß, ZRP 2016, 1 (1) sowie ein Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT-Drs.
18/6202, der am 25.2.2016 abgelehnt wurde.
134
Während § 49 BVwVfG aufgrund dieser speziellen Regelung keine Anwendung finden kann, bleibt § 48 BVwVfG
parallel anwendbar, vgl. Laskowski (Fn. 3), § 73 Rn. 85. Für
den subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG finden sich in § 73b
AsylG vergleichbare Regelungen.
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172
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
folgende Machthaber abgesetzt worden ist, und somit der
Grund für die Schutzgewährung weggefallen ist.135 Ebenso
kommt ein Widerruf in Betracht, wenn der Aufenthaltsberechtigte wegen bestimmter Straftaten zu einer Freiheitsstrafe
von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist (§ 30 Abs. 4
AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 S. 1, 3 AufenthG).136 Eine Rücknahme, die die rechtswidrige Zuerkennung eines Status voraussetzt, ist hingegen gemäß § 73 Abs. 2 AsylG dann vorzunehmen, wenn der Bescheid aufgrund unrichtiger Tatsachenangaben oder wegen Verschweigens wesentlicher Tatsachen
ergangen ist. Vor einer Aufhebung ist stets zu prüfen, ob eine
Schutzgewährung aufgrund einer anderen Rechtsgrundlage in
Betracht kommt.
bb) Ausweisung
Fall 11: Der 22-jährige afghanische Staatsangehörige A
lebt seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland. Er verfügt über eine Niederlassungserlaubnis und absolviert
derzeit eine Berufsausbildung. Gemeinsam mit seinen
Geschwistern wohnt er bei seinen Eltern. Seit seinem 20.
Lebensjahr ist A Anhänger salafistischer Ideologien. Unter anderem veröffentlichte er Propagandamaterial in sozialen Netzwerken; in einem Zeitungsinterview begrüßte
er die Enthauptung westlicher Journalisten durch islamistische Kämpfer. Gegen ihn sind daher mehrere Strafverfahren anhängig, eine Verurteilung ist allerdings bisher
nicht ergangen. Die zuständige Ausländerbehörde verfügt
daraufhin seine Ausweisung. Hat eine Klage des A gegen
die Ausweisung Erfolg?137
Eine Ausweisung dient nicht der Ahndung eines bestimmten
missbilligten Verhaltens, sondern ist eine ordnungsrechtliche
Maßnahme, um präventiv Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Deutschland abzuwenden.138
Ein Ausländer ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG auszuweisen,
wenn sein „Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder
sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet“, soweit im Rahmen einer einzelfallbezogenen
Abwägung das öffentliche Interesse an der Ausreise das
Bleibeinteresse des Ausländers überwiegt. Grundsätzlich hat
mithin auf Tatbestandsseite eine Abwägung zwischen Bleibeund Ausweisungsinteresse zu erfolgen.139 Für anerkannte
135
Vgl. BT-Drs. 9/875, S. 18 zu § 11. Die Beweislast trägt
das BAMF.
136
Hecht (Fn. 19), § 5 Rn. 161. Vgl. den Fall des sog. „Kalifen von Köln“ OVG NRW NVwZ 2004, 757.
137
Fall nach VG Augsburg BeckRS 2015, 47314.
138
BVerfG NVwZ 2007, 1300 (1301); Beichel-Benedetti, in:
Huber, Kommentar zum AufenthG, 2010, Vorb §§ 53-65
AufenthG Rn. 4. Zur Statistik vgl. BT-Drs. 18/7512.
139
Krit. zur Verankerung der Abwägung auf Tatbestandsseite
Neundorf/Brings, ZRP 2015, 145; Kießling, ZAR 2016, 45
(51).
Schutzberechtigte140 gelten dabei erhöhte Anforderungen an
ein Überwiegen des Ausweisungsinteresses (§ 53 Abs. 3
AufenthG). Aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit
kommt eine Ausweisung nur in Betracht, wenn sie eine
schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und
Ordnung darstellen und damit die Ausweisung unerlässlich
ist. Dabei dürfen zugunsten eines Ausweisungsinteresses nur
spezialpräventive Gründe, nicht aber generalpräventive Wirkungen (Abschreckungsfunktion) in die Abwägung eingestellt werden.141 Ansonsten kommt auch für anerkannte
Schutzberechtigte ein Rückgriff auf die in §§ 54, 55
AufenthG dargelegten, nicht abschließenden Kataloge in
Betracht.142 So sind zugunsten des Bleibeinteresses des Ausländers gemäß § 55 AufenthG insbesondere persönliche und
wirtschaftliche Bindungen in Deutschland zu berücksichtigen. Ein Ausweisungsinteresse kann sich demgegenüber zum
einen daraus ergeben, dass eine prognostische Gefahr für
Verstöße gegen die Rechtsordnung durch eine strafrechtliche
Verurteilung indiziert wird. So wiegt das Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 AufenthG „besonders schwer“,
wenn der Ausländer rechtskräftig wegen einer oder mehrerer
Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren
verurteilt worden ist. Zum anderen können auch andere stichhaltige Anhaltspunkte ein Ausweisungsinteresse begründen,
soweit sie die Prognose einer schwerwiegenden Gefährdung
für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch den Ausländer zu tragen vermögen. Mit der Ausweisung entsteht eine
Ausreiseverpflichtung; der Zielstaat steht dem Ausgewiesenen frei.143
Hinweis: Für ein Bleibeinteresse des A in Fall 11 spricht,
dass er bereits als Kleinkind in die Bundesrepublik gekommen ist, dort seit mehr als fünf Jahren lebt (§ 55
Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und sowohl familiär (vgl. Art. 8
EMRK) als auch beruflich dort „verwurzelt“ ist. Hinsichtlich des Ausweisungsinteresses ist hingegen zu berücksichtigen, dass aufgrund der bisherigen Entwicklung
prognostisch eine erhebliche Gefahr weiterer islamistischer Betätigung des A in Deutschland besteht. Die Unterstützung terroristischer Gruppierungen gefährdet die
öffentliche Sicherheit und Ordnung besonders schwer140
Die Nicht-Erwähnung international subsidiär Schutzberechtigter in § 53 Abs. 3 AufenthG erscheint nicht damit vereinbar, dass der Schutz dieser Personen vor Entziehung des
Aufenthaltstitels dem Schutz von Flüchtlingen gemäß Art. 24
Abs. 1, 2 RL 2011/95/EU entspricht; so auch Cziersky-Reis,
in: Hofmann, Kommentar zum Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016,
§ 53 AufenthG Rn. 41; Bauer, in: Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 53 AufenthG
Rn. 70.
141
Vgl. Marx, ZAR 2015, 245 (250); dort auch zur Kritik an
generalpräventiven Erwägungen.
142
Die gesetzliche Regelung bleibt hinsichtlich einer Anwendbarkeit unklar. Die Gesetzesbegründung legt sie jedenfalls nahe (BT-Drs. 18/4097, S. 50); a.A. Cziersky-Reis
(Fn. 140), § 53 AufenthG Rn. 37.
143
Cziersky-Reis (Fn. 140) § 53 AufenthG Rn. 4.
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wiegend (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Die Ausweisung
ist daher wohl rechtmäßig.144
2. Vollziehung der Ausreiseverpflichtung (Abschiebung)
Kommt der Ausländer seiner Ausreiseverpflichtung nicht
fristgerecht nach und liegt kein Abschiebungsverbot im Sinne
des § 60 Abs. 1 AufenthG vor, kommt gemäß § 58 Abs. 1
S. 1, Abs. 2 S. 2 AufenthG eine Vollziehung durch die Ausländerbehörde in Betracht (Abschiebung)145. Aufgrund der
erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigung (Art. 2 Abs. 1 GG)
setzt eine Abschiebung stets einen Abschiebungsgrund voraus, der entweder darin liegen kann, dass die freiwillige
Erfüllung der Ausreisepflicht nicht gesichert ist oder aber aus
Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine
Überwachung der Ausreise erforderlich ist.146 Für die Abschiebung als letzte Stufe eines Verwaltungsvollstreckungsverfahrens (unmittelbarer Zwang)147 ist eine vorherige Androhung erforderlich. Bei einer ablehnenden Bescheidung
eines Asylantrags wird diese bereits vom BAMF erlassen
(§ 34 Abs. 1 S. 1 AsylG); andernfalls ist die Ausländerbehörde zuständig (§ 59 Abs. 1 S. 1 AufenthG).148 In der Abschiebungsandrohung ist auch der Zielstaat einer Abschiebung zu
benennen, im Regelfall der Staat, dessen Staatsangehörigkeit
der Ausländer besitzt. Der Termin der Vollziehung darf aufgrund der neu eingefügten Regelung des § 58 Abs. 1 S. 8
AufenthG nicht mehr angekündigt werden,149 um zu vermeiden, dass sich ein Ausreisepflichtiger seiner Abschiebung
entzieht. § 62 AufenthG sieht zudem die Möglichkeit vor,
vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer vor einer Abschiebung präventiv zu inhaftieren. Dazu bedarf es allerdings –
aufgrund der damit verbundenen Freiheitsentziehung gemäß
Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG – einer richterlichen Anordnung,150
die insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen hat.
3. Abschiebungshindernisse: Das Konzept der Duldung
Gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG ist eine Abschiebung
auszusetzen, „solange die Abschiebung aus tatsächlichen
oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.“ In diesen Fällen besteht mithin
ein Anspruch des Geflüchteten auf eine sog. individuelle
144
So auch VG Augsburg BeckRS 2015, 47314.
Umfangreiche Statistiken zu 2014 durchgeführten Abschiebungen finden sich in BT-Drs. 18/4025.
146
Nähere Definitionen finden sich in § 58 Abs. 3 AufenthG.
147
Vgl. Marx (Fn. 87), § 34 Rn. 3; Kluth, in: Ehlers/Fehling/
Pünder (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 3, 3. Aufl.
2013, § 72 Rn. 334.
148
Zur Frage der Notwendigkeit der Vollziehbarkeit der
Ausreiseverpflichtung ausf. Kluth (Fn. 147), § 72 Rn. 339 ff.
149
Kluth (ZAR 2015, 337 [342]) verweist darauf, dass die
Ankündigung früher im Ermessen der Länder stand und sich
insofern unterschiedliche Verwaltungspraktiken herausgebildet hatten.
150
Dazu auch Beichel-Benedetti (Fn. 138), Vorb § 62
AufenthG Rn. 2.
145
Duldung,151 die den Vollzug der Abschiebung für den Zeitraum des Bestehens des Hindernisses aussetzt.152 Die Duldung ist damit zwar kein Aufenthaltstitel im förmlichen Sinne – rechtlich bleibt die Ausreisepflicht bestehen (§ 60 Abs. 4
AufenthG) –, faktisch berechtigt sie aber zum Aufenthalt in
Deutschland.153 Für ihre Erteilung ist die örtliche Ausländerbehörde zuständig. Diese ist in ihrer Entscheidung gemäß
§ 42 AsylG an alle zielstaatsbezogenen Erwägungen des
BAMF gebunden. Es können aber folgende tatsächliche oder
rechtliche Hindernisse einer Abschiebung entgegenstehen:
a) Tatsächliche Hindernisse
Tatsächliches Hindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 S. 1
AufenthG ist insbesondere das Fehlen gültiger Reisedokumente, die für die Einreise in den Zielstaat erforderlich sind
und auch nicht zeitnah beschafft werden können.154 Hier wird
zumeist versucht, bei der zuständigen Botschaft die Ausstellung von Ersatzpapieren zu erwirken.155
b) Rechtliche Hindernisse
Rechtlich einer Abschiebung entgegenstehen können zum
einen durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiäre Bindungen. Danach ist beispielsweise die Abschiebung eines Elternteils nicht möglich, soweit die minderjährigen Kinder weiterhin in Deutschland verbleiben und damit ein Familienverband
aufgelöst würde.156 Besonders häufig stehen einer Abschiebung aber gesundheitliche Gründe (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)
entgegen, namentlich eine Reiseunfähigkeit. Von einer Reiseunfähigkeit im engeren Sinne spricht man, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des
151
Vgl. BVerwGE 111, 62 (64). Zusätzlich definiert S. 3 eine
Ermessensregelung zur Duldung aus dringenden humanitären
oder persönlichen Gründen oder erheblichem öffentlichen
Interesse.
152
Die Geltungsdauer soll im Regelfall ein Jahr nicht überschreiten, andernfalls kommt gemäß § 25 Abs. 5 S. 1
AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht, vgl. dazu Bauer (Fn. 140), § 60a AufenthG Rn. 52.
Sog. Kettenduldungen können aufgrund der damit verbundenen Unsicherheit und erheblichen gesellschaftlichen Benachteiligung eine Beeinträchtigung des Rechts auf Privatleben
gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK darstellen, vgl. EGMR InfAuslR
2006, 297.
153
Kluth (Fn. 147), § 72 Rn. 255; krit. dazu Kempen, in:
Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Der Staat in der Flüchtlingskrise, 2016, S. 216 (222).
154
Masuch, in: Huber, Kommentar zum AufenthG, 2010,
§ 60a AufenthG Rn. 7; krit. Kempen (Fn. 153), S. 226.
155
Durch die Änderung des § 71 Abs. 3 Nr. 7 AufenthG soll
in Zukunft die Beteiligung der Bundespolizei gestärkt werden. In der EU wird die Einführung eines neuen europäischen
Reisedokuments erwogen, vgl. Europäische Kommission,
Vorschlag für eine Verordnung über ein europäisches Reisedokument für die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger = KOM (2015) 668.
156
Ausf. dazu Hecht (Fn. 19), § 5 Rn. 198 ff.
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ZJS 2/2016
174
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und dieser Gefahr nicht durch
bestimmte Vorkehrungen begegnet werden kann. Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne liegt hingegen vor, wenn die Abschiebung als solche – unabhängig vom Transportvorgang –
eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt.157 Hier kamen bisher insbesondere posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) in Betracht. Für den Nachweis der Reiseunfähigkeit bedarf es eines ärztlichen Attests,
das nachvollziehbar die Befundtatsachen und die fachlichmedizinische Beurteilung des Krankheitsbildes sowie dessen
Folgen darzulegen hat (prognostische Diagnose). Durch das
„Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren“ im
sog. Asylpaket II ist nunmehr in § 60a Abs. 2c, 2d AufenthG
eine gesetzliche Vermutung der Reisefähigkeit eingefügt
worden, soweit der Ausländer ein entgegenstehendes ärztliches Attest nicht unverzüglich vorlegt.158 Atteste, die nicht
unverzüglich vorgelegt werden oder den gesetzlichen Anforderungen nicht genügen, dürfen grundsätzlich nicht berücksichtigt werden. Eine solche Präklusionsregelung ist aufgrund
der Verpflichtung zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtlichen
Bedenken ausgesetzt.159 Allerdings ist von der Präklusionsregelung abzusehen, soweit tatsächliche Anhaltspunkte für eine
schwerwiegende Erkrankung vorliegen. Damit dürfte in der
Gesamtbetrachtung der Ausgleich der Interessen (noch) verfassungskonform sein.160
V. Rechtliche Leitlinien politischer Krisenreaktion
1. „Nationale Obergrenze“
Die politische Diskussion zur Begrenzung des Flüchtlingszuzuges nach Deutschland enthielt und enthält vielfache Äußerungen und Gegenäußerungen, Forderungen und Gegenforderungen zu Themenfeldern, die unter dem Begriff „nationale
Obergrenze“ zusammengefasst werden können.161 Angesichts
dieser politischen Relevanz sollen damit verbundene Vorstellungen im Folgenden auf ihre Vereinbarkeit mit dem jeweils
maßgeblichen Recht überprüft werden bzw. die rechtlichen
Anforderungen, die für die Umsetzung solcher Vorschläge
erfüllt sein müssten, benannt werden. Soweit es um die For157
Vgl. BVerfG NVwZ 2014, 1511 (1513).
BT-Drs. 18/7538, S. 8.
159
Für Verfassungswidrigkeit Deutscher Anwaltverein, Ausschuss-Drs. 18(4)489, S. 15 f.
160
So wohl auch Thym, Ausschuss-Drs. 18(4)511 D, S. 9.
161
Einerseits etwa Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der
Aussage, dass das Grundrecht auf Asyl keine Obergrenze
kenne, siehe etwa in FAZ online v. 11.9.2015, abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/merkel-grundre
cht-auf-asyl-kennt-keine-obergrenze-13797029.html
(18.3.2016); andererseits etwa Horst Seehofer mit der Forderung einer Obergrenze in Höhe von 200 000 Flüchtlingen pro
Jahr, siehe in FAZ online v. 3.1.2016, im Internet unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/csu-chef-seehof
er-fordert-obergrenze-von-200-000-fluechtlingen-pro-jahr-13
994723.html (18.3.2016).
158
derung einer zahlenmäßigen Begrenzung des Flüchtlingszuzuges durch eine „nationale Obergrenze“ geht, ist dabei zwischen zwei unterschiedlichen hinter diesem Begriff stehenden
Vorstellungen zu differenzieren: Eine Obergrenze kann zum
einen im Sinne einer materiellen Beschränkung des Rechts
auf Asyl bzw. internationalen Schutz konzipiert (a) und zum
anderen als eine Änderung der Zuständigkeit Deutschlands
für die Durchführung von Asylverfahren und damit als Forderung nach einer veränderten Handhabung der Dublin IIIVO verstanden werden (b).162
a) Materielle Beschränkung des Rechts auf Asyl bzw. internationalen Schutz
Die Forderung nach einer materiellen Beschränkung des
Rechts auf Asyl bzw. internationalen Schutz kann in (mindestens) zweierlei Weise erhoben werden. Zum einen kann es
darum gehen, das Grundrecht auf Asyl bzw. das Recht auf
internationalen Schutz zu einer rein objektiv-rechtlichen
Gewährleistung, die also keine subjektiv-rechtliche Komponente enthält, umzugestalten.163 Das Asylrecht bzw. Recht
auf internationalen Schutz würden dann zu einem Staatsziel
oder einer institutionellen Garantie umgeformt, deren Umfang und Konkretisierung und damit die Anzahl als Schutzsuchender aufzunehmender Menschen weitgehend in das
politische Ermessen von Parlament und Regierung gestellt
seien.164 Mag diese Forderung zwar für das Asylgrundrecht
auf nationaler Ebene und damit als „nationale Obergrenze“
des Asylgrundrechts grundsätzlich umsetzbar sein, hätte sie
angesichts der weitgehenden praktischen Bedeutungslosigkeit
des Asylgrundrechts165 keine faktischen Auswirkungen. Für
die von der europäischen Ebene für das nationale Recht
zwingend vorgegebenen subjektiv-rechtlichen Schutzstandards im Sinne des internationalen Schutzes fehlt es auf rein
nationaler Ebene hingegen an der Regelungskompetenz und
ist daher auf diesem Wege eine nationale Obergrenze nicht
auf rechtskonforme Art und Weise umsetzbar.166 Zum anderen kann eine nationale Obergrenze im Sinne einer materiellen Beschränkung dahingehend verstanden werden, dass das
Recht auf Asyl bzw. internationalen Schutz zwar als subjektiv-rechtliche Gewährleistung fortbesteht, dass aber nach
Erreichen einer bestimmten Anzahl an Asylgesuchen/-anträgen oder an positiv beschiedenen Anträgen in einem Jahr –
z.B. die von Horst Seehofer genannten 200 000167 – oder pro
Tag alle weiteren Anträge überhaupt nicht geprüft168 oder
162
Diese Differenzierung vom Grundsatz auch bei Funke,
Verfassungsblog v. 4.2.2016, im Internet abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/obergrenze-ist-nicht-gleich-obergre
nze-und-warum-es-derzeit-trotzdem-keine-gibt/ (18.3.2016).
163
So für das grundgesetzliche Recht auf Asyl Hopfauf, ZRP
2015, 226.
164
Hopfauf, ZRP 2015, 226 (229).
165
Dazu bereits oben I. 2. a) bb).
166
Groß, ZRP 2016, 1; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung PE 6-3000-153/15, S. 35 f.
167
Siehe Fn. 161.
168
Soweit dies aus den Medien zu entnehmen ist, ist es die
von Österreich präferierte und eingeschlagene Vorgehens-
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
ohne materielle Prüfung abschlägig beschieden werden. Mag
zwar eine rein nationale Umsetzung rechtskonform möglich
sein, indem das Asylgrundrecht entsprechend geändert wird,
scheitert eine solchermaßen verstandene nationale Obergrenze für den internationalen Schutz auch in dieser Ausprägung
an den für die nationale Ebene verbindlichen unionsrechtlichen Vorgaben, die ein solches Vorgehen weder kennen noch
erlauben (Art. 13, 18 RL 2011/95/EU; Art. 3 Abs. 1 S. 1 VO
EU/604/2013).169
b) Veränderte Handhabungsweise der Dublin III-VO
Die Forderung nach einer veränderten Handhabungsweise der
Dublin III-VO durch das BAMF kann (mindestens) in zweierlei Weise verstanden werden.170
aa) Handhabung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1
VO EU/604/2013
Zum Teil bezieht sich die Forderung nach einer veränderten
Handhabungsweise der Dublin III-VO darauf, in Fällen, in
denen nicht bereits aufgrund anderer Kriterien der Dublin IIIVO eine Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung
eines Asylverfahrens begründet ist, das Selbsteintrittsrecht
nach Art. 17 Abs. 1 VO EU/604/2013 nicht mehr auszu-
weise, sowohl eine Tages- als auch Jahreshöchstgrenze einzuführen, bei deren Erreichen keine weiteren Anträge bearbeitet werden, siehe zur Jahreshöchstgrenze Borcholte, Spiegel Online v. 24.1.2016, im Internet abrufbar unter
www.spiegel.de/politik/ausland/oesterreich-obergrenze-fuerfluechtlinge-bis-sommer-erreicht-a-1073593.html
(18.3.2016) und zur Tageshöchstgrenze
www.tagesschau.de/ausland/oesterreich-grenzkontrollen-109.
html (18.3.2016).
169
I.E. auch Groß, ZRP 2016, 1; Wissenschaftlicher Dienst
des Deutschen Bundestages, Ausarbeitung PE 6-3000-153/
15, S. 35 f.; in diesem Gutachten wird zudem noch angedacht, eine nationale Obergrenze unter Berufung auf Art. 72
AEUV einzuführen – doch auch die Durchführung dieses
Vorschlags wäre vom Unionsrecht letztlich nicht gedeckt,
siehe a.a.O., S. 40 ff.
170
Ein drittes Verständnis wäre im Sinne oben bei II. 1. a)
dargelegter Rechtsauffassung zu Art. 20 Abs. 4 VO
EU/604/2013 (dazu Peukert/Hillgruber/Foerste/Putzke, FAZ
online v. 9.2.2016, im Internet abrufbar unter
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/fluechtlingskris
e-in-deutschland-rechtsstaatlich-machbar-14060376.html
[18.3.2016]), dass mangels Zuständigkeit Deutschlands für
das Zuständigkeitsprüfungsverfahren die Dublin III-VO auf
an der Grenze vorgebrachte Asylersuchen keine Anwendung
finde und daher die nationale Regelung des § 18 Abs. 2 Nr. 1
AsylG nicht verdrängen könne. Schutzsuchende könnten
daher schlicht abgewiesen werden. Da diese Rechtsauffassung jedoch – wie oben bereits dargelegt – fehlgeht, kann sie
eine nationale Obergrenze nicht tragen und kann es hier daher
mit dieser kurzen Erwähnung sein Bewenden haben.
üben.171 Diese Forderung basiert auf der Prämisse, dass die
derzeitige Praxis, nach der Deutschland die große Mehrheit
der an Deutschland gerichteten Anträge auf internationalen
Schutz selbst inhaltlich prüft, auf einer großzügigen Handhabung des Selbsteintrittsrechts beruht und nicht darauf, dass
die Zuständigkeit Deutschlands bereits aufgrund der Kriterien
der Dublin III-VO begründet ist. Diese Prämisse ist jedoch
als rechtliche Fehlbewertung einer Großzahl der derzeit relevant werdenden Fälle einzustufen und der darauf gestützten
Forderung mangelt es daher weitgehend an praktischer und
rechtlicher Relevanz. Denn es ist zu berücksichtigen, dass
einerseits die überwiegende Mehrheit der Antragsteller über
Griechenland in die EU eingereist ist172 und somit – bei
Nichteingreifen vorrangiger Kriterien – eigentlich Griechenland nach Art. 13 Abs. 1 VO EU/604/2013 für die Prüfung
der Anträge zuständig wäre, andererseits aber eine Überstellung derjenigen, die nach Weiterreise in Deutschland einen
(erneuten) Antrag auf internationalen Schutz stellen, nach
Griechenland wegen dortiger systemischer Schwachstellen
des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen (immer
noch) ausgeschlossen ist.173 Daher ist in diesen Fällen über
Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 VO EU/604/2013 die Zuständigkeit
Deutschlands begründet und es besteht überhaupt kein auf
das Selbsteintrittsrecht gestütztes Veränderungspotential.174
Daran ändert sich auch nicht dadurch etwas, dass viele der
Schutzsuchenden in Kroatien oder Ungarn erneut die EU
betreten haben – denn da die Zuständigkeit Griechenlands
über Art. 13 Abs. 1 VO EU/604/2013 zunächst einmal begründet war, kann hieraus keine zusätzliche Zuständigkeit
begründet werden; das Zuständigkeitskriterium ist insoweit
verbraucht.175
bb) Nichtanwendung der Dublin III-VO und darauf gestützte
Einreiseverweigerung
Ein zweites Verständnis nach veränderter Handhabung der
Dublin III-VO basiert auf einer völkerrechtlichen Argumentation. Verwiesen wird dabei auf den völkerrechtlichen
Grundsatz der Reziprozität, wonach völkerrechtliche Normen
171
Vgl. zu diesem Verständnis Funke, Verfassungsblog v.
4.2.2016, im Internet abrufbar unter
http://verfassungsblog.de/obergrenze-ist-nicht-gleich-obergre
nze-und-warum-es-derzeit-trotzdem-keine-gibt/ (18.3.2016).
172
Im Jahr 2015 waren dies knapp 857 000; dazu
http://data.unhcr.org/mediterranean/country.php?id=83
(18.3.2016).
173
Jedenfalls bis 30.6.2016; dazu der Bericht von am Orde,
taz online v. 12.1.2016, im Internet abrufbar unter
www.taz.de/!5265225/ (18.3.2016).
174
Die Bundesregierung beruft sich laut Bundesjustizminister
Heiko Maas denn auch bereits seit November nicht mehr auf
das Selbsteintrittsrecht, siehe seinen Gastbeitrag in der FAZ
online v. 30.1.2016, im Internet abrufbar unter:
www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/gastbeitrag-vonjustizminister-heiko-maas-14041595.html (18.3.2016).
175
Marx (Fn. 53), § 9 Rn. 33; zur wohl anderslautenden
Rechtsprechungspraxis der Verwaltungsgerichte Nusser/
Schulenberg, ZRP 2016, 26 (27).
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176
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
nur dann als bindend anzusehen sein sollen, wenn sie von
allen beteiligten Staaten beachtet werden.176 Hiernach könne
es nicht richtig sein, dass für Deutschland erst dadurch aus
der Dublin III-VO eine Verpflichtung folge, den Zugang zum
Asylverfahren zu eröffnen, dass die eigentlich jeweils zuständigen Mitgliedstaaten sich weigern bzw. nicht erfolgreich
darauf hinwirken, die Geltung des Unionsrechts wiederherzustellen177 – sei es durch Beseitigung systemischer Mängel in
den Asylverfahren und der Unterbringung, sei es in der Verhinderung sekundärer Migration durch Einreiseverweigerungen bei Fehlen der allgemeinen Einreisevoraussetzungen und
ohne Vorbringen eines Asylgesuchs (bzw. eines Asylgesuchs
für einen anderen als denjenigen Mitgliedstaat, in den die
Einreise begehrt wird). Abgeleitet werden kann daraus die
Forderung an Deutschland, die Dublin III-VO unangewandt
zu lassen und demzufolge Schutzsuchenden die Einreise zu
verweigern. Dieser Vorschlag rührt an den Grundfesten der
Europäischen Union, indem er das Recht der Europäischen
Union als herkömmliches Völkerrecht deklariert und damit
den supranationalen Charakter des Unionsrechts negiert. Auf
der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH zur Rechtsnatur der Europäischen Union und den Wirkungen der unionalen Rechtsordnung kann diese Forderung als nicht mit dem
Unionsrecht vereinbar angesehen werden.178
2. Beendigung des Aufenthalts straffälliger Ausländer
a) Ausweisung
Politisch gefordert wird eine erleichterte Ausweisung straffällig gewordener Ausländer.179 Bei Asylbewerbern entsteht hier
die Problematik, dass über die Schutzbedürftigkeit und damit
einen besonderen Zurückweisungsschutz noch nicht entschieden ist. Eine Ausweisung kann daher grundsätzlich nur
aufschiebend bedingt durch eine negative Entscheidung des
BAMF im Asylverfahren ergehen (§ 53 Abs. 4 S. 1
AufenthG).180 Eine Verurteilung kann allerdings zum einen
gemäß § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 S. 1, 3 AufenthG
die Verweigerung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen. Dabei muss die unionsrechtliche Vorgabe
gemäß Art. 14 Abs. 4, 5 RL/2011/95/EU Berücksichtigung
finden, die eine besonders schwere Straftat sowie eine Gefahrenprognose erfordert. Zum anderen soll eine unbedingte
Ausweisung schon während des Asylverfahrens möglich
176
Dolzer, in: Vitzthum/Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl.
2013, S. 456.
177
So Hailbronner, Die Welt online v. 1.11.2015, unter
www.welt.de/print/die_welt/debatte/article148313378/Europ
as-Grenzkodex.html (18.3.2016) abrufbar.
178
So auch Thym, EU Migration Law Blog v. 11.3.2016, im
Internet abrufbar unter http://eumigrationlawblog.eu/beyonddublin-merkels-vision-of-eu-asylum-policy/ (18.3.2016).
179
Vgl. etwa Die Bundesregierung, Kriminelle Ausländer
schneller ausweisen, abrufbar unter
www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/01/201601-11-konsequenzen-nach-koeln.html (18.3.2016).
180
Vgl. Möller/Stiegeler, in: Hofmann, Kommentar zum
Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 60 AufenthG Rn. 44.
sein, soweit sie bei einer hypothetisch unterstellten Anerkennung der Schutzberechtigung rechtlich zulässig wäre (§ 53
Abs. 4 S. 2 AufenthG). Denn es gibt keinen Grund, dass ein
Asylbewerber besser steht als ein anerkannter Schutzberechtigter.181
Im Zuge der politischen Forderung einer Verschärfung
des Ausweisungsrechts ist nunmehr ein § 54 Abs. 2 Nr. 1a
AufenthG eingefügt worden, nach dem ein schwerwiegendes
Ausweisungsinteresse bei bestimmten Straftaten, die höchstpersönliche Rechtsgüter betreffen, schon bei jedweder Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe vorliegen soll, unabhängig
von deren Dauer und einer etwaigen Aussetzung zur Bewährung.182 Ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse kann gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG bei eben
diesen Straftaten bei einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vorliegen. Die Anforderungen
an die Ausweisung von anerkannten Schutzberechtigten – die
gesondert in § 53 Abs. 3 AufenthG niedergelegt sind und im
Wege einer einzelfallbezogenen Abwägung zu ermitteln sind
– bleiben von dieser Änderung zunächst unberührt. Es wird
allenfalls das Ausweisungsinteresse stärker gewichtet.183
Damit ist zum einen die Berücksichtigung der unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 24 Abs. 1, 2 RL 2011/95/EU sichergestellt (vgl. auch Art. 32 GFK), nach dem ein Entzug des
Aufenthaltstitels international Schutzberechtigter nur bei
Vorliegen eines zwingenden Grundes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Betracht kommt.184 Zum anderen
erscheint durchaus bemerkenswert, dass aufgrund der Einbettung in ein „Asylpaket II“ während der parlamentarischen
Debatte allein Geflüchtete im Zentrum der Aufmerksamkeit
standen,185 dabei aber kaum bedacht wird, dass diese Gesetzesverschärfung sämtliche in Deutschland lebenden Ausländer, unabhängig vom Grund und der rechtlichen Grundlage
ihres Aufenthalts, betrifft.
b) Abschiebung
Die Ausweisung begründet zwar durch Aufhebung des Aufenthaltstitels gemäß §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG
eine Ausreisepflicht, ermöglicht aber nicht stets die Abschie181
Bauer (Fn. 140), § 53 AufenthG Rn. 76.
Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur erleichterten Ausweisung
von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss
der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern
= BT-Drs. 18/7537, S. 3. Krit. hinsichtlich der mangelnden
Kongruenz zur strafrechtlichen Terminologie Hörich/
Bergmann, Verfassungsblog v. 3.3.2016, im Internet unter
http://verfassungsblog.de/strafrecht-als-migrationspolitischessteuerungsinstrument-zur-reform-des-ausweisungsrechts-nac
h-koeln/ (15.3.2016).
183
So auch Thym, Ausschuss-Drs. 18(4)512 B, S. 8.
184
Da die Ausweisung allein den Entzug des Aufenthaltstitels, nicht aber eine Zurückweisung in den Herkunftsstaat
betrifft, ist nicht (allein) Art. 21 RL 2011/95/EU heranzuziehen. So aber Kluth, Ausschuss-Drs. 18(4) 511 F, S. 18 f.; wie
hier hingegen Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, PE
6-3000-4/16, S. 31. Dazu auch EuGH EuGRZ 2015, 393.
185
BT-Prot. 18/156.
182
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177
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
bung eines anerkannten Schutzberechtigten. Denn für diese
gilt – im Vergleich zu Ausländern, die aus anderen Gründen
in Deutschland leben – gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich ein besonderer Schutz vor einer Abschiebung in den
Herkunftsstaat. Dieser kann allerdings gemäß § 60 Abs. 8
S. 1 AufenthG entfallen, wenn der Ausländer eine „Gefahr
für die Allgemeinheit“ bedeutet, weil er zu einer mindestens
dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist.186 Nach dem
neu eingefügten § 60 Abs. 8 S. 3 AufenthG soll nunmehr
schon bei einer Verurteilung zu einer einjährigen Freiheitsstrafe ein Ermessen für die Aufhebung des Abschiebungsschutzes eingeräumt werden. Bei einer solchen Verschärfung
ist Art. 33 Abs. 2 GFK zu berücksichtigen, der die Abschiebung eines Schutzberechtigten in seinen Herkunftsstaat nur
erlaubt, soweit der Ausländer „aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen
ist“ oder „eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates
bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“ Für
anerkannte Flüchtlinge im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG greift
auch Art. 21 Abs. 2 lit. b RL 2011/95/EU diesen Maßstab
auf, indem er für eine Zurückweisung die Begehung einer
besonders schweren Straftat verbunden mit einer Gefahrenprognose voraussetzt.187 Es bleibt daher stets im Einzelfall zu
prüfen, ob tatsächlich eine derartige Gefährdung besteht. Ein
Wegfall des Abschiebungsverbots bei Bagatelldelikten und
kleinerer und mittlerer Kriminalität ist völker- und unionsrechtlich jedenfalls ausgeschlossen.188 Darüber hinaus ist
gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK eine Abschiebung stets unzulässig, wenn im Herkunftsstaat Folter
oder andere unmenschliche Behandlung droht.189 Der Ausländer erhält sodann eine Duldung gemäß § 60a Abs. 2 S. 1
AufenthG.
Rechtlich grundsätzlich zulässig wäre allerdings eine Abschiebung straffälliger Ausländer in Drittstaaten.190 Zwar hat
sich das in der Abschiebungsandrohung des BAMF ausdrücklich zu benennende Abschiebungsziel zunächst nach der
Staatsangehörigkeit des Ausländers zu richten.191 Gleichwohl
ist es möglich, auch Drittstaaten als Zielland zu benennen,192
soweit einer Abschiebung dorthin keine rechtlichen oder
tatsächlichen Hindernisse entgegenstehen. Dies setzt zum
einen voraus, dass der Drittstaat zur Aufnahme des Ausländers bereit ist;193 völkerrechtlich ist er dazu bei NichtStaatsangehörigen regelmäßig nicht verpflichtet. Darüber
hinaus darf aufgrund des in § 60 Abs. 1 AufenthG verankerten Non-Refoulement-Prinzips (Art. 33 Abs. 1 GFK) dem
Ausländer auch im Drittstaat keine Verfolgung drohen.194
Insbesondere muss auch ausgeschlossen werden, dass der
Ausländer aus dem Drittstaat in einen weiteren Staat, in dem
ihm Verfolgung droht, weitergeschoben wird (sog. Kettenabschiebung).195 Letztlich ist erforderlich, dass der Ausländer
etwa durch familiäre Beziehungen oder durch einen früheren,
längeren Aufenthalt Verbindungen zum Zielstaat hat. Fehlt es
an jedwedem Zusammenhang, so verstößt die Abschiebungsandrohung gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG
und ist daher rechtswidrig.196 Keine Willkür liegt allerdings
vor, wenn der Ausländer in einen Staat abgeschoben wird,
aus dem er selbst zu stammen vorgibt.197
3. Initiativen auf Unionsebene
Art. 78 Abs. 1 S. 1 AEUV lautet: „Die Union entwickelt eine
gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und
vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener
Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der
Nicht-Zurückweisung gewährleistet werden soll.“ Art. 78
Abs. 2 AEUV spricht sodann von einem „gemeinsamen europäischen Asylsystem.“ In diesen Normen kommen somit
zugleich Handlungsauftrag und Kompetenz der Europäischen
Union zu einer europäischen Harmonisierung des Asylrechts
zum Ausdruck.198
a) Vollharmonisierung der Anerkennungsvoraussetzungen
Gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. a und b AEUV ist die EU befugt,
die Anerkennungsvoraussetzungen als Flüchtling und als subsidiär Schutzberechtigter durch eine EU-Verordnung unionsweit zu vereinheitlichen.199 Der Effekt einer solchen Vollharmonisierung ist allerdings nicht überzubewerten, da auch
die derzeitige geltende RL 2011/95/EU bereits weitgehende
Vorgaben vorsieht. Die höchst unterschiedlichen Anerken-
186
BT-Drs. 18/7537, S. 8.
Dazu Hailbronner, in: Hailbronner (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law, 2010, Ch. IV 3. Art. 21 Rn. 1.
188
Thym, Ausschuss-Drs. 18(4)512 B, S. 6; krit. auch Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, PE 6-3000-4/16,
S. 34.
189
EGMR, Urt. v. 28.2.2008 – 37201/06 – juris; Hecht
(Fn. 19), § 5 Rn. 183 ff. Vgl. auch Art. 19 Abs. 2 GrCh.
190
Gefordert etwa von Peter Altmaier, vgl. Spiegel Online v.
31.1.2016, im Internet abrufbar unter
www.spiegel.de/politik/deutschland/regierung-kriminelle-flu
echtlinge-in-drittstaaten-abschieben-a-1074884.html
(18.3.2016).
191
Marx (Fn. 87), § 34 Rn. 24.
192
Vgl. BVerwG InfAuslR 1999, 73 (74); BVerwG InfAuslR
2013, 42; Kluth (Fn. 147), § 72 Rn. 361.
187
193
Vgl. etwa das Rücknahmeübereinkommen zwischen der
EU und der Türkei = Abl. EU 2014 Nr. L 134/3.
194
Ausf. Möller (Fn. 17), § 60 AufenthG Rn. 8.
195
BVerfGE 94, 49 (92 f.); Classen, DVBl. 1993, 700 (701).
196
VG Gelsenkirchen InfAuslR 2002, 217 (218); zust. Marx
(Fn. 87), § 34 Rn. 26.
197
BayVGH, Beschl. v. 12.6.1997 – 25 ZB 97.32617; VG
Gelsenkirchen, Urt. v. 31.10.2001 – 10a K 3868/99.A.
198
Vgl. Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung,
2011, S. 155.
199
Graßhof, in: Schwarze, EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012,
Art. 78 AEUV Rn. 15. Für eine Vollharmonisierung plädieren Dörig/Langenfeld, NJW 2016, 1 (4). Vgl. dazu auch
Europäische Kommission, Die Europäische Migrationsagenda = KOM (2015) 240, S. 21; Bast (Fn. 198), S. 156.
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ZJS 2/2016
178
Grundzüge des Flüchtlingsrechts und das Recht in der Flüchtlingskrise ÖFFENTLICHES RECHT
nungsquoten liegen daher wohl vorrangig in einer inkohärenten nationalen Auslegungspraxis begründet.200
eines „EU-Asyl(fach)gerichts“206 als Abteilung des EuG
kaum ausreichend Rechnung getragen sein dürfte.
b) Asylverfahren an den EU-Außengrenzen
Es erscheint (rechtlich) denkbar, Asylverfahren in Zukunft
allein an den EU-Außengrenzen durchzuführen, sei es durch
die dortigen Mitgliedstaaten oder gar durch andere Mitgliedstaaten, die somit außerhalb ihres eigenen Hoheitsgebietes
tätig würden.201 Dies verspricht zum einen eine erleichterte
Steuerung der Migrationsbewegungen. Zum anderen könnten
reisespezifische Belastungen und Gefahren für Flüchtlinge
vermindert und sog. „Schleppern“ die Geschäftsgrundlage
entzogen werden.
Ein Schritt in diese Richtung wurde bereits durch die Einrichtung erster Hotspots unternommen.202 Diese Aufnahmezentren werden von Mitgliedstaaten eingerichtet, die sodann
auf Anfrage personelle und organisatorische Unterstützung
durch die Grenzschutzagentur Frontex, das Europäische
Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) sowie die europäische Polizeibehörde Europol erhalten.203 In den Hotspots
wird zunächst eine Registrierung sämtlicher ankommender
Flüchtlinge in der europäischen Datenbank Eurodac sichergestellt. Im Rahmen einer ersten Anhörung soll sodann ermittelt
werden, ob eine ankommende Person aus nachvollziehbaren
Gründen um Schutz ersucht, um sie dann in das übliche
Asylverfahren zu überführen, oder aber ob sie unverzüglich –
ggf. unter Mitwirkung von Frontex – zurückgeführt werden
kann.204
Die Verwirklichung der Forderung, dass die Europäische
Union selbst – etwa durch eine Unionsagentur205 – Asylverfahren durchführt, vermag zu einer Vereinheitlichung der
Anerkennungspraxis führen. Sie bedürfte allerdings – da vom
Grundsatz des mitgliedstaatlichen Vollzugs gemäß Art. 291
Abs. 1 AEUV abgewichen wird – zum einen einer Kompetenzübertragung durch eine entsprechende Änderung der
Unionsverträge. Zum anderen ergäbe sich aus dem Tätigwerden eines Unionsorgans die justizielle Zuständigkeit der
Unionsgerichtsbarkeit. Angesichts europaweit derzeit wohl
(hundert)tausender jährlicher Asylverfahren würde dies zu
einem fundamentalen Aufgaben- und Bedeutungswandel der
Unionsgerichtsbarkeit führen, dem allein mit der Gründung
c) Europäische Umverteilung
Führt ein „plötzlicher Zustrom“ von Flüchtlingen in einem
Mitgliedstaat zu einer „Notlage“, so kann der Rat der Europäischen Union gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV mit qualifizierter
Mehrheit Maßnahmen zur Entlastung dieses Mitgliedstaates
vereinbaren. Am 14. und 22.9.2015 wurde auf dieser Grundlage eine Umverteilung (Relocation) von insgesamt 160 000
Personen aus Griechenland und Italien innerhalb von zwei
Jahren in die weiteren Mitgliedstaaten der EU beschlossen,207
um – unter Aussetzung der Grundregel des Art. 13 Abs. 1
VO EU/604/2013 – dort das Asylverfahren durchzuführen.
Umverteilt werden sollen allerdings nur Personen, die aus
Staaten mit einer unionsweit durchschnittlichen Anerkennungsquote von mindestens 75 % stammen.208 Art. 78 Abs. 3
AEUV könnte in Zukunft auch weitere Maßnahmen zur Entlastung der Staaten an den EU-Außengrenzen ermöglichen.
Allerdings ist zu beachten, dass die Voraussetzung einer
„Plötzlichkeit“ der Migrationsbewegung verdeutlicht, dass
allein befristete, nicht aber dauerhafte Mechanismen bei einer
kontinuierlich hohen Flüchtlingszahl auf diese Rechtsgrundlage gestützt werden können.209 In Betracht kommt jedoch
ein dauerhafter Umverteilungsmechanismus durch eine Änderung der Zuständigkeitsregelungen, die auf Grundlage der
Kompetenz des Art. 78 Abs. 2 lit. e AEUV in der VO
EU/604/2013 geregelt sind. Die Kommission hat dementsprechend vorgeschlagen, in dieser Verordnung einen Abschnitt VII einzufügen, nach dem „in Krisensituationen“ die
Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags auf einen
anderen Mitgliedstaat übergehen kann, in den der Antragsteller umzusiedeln ist.210
200
Becker/Schlegelmilch (ZIAS 2015, 1 [19]) verweisen
darauf, dass die Schutzquote für Flüchtlinge aus dem Balkan
in Deutschland im europäischen Vergleich äußerst niedrig ist.
201
Dies erwägt Kluth, ZAR 2016, 1 (6).
202
Vgl. Europäische Kommission, Explanatory Note on the
Hotspot Approach, S. 5, abrufbar im Internet unter
www.statewatch.org/news/2015/jul/eu-com-hotsposts.pdf
(18.3.2016).
203
Vgl. Art. 7 Abs. 1 Beschl. EU/2015/1523 = Abl. EU 2015
Nr. L 239/146.
204
Zur problematischen Situation in der Türkei vgl. ProAsyl,
Überleben im Transit, 2012, abrufbar unter
www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/NEWS/2012/12_03_16_
BHP_PA_Tuerkei__2__03.pdf (18.3.2016).
205
Dafür plädieren Dörig/Langenfeld, NJW 2016, 1 (4).
206
Dörig/Langenfeld, NJW 2016, 1 (4).
Art. 4 Beschl. EU/2015/1523 = Abl. EU 2015 Nr. L
239/146 sowie Art. 4 Beschl. EU/2015/1601, Abl. EU 2015
Nr. L 248/80. Neben Ungarn hat die Slowakei (C-643/15) am
2.12.2015 Klage beim EuGH eingereicht. Für Schweden
(KOM [2015] 677) soll die Umverteilung aufgrund eigener
„Notlage“ nach einem Vorschlag der Europäischen Kommission für ein Jahr ausgesetzt, für Österreich (KOM [2016] 80)
für ein Jahr um 30 % reduziert werden.
208
Art. 3 Abs. 2 Beschl. EU/2015/1523, Abl. EU 2015 Nr. L
239/146 sowie Art. 3 Abs. 2 Beschl. EU/2015/1601, Abl. EU
2015 Nr. L 248/80.
209
Graßhof (Fn. 199), Art. 78 AEUV Rn. 25.
210
Europäische Kommission, Vorschlag für eine Verordnung
zur Einrichtung eines Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen = KOM (2015) 450. Die Zuteilungsquote richtete
sich gemäß Art. 33b Nr. 1 i.V.m. Anhang III des Entwurfs
grds. nach der Bevölkerungsgröße (40 %), dem Bruttoinlandsprodukt (40 %) sowie der umgekehrt proportionalen
Einbeziehung der durchschnittlichen Zahl der Asylanträge
pro 1 Million Einwohner in den vergangenen fünf Jahren
(10 %) und der Arbeitslosenquote (10 %), wobei die Wirkung
der letzten beiden Faktoren rechnerisch auf jeweils max.
30 % der ersten beiden Faktoren begrenzt wird.
207
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179
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Torben Ellerbrok/Lucas Hartmann
d) Neuansiedlung
Nur hingewiesen sei darauf, dass sich der Rat der Europäischen Union überdies auf eine Neuansiedlungsregelung (Resettlement) verständigt hat, nach der in zwei Jahren 20.000
Personen direkt aus Drittstaaten in Mitgliedstaaten aufgenommen werden sollen.211
VI. Schlussbemerkung
Das Verständnis des deutschen und europäischen Asyl- und
Flüchtlingsrechts hilft, im Umgang mit der Flüchtlingssituation das Recht als Argument zu nutzen. Gleichwohl ersetzt
die binäre Entscheidung zwischen Rechtmäßigkeit und
Rechtswidrigkeit nicht die breite gesellschaftliche und demokratische Suche nach Lösungen auf die Herausforderungen
der Gegenwart. Es bleibt Aufgabe des Juristen, sich hier aktiv
im Diskurs zu beteiligen und für die Bewahrung rechtlicher
Grundwerte einzutreten.
211
Rat der Europäischen Union, Schlussfolgerungen zur Neuansiedlung von 20 000 Personen, die unzweifelhaft internationalen Schutz benötigen, durch multilaterale und nationale
Regelungen = Rats-Dok. 11130/15.
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ZJS 2/2016
180
Rechtscharakter polizeilicher Maßnahmen
Von Wiss. Mitarbeiterin Diane Jahr, Augsburg*
Dieser Beitrag befasst sich mit der mitunter schwierigen
Feststellung des Rechtscharakters polizeilicher Maßnahmen.
Nach Darstellung des Streits und Entwicklung eines Lösungsvorschlags zur Einordnung von polizeilichen Maßnahmen sollen beispielhaft einzelne typische Maßnahmen auf
ihren Verwaltungsakt- oder Realaktcharakter untersucht
werden, um den Studierenden eine Hilfestellung bei der Abgrenzung reichen zu können. Es werden hierbei auch die
unmittelbare Ausführung von Maßnahmen durch die Polizei
sowie die Vollstreckung polizeilicher Maßnahmen betrachtet.
Schließlich sollen die Auswirkungen der unterschiedlichen
Einordnung auf die Falllösung betrachtet werden.
I. Einleitung
Sind polizeiliche Maßnahmen als Verwaltungsakte oder Realakte einzuordnen? Dieses Problem bewegt Studierende bei
der Prüfungsvorbereitung im Polizeirecht immer wieder.
Während in der Vergangenheit diese Frage klar mit der Bejahung eines Verwaltungsakts beantwortet wurde und der Streit
darüber als „dogmatische Feinheit“1 abgetan wurde, wird die
Ansicht, dass nicht alle polizeiliche Maßnahmen als Verwaltungsakt einzuordnen sind, besonders in der Lehre zunehmend verbreitet vertreten. Der Streit ist jedoch nicht nur
dogmatischer Natur. Er hat Auswirkung auf den Rechtsschutz: Die statthafte Klageart und damit die Anforderungen
für den Erfolg des Rechtsmittels entscheiden sich nach der
Einordnung der anzugreifenden polizeilichen Maßnahme.
Ebenso unterscheiden sich die Konsequenzen hinsichtlich der
Durchsetzbarkeit bzw. Bestandskraft einer polizeilichen
Maßnahme: Ein Verwaltungsakt erwächst grundsätzlich erst
nach Ablauf der Rechtsmittelfristen in Bestandskraft und
kann von der Behörde mit Verwaltungszwang durchgesetzt
werden. Dagegen kann ein Realakt zwar mangels Rechtsfolge
niemals bestandskräftig werden, jedoch ist ihm gegenständlich, dass seine tatsächliche Wirkung sofort und jederzeit
nach Erlass dieser Maßnahme eintritt und damit auch befolgt
werden muss.
II. Streitdarstellung
Die Einordnung polizeilicher Maßnahmen – darunter sind
diejenigen Maßnahmen zu verstehen, die in fremde Rechte
eingreifen, also gegen den Willen des Betroffenen oder ohne
seinen erkennbaren Willen getroffen werden2 – vollzog sich
in der Vergangenheit vor dem Hintergrund, dass die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nur für Verwaltungsakte
vorgesehen war, beispielsweise gem. § 122 Preußisches Landesverwaltungsgesetz (PrLVG) sowie § 44 Abs. 1 S. 2 Preu-
* Die Verf. ist Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie bei Prof.
Dr. Franz Lindner an der Universität Augsburg.
1
Weber/Köppert, Polizei- und Sicherheitsrecht Bayern,
3. Aufl. 2015, Rn. 13.
2
Vollzugsbekanntmachung zu Art. 2 PAG (Bayern).
ßisches Polizeivollzugsgesetz (PrPVG).3 Dies gilt jedoch für
§ 40 Abs. 1 VwGO in seiner heutigen Fassung als maßgebliche Norm für die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs
nicht mehr. Dort wird lediglich das Vorliegen der öffentlichrechtlichen Streitigkeit und gerade kein Vorliegen eines Verwaltungsaktes als Voraussetzung für die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs gefordert. Damit können nicht nur Verwaltungsakte nach § 35 S. 1 VwVfG, sondern auch Realakte
mit den verwaltungsgerichtlichen Klagen, insbesondere der
Feststellungsklage nach § 43 VwGO, angegriffen werden.4
Außerdem erscheint es historisch betrachtet naheliegend,
einen Verwaltungsaktcharakter für jede polizeiliche Maßnahme anzunehmen, da sich die gesamte Eingriffsverwaltung
ursprünglich aus dem Polizeirecht entwickelt hat.5 Damit
liegt ein Erst-recht-Schluss nahe: Wenn sich das öffentliche
Recht mit seinem Haupthandlungsinstrument, dem Verwaltungsakt, aus diesem Rechtsgebiet entwickelt hat, müssten
erst recht alle polizeilichen Maßnahmen einen Verwaltungsaktcharakter aufweisen.
Demzufolge nahm die früher herrschende Meinung6 für
jede polizeiliche Maßnahme stets einen Verwaltungsaktcharakter nach § 35 S. 1 VwVfG7 an.
Diese früher verbreitete Ansicht ist gegenwärtig jedoch
Kritik ausgesetzt: Teilweise müsse sich die Ansicht, jede
polizeiliche Maßnahme wäre als Verwaltungsakt nach § 35
S. 1 VwVfG8 einzuordnen, mit Kunstgriffen behelfen.9 Neben „Realakten mit gedanklich vorgelagerten Verwaltungsakten“10 wird als bekanntestes Konstrukt eine Tathandlung
versehen mit einer Duldungsverfügung angenommen11. Die
Subsumtion unter § 35 S. 1 VwVfG12 und damit die Bejahung eines Verwaltungsaktes fallen leicht: Die Duldungsverfügung weist Regelungscharakter auf und erfüllt mithin beim
Begriff des Verwaltungsakts die Voraussetzung der „Regelung“13 im Sinne der Setzung einer Rechtsfolge. Es wird
3
Vgl. Beckmann, NVwZ 2011, 842 (843).
Zum ganzen Absatz Beckmann, NVwZ 2011, 842 (843).
5
Statt vieler Heckmann, in: Becker/Heckmann/Kempen/
Manssen (Hrsg.), Öffentliches Recht in Bayern, 6. Aufl.
2015, Teil 3 Rn. 21.
6
Z.B. Berner/Köhler/Käß, Kommentar zum PAG, 20. Aufl.
2010, Vor Art. 11 Rn. 4 f.; sowie Art. 53 Rn. 4; Weber/
Köppert (Fn. 1), Rn. 13; Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 21. Aufl. 2015, Anh § 42 Rn. 35.
7
Bzw. des jeweiligen VwVfG des Landes.
8
Entsprechend sind natürlich die jeweiligen VwVfG eines
Landes anzuwenden.
9
Beckmann, NVwZ 2011, 842 (843); sowie v. Alemann/
Scheffczyk, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck’scher OK
VwVfG, 30. Edition 2016, § 35 Rn. 151.
10
Beckmann, NVwZ 2011, 842 (843).
11
Vgl. Kopp/Schenke (Fn. 6), Anh § 42 Rn. 25, Weber/
Köppert (Fn. 1), Rn. 13, sowie v. Alemann/Scheffczyk (Fn. 9),
§ 35 Rn. 150.
12
Bzw. des jeweiligen Landes.
13
§ 35 S. 1 VwVfG.
4
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181
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Diane Jahr
jedoch nicht nur das Konstrukt des Verwaltungsakts als
Kunstgriff missbilligt, vielmehr ergibt sich in der Realisierung dieser Denkfigur ein weiterer Angriffspunkt für Kritik:
Insbesondere bei der Anwendung des polizeilichen Zwangs,
also beispielsweise des Schusswaffeneinsatzes, sei es nur
schwer vorstellbar, wie diese Tatmaßnahme mit der Duldungsverfügung verbunden sein sollte14. Die Kritiker unterstellen an dieser Stelle eine derartige Konstruktion, dass die
Kugel aus der Pistole wohl gedanklich mit einem gelben
Fähnchen, auf dem die Duldungsverfügung zu finden sei, losgefeuert werde15. Diese recht anschauliche Vorstellung lässt
die Kritik gut nachvollziehen und schafft damit der Gegenansicht Gehör.
Die heutige (Gegen)Ansicht argumentiert, es bestehe
schon kein prozessualer Grund für die Annahme eines Verwaltungsakts bei jeder polizeilichen Maßnahme, noch lasse
sich bei natürlicher Betrachtung des Geschehens ein konkludenter Verwaltungsakt dem Verhalten oder dem mutmaßlichen Willen des handelnden Polizeibeamten entnehmen16.
Die Argumente der im Vordringen befindlichen Ansicht
vermögen zu überzeugen. Es ist zu erwarten, dass sich diese
Ansicht zumindest in der Lehre und der Literatur gegen die
althergebrachte herrschende Meinung durchsetzen wird. Die
Rechtsprechung hält sich die Entscheidung mittlerweile offen.17 Vorteil dieser in Verwaltungsakte und Realakte differenzierenden Ansicht ist, dass den verschiedenen, vielschichtigen Maßnahmen der Polizei in ihrer rechtlichen Einordnung
besser Rechnung getragen werden kann.
Für den Studierenden ergibt sich der Gewinn daraus, dass
bei der Falllösung nur die polizeiliche Maßnahme, wie sie der
Sachverhalt angibt, betrachtet werden muss, und sich nicht
für die ein oder andere Maßnahme eine ungeschriebene, gedachte oder hypothetische Duldungsverfügung dazu gedacht
werden muss.
III. Begrifflichkeiten der in Verwaltungsakte und Realakte differenzierenden Ansicht: Polizeiliche Maßnahmen als
„Tathandlungen“, „realisierende“ bzw. „vollziehende“ sowie „befehlende“ Maßnahmen
Damit ist im Einzelfall der rechtliche Charakter einer Maßnahme zu untersuchen und es ist im Einzelfall eine Entscheidung zu treffen, ob die zu betrachtende Maßnahme einen
Regelungsgehalt aufweist und letztlich als Verwaltungsakt
einzuordnen ist oder ob die Maßnahme sich in einem tatsächlichen Erfolg erschöpft, kein Regelungsgehalt zu ermitteln ist
und damit als Realakt einzuordnen ist. Leider kann nicht
bereits am Wortlaut der Rechtsgrundlage für die polizeiliche
Maßnahme festgemacht werden, ob sich die Ausführung der
Ermächtigung in einem Realakt oder einem Verwaltungsakt
verwirklicht. Dennoch aber gibt die in Verwaltungsakte und
14
So Lindner, Öffentliches Recht im Freistaat Bayern, 2012,
Rn. 1061 mit Verweis auf Fn. 1459.
15
Nochmals Lindner (Fn. 14), Rn. 1061 mit Verweis auf
Fn. 1459. Er bezeichnet das Konstrukt als „skurril“.
16
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 82; sowie Lindner (Fn. 14),
Rn. 1061 mit Verweis auf Fn. 1459.
17
BVerwGE 109, 203 = BayVBl. 2000, 439.
Realakte differenzierende Ansicht einige Kategorien von
Maßnahmen an die Hand, mit denen die polizeilichen Handlungen strukturiert werden können.
Die im Vordringen befindliche Ansicht bringt neue Kategorien zur Bezeichnung der polizeilichen Maßnahmen auf. Es
werden „Tathandlungen“18 bzw. Tatmaßnahmen aufgeführt,
bei denen der Schwerpunkt der Maßnahme bei natürlicher
Betrachtungsweise auf der tatsächlichen Handlung der Polizei liegt. Die Polizei wirkt bei diesen Maßnahmen unmittelbar und körperlich auf eine bestimmte Sache oder Person ein.
Beispielsweise packt sie den Betroffenen am Arm, um ihn
festzuhalten oder ihn wegzuschieben. Oder sie nimmt eine
bewegliche Sache an sich – sei es, der Betroffene gibt sie
freiwillig heraus oder die Polizei nimmt die Sache dem Betroffenen weg. Hierunter gehören auch die Fälle im Verwaltungszwang: die Polizei feuert eine Schusswaffe auf eine
Person oder eine Sache ab oder sie schlägt auf den Störer mit
einem Schlagstock ein. Der Maßnahme fehlt es offensichtlich
an der Setzung einer Rechtsfolge – demgegenüber tritt eine
faktische Folge für den Betroffenen ein. Tatmaßnahmen bzw.
Tathandlungen werden daher als Realakte eingeordnet.
Daneben finden sich sog. „realisierende“19 oder „vollziehende“20 Maßnahmen. Hier führt die Polizei eine Maßnahme
selbst aus, zu deren Duldung der Betroffene rein faktisch
gezwungen ist. Kennzeichnend für die Annahme einer solchen „realisierenden“21 Maßnahme ist die Tatsache, dass die
Polizei hier ohne vorherigen oder gleichzeitigen Befehl handelt, aber dennoch mit der Maßnahme bereits die Gefahr
abwehren oder jedenfalls zur Aufgabenerfüllung beitragen
kann.22 Diese Maßnahmen werden (ebenso wie die Tatmaßnahmen) als Realakte eingeordnet, da die Polizei hier selbst
von ihrem Recht Gebrauch macht und ein Maßnahmeerfolg
erzielt wird, der tatsächlich und nicht im Wege der Anordnung herbeigeführt wird.23 Die überkommene Gegenansicht
stellt bei diesen Maßnahmen aber gerade auf die Duldung
gegenüber dem Betroffenen ab, die ihm gegenüber befohlen
wird. Die früher vertretene Ansicht kann damit das Setzen
einer Rechtsfolge wegen dem Befehl an den Betroffenen
bejahen und nimmt bei diesen Maßnahmen einen Verwaltungsakt nach § 35 S. 1 VwVfG an.24 Als Beispiele anzuführen wären typischerweise25 das Durchsuchen von Personen
18
Beckmann, NVwZ 2011, 842 (844).
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 81.
20
Weber/Köppert (Fn. 1), Rn. 13.
21
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 81.
22
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 81.
23
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 82.
24
So die allgemeine Argumentation. Vgl. BVerwGE 26, 161
(164); sowie Weber/Köppert (Fn. 1), Rn. 184.
25
Diese Maßnahmen, insbesondere das Durchsuchen und
Betreten von Wohnungen werden nachher genauer betrachtet.
Hier liegt der bekannte Teufel im Detail, es muss genau untersucht werden, welche Äußerungen die Polizei tätigt oder
nicht, ob sie beispielsweise einen Befehl zum Öffnen der
Wohnungstür erlässt, dann würde ein Verwaltungsakt vorliegen, oder ob sie ohne vorherige mündliche Ankündigung von
19
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ZJS 2/2016
182
Rechtscharakter polizeilicher Maßnahmen
und Sachen sowie das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen.
Schließlich werden „regelnde“26 Maßnahmen angeführt.
Bei diesen Maßnahmen fordert die Polizei den Betroffenen
zu einer bestimmten Handlung auf, sie formuliert einen rechtlichen Befehl an den Betroffenen. Die für die Gefahrenabwehr erforderliche Handlung nimmt der Adressat des Befehls, typischerweise der Störer, vor. Diese Maßnahmen
lassen sich wegen des vorliegenden Befehls, der eine Rechtsfolge für den Betroffenen setzt, ohne weiteres als Verwaltungsakt im Sinne des § 35 S. 1 VwVfG27 einordnen. Dazu
gehören unproblematisch die Erteilung eines Platzverweises
oder das Auskunftsersuchen der Polizei sowie die Vorladung
durch die Polizei.
IV. Entwicklung von Abgrenzungskriterien
Ausgehend von den eben dargestellten Überlegungen sollen
Abgrenzungskriterien für die rechtliche Einordnung der polizeilichen Maßnahmen entwickelt werden. Leider ist der
Wortlaut der polizeilichen Befugnisse nicht aufschlussreich,
da die meisten der polizeilichen Befugnisse den Wortlaut
„Die Polizei kann…“28 aufweisen. Mit einer Wortlautauslegung lässt sich damit noch nicht erkennen, ob die Polizei zu
einem Realakt oder einem Verwaltungsakt ermächtigt wird.
Es ist daher der Einzelfall genau zu betrachten und festzustellen, ob die Polizei im Rahmen ihrer Maßnahme eine
mündliche Anordnung erlässt. Diese mündliche Anordnung
kann bereits Hinweis auf den Verwaltungsaktcharakter der
Maßnahme sein. In der Regel wird mit einer mündlichen
Ansprache an den Betroffenen diesem eine besondere Verhaltenspflicht29 angeordnet. Es lässt sich also ein Befehl in der
Maßnahme der Polizei ausmachen, der dem Betroffenen eine
bestimmte Pflicht auferlegt und damit eine Rechtsfolge für
den Betroffenen setzt. Diese „befehlende“30 Maßnahme kann
als Verwaltungsakt nach § 35 S. 1 VwVfG eingeordnet werden.
Wird die Polizei dagegen tätig, ohne sich vorher oder
gleichzeitig31 zumindest mündlich an den Betroffenen zu
wenden, handelt die Polizei anhand von Maßnahmen, die für
den Betroffenen „unmittelbare Eingriffswirkung erzeugen“32,
liegt die Sache gegenteilig: Es wird eine tatsächliche Maßnahme ergriffen, die einen tatsächlichen Erfolg33 nach sich
zieht. Es wird gerade keine rechtliche Folge für den Betroffe-
ihrem Recht Gebrauch macht, dann wäre ein Realakt anzunehmen.
26
Weber/Köppert (Fn. 1), Rn. 14; sowie Kopp/Ramsauer,
Verwaltungsverfahrensgesetz, 16. Aufl. 2015, § 35 Rn. 114.
27
Bzw. des VwVfG der Länder.
28
Vgl. dazu nur den Musterentwurf für ein einheitliches
Polizeigesetz sowie die verschiedenen Polizeigesetze der
Länder.
29
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 114.
30
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 77.
31
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 81.
32
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 114.
33
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 81.
ÖFFENTLICHES RECHT
nen gesetzt, sondern eine rein faktische. Damit liegt ein Realakt vor.
Darüber hinaus wäre als Kontrollfrage zu stellen, ob der
Betroffene auf irgendeine Art und Weise selbst zur Gefahrenabwehr beitragen kann. Wenn dies der Fall ist, wäre ein
Verwaltungsakt anzunehmen.34 Ist dies nicht der Fall, geht
vielmehr die Gefahr vom Betroffenen aus bzw. scheidet eine
Gefahrenabwehr durch den Betroffenen offensichtlich aus,
dann liegt die Annahme des Realaktes nahe.35
V. Unterschiedliche rechtliche Einordnung typischer Einzelmaßnahmen
Im Folgenden wird anhand von typischen Spezialbefugnissen
der Polizei die rechtliche Einordnung der Maßnahmen im
Einzelfall36 untersucht:
1. Auskunftspflicht
Bei der Auskunftspflicht37 ist die Einordnung recht eindeutig:
Der Betroffene wird aufgefordert, über seinen Namen, Adresse, Geburtstag und -ort Auskunft zu geben. Diese Auskunft
wird von der Polizei mündlich verlangt und vom Betroffenen
mündlich gegeben. Ein tatsächlicher Erfolg in dem Sinne,
dass die Polizei eine Handlung am Betroffenen vornimmt,
kann nicht erreicht werden. Vielmehr setzt die Polizei eine
Regelung, also eine Festlegung einer Pflicht,38 hier einer
Auskunftspflicht, für den Betroffenen. Damit liegt ein Verwaltungsakt vor.39
2. Identitätsfeststellung
Bereits die Identitätsfeststellung40 lässt sich nicht mehr eindeutig als Verwaltungsakt einordnen. Die Identitätsfeststel34
Beispielsweise beim Platzverweis, indem der Betroffene
den Ort verlässt; bei der Identitätsbefragung und Auskunftspflicht, indem der Betroffene die Angaben macht. Bei der
Sicherstellungsanordnung, indem der Betroffene die Sache an
die Polizei übergibt.
35
Beispielsweise bei der Durchsuchung von Personen oder
Sachen, beim Betreten der Wohnung, bei dem Rettungseinsatz zugunsten von Personen, bei der Ingewahrsamnahme.
36
Diese Darstellung könnte auch nach einer Differenzierung
in unproblematische und problematische Maßnahmen eingeteilt werden. Aus der Erfahrung der Verf. erscheint die Darstellung anhand einzelner Maßnahmen im vorliegenden Fall
vorzugswürdig, da die Studierenden jeweils den rechtlichen
Charakter einzelner Maßnahmen erfragt haben.
37
§ 8a MEPolG oder beispielsweise Art. 12 BayPAG, § 20
PolG BW, § 18 ASOG Berlin, § 13 BremPolG, § 11
BbgPolG, § 12 HSOG, § 12 NSOG, § 9 PolG NRW, § 28
SOG M-V, § 9a rhpf POG, § 18 SächsPolG, § 14 SOG LSA,
§ 180 LVwG SH, § 13 TH PAG.
38
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 88.
39
Offengelassen bei Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Art. 12
Rn. 5.
40
§ 9 MEPolG oder beispielsweise Art. 13 BayPAG, § 26
PolG BW, § 21 ASOG Berlin, § 11 BremPolG, § 12
BbgPolG, § 12 Hamburg-SOG, § 18 HSOG, § 13 NSOG,
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183
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Diane Jahr
lung ist verbunden mit weiteren Befugnissen der Polizei: der
Betroffene darf angehalten werden, nach seiner Identität
befragt werden und unter weiteren Voraussetzungen sogar
festgehalten und durchsucht werden. Zwar enthalten das
Anhalten und die Befragung nach der Identität noch Gebote
im Sinne von Handlungspflichten für den Betroffenen, die als
Setzung einer Rechtsfolge eingeordnet werden können und
damit die Voraussetzungen des Verwaltungsakts erfüllen.
Jedoch weisen sowohl das Festhalten als auch die Durchsuchung tatsächliche Handlungen sowie einen tatsächlichen
Erfolg auf, sodass bei diesen Befugnisaspekten ein Realakt
anzunehmen ist.
3. Platzverweis
Eindeutig41 als Verwaltungsakt einzuordnen ist aber wiederum der Platzverweis.42 Hier wird der Betroffene mündlich
aufgefordert, einen bestimmten Ort zu verlassen oder ihm
wird das Betreten eines bestimmten Ortes verboten. Es liegt
die klassische Gebots-/Verbotskonstellation vor, dem Betroffenen wird eine Pflicht zu einer Handlung auferlegt, die er zu
erfüllen hat. Der Betroffene kann auch durch seine Handlung,
nämlich durch das Verlassen des bestimmten Ortes, etwas zur
Gefahrenabwehr beitragen. Denn der Platzverweis setzt seinerseits voraus, dass die konkrete Gefahr durch den Platzverweis abgewehrt werden kann. Damit führt auch die Kontrollfrage zum Erfolg.
4. Durchsuchung und Ingewahrsamnahme
Recht übereinstimmend43 werden die Durchsuchung von Personen44 und Sachen45 sowie die Ingewahrsamnahme46 als
§§ 12, 13 PolG NRW, § 29 SOG M-V, § 10 rhpf POG,
§§ 9, 10 SPOG, § 19 SächsPolG, § 20 SOG LSA, § 181
LVwG SH, § 14 TH PAG.
41
So einstimmig Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 79; Kopp/
Schenke (Fn. 6), Anh § 42 Rn. 35; Kopp/Ramsauer (Fn. 26),
§ 35 Rn. 114.
42
§ 12 MEPolG oder beispielsweise Art. 16 BayPAG, § 27a
PolG BW, § 29 ASOG Berlin, § 14 BremPolG, § 16
BbgPolG, § 12a Hamburg-SOG, § 31 HSOG, § 17 NSOG,
§ 34 PolG NRW, § 52 SOG M-V, § 13 rhpf POG, § 12
SPOG, § 21 SächsPolG, § 36 SOG LSA, § 201 LVwG SH,
§ 18 TH PAG.
43
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 114; Heckmann (Fn. 5),
Teil 3 Rn. 82.
44
§ 17 MEPolG oder beispielsweise Art. 21 BayPAG, § 29
PolG BW, § 34 ASOG Berlin, § 19 BremPolG, § 21
BbgPolG, § 15 Hamburg-SOG, § 36 HSOG, § 22 NSOG,
§ 39 PolG NRW, § 53 SOG M-V, § 18 rhpf POG, § 17
SPOG, § 23 SächsPolG, § 41 SOG LSA, § 202 LVwG SH,
§ 23 TH PAG.
45
§ 18 MEPolG oder beispielsweise Art. 22 BayPAG, § 30
PolG BW, § 35 ASOG Berlin, § 20 BremPolG, § 22
BbgPolG, § 15a Hamburg-SOG, § 37 HSOG, § 23 NSOG,
§ 40 PolG NRW, § 58 SOG M-V, § 19 rhpf POG, § 18
SPOG, § 24 SächsPolG, § 42 SOG LSA, § 206 LVwG SH,
§ 24 TH PAG.
Realakte eingeordnet. Zwar kann besonders bei der Durchsuchung von Sachen hilfsweise an eine Duldungsverfügung
gegenüber dem Sachberechtigten gedacht werden. Diese
Konstruktion ist jedoch – wie bereits am Anfang gesehen47 –
nicht erforderlich: Vielmehr liegt der Schwerpunkt der Maßnahme auf der tatsächlichen sachbezogenen Handlung der
Polizei. Die Polizei durchsucht in tatsächlicher Einwirkung
eine Person bzw. eine Sache oder nimmt eine Person tatsächlich in Gewahrsam.
Ein vorangehender, befehlender Verwaltungsakt, insbesondere die Auferlegung einer Handlungspflicht, ist hier
nicht denkbar. Die Polizei kann nicht dem Betroffenen auftragen, sich selbst zu durchsuchen oder sich selbst in Gewahrsam zu nehmen. Freilich könnte dem Betroffenen auferlegt werden, die Durchsuchung oder die Ingewahrsamnahme
zu dulden. Jedoch setzt sich bei der rechtlichen Beurteilung
die faktische Einwirkung und Ausführung der Durchsuchung
gegen diese Duldungsaufforderung durch. Die Polizei macht
unmittelbar von ihrem Recht auf Durchsuchung oder Ingewahrsamnahme Gebrauch, dieses Recht hängt nicht von einer
mündlichen Ankündigung oder Duldungsaufforderung ab.
5. Betreten und Durchsuchung von Wohnungen
Beim Betreten und Durchsuchen von Wohnungen48 liegt der
Teufel im Detail. Es muss genauestens untersucht werden,
welche Äußerungen die Polizei tätigt und wie sie von ihrem
Recht Gebrauch macht.
Fordert die Polizei zunächst den Betroffenen auf, er möge
die Tür öffnen und der Polizei Eintritt gewähren, liegt darin
ein Gebot, nämlich eine Aufforderung zu einer Handlung, das
als Verwaltungsakt einzuordnen ist. Öffnet die Polizei dagegen ohne Vorankündigung die Türe, fehlt es gerade an diesem Gebot an den Betroffenen, es wird ihm keine Pflicht
auferlegt, sondern die Polizei macht mit einer tatsächlichen
Maßnahme von ihrem Recht zum Betreten von Wohnungen
Gebrauch und führt einen faktischen Erfolg herbei. Es ist also
ein Realakt anzunehmen. Sofern die Polizei ohne Gewaltanwendung die Türe öffnen und die Wohnung betreten kann,
sind auch noch kein Verwaltungszwang oder eine unmittelbare Ausführung anzunehmen, da das Recht zum Betreten und
Durchsuchen von Wohnungen auch das jedenfalls gewaltlose
Zugangverschaffen zu dieser umfasst.49 Muss die Polizei
46
§ 13 MEPolG oder beispielsweise Art. 17 BayPAG, § 28
PolG BW, § 30 ASOG Berlin, § 15 BremPolG, § 17
BbgPolG, § 13 Hamburg-SOG, § 32 HSOG, § 18 NSOG,
§ 35 PolG NRW, § 55 SOG M-V, § 14 rhpf POG, § 13
SPOG, § 22 SächsPolG, § 37 SOG LSA, § 204 LVwG SH,
§ 19 TH PAG.
47
Vgl. dazu oben II. Streitdarstellung.
48
§ 19 MEPolG oder beispielsweise Art. 23 BayPAG, § 31
PolG BW, § 36 ASOG Berlin, § 21 BremPolG, § 23
BbgPolG, § 16 Hamburg-SOG, § 38 HSOG, § 24 NSOG,
§ 41 PolG NRW, § 59 SOG M-V, § 20 rhpf POG, § 19
SPOG, § 25 SächsPolG, § 43 SOG LSA, § 208 LVwG SH,
§ 25 TH PAG.
49
Selbiges gilt, wenn der Betroffene nicht anwesend, unbekannt oder handlungsunfähig ist: Die Befugnis zum Betreten
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ZJS 2/2016
184
Rechtscharakter polizeilicher Maßnahmen
dagegen Gewalt anwenden, um sich Zutritt zur Wohnung zu
verschaffen, ist an den polizeilichen Vollzug zu denken. Es
ist wiederum zu unterscheiden, ob die Polizei vorher dem
Betroffenen das Gebot zum Öffnen der Türe und Einlassen
der Polizei erteilt hat, dann würde ein Fall der zweistufigen
Vollstreckung vorliegen. Sollte es an diesem Gebot jedoch
fehlen, ist beim Gewalteinsatz der Polizei an die einstufige
Vollstreckung, auch Sofortvollzug genannt, zu denken.
Zur Abgrenzung zwischen Realakt und Verwaltungsakt
beim Betreten und Durchsuchen von Wohnungen lässt sich
das Kriterium, ob die Polizei mit oder ohne vorherigen oder
gleichzeitigen Befehl handelt,50 sehr gut anwenden.
6. Sicherstellung
Auch die Sicherstellung51 lässt sich unterschiedlich einordnen: Eine Meinung vertritt gar eine „Doppelnatur“52 dieser
Maßnahme, da die Sicherstellungsanordnung ein Gebot an
den Betroffenen beinhalte, die Gewahrsamsbegründung an
der Sache durch die Polizei dagegen eine faktische Maßnahme darstelle. Damit wäre die Sicherstellung ein Verwaltungsakt sowie ein Realakt zugleich. Für den Rechtsschutz werde
die Regelung gegenüber dem Betroffenen als ausschlaggebend angesehen, die tatsächliche Maßnahme werde als unselbstständige Vollziehungshandlung eingeordnet.53 Diese
Ansicht mag zwar im Hinblick auf den Rechtsschutz noch
recht plausibel klingen, muss aber abgelehnt werden, da sich
Realakt und Verwaltungsakt ausschließen. Keine Maßnahme
kann beide Rechtsinstitute gleichzeitig ineinander vereinen.
Ähnlich – aber dennoch verschieden zur Konstruktion der
Maßnahme mit Doppelnatur – ist nur die Konstellation denkbar, die auf die Sicherstellungsanordnung als Verwaltungsakt
abstellt und das tatsächliche Ansichnehmen der Sache als von
der Befugnis mitumfasst einordnet. Die Polizei würde also
zuvor oder gleichzeitig den Befehl bzw. die Anordnung an
den Betroffenen erteilen, dass die Sache sichergestellt wird.
Im Weiteren kann es dann aber keinen Unterschied mehr
machen, ob der Betroffene die Sache freiwillig herausgibt
oder die Polizei dem Betroffenen die Sache jedenfalls gewaltfrei wegnimmt. Die Polizei begründet immer Gewahrsam an
der Sache – dies ist zwar eine tatsächliche Handlung, die zu
einem faktischen Erfolg führt. Jedoch wird diese Maßnahme
neben der bereits ergangenen Sicherstellungsanordnung nicht
mehr rechtlich isoliert betrachtet.
Anders einzuordnen ist jedoch eine Sicherstellungshandlung der Polizei, die ohne vorherigen oder gleichzeitigen
von Wohnungen umfasst deren tatsächliche Ausführung, auf
die Vorschriften zur unmittelbaren Ausführung ist damit
nicht zurück zu greifen.
50
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 81.
51
§ 21 MEPolG oder beispielsweise Art. 25 BayPAG, § 32
PolG BW, § 38 ASOG Berlin, § 23 BremPolG, § 25
BbgPolG, § 14 Hamburg-SOG, § 40 HSOG, § 26 NSOG,
§ 43 PolG NRW, § 61 SOG M-V, § 22 rhpf POG, § 21
SPOG, § 26 SächsPolG, § 45 SOG LSA, § 210 LVwG SH,
§ 27 TH PAG.
52
Kopp/Schenke (Fn. 6), Anh § 42 Rn. 35, 9.
53
Kopp/Schenke (Fn. 6), Anh § 42 Rn. 35.
ÖFFENTLICHES RECHT
Erlass der Sicherstellungsanordnung ausgeführt wird. Wie
auch beim Betreten einer Wohnung ist auch die Sicherstellung in Form der Ingewahrsamnahme der Sache unmittelbar
von der Befugnis erfasst. Für die jedenfalls gewaltlose
Ansichnahme der Sache durch die Polizei ist damit noch
nicht auf die Vorschriften zum polizeilichen Zwang oder zur
unmittelbaren Ausführung zurückzugreifen.54 Erst wenn die
Polizei im Rahmen der Sicherstellung Gewalt anwenden
muss, ist je nachdem, ob ein vorheriger Erlass einer Sicherstellungsanordnung vorliegt, an die zweistufige polizeiliche
Vollstreckung oder den Sofortvollzug zu denken.
Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wann eine Gewaltanwendung bei der Sicherstellung anzunehmen ist. Bereits das Wegnehmen im Sinne von Entreißen aus der Hand
des Betroffenen könnte als Gewaltanwendung einzuordnen
sein, da die Polizei körperlich auf die Sache einwirkt. Jedoch
wird das Sicherstellungsrecht nicht nur mit Ansichnahme der
Sache, sondern vielmehr mit Wegnahme der Sache definiert.55 Weiterhin bringt eine Ansicht die Spitzfindigkeit vor,
dass eine Sicherstellung nur dann anzunehmen sei, wenn sie
ohne oder gegen den Willen des Betroffenen stattfindet.56
Schließlich wird unter Berücksichtigung der Hilfsmittel für
den unmittelbaren Zwang die Annahme von Gewalt eher
restriktiv auszulegen sein. Damit ist der Ansicht zu folgen,
dass das bloße Wegreißen der Sache aus der Hand des Betroffenen ohne Einsatz weiterer Hilfsmittel noch von der
Befugnis zur Sicherstellung umfasst wird. Damit liegt keine
Handlung der Polizei im Sinne des Polizeivollzugs vor.
Jedoch ist im Rahmen der Sicherstellung zu berücksichtigen, dass die Behörde einen rechtlichen Grund benötigt, um
die Sache während der Sicherstellung in ihrem Gewahrsam
behalten zu dürfen. Damit wird zuweilen richtigerweise vertreten, es handele sich bei einer Sicherstellung stets um einen
Verwaltungsakt, da ansonsten kein Verwahrungsverhältnis
begründet werde.57 Dieser Ansicht ist letztlich zu folgen und
die Sicherstellung sollte stets als Verwaltungsakt eingeordnet
werden.
7. Maßnahmen aufgrund der Generalbefugnis
Auch bei Maßnahmen, die auf der Rechtsgrundlage der Generalbefugnis58 getroffen werden, gestaltet sich die Abgrenzung schwierig. Die Generalbefugnis gibt der Polizei die
54
Selbiges gilt, wenn der Betroffen nicht anwesend, unbekannt oder handlungsunfähig ist: Die Befugnis zur Sicherstellung umfasst deren tatsächliche Ausführung, auf die Vorschriften zur unmittelbaren Ausführung ist damit nicht zurückzugreifen. A.A. BayVGH in ständiger Rechtsprechung,
z.B. NZW 1992, 207, BayVBl 2014, 88, NVwZ-RR 2014,
522, BayVBl 2015, 238.
55
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Vor Art. 25-28 Rn. 2.
56
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Vor Art. 25-28 Rn. 1.
57
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 88.
58
§ 8 MEPolG oder beispielsweise Art. 11 BayPAG, §§ 1, 3
PolG BW, § 17 ASOG Berlin, § 10 BremPolG, § 10
BbgPolG, § 3 Hamburg-SOG, § 11 HSOG, § 11 NSOG, § 8
PolG NRW, § 12 SOG M-V, § 9 rhpf POG, § 8 SPOG, § 3
SächsPolG, § 13 SOG LSA, § 174 LVwG SH, § 12 TH PAG.
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Diane Jahr
Möglichkeit, eine auf die Besonderheiten des Einzelfalls
angepasste Maßnahme einzusetzen. Diese werden auch als
sog. „atypische“59 Maßnahmen bezeichnet, denn sie fallen
gerade aus dem Kreis der häufig eingesetzten Spezialmaßnahmen heraus.
Zwei Beispiele seien kurz dargestellt: Das Räumen von
besetzten Häusern sowie Rettungseinsätze der Polizei.
a) Räumen von besetzten Häusern
Das Räumen von besetzten Häusern ist nicht als Platzverweis
einzuordnen, da hier endgültig und nicht nur vorübergehend
(wie es beim Platzverweis erforderlich wäre) der Zugang und
das sich Aufhalten in den betreffenden Häusern als Unterbindung des noch andauernden Delikts des Hausfriedensbruchs
untersagt werden soll.60 Auch an dieser Stelle ist zu unterscheiden, ob die Polizei zunächst ein Gebot an die Betroffenen erlässt, das Haus zu räumen und den Ort zu verlassen.
Dann liegt der Befehl an die Betroffenen vor und die Maßnahme ist in jedem Fall als Verwaltungsakt einzuordnen.
Geht die Polizei dagegen ohne mündliche Aufforderung rein
tatsächlich gegen die Personen vor und zieht diese beispielsweise am Arm aus dem Haus oder trägt die Personen gar aus
dem Haus, ist wiederum an einen Realakt zu denken. Dieser
Fall wird jedoch eher selten vorkommen. Vielmehr wird die
Polizei wohl die Räumung an die Betroffenen befehlen und
sollten diese der Aufforderung, das Haus zu räumen und zu
verlassen, nicht nachkommen, wird die Polizei wohl mithilfe
der Zwangsmittel die Räumaufforderung, einen Verwaltungsakt, in der zweistufigen Vollstreckung durchsetzen.
b) Retten von Mensch und Tier
Das Retten von Menschen und Tieren findet sich – obgleich
wohl zum alltäglichen Einsatzbild der Polizei gehörend –
ebenfalls nicht bei den Spezialmaßnahmen. Bei einer solchen
Rettungsaktion handelt die Polizei vornehmlich, um eine
Gefahr von der Person oder dem Tier abzuwehren. Beim
Einfangen von Tieren geht es aber auch um die Abwehr von
Gefahren, die von dem Tier ausgehen.
Bei Rettungseinsätzen von Menschen ist ein Gebot mit
dem Inhalt einer Handlungspflicht an die betroffene Person
schlecht denkbar: Einerseits ist die betroffene Person zumeist
nicht unmittelbar anwesend, sondern muss erst aufgefunden
werden. Andererseits würde die Polizei in diesem Fall der
Person gebieten, sich selbst zu retten oder sich aus ihrer Notlage zu befreien. Wäre die Person jedoch imstande, sich
selbst aus ihrer Notlage zu befreien, müsste die Polizei nicht
zu ihrer Rettung handeln. Damit ist aus zwei Gründen kein
Regelungsgehalt der polizeilichen Maßnahme denkbar. Die
Rettungshandlungen sind damit wegen ihrer tatsächlichen
Ausführung durch die Polizei als Realakte einzuordnen.
Beim Einfangen von Tieren ist dagegen eine befehlende
Aufforderung an den Tierhalter zum Einfangen des Tieres
59
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Art. 11 Rn. 11.
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Art. 11 Rn. 17. Vgl. zu diesem
Problemkreis auch VG Berlin NJW 1981, 174; sowie
Degenhart, JuS 1982, 330 und Schlink, NVwZ 1982, 529.
60
denkbar. Damit ist die Maßnahme als Verwaltungsakt einzuordnen. Der Tatsache, dass der Tierhalter in den meisten
Fällen nicht anwesend ist – sonst hätte er sein Tier schon
selbst eingefangen – kann durch Anwendung der Vorschriften über die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme
Rechnung getragen werden. Es wird zu zeigen sein,61 dass die
Anwendung dieses Instituts nichts an der rechtlichen Einordnung der Maßnahme ändert, welche die Polizei wegen Abwesenheit, Unbekanntheit oder Handlungsunfähigkeit des eigentlichen Maßnahmeadressaten selbst ausführt. Mithin
bleibt es beim Verwaltungsakt-Charakter einer Tierrettungshandlung.
VI. Unmittelbare Ausführung
Weitere Probleme ergeben sich beim Institut der unmittelbaren Ausführung von Maßnahmen durch die Polizei. Es findet
sich dazu in den meisten Polizeigesetzen eine Vorschrift,
nach der die Polizei eine Maßnahme selbst ausführen darf,
wenn der Zweck der Maßnahme durch Inanspruchnahme der
Verantwortlichen nicht erreicht werden kann.62
Auch an dieser Stelle ist fraglich, wie die Maßnahme der
unmittelbaren Ausführung rechtlich eingeordnet werden soll
bzw. ob dieses Institut Auswirkungen auf den Rechtscharakter von polizeilichen Maßnahmen hat.
Dazu existieren verschiedene Einschätzungen: Einer Ansicht nach stellen alle Maßnahmen, die von der Polizei unmittelbar ausgeführt werden, unabhängig davon, welche Maßnahme dies ist, Realakte dar.63 Dies wird mit einem tatsächlichen Handeln der Polizei und einem tatsächlichen Erfolg der
Maßnahme sowie dem fehlenden Regelungsgehalt begründet.64
Die Gegenansicht differenziert: Sollte eine Maßnahme als
Verwaltungsakt eingeordnet werden, der Betroffene ist aber
nicht anwesend, unbekannt oder nicht handlungsfähig, so
müssen die Voraussetzungen der unmittelbaren Ausführung
hinzutreten, wenn die Polizei den Verwaltungsakt anstelle
des Betroffenen selbst ausführen möchte.65 Nur damit kann
dem Erfordernis ausreichend Rechnung getragen werden,
dass ein Verwaltungsakt zu seiner Wirksamkeit der Bekanntgabe an den Betroffenen bedarf.66 Die Regelung zur unmittelbaren Ausführung vermag über dieses Hindernis hinweg zu
helfen. Gleichwohl sollten nicht alle Maßnahmen im Rahmen
61
Vgl. dazu VI. Unmittelbare Ausführung.
Vgl. dazu § 5a MEPolG (Musterentwurf für ein einheitliches Polizeirecht) oder beispielsweise Art. 9 Abs. 1 BayPAG,
§ 8 PolG BW, § 15 ASOG Berlin, § 7 Hamburg-SOG, § 8
HSOG, § 11 NSOG, § 70a SOG M-V, § 6 rhpf POG, § 6
SächsPolG, § 9 SOG LSA, § 9 TH PAG. Vorschriften hierzu
fehlen in Brandenburg, Saarland, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Bremen.
63
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 278; sowie v. Alemann/
Scheffczyk (Fn. 9), § 35 Rn. 155.
64
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 117 (der jedoch dieser
Meinung nicht folgt); sowie v. Alemann/Scheffczyk (Fn. 9),
§ 35 Rn. 155.
65
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 115.
66
Vgl. § 43 Abs. 1 VwVfG.
62
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186
Rechtscharakter polizeilicher Maßnahmen
der unmittelbaren Ausführung als Realakt einzuordnen sein.67
Vielmehr erscheint die Annahme eines Verwaltungsakts dann
richtig, wenn die Maßnahme nach dem äußeren Erscheinungsbild einen relevanten Eingriff in den Rechtskreis des
Betroffenen darstellt und damit eine vorherige Ankündigung
mittels Verwaltungsakt erfordert; dieser kann dem Betroffenen später bekanntgegeben werden68.
Damit bleibt es also an der vorweg angestellten (anhand
der oben69 dargestellten Kriterien) rechtlichen Einordnung
einer Maßnahme, unabhängig davon, ob der Betroffene bzw.
der für die Gefahr Verantwortliche anwesend, bekannt oder
handlungsfähig ist. Sollte der Betroffene jedoch nicht anwesend, unbekannt oder nicht handlungsfähig sein, kann die
Polizei den Verwaltungsakt unter den Voraussetzungen der
unmittelbaren Ausführung selbst vornehmen. Es bleibt dann
je nachdem bei der Rechtsform des Verwaltungsaktes oder
des Realaktes, die Vorschriften der unmittelbaren Ausführung haben zunächst keinen Einfluss auf die rechtliche Einordnung der Maßnahme. Die von den Verwaltungsverfahrensgesetzen aufgestellte Forderung der Bekanntgabe von
Verwaltungsakten für deren Wirksamkeit70 darf an dieser
Stelle mit der Regelung über die unmittelbare Ausführung
umgangen werden. Es liegt damit eine Fiktion des Verwaltungsakts ohne Bekanntgabe vor, die dem Normgeber unbenommen ist.71 Hierzu findet sich auch das Argument, dass die
Definition des Verwaltungsakts keine Rücksicht auf die
Wahrnehmung der Maßnahme und damit auf die Sicht des
Betroffenen nimmt.72
Schließlich kann das Argument des angeblich fehlenden
Regelungsgehalts entkräftet werden: Bei der unmittelbaren
Ausführung liegen regelmäßig Eingriffe in die Verfügungsgewalt über sich selbst (Art. 2 Abs. 1 GG), das Eigentum des
Betroffenen (Art. 14 Abs. 1 GG) oder weitere Verfügungsberechtigungen über eine Sache vor (z.B. zivilrechtliches Besitzrecht)73.
Damit kann auch eine Maßnahme, die von der Polizei
unmittelbar ausgeführt wird, als Verwaltungsakt eingeordnet
werden. Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn die Maßnahme nach dem äußeren Erscheinungsbild einen relevanten
Eingriff in den Rechtskreis des Betroffenen darstellt.
VII. Vollstreckung polizeilicher Maßnahmen
Ein letztes Problem ergibt sich bei der polizeilichen Vollstreckung. Es ist die polizeirechtliche Normierung zu beachten,
die für eine Vollstreckungsmaßnahme gerade einen Verwaltungsakt der Polizei voraussetzt.74 An dieser Stelle ist mo67
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 116.
Kopp/Ramsauer (Fn. 26), § 35 Rn. 116.
69
Vgl. dazu IV. Entwicklung von Abgrenzungskriterien.
70
§ 41 Abs. 1 VwVfG.
71
Kopp/Schenke (Fn. 6), Anh § 42 Rn. 36.
72
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Vor Art. 9 Rn. 9.
73
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Vor Art. 9 Rn. 8.
74
Vgl. dazu § 28 MEPolG oder Art. 53 Abs. 1 BayPAG, § 52
Abs. 1 PolG BW, §§ 40, 41 BremPolG, § 53 Abs. 1
BbgPolG, § 17 Hamburg-SOG, § 47 Abs. 1 HSOG, § 64
Abs. 1 NSOG, § 55 PolG NRW, § 79 SOG M-V, § 57 rhpf
68
ÖFFENTLICHES RECHT
mentan nicht entschieden, ob der Gesetzeswortlaut letztlich
dazu zwingt, die konkrete Maßnahme der Polizei, die sie
vollstrecken möchte, für die Vollstreckung als Verwaltungsakt einzuordnen. Möglicherweise könnte aber auch an der
oben genannten Differenzierung festzuhalten zu sein, sodass
in der Konsequenz die dortigen Realakte zwingend über den
Sofortvollzug75 zu vollstrecken wären.
Die Möglichkeit, dass bei einer Vollstreckung doch wieder jede polizeiliche Maßnahme als Verwaltungsakt einzuordnen sei, steht im krassen Widerspruch zu allen oben angestellten Überlegungen. Jedoch stößt auch eine Vollstreckung
von Realakten auf Widerstand, da grundsätzlich das Verwaltungsrecht nur die Vollstreckung von Verwaltungsakten
kennt. Eine Ansicht geht daher einen Mittelweg und fordert
bei Widerstand gegen die Durchsetzung eines Realaktes – die
Durchsetzung sei noch eine Vorstufe zur Vollstreckung –
einen begleitenden, zumindest mündlich erlassenen Verwaltungsakt, der die Duldung der Vollstreckung des Realakts
anordnet, welcher im Weiteren nach Vollstreckungsrecht
durchgesetzt werden kann.76
Eine andere Möglichkeit wäre aber, die zwangsweise
Durchsetzung im Sinne einer „Vollstreckung“ von Realakten
dem Sofortvollzug zuzuordnen. Zwar fordert hier eine Ansicht, dass der vorherige Erlass einer Grundverfügung tatsächlich ausscheiden muss,77 jedoch lässt sich diese Voraussetzung nicht im Wortlaut des Gesetzes wiederfinden. Dort
heißt es nur, dass der Verwaltungszwang ohne vorausgehenden Verwaltungsakt angewendet werden kann, insbesondere
weil Maßnahmen gegen die eigentlich Verantwortlichen nicht
möglich oder nicht erfolgversprechend sind.78 Es wird damit
einerseits an die Normierung zur unmittelbaren Ausführung
angeknüpft, andererseits ergab sich oben79 das Ergebnis, dass
bei allen Realakten die Durchsetzung des polizeilichen
Rechts unmittelbar in der Befugnisnorm mitenthalten ist und
damit auf die unmittelbare Ausführung verzichtet werden
kann. Dieser Gedankengang auf den Einsatz des polizeilichen
Zwangs angewendet bedeutet, dass die Realakte von der
Polizei im Rahmen der Befugnisnorm durchgesetzt werden
können und weiterhin der Sofortvollzug zusätzlich erlaubt,
POG, § 44 Abs. 1 SPOG, §§ 30, 32 SächsPolG, § 53 Abs. 1
SOG LSA, § 250 LVwG SH, § 51 Abs. 1 TH PAG. Lediglich
Vollzugshilfe kennt das ASOG Berlin in § 52.
75
Vgl. dazu § 28 Abs. 2 MEPolG oder Art. 53 Abs. 2 PAG,
§ 53 Abs. 2 BbgPolG, § 47 Abs. 2 HSOG, § 64 Abs. 2
NSOG, § 81 SOG M-V, § 44 Abs. 2 SPOG, § 53 Abs. 2 SOG
LSA, § 51 Abs. 2 TH PAG. Vorschriften dazu fehlen in Baden-Württemberg, Bremen, Berlin, Sachsen, SchleswigHolstein, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz.
76
Beckmann, NVwZ 2011, 842 (844, 846).
77
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 260.
78
§ 28 Abs. 2 MEPolG oder Art. 53 Abs. 2 PAG, § 53 Abs. 2
BbgPolG, § 47 Abs. 2 HSOG, § 64 Abs. 2 NSOG, § 81 SOG
M-V, § 44 Abs. 2 SPOG, § 53 Abs. 2 SOG LSA, § 51 Abs. 2
TH PAG. Vorschriften dazu fehlen in Baden-Württemberg,
Bremen, Berlin, Sachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg,
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz.
79
Vgl. dazu Fn. 49 und 54.
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187
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Diane Jahr
Zwangsmittel anzuwenden.80 Freilich muss die Polizei jedoch
immer die Zwangsmittel vor deren Einsatz androhen.81
Damit ist an der oben erarbeiteten Differenzierung festzuhalten und es gilt für die polizeiliche Vollstreckung folgendes: Verwaltungsakte sind nach dem zweistufigen Verwaltungszwang82 zu vollstrecken. Realakte dürfen im Sofortvollzug83 zwangsweise durchgesetzt werden; ein begleitender
Verwaltungsakt, der die Durchsetzung des Realakts anordnet
und im Folgenden vollstreckt werden kann, ist nicht erforderlich.
VIII. Konsequenzen für die Fallbearbeitung: Klageart –
Rechtsgrundlage der Maßnahme
Die Annahme eines Verwaltungsaktes oder eines Realaktes
wirkt sich unmittelbar auf die statthafte Klageart aus. Je
nachdem, ob ein Verwaltungsakt angenommen wird, ist statthafte Klageart die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113
Abs. 1 S. 4 VwGO analog, oder im Falle der Annahme eines
Realakts die Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO.
Hinsichtlich der Zulässigkeit sei zu beachten: Wie auch
bei der Fortsetzungsfeststellungsklage (dort in § 113 Abs. 1
S. 4 VwGO am Ende) ist auch bei der Feststellungsklage ein
besonderes Interesse an der Feststellung erforderlich – dies
ergibt sich hier jedoch aus § 43 Abs. 1 VwGO letzter Hs. Da
bei beiden Klagen der Lebenssachverhalt bereits in der Vergangenheit liegt und die Maßnahme sich erledigt hat, können
die von der Fortsetzungsfeststellungsklage bekannten Fallgruppen herangezogen werden.84 Im Übrigen ist die Klageprüfung dieselbe, da auch die Feststellungsklage nach § 43
VwGO weder ein Vorverfahren noch eine Klagefrist kennt.
In der Begründetheit ist zunächst das Bestehen oder
Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses zu prüfen, § 43
Abs. 1 VwGO. Das gesuchte Rechtsverhältnis besteht in der
Befugnis der handelnden Behörde, in das verletzte Recht des
Betroffenen (das bei Prüfung der Klagebefugnis benannt
wurde) einzugreifen.85 Auch hier verlangt der Gesetzesvor-
behalt aus Art. 20 Abs. 3 GG eine gesetzliche Grundlage für
die Maßnahme der Polizei, damit eine Rechtsgrundlage bzw.
eine Befugnisnorm gegeben ist, da die polizeiliche Maßnahme in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sodann ist in der
Begründetheit die polizeiliche Maßnahme auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Am Ende ist die Frage, ob die Polizei in
das Recht des Betroffenen eingreifen durfte, bei rechtmäßigen Maßnahmen zu bejahen, bei rechtswidrigen Maßnahmen
zu verneinen.
IX. Fazit
Der Streit über die rechtliche Einordnung polizeilicher Maßnahmen ist nicht kompliziert. Nach einer eingehenden Befassung können die Ansichten gut nachvollzogen und die Argumente strukturiert werden. Wichtig ist, dass eine Einzelfallbetrachtung vorgenommen wird und in der Falllösung der
Sachverhalt nach dem Befehl der Polizei abgeklopft wird.
Auch die Kontrollfrage, ob der Betroffene möglicherweise
selbst zur Gefahrenabwehr beitragen könnte oder ob dies nur
die faktische Einwirkung der Polizei vermag, scheint zu ordentlichen Ergebnissen zu führen. Mit dem Beitrag wurden
die Argumente geordnet und es wird dem Studierenden eine
wertvolle Hilfestellung gegeben, da die typischen polizeilichen Befugnisse ausführlich auf ihren rechtlichen Charakter
untersucht wurden.
80
Berner/Köhler/Käß (Fn. 6), Art. 53 Rn. 6.
§ 29 Abs. 2 MEPolG oder Art. 54 Abs. 2 PAG, § 57 PolG
BW, § 44 BremPolG, § 64 BbgPolG, § 18 Hamburg-SOG,
§ 53 HSOG, §§ 70, 74 NSOG, § 56 PolG NRW, § 87 SOG
M-V, § 66 rhpf POG, § 50 Abs. 1 SPOG, § 20 SächsPolG,
§ 59 SOG LSA, § 236 LVwG SH, § 57 Abs. 1 TH PAG.
82
§ 28 Abs. 1 MEPolG oder Art. 53 Abs. 1 PAG, § 52 Abs. 1
PolG BW, §§ 40, 41 BremPolG, § 53 Abs. 1 BbgPolG, § 17
Hamburg-SOG, § 47 Abs. 1 HSOG, § 64 Abs. 1 NSOG, § 55
PolG NRW, § 79 SOG M-V, § 57 rhpf POG, § 44 Abs. 1
SPOG, § 30, 32 SächsPolG, § 53 Abs. 1 SOG LSA, § 250
LVwG SH, § 51 Abs. 1 TH PAG. Lediglich Vollzugshilfe
kennt das ASOG Berlin in § 52.
83
§ 28 Abs. 2 MEPolG oder Art. 53 Abs. 2 PAG, § 53 Abs. 2
BbgPolG, § 47 Abs. 2 HSOG, § 64 Abs. 2 NSOG, § 81 SOG
M-V, § 44 Abs. 2 SPOG, § 53 Abs. 2 SOG LSA, § 51 Abs. 2
TH PAG. Vorschriften dazu fehlen in Baden-Württemberg,
Bremen, Berlin, Sachsen, Schleswig-Holstein, Hamburg,
Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz.
84
Vgl. dazu auch Lindner, NVwZ 2014, 180.
85
Heckmann (Fn. 5), Teil 3 Rn. 82.
81
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ZJS 2/2016
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Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt – ein unbekannter Straftatbestand
Von cand. iur. Tobias Wickel, Heidelberg
Die Strafvorschrift des § 266a StGB begegnet bis zum Ersten
juristischen Staatsexamen bestenfalls Absolventen mit wirtschaftsstrafrechtlichem Schwerpunktbereich. Dies erscheint
angesichts der enormen Praxisrelevanz und der Aktualität
des „Arbeitgeberstrafrechts“1 befremdlich, zumal der Tatbestand des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt
in einigen Bundesländern2 zum Pflichtfach Strafrecht im
ersten Examen gehört. Auch einschlägige Lehrbücher sparen
§ 266a StGB aus. Ziel dieses Beitrages ist es, einen ersten
Überblick über die verschiedenen Tatbestände und spezifischen Probleme der Norm zu bieten, die sich im Übrigen
besonders dafür eignet, das Zusammenspiel außerstrafrechtlicher Normen, namentlich solchen des Sozialrechts, des
Arbeitsrechts sowie des Gesellschafts- und Insolvenzrechts,
mit denen des Allgemeinen und Besonderen Teils des Strafgesetzbuches sichtbar zu machen.
I. Allgemeines
Die Vorschrift ist von enormer praktischer Bedeutung, da
einerseits vornehmlich in Krisenzeiten der Gesamtsozialversicherungsbeitrag vom hierfür zuständigen Arbeitgeber nicht
oder nicht rechtzeitig abgeführt wird3 und sich andererseits
die Vorschrift des § 266a StGB besonderer Beliebtheit bei
den Strafverfolgungsbehörden erfreut, da ein Tatnachweis
aufgrund der wenigen objektiven Tatbestandsvoraussetzungen vergleichsweise einfach zu führen ist.4 Hinsichtlich des
von § 266a StGB geschützten Rechtsguts ist zu differenzieren: Die Abs. 1 und 2 schützen nach herrschender Meinung
das Vermögensinteresse der Sozialversicherungsträger, mithin der Solidargemeinschaft, sowie die Funktionsfähigkeit
der Sozialversicherung insgesamt,5 nicht aber das Vermögen
des Arbeitnehmers.6 Dagegen schützt Abs. 3 ausschließlich
die Vermögensinteressen des Arbeitnehmers.7
Auch die tatbestandliche Struktur der drei Absätze unterscheidet sich. Abs. 1 bestraft ein untreueähnliches Verhalten:
Nach § 28g SGB IV erlangt der Arbeitgeber den Beitrag des
Arbeitnehmers zur Sozialversicherung im Wege der Aufrechnung gegen den Entgeltanspruch, den er dann gemäß
§§ 28e, 28h SGB IV an die Einzugsstelle (Krankenkasse)
weiterzuleiten hat. Indem der Arbeitgeber diesen Beitrag des
Arbeitnehmers vorenthält, verletzt er eine „treueähnliche
Pflicht“ gegenüber der Sozialversicherung und begeht damit
ein untreueähnliches echtes Unterlassungsdelikt.8 Abs. 2 ist
strukturell dem Betrug angenähert9: Er verlangt, dass der
Täter den durch die Vorenthaltung des Arbeitgeberbeitrages
entstandenen Vermögensschaden des Sozialversicherungsträgers durch eine Täuschung (im Falle der Nr. 1 durch aktives
Tun; im Falle der Nr. 2 durch Unterlassen) herbeiführt.
Abs. 3 weist sowohl Ähnlichkeit zum Betrug als auch zur
Untreue auf.10 Einerseits muss eine Täuschung (durch unterlassene Unterrichtung) gegenüber dem betroffenen Arbeitnehmer erfolgen, andererseits lässt sich eine Untreueähnlichkeit damit begründen, dass der Arbeitgeber die ihm zweckgebunden überlassenen Geldbeträge zweckentfremdet. § 266a
Abs. 4 StGB normiert für besonders schwere Fälle der Abs. 1
und 2 Regelbeispiele. Abs. 5 regelt, welche Personen dem
Arbeitgeber gleichgestellt sind und somit taugliche Täter des
§ 266a StGB sein können und Abs. 6 eröffnet die Möglichkeit des Absehens von Strafe und normiert einen persönlichen Strafaufhebungsgrund.
II. Grundzüge des sozialversicherungsrechtlichen Beitragsrechts
Fall 111: G ist alleiniger Geschäftsführer der X-GmbH.
Die X-GmbH stellt zum 1.12. den A an. Um Kosten zu
sparen, meldet G ihn nicht bei der zuständigen Krankenkasse K an und zahlt dementsprechend keine Beiträge zur
Sozialversicherung für den Monat Dezember. Zu Hause
beschäftigt G die P im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung gegen ein Entgelt von 450 €. P übernimmt die
dort anfallenden Haushaltstätigkeiten. Auch sie meldet
der G nicht bei der Krankenkasse an.
1
Vgl. hierzu Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 f.
So zum Beispiel Baden-Württemberg (§ 8 Abs. 2 Nr. 7 lit. b
JAPRO), Bayern (§ 18 Abs. 2 Nr. 4 JAPO), NordrheinWestfalen (§ 11 Abs. 2 Nr. 7 lit. b JAG).
3
Wittig, Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2014, § 22 Rn. 2.
4
Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 (251).
5
BT-Drs. 10/5058, S. 31; BGH NStZ 2006, 227 (228);
BVerfG NJW 2003, 961; Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 28. Aufl. 2014, § 266a Rn. 1.
6
H.M., BGH wistra 2005, 458; OLG Köln NStZ-RR 2003,
212; OLG Hamm NJW-RR 1999, 915; Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. 2016, § 266a
Rn. 2; a.A. Tag, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013,
§ 266a Rn. 8.
7
LAG Düsseldorf, ZIP 2005, 90; Perron, in: Schönke/
Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014,
§ 266a Rn. 2; Saliger, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 266a
Rn. 2.
2
8
Hoyer, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum
Strafgesetzbuch, 117. Lfg., Stand: Juli 2009, § 266a Rn. 14;
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 2.
9
Hoyer (Fn. 8), § 266a Rn. 15; Wittig, in: von HeintschelHeinegg (Hrsg.), Beckʼscher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 1.12.2015, § 266a Rn. 3.
10
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 2; Möhrenschläger, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch,
Leipziger Kommentar, Bd. 9/1, 12. Aufl. 2012, § 266a
Rn. 11.
11
Angelehnt an Fall 62 bei Hellmann/Beckemper, Fälle zum
Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2013, § 13 Rn. 830.
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189
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Tobias Wickel
Jeder Arbeitnehmer ist grundsätzlich in der gesetzlichen
Sozialversicherung zwangsversichert.12 Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag besteht aus den Beiträgen zur Krankenund Rentenversicherung sowie dem Beitrag zur Pflegeversicherung (§ 28d SGB IV). Er wird – dies ergibt sich aus den
§§ 346 Abs. 1 SGB III, 249 Abs. 1 SGB V, 168 Abs. 1 Nr. 1
SGB VI, 58 Abs. 1 SGB XI – von Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam getragen. Bei der Ableistung eines freiwilligen sozialen Jahres oder bei Auszubildenden, deren
Monatsgehalt 325 € nicht übersteigt, zahlt allein der Arbeitgeber den Beitrag (§ 20 Abs. 3 SGB IV). Dasselbe gilt bei
geringfügiger Beschäftigung (§§ 8 SGB IV, 249b SGB V).
Die Einziehung der Beiträge, für die nach § 28h Abs. 1 S. 1
SGB IV die Krankenkassen zuständige Einzugsstellen sind,
erfolgt im so genannten Lohnabzugsverfahren: Der Arbeitgeber muss die Beiträge des Arbeitnehmers – auf die er nach §
28g S. 1 SGB IV einen Anspruch hat – von dessen Arbeitsentgelt einbehalten und sie gemeinsam mit seinem Anteil an
die Krankenkasse abführen. Er ist gemäß § 28e Abs. 1 S. 1
SGB IV alleiniger Haftungsschuldner. Unterlässt der Arbeitgeber den Abzug des Arbeitnehmeranteils, darf dieser nur bei
den drei nächsten Lohn- und Gehaltszahlungen nachgeholt
werden und danach nur dann, wenn der Abzug ohne Verschulden des Arbeitgebers unterblieben ist.13 Die Beitragszahlungen werden nach § 23 Abs. 1 S. 2 SGB IV in voraussichtlicher Höhe am drittletzten Bankarbeitstag des jeweiligen Monats fällig. Die Krankenkasse leitet die Beiträge sodann an die anderen Versicherungsträger weiter, § 28k Abs. 1
SGB IV.
III. Tauglicher Täter: Der „Arbeitgeber“ aus strafrechtlicher Sicht
Täter jedweder Tatvariante des § 266a StGB kann nur sein,
wer „als Arbeitgeber“ handelt. Somit handelt es sich bei der
vorliegenden Strafvorschrift um ein echtes Sonderdelikt.14
1. Arbeitgeber
Dem Strafrecht ist der Begriff des „Arbeitgebers“ fremd.15
Insoweit ergeben sich zwei Anknüpfungsoptionen, den tauglichen Täter des § 266a StGB genauer zu konturieren: Einerseits ließe sich eine Definition dem Arbeitsrecht, andererseits
aber auch dem Sozialversicherungsrecht entnehmen. Es werden beide Optionen vertreten.
Einige16 wollen zur Bestimmung des Arbeitgeberbegriffs
primär das Arbeitsrecht heranziehen, welches selbst auch
12
Zu Einzelheiten und Ausnahmen siehe Waltermann, Sozialrecht, 11. Aufl. 2015, Rn. 91 ff.
13
Waltermann (Fn. 12), Rn. 128.
14
OLG Zweibrücken wistra 1995, 319 f.; Radtke, in: Joecks/
Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 5, 2. Aufl. 2014, § 266a Rn. 7 f.; Tag (Fn. 6),
§ 266a Rn. 18; Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 3.
15
Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 (247).
16
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 4 ff.; Esser, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl.
2015, § 266a StGB Rn. 14b.
keine Legaldefinition dieses Begriffs kennt. Stattdessen haben die obergerichtliche Rechtsprechung und das Schrifttum
eine Definition hervorgebracht: Arbeitgeber ist danach derjenige, der mit einem Arbeitnehmer einen Arbeitsvertrag geschlossen hat, aus dem er einerseits die Arbeitsleistung verlangen kann und andererseits zur Zahlung der Vergütung
verpflichtet ist.17 Maßgeblich abzustellen ist demnach auf
zweierlei: Erstens muss ein Vertrag (in der Regel wird es sich
hierbei um einen Dienstvertrag nach § 611 BGB handeln)
vorliegen. Sollte dieser unwirksam sein, kann sich die Arbeitgeberstellung immer noch aus gesetzlicher Anordnung
oder Fiktion ergeben.18 Zweitens ist zu klären, ob es sich bei
dem Beschäftigten um einen Arbeitnehmer handelt. Nur dann
kann der mutmaßliche Täter auch als Arbeitgeber bezeichnet
werden. Diese im Arbeitsrecht übliche Vorgehensweise hängt
damit zusammen, dass dort dem Arbeitgeberbegriff keine
große Bedeutung zukommt, da er als „Korrelatbegriff“ nur
die andere Vertragspartei bezeichnet.19 Arbeitnehmer ist
jeder, der sich durch einen privatrechtlichen Vertrag verpflichtet, Dienste zu leisten, die in unselbstständiger Arbeit
zu erbringen sind.20 Das – neben privatrechtlichem Vertrag
und Leistung von Diensten – entscheidende Merkmal der
unselbstständigen Arbeit (Abhängigkeit) ist anhand einer
Gesamtschau unter Berücksichtigung der vom BAG aufgestellten Kriterien (denen nur Indizwert zukommt) festzustellen.21 Diese Kriterien können u.a. sein: Eingliederung in
fremde betriebliche Organisationsbereiche, Weisungsgebundenheit, Überwachung sowie Verhaltens- und Ordnungsregeln, Verteilung des unternehmerischen Risikos oder die Art
der Vergütung.22 Auf die selbst gewählte Parteibezeichnung
im Arbeitsvertrag kommt es hingegen nicht an; der tatsächliche Inhalt des Verhältnisses bleibt entscheidend.23
Andere24 greifen primär auf das Sozialversicherungsrecht
zurück. Dafür mag sprechen, dass dies mit Blick auf den
Schutzzweck jedenfalls der Abs. 1 und 2 passend scheint.
Nach dieser Auffassung ist damit § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV
maßgebend. Hiernach ist unter Beschäftigung „die nicht17
Vgl. Preis, in: Müller-Glöge/Preis/Schmidt (Hrsg.), Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 16. Aufl. 2016, § 611 BGB
Rn. 35 ff.
18
Beispielsweise aus § 10 Abs. 1 i.V.m. § 9 Nr. 1 AÜG;
siehe Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 (248).
19
Junker, Grundkurs Arbeitsrecht, 14. Aufl. 2015, § 2
Rn. 121.
20
Junker (Fn. 19), § 2 Rn. 91.
21
Vgl. Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 (248); BVerfG
NJW 1996, 2644.
22
BAG NJW 1984, 1985 (1986 f.); BAG NJW 1993, 86; vgl.
auch Ignor/Rixen, in: Ignor/Rixen (Hrsg.), Handbuch Arbeitsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, § 2 Rn. 18; Gercke/Leimenstoll, WiJ
2012, 246 (248).
23
Feigen/Livonius, in: Lüderssen u.a. (Hrsg.), Festschrift für
Wolf Schiller zum 65. Geburtstag am 12. Januar 2014, 2014,
S. 147 (149).
24
BGH NStZ 2013, 587; Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 11; Tag
(Fn. 6), § 266a Rn. 19; Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 12;
Schulz, NJW 2006, 183 (184).
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190
Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt – ein unbekannter Straftatbestand
selbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis“ zu verstehen. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV differenziert also
seinem Wortlaut nach zwischen dem weiteren Beschäftigungsverhältnis und dem engeren Arbeitsverhältnis. Liegt
letzteres vor, so ist die Arbeitgebereigenschaft unbestritten
anzunehmen. Zu klären bleibt indes, ob es für die Arbeitgebereigenschaft im Sinne des § 266a StGB auch ausreicht,
wenn zwischen den Parteien ein schlichtes Beschäftigungsverhältnis und kein Arbeitsverhältnis vorliegt. Dies ist beispielsweise bei – wohl eher selten vorkommender, aber nicht
auszuschließender – unentgeltlicher Beschäftigung der Fall:
Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII sind nämlich auch unentgeltlich Beschäftigte von der Pflichtversicherung gegen Unfall erfasst, mangels Entgeltanspruchs aber keine Arbeitnehmer.25 Praxisrelevanter ist das Beispiel des nach wirksamer
Kündigung bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Kündigungsschutzprozesses Weiterbeschäftigten, der sich nicht
mehr in einem Arbeits-, wohl aber in einem sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigungsverhältnis befindet.26 Die
Annahme der Arbeitgebereigenschaft in diesen Fällen ist
strikt abzulehnen. Hierfür streiten der Wortlaut und die Systematik des § 7 Abs. 1 S. 1 SGB IV: Die Norm differenziert
zwar zwischen Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis, bezweckt dabei aber nicht, den Begriff des Arbeitsverhältnisses
zu modifizieren, sondern knüpft stattdessen an einen vorgefundenen Begriff des Arbeitsverhältnisses an, um davon den
Begriff des Beschäftigungsverhältnisses zu scheiden und
beide Begriffe in ein Verhältnis zueinander setzen zu können.27 Auch der Wortlaut des § 266a StGB („Arbeitgeber“)
ist insoweit eindeutig; eine Auslegung dieses Begriffes im
Sinne einer Partei des Beschäftigungsverhältnisses würde die
Grenze des verfassungsrechtlich garantierten Analogieverbots des Art. 103 Abs. 2 GG überschreiten.28 Gegen diese
gewichtigen Argumente lässt sich auch nicht der Schutzzweck des § 266a StGB29 ins Feld führen. Somit bleibt festzuhalten, dass auch die Begründung der Arbeitgebereigenschaft über das Sozialversicherungsrecht zum klassischen
arbeitsrechtlichen Arbeitgeberbegriff führt.30
STRAFRECHT
Person geschlossen wird. Für diesen Fall sieht § 14 Abs. 1
Nr. 1 und 2 StGB vor, dass das besondere persönliche Merkmal, welches bei der juristischen Person, nicht aber bei dem
Vertreter vorliegt, dem Vertretungsorgan zuzurechnen ist.31
Hinweis zu Fall 1: Dementsprechend ist in Fall 1 die XGmbH nach beiden vorgestellten Ansichten „Arbeitgeber“ des A. Da sich die X-GmbH selbst aber nicht strafbar
machen kann, kommt eine Überwälzung der Arbeitgebereigenschaft auf den Geschäftsführer G in Betracht. Die
einschlägige Norm ist hier § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB: Bei
der X handelt es sich um eine juristische Person, G ist
gemäß § 35 Abs. 1 S. 1 GmbHG vertretungsberechtigt.
Die Arbeitgebereigenschaft der X-GmbH ist ein besonderes persönliches Merkmal im Sinne des § 14 StGB. Demnach findet eine Überwälzung des Arbeitgebermerkmals
auf G statt, mit der Folge, dass § 266a StGB auch auf ihn
anzuwenden ist.
2. Erweiterung des Täterkreises durch § 14 StGB
Das strafbarkeitsbegründende besondere persönliche Merkmal der Arbeitgebereigenschaft kann nach den Grundsätzen
der Organ-, Vertreter- und Beauftragtenhaftung nach § 14
StGB zugerechnet werden. Die Zurechnung über § 14 StGB
wird in der Praxis der Regelfall sein, da der Arbeitsvertrag
oftmals zwischen dem Arbeitnehmer und einer juristischen
Besonderes Augenmerk soll im Folgenden auf den Geschäftsführer einer GmbH gelegt werden.32 Die Zurechnung der
Arbeitgebereigenschaft und damit die Verantwortlichkeit für
die fristgerechte Beitragszahlung beginnt mit der Bestellung
zum Geschäftsführer, dauert während einer urlaubsbedingten
Abwesenheit fort und endet mit der Abberufung bzw. der
Niederlegung dieser Funktion.33 Eine bloß formelle Bestellung zum Geschäftsführer, der nur als „Strohmann“ agieren
soll und in Wahrheit einem anderen die Geschäftsführung
überlässt, schließt eine Zurechnung und damit eine Strafbarkeit grundsätzlich nicht aus. Denkbar ist dann aber – sofern
dies dem tatsächlichen Innenverhältnis entspricht – eine
Straflosigkeit unter dem Aspekt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens, sofern der Scheingeschäftsführer innerhalb der internen „Machtverhältnisse“ der Gesellschaft keinerlei Einfluss ausüben kann.34 Ob der faktische Geschäftsführer „Arbeitgeber“ im Sinne des § 266a StGB sein kann, ist
umstritten. Die Rechtsfigur des faktischen Geschäftsführers
wurde von der Rechtsprechung erschaffen, um den Straftäter,
der zwar gesellschaftsrechtlich nicht wirksam eingesetzt
wurde und damit kein Organ ist, gleichwohl aber faktisch
diese Position bekleidet, bestrafen zu können.35 Die Tätigkeit
als faktischer Geschäftsführer kann zum einen darauf beruhen, dass die gesellschaftsrechtliche Bestellung fehlerhaft
und damit unwirksam war, zum anderen kann auch eine bewusste Tätigkeit unter Verzicht auf jegliche gesellschaftsrechtliche Einsetzung als faktischer Geschäftsführer in Be-
25
31
Weidenkaff, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Kommentar, 75. Aufl. 2016, Vor. § 611 Rn. 7.
26
Hoyer (Fn. 8), § 266a Rn. 20; Feigen/Livonius (Fn. 23),
S. 149.
27
Hoyer (Fn. 8), § 266a Rn. 19.
28
Feigen/Livonius (Fn. 23), S. 149.
29
Siehe oben unter I.
30
BGH NStZ 2013, 587; Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 12;
Hoyer (Fn. 8), § 266a Rn. 19-21; siehe jedenfalls für entgeltliche Beschäftigeung Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246
(249); Ignor/Rixen (Fn. 22), § 2 Rn. 26.
Allgemein zu § 14 StGB vgl. Wittig (Fn. 3), § 6 Rn. 76 ff.,
§ 22 Rn. 12 ff.
32
Die Ausführungen gelten entsprechend für andere Organe
und Vertreter juristischer Personen, etwa den Vorstand einer
AG.
33
Tag (Fn. 6), § 266a Rn. 29; Saliger (Fn. 7), § 266a Rn. 7
m.w.N.
34
OLG Hamm NStZ-RR 2001, 173 (174); Radtke (Fn.14),
§ 266a Rn. 36; Gercke, in: Gercke/Kraft/Richter (Hrsg.),
Arbeitsstrafrecht, 2. Aufl. 2015, Kap. 2 Rn. 18.
35
BGHSt 3, 32; 21, 101; Dierlamm, NStZ 1996, 153 (154 f.).
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Tobias Wickel
tracht kommen.36 Um als faktisches Organ qualifiziert werden zu können, muss der Täter aus einem von der Rechtsprechung aufgestellten Katalog von Merkmalen (etwa Bestimmung der Unternehmenspolitik, Gehaltshöhe, Einfluss
und Kontrolle der Buchhaltung etc.) zumindest sechs erfüllt
haben.37 Nach der herrschenden Auffassung in Rechtsprechung und Literatur findet § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB auf
den faktischen Geschäftsführer Anwendung und zwar unabhängig davon, ob der Versuch einer (letztlich fehlgeschlagenen) Bestellung tatsächlich stattgefunden hat oder ob sie ganz
unterblieben ist.38 Daher kommt auch stets eine Strafbarkeit
nach § 266a StGB in Betracht. Für die erstgenannte Konstellation des faktischen Geschäftsführers, der fehlerhaften Bestellung, ergibt sich dies ohne weiteres aus dem Wortlaut des
§ 14 Abs. 3 StGB. Im Falle der bewusst unterbliebenen Bestellung stützt sich diese Sichtweise insbesondere auf kriminalpolitische Erwägungen: Es sei höchst unbillig, wenn jemand versucht, sich einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit
(vorliegend nach § 266a StGB) dadurch zu entziehen, dass
die rechtlich notwendige ordnungsgemäße Bestellung unterbleibt.39 Gegen dieses ausgedehnte Verständnis der Rechtsfigur des faktischen Organs lässt sich allerdings der klare
Wortlaut des § 14 Abs. 3 StGB ins Feld führen: Erforderlich
ist nach dieser Vorschrift stets eine „Rechtshandlung, welche
die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte“. Gemeint ist damit der gesellschaftsrechtliche
Bestellungsakt. Fehlt eine solche Rechtshandlung, liegen die
Voraussetzungen des § 14 Abs. 3 StGB nicht vor. Die Konstellation der gänzlich unterbliebenen Bestellung ist von § 14
Abs. 3 StGB somit nicht umfasst. Es fehlt ein zumindest
intentionaler Bestellungsakt.40 Die generelle Verantwortlichkeit des faktischen Geschäftsführers nach § 266a StGB, wie
sie von der vorherrschenden Meinung propagiert wird, scheidet daher nach vorzugswürdiger Ansicht aus. Zu prüfen ist
jedoch im Einzelfall, ob eine „Beauftragung“ im Sinne des
§ 14 Abs. 2 S. 1 StGB in Betracht kommt und das Arbeitgebermerkmal dem faktischen Geschäftsführer auf diesem Weg
zugerechnet werden kann.41
Im Falle der mehrgliedrigen Geschäftsleitung bleibt jeder
Geschäftsführer selbst Normadressat des § 266a StGB. Be36
Dazu Schmucker (ZJS 2011, 30 [35]), der zugleich mögliche Gründe für das Tätigwerden des faktischen Organs herausstellt: Schlechte Reputation des eigentlichen Geschäftsführers, Ausschluss von der Geschäftsführung nach § 6
Abs. 2 S. 2 Nr. 3 GmbHG.
37
Dazu ausführlich Dierlamm, NStZ 1996, 153 (154 ff.
m.w.N.); Schmucker, ZJS 2011, 30 (36).
38
BGHSt 21, 101 (102); 31, 118 (122); 47, 318 (325 f.);
Möhrenschläger (Fn. 10), § 266a Rn. 21.
39
Vgl. Schmucker, ZJS 2011, 30 (35 f.).
40
Achenbach, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2015, 1. Teil Kap. 3
Rn. 17; Perron (Fn. 7), § 14 Rn. 43; Gercke (Fn. 34), Kap. 2
Rn. 19; Wittig (Fn. 3), § 6 Rn. 99; Schmucker, ZJS 2011, 30
(36).
41
OLG Karlsruhe NJW 2006, 1364 (1366); Radtke (Fn. 14),
§ 266a Rn. 36.
steht eine interne Zuständigkeitsverteilung oder wurde die
Abführung der Sozialversicherungsbeiträge anderweitig delegiert, wandelt sich die Handlungspflicht aber in eine Überwachungspflicht.42
IV. Die einzelnen Tatbestände
§ 266a StGB besteht aus drei Tatvarianten.
1. Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen – § 266a Abs. 1
StGB
Abs. 1 stellt das Vorenthalten von Arbeitnehmerbeiträgen
unter Strafe, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt
wurde oder nicht. Die Sozialversicherungsbeiträge sind von
Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam zu tragen. Allerdings hat nur der Arbeitgeber als alleiniger Haftungsschuldner die Pflicht, den Gesamtsozialversicherungsbeitrag an die
Einzugsstelle abzuführen (§ 28e Abs. 1 S. 1 SGB IV). Dabei
sanktioniert Abs. 1 nur das Vorenthalten des fälligen Arbeitnehmeranteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag.
a) Vorliegen eines Sozialversicherungsverhältnisses
Zunächst muss ein materielles Sozialversicherungsverhältnis
vorliegen.43 Ein solches entsteht – dies ergibt sich aus §§ 22
SGB IV, 186 Abs. 1 SGB V – kraft Gesetz mit der Aufnahme
einer nichtselbstständigen Arbeit im Sinne des § 7 Abs. 1
SGB IV. Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein wirksamer
Arbeitsvertrag vorliegt oder die Aufnahme der Beschäftigung
bei der zuständigen Stelle gemeldet wurde; maßgebend sind
allein die tatsächlichen Gegebenheiten.44 Wegen der Sozialrechtsakzessorietät des § 266a StGB muss die Sozialversicherungspflicht in der Bundesrepublik Deutschland bestehen, in
Fällen mit Auslandsbezug muss der Arbeitnehmer also der
inländischen Sozialversicherungspflicht unterliegen.45
b) Vorenthalten
Der Arbeitgeber enthält die Arbeitnehmeranteile vor, wenn er
es vollständig oder teilweise unterlässt, diese bei Fälligkeit an
die zuständige Einzugsstelle abzuführen.46 Die schlichte
Nichtzahlung trotz Fälligkeit ist also ausreichend, eine darüber hinausgehende Täuschungs- oder Verschleierungsaktivität für eine Strafbarkeit nicht notwendig.47 Die Fälligkeit der
Beitragsschuld ergibt sich aus § 23 Abs. 1 SGB IV, sofern sie
nicht durch eine vorherige und wirksame Stundung der Ein42
Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 21 f.; Fischer (Fn. 6), § 266a
Rn. 5.
43
Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 28; Perron (Fn. 7), § 266a
Rn. 6.
44
BGH NStZ 2009, 271 (272); Matt, in: Matt/Renzikowski
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 266a Rn. 16.
45
Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 20; Gercke (Fn. 34), Kap. 2
Rn. 29 ff.
46
BGHZ 144, 311 (314); BGH NJW 1992, 177 (178);
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 13; Tag (Fn. 6), § 266a Rn. 57;
Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 21.
47
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 11; Gercke (Fn. 34), Kap. 2
Rn. 42.
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ZJS 2/2016
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Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt – ein unbekannter Straftatbestand
zugsstelle hinausgeschoben wird;48 hierin wäre dann ein
wirksames Einverständnis der Einzugsbehörde zu sehen,
welches eine Strafbarkeit ausschließen würde.49 Fällig ist die
Beitragsschuld (in voraussichtlicher Höhe) spätestens am
drittletzten Bankarbeitstag des Monats, in dem die Beschäftigung oder Tätigkeit, mit der das Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen erzielt wird, ausgeübt worden ist (§ 23 Abs. 1
SGB IV). Zuständige Einzugsstellen sind gemäß § 28h
Abs. 1 S. 1 SGB IV die Krankenkassen.
Hinweis zu Fall 1: In Fall 1 könnte G als tauglicher Täter
die Tathandlung des § 266a Abs. 1 StGB verwirklicht haben, indem er den gesamten Sozialversicherungsbeitrag
für A nicht abgeführt hat. Ein Sozialversicherungsverhältnis lag ab der Arbeitsaufnahme durch A vor. Indem G
den fälligen Gesamtsozialversicherungsbeitrag für den
Arbeitnehmer A für den Monat Dezember nicht an die
hierfür zuständige K abführte, enthielt er die zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag gehörenden Arbeitnehmeranteile vor. Mangels gegenteiliger Sachverhaltsangaben war dem G die Abführung, die bis zum 29.12. hätte
erfolgen müssen, auch möglich und zumutbar. Demnach
erfüllte er § 266a Abs. 1 StGB. Er handelte auch vorsätzlich, rechtswidrig und schuldhaft und hat sich demnach
gemäß § 266a Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Demgegenüber hat sich G wegen der Nichtabführung von Beiträgen
für die P nicht nach § 266a Abs. 1 StGB strafbar gemacht,
da im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung die Arbeitnehmer nicht versicherungspflichtig sind.50
c) Möglichkeit und Zumutbarkeit der Handlungspflicht
§ 266a Abs. 1 StGB ist ein echtes Unterlassungsdelikt und
setzt daher zusätzlich voraus, dass dem Täter die Erfüllung
der Handlungspflicht möglich und zumutbar ist.51 Ist die
Beitragsabführung also aus tatsächlichen oder rechtlichen
Gründen unmöglich, so ist eine Strafbarkeit nach § 266a
Abs. 1 StGB zu verneinen.52 Eine Unmöglichkeit ist grundsätzlich auch bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers zum
Fälligkeitszeitpunkt anzunehmen.53 Gänzlich ausgeschlossen
ist die Strafbarkeit gemäß § 266a Abs. 1 StGB damit aber
nicht: Über die Rechtsfigur der omissio libera in causa kann
eine Vorverlagerung der Tatbestandsverwirklichung bewirkt
und so eine Strafbarkeit begründet werden. Dies ist dann der
Fall, wenn der Arbeitgeber zwar bei Fälligkeit nicht leistungsfähig ist, er es aber im Vorfeld aufgrund von Anzeichen
für Liquiditätsprobleme pflichtwidrig und vorwerfbar unterlassen hat, Sicherungsvorkehrungen für die Zahlung der Ar-
STRAFRECHT
beitnehmerbeiträge zu treffen.54 In diesem Zusammenhang ist
umstritten, ob der Pflicht zur Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung ein Vorrang vor anderen (zivilrechtlichen) Verbindlichkeiten zukommt.
Fall 2: S ist geschäftsführende Gesellschafterin der MGmbH. Die Geschäfte der M – die noch drei Mitarbeiter
beschäftigt – laufen seit geraumer Zeit schlecht, worüber
die S sehr besorgt ist. Mitte Februar 2016 befinden sich
auf dem Firmenkonto noch 12.800 €. Zu diesem Zeitpunkt wird eine Rechnung des Lieferanten L-AG in Höhe
von 6.000 € fällig. S überweist die Summe an die L, um
die guten Geschäftsbeziehungen nicht zu belasten und
zahlt die übrigen 6.800 € als Gehalt an ihre Mitarbeiter.
Die Sozialversicherungsbeiträge für die drei Mitarbeiter
können nicht mehr beglichen werden, da keine weiteren
Aufträge für die M mehr in Sicht sind. Drei Wochen später stellt die S einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beim zuständigen Amtsgericht.
Nach einer Auffassung gebührt der Abführungspflicht zur
Sozialversicherung – auch in einer Insolvenzsituation – Vorrang.55 Andere Verbindlichkeiten dürften in Ansehung der
Sozialabgaben nicht beglichen werden, um die Finanzmittel
für diese zu reservieren. Jede anderweitige Verwendung der
noch vorhandenen Gelder soll damit als pflichtwidrig angesehen werden. Der Arbeitgeber wäre damit verpflichtet, im
Falle erkennbarer Liquiditätsengpässe Rücklagen – gar unter
Zurückstellung von Lohnzahlungen – zur Befriedigung des
Sozialversicherungssystems zu bilden.56 Begründet wird
diese strenge Sichtweise mit der Strafbewehrung des § 266a
StGB, in der die gesetzgeberische Wertung eines Vorrangs
der Sozialabgaben vor strafrechtlich nicht geschützten Forderungen zu sehen sei.57
Nach anderer Auffassung gibt es einen solchen Vorrang
nicht,58 was zur Konsequenz hat, dass die vorrangige Befriedigung anderer Gläubiger nicht zur Strafbarkeit nach § 266a
Abs. 1 StGB führt. Für diese Ansicht spricht, dass sich die
Argumentation der erstgenannten Auffassung genau besehen
als zirkulär erweist: Der Tatsache, dass die Nichterfüllung der
Zahlungspflicht durch § 266a StGB strafbewehrt ist, entnimmt die erstgenannte Ansicht die gesetzgeberische Intention einer Rangfolge von Verbindlichkeiten. Strafrechtlich
geschützte Verbindlichkeiten (hier also die Sozialversicherungsbeiträge) sollen demnach vorrangig gegenüber anderen
(„nur“) zivilrechtlichen Verbindlichkeiten sein.59 Der Straf54
48
Möhrenschläger (Fn. 10), § 266a Rn. 51; Perron (Fn. 7),
§ 266a Rn. 7.
49
Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 23; Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 18.
50
Siehe dazu unter II.
51
BGHSt 47, 318 (320); Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 10;
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 14.
52
Tag (Fn. 6), § 266a Rn. 68; Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 29;
Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 49.
53
BGH NStZ 2002, 548; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a
Rn. 10.
BGHSt 47, 318; BGH wistra 2006, 17; krit. Radtke
(Fn. 14), § 266a Rn. 67.
55
BGH NStZ 2002, 548; Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 10.
56
Vgl. Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 54.
57
BGH NJW 2007, 2118 (2120); vgl. auch Bittmann, wistra
2007, 406.
58
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 16; Rönnau, wistra 2007, 81
(82); Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 70; ders., NStZ 2003, 154
(156).
59
BGH NJW 2005, 3650 (3651); Hellmann/Beckemper,
Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2013, § 13 Rn. 851.
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DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Tobias Wickel
bewehrung wird also eine Vorrangigkeit entnommen, die
dann aber ihrerseits selbst Voraussetzung dafür ist, die Strafbarkeit zu begründen.60 Eine solche Argumentation ist nicht
einleuchtend, zumal ein systematisches Argument die von der
erstgenannten Auffassung postulierte Vorrangigkeit der Sozialabgaben zu eliminieren vermag: So lässt sich die Vorrangigkeit nicht mit dem in §§ 283, 283c, 288 StGB verankerten
allgemeinen Gläubigerschutzsystem des StGB vereinbaren,
da dieses erst bei Leistungen mit „inkongruenten Deckungen“
strafrechtliche Sanktionen vorsieht.61 Gerade die bereits angesprochene, dem Arbeitgeber durch Befolgung der ersten
Meinung aufgenötigte Pflicht zur Bildung von Rücklagen für
Sozialversicherungsabgaben widerstreitet den Grundsätzen
des § 283c StGB, da diese Vorgehensweise eine unzulässige
Gläubigerbegünstigung darstellt.62 Darüber hinaus lässt die
zuerst vorgestellte Ansicht der Rechtsprechung Wertungen
des Insolvenzrechts, namentlich die Möglichkeit einer Insolvenzanfechtung, außer Betracht. Die abgeführten Beiträge
zur Sozialversicherung (sowohl Arbeitgeber- als auch Arbeitnehmeranteile63) unterfallen nach einhelliger Auffassung
der Insolvenzanfechtung nach §§ 129 ff. InsO.64 Diese Vorschriften erlauben dem Insolvenzverwalter, bereits vor der
Eröffnung des Insolvenzverfahrens an die Krankenkassen
abgeführte Beiträge unter den Voraussetzungen der §§ 129 ff.
InsO zur Masse „zurückzuziehen“. Damit wird die „Vorrangrechtsprechung“ des BGH nicht von insolvenzrechtlichen
Wertungen getragen; vielmehr ergibt sich aus der InsO, dass
sie gerade keinen Vorrang der Sozialversicherungsabgaben
kennt.65 Darüber hinaus kann ein solcher „Vorrang“ überhaupt erst den Zusammenbruch eines kriselnden Unternehmens bewirken, weil hierdurch die zur Sanierung notwendigen Mittel faktisch entzogen werden.66 Die Antwort auf die
Frage, was im Verhältnis zu anderen strafbewehrten Zahlungspflichten gelten soll, bleibt die erstgenannte Ansicht
ebenfalls schuldig.67 Vorzugswürdig erscheint demnach letztgenannte Ansicht, wonach der Abführungspflicht kein Vorrang vor anderen zivilrechtlichen Verbindlichkeiten zukommt.
60
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 16; Radtke (Fn. 14), § 266a
Rn. 70; a.A. Hoyer (Fn. 8), § 266a Rn. 68.
61
Pananis, in Ignor/Rixen (Fn. 22), § 6 Rn. 30; Gercke
(Fn. 34), Kap. 2 Rn. 54; Gercke/Leimenstoll, HRRS 2009,
442 (447).
62
Pananis (Fn. 61), § 6 Rn. 30.
63
Hierzu BGH NJW 2010, 870 m. Anm. Stiller, NZI 2010,
250.
64
BGH NJW 2010, 870; de Bra, in: Braun (Hrsg.), Insolvenzordnung, Kommentar, 6. Aufl. 2014, § 129 Rn. 34;
Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 70.
65
Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 70; Zöllner/Noack, in:
Baumbach/Hueck (Hrsg.), GmbHG, Kommentar, 20. Aufl.
2013, § 43 Rn. 95.
66
OLG Celle NJW-RR 1996, 481 (482); Gercke (Fn. 34),
Kap. 2 Rn. 54.
67
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 16.
Hinweis zu Fall 2: In Fall 2 hätte die S, die es trotz ihr erkennbarer Anzeichen von Liquiditätsproblemen pflichtwidrig und vorwerfbar unterlassen hat, Sicherungsvorkehrungen für die Sozialversicherungsbeiträge ihrer Arbeitnehmer zu treffen und im Übrigen auch tatbestandsmäßig
im Sinne des § 266a Abs. 1 StGB handelte, nach der zuerst genannten Auffassung, die auch von der Rechtsprechung vertreten wird, den Tatbestand des § 266a
Abs. 1 StGB erfüllt. In Betracht kommt aber eine Rechtfertigung.68 Die letztgenannte und überzeugendere Auffassung gelangt zu einer Straflosigkeit der S.
Letztlich entfällt die Strafbarkeit auch dann, wenn dem Arbeitgeber die Abführung der Arbeitnehmerbeiträge nicht zumutbar ist. Unzumutbarkeit ist dann gegeben, wenn die Beitragsabführung zu einer Gefahr für höchstpersönliche Rechtsgüter des Beitragspflichtigen oder einer ihm nahestehenden
Person führen würde, wozu beispielsweise die Gefährdung
des persönlichen Lebensbedarfs zählt.69
2. Vorenthalten von Arbeitgeberanteilen – § 266a Abs. 2
StGB
Abs. 2 pönalisiert das Vorenthalten von Arbeitgeberanteilen
auf eine betrugsähnliche Weise, und zwar durch die Verletzung sozialversicherungsrechtlicher Erklärungspflichten.70
Dabei werden neben dem Arbeitgeberanteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag auch solche Beiträge, die der Arbeitgeber allein zu tragen hat, wie zum Beispiel die gesetzliche
Unfallversicherung (§ 150 Abs. 1 SGB VII), erfasst.71 Nicht
erfasst sind Beiträge für geringfügig Beschäftigte in Privathaushalten: § 111 Abs. 1 S. 2 SGB IV erklärt die Anwendbarkeit des § 266a Abs. 2 StGB für gesperrt. In Betracht
kommt dann aber eine Ordnungswidrigkeit nach § 111 Abs. 1
SGB IV. Ein Vorrang vor anderen zivilrechtlichen Verbindlichkeiten besteht im Gegensatz zu Abs. 1 nicht.72
a) § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB: Unvollständige oder unrichtige
Angaben
§ 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass der Arbeitgeber
von ihm zu tragende Beiträge zur Sozialversicherung dadurch
vorenthält, dass er der zuständigen Stelle unrichtige oder
unvollständige Angaben über sozialversicherungsrechtlich
erhebliche Tatsachen macht. § 266a Abs. 2 Nr. 1 StGB ist
daher ein Begehungs- und Erfolgsdelikt.73 Der Tatsachenbegriff entspricht dem des § 263 StGB.74 Danach sind Tatsachen konkrete Vorgänge oder Zustände der Gegenwart oder
68
Siehe dazu unten VI.
Pananis (Fn. 61), § 6 Rn. 31; Gercke (Fn. 34), Kap. 2
Rn. 57.
70
Pananis (Fn. 61), § 6 Rn. 33; Radtke (Fn. 14), § 266a
Rn. 78.
71
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 19; Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 39.
72
Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 61; Pananis (Fn. 61), § 6
Rn. 37.
73
BGH NStZ 2012, 94 (95); Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 41.
74
Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 80; Tag (Fn. 6), § 266a Rn. 90.
69
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ZJS 2/2016
194
Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt – ein unbekannter Straftatbestand
Vergangenheit, die dem Beweis zugänglich sind.75 Sozialversicherungserheblich sind Tatsachen, die den Grund oder die
Höhe der Zahlungspflicht betreffen, also insbesondere das
Bestehen des Arbeitsverhältnisses sowie die Höhe des Arbeitsentgelts.76 Unrichtig sind Angaben, wenn sie nicht mit
der Wirklichkeit übereinstimmen.77 Unvollständig sind Angaben, wenn sie für sich betrachtet zwar richtig sind, durch
Weglassen für die Sozialversicherungspflicht wesentlicher
Tatsachen aber ein falsches Gesamtbild vermittelt wird.78
b) § 266a Abs. 2 Nr. 2 StGB: Pflichtwidriges Unterlassen
Nach § 266a Abs. 2 Nr. 2 StGB macht sich strafbar, wer als
Arbeitgeber die zuständige Einzugsstelle über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen pflichtwidrig in Unkenntnis lässt. Es handelt sich hierbei um ein echtes Unterlassungsdelikt.79 Das Merkmal des In-Unkenntnis-Lassens ist
dann erfüllt, wenn der Arbeitgeber als Mitteilungspflichtiger
Tatsachen gar nicht oder nicht rechtzeitig übermittelt.80 Die
Mitteilungspflicht ergibt sich dabei aus § 28a SGB IV in
Verbindung mit der „Verordnung über die Erfassung und
Übermittlung von Daten für die Träger der Sozialversicherung“ (DEÜV).81
c) Taterfolg: „Vorenthalten“
Beide Tathandlungen setzen neben der Verletzung sozialversicherungserheblicher Erklärungspflichten voraus, dass es
„dadurch“ zu einer Vorenthaltung der fälligen Beiträge
kommt. Das Vorenthalten muss also gerade aufgrund einer
der Tathandlungen des § 266a Abs. 2 StGB eingetreten
sein.82 Strittig ist dabei, in was für einem Zusammenhang der
Erfolg des Vorenthaltens zu den unrichtigen, unvollständigen
bzw. ganz unterlassenen Angaben stehen soll. Nach einer
Auffassung sei keine strikt äquivalente Kausalität erforderlich, ausreichend sei vielmehr ein „funktionaler Zusammenhang“.83 Hierfür wird vorgetragen, dass sich eine Kausalität
im Sinne der Äquivalenztheorie in praxi kaum nachweisen
lasse und § 266 Abs. 2 StGB ansonsten leerlaufen würde.84
Nach anderer Ansicht ist ein kausaler Zusammenhang notwendig.85 Die Befürworter dieser Ansicht kritisieren, dass es
75
Fischer (Fn. 6), § 263 Rn. 6; Wittig (Fn. 3) § 14 Rn. 9.
BT-Drs. 15/2573, S. 28; Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 20;
Pananis (Fn. 61), § 6 Rn. 35.
77
Wittig (Fn. 9), § 266a Rn. 44; Tag (Fn. 6), § 266a Rn. 90.
78
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 11d; Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 44.
79
Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a Rn. 12; Gercke (Fn. 34),
Kap. 2 Rn. 65.
80
BT-Drs. 15/2573, S. 28; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a
Rn. 12.
81
Pananis (Fn. 61), § 6 Rn. 36.
82
Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 42.
83
BGH NStZ 2012, 94 (95).
84
Wiedner, in: Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.), Wirtschafts- und
Steuerstrafrecht, Kommentar, 2011, § 266a StGB Rn. 64.
85
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 11h; Wittig, HRRS 2012, 63
(65); Matt (Fn. 44), § 266a Rn. 58; Rönnau/Kirch-Heim,
wistra 2005, 321 (325).
76
STRAFRECHT
keine hinreichende Definition des „funktionalen Zusammenhangs“ gibt.86 Auch der Wortlaut des § 266a Abs. 2 StGB
(„dadurch“) ist insoweit eindeutig. Er verlangt – vergleichbar
den Formulierungen in den §§ 315, 315b, 315c StGB – einen
kausalen Zusammenhang im Sinne der Äquivalenztheorie.87
Die Gegenansicht legt demgegenüber das Merkmal „dadurch“ in einer nicht mehr mit dem Wortsinn zu vereinbarenden Weise aus.88 Vorzugswürdig erscheint daher das Erfordernis eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem Taterfolg des Vorenthaltens und den Tathandlungen des § 266a
Abs. 2 StGB.
Hinweis zu Fall 1: In Fall 1 könnte sich G ebenfalls nach
§ 266a Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben. In Betracht
kommt vorliegend § 266a Abs. 2 Nr. 2. Indem G von einer Anmeldung des A zur Krankenversicherung absah
und auch ansonsten keine Nachweise erbrachte und also
keinerlei erhebliche Tatsachen übermittelte, ließ er die K
als zuständige Stelle pflichtwidrig in Unkenntnis. Die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung wurden vorenthalten. Auch der geforderte Kausalzusammenhang zwischen den unterlassenen Angaben und dem Vorenthalten
ist hier gegeben. Auch ist von einer vorsätzlichen, rechtswidrigen und schuldhaften Handlungsweise des G auszugehen. Demnach hat er sich auch nach § 266a Abs. 2
Nr. 2 StGB strafbar gemacht. Wegen der Nichtanmeldung
der P hat sich G nicht nach § 266a Abs. 2 Nr. 2 StGB
strafbar gemacht, da diese Norm nach § 111 Abs. 1 S. 2
SGB IV für geringfügige Beschäftigungsverhältnisses
nicht gilt. Stattdessen hat er eine Ordnungswidrigkeit
nach § 111 Abs. 1 S. 1 Nr. 2a SGB IV begangen.
3. Nichtabführen von Arbeitsentgeltanteilen – § 266a Abs. 3
StGB
Abs. 3 setzt voraus, dass der Arbeitgeber Lohnbestandteile,
die nicht von Abs. 1 erfasst werden, einbehalten und dann
entgegen einer Verpflichtung nicht ordnungsgemäß abgeführt
hat und es dabei unterlässt, den Arbeitnehmer über die Einbehaltung zu unterrichten.89 Bei solchen Arbeitsentgeltanteilen kann es sich zum Beispiel um vermögenswirksame Leistungen, Pfändungen oder freiwillige Zahlungen an die Sozialversicherungen oder die Renten- und Pensionskassen handeln.90 Zu dem notwendigen Einbehalten der Arbeitsentgeltanteile muss das Unterlassen der Unterrichtung des Arbeitnehmers bei Fälligkeit oder unverzüglich danach hinzukom-
86
Wittig, HRRS 2012, 63 (65); Perron (Fn. 7), § 266a
Rn. 11h.
87
Wittig, HRRS 2012, 63 (65).
88
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 11h.
89
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 22a f.; Tag (Fn. 6), § 266a
Rn. 118.
90
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 13.
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195
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Tobias Wickel
men.91 Auch setzt das Einbehalten die tatsächliche Auszahlung des (entsprechend gekürzten) Arbeitsentgelts voraus.92
V. Subjektiver Tatbestand und Irrtümer
Auf der subjektiven Tatseite ist für alle Varianten des § 266a
StGB zumindest bedingter Vorsatz notwendig.93 Eine darüber
hinausgehende, dem Betrug vergleichbare Schädigungs- oder
Bereicherungsabsicht ist nicht erforderlich.94 Im Falle einer
objektiven Tatbestandsverwirklichung durch eine omissio
libera in causa95 muss der Arbeitgeber sowohl die Möglichkeit eines Liquiditätsengpasses als auch die Möglichkeit
seiner Beseitigung erkannt und seine spätere Zahlungsunfähigkeit schon bei der sie begründenden Vorhandlung oder
Unterlassung zumindest billigend in Kauf genommen haben.96
An einen vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum im
Sinne des § 16 Abs. 1 StGB ist zu denken, wenn der Arbeitgeber in Unkenntnis des Beschäftigungsverhältnisses handelt
und somit die die sozialversicherungsrechtlichen Abführungs- und Meldepflichten begründenden Umstände verkennt.97 Ebenfalls liegt ein solcher Irrtum vor, wenn der Täter
zwar weiß, dass er abführungspflichtig ist, dabei aber irrig
Umstände annimmt, die die Erfüllung der Zahlungspflicht
unmöglich machen.98 Irrt sich der Täter stattdessen lediglich
über die Rechtspflicht, Beiträge abzuführen, handelt es sich
nach einer Auffassung um einen Verbotsirrtum gemäß § 17
StGB, der in aller Regel vermeidbar sein wird.99 Nach anderer Auffassung soll sich der Vorsatz auch auf die Rechtspflicht selbst erstrecken, demnach läge ein Tatbestandsirrtum
vor.100 Für die erstgenannte Auffassung könnte der allgemeine Grundsatz bei Unterlassungsdelikten, dass der Vorsatz
zwar die pflichtbegründenden Umstände, nicht aber die
Handlungspflicht als solche zu umfassen braucht, ins Feld
geführt werden.101 Indes kann dieser Grundsatz hier keine
Geltung beanspruchen, da die Pflicht selbst ausdrücklich in
Abs. 2 („[...] vom Arbeitgeber zu tragende Beiträge [...]“ und
91
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 14; Gercke (Fn. 34), Kap. 2
Rn. 70.
92
Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a Rn. 14; Radtke (Fn. 14),
§ 266a Rn. 85.
93
BGH NStZ 2002, 548 (549); Fischer (Fn. 6), § 266a
Rn. 23; Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 89; Tag (Fn. 6), § 266a
Rn. 80.
94
Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 73; Feigen/Livonius (Fn. 23),
S. 155.
95
Siehe oben unter III. 1. c).
96
BGH NStZ 2002, 548 (549); BGH NJW 2002, 1123
(1125); Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 23.
97
Wiedner (Fn. 84), § 266a StGB Rn. 80; Fischer (Fn. 6),
§ 266a Rn. 23.
98
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 23.
99
BGH NStZ 1997, 125 (127); Möhrenschläger (Fn. 10),
§ 266a Rn. 80; Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 91.
100
OLG Frankfurt ZIP 1995, 213 (218); Perron (Fn. 7),
§ 266a Rn. 17; Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a Rn. 16; Hoyer
(Fn. 8), § 266a Rn. 55.
101
Dazu etwa BGHSt 19, 295; Fischer (Fn. 6), § 15 Rn. 4.
Abs. 3 („[...] die er für den Arbeitnehmer an einen anderen zu
zahlen hat [...]“) normiert ist.102 Für Abs. 1 ergibt sich dies
aus dem Merkmal des „Vorenthaltens“: Wer nur weiß, dass
er keine Arbeitnehmerbeiträge abführt, hat noch nicht erkannt, dass er diese durch sein Unterlassen auch „vorenthält“,
hinzukommen muss die Kenntnis um die bestehende Rechtspflicht.103 Damit liegt für den Fall des fehlenden Vorsatzes
bezüglich der Rechtspflicht, Beiträge abzuführen, richtigerweise schon kein Vorsatz vor.
Strittig ist ferner, wie mit einem Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft umzugehen ist. Bei dem Arbeitgeberbegriff
handelt es sich um ein normatives Tatbestandsmerkmal, da
seine Auslegung einen Rückgriff auf arbeits- und sozialrechtliche Wertungen erfordert.104 Insoweit ist nach einer Auffassung unter Zugrundelegung der allgemeinen Vorsatz- und
Irrtumsregeln erforderlich, dass der Täter nicht nur das tatsächliche Geschehen richtig erfasst, sondern auch die außerstrafrechtlichen Vorfragen arbeits- und sozialrechtlicher
Natur jedenfalls im Wege einer Parallelwertung in der Laiensphäre zutreffend beantwortet, mithin Kenntnis des entsprechenden Bedeutungsgehalts der Arbeitgeberschaft hat.105
Fehlt es an dieser Bedeutungskenntnis, liegt ein Tatbestandsirrtum vor.106 Nach der Auffassung des BGH handelt es sich
– jedenfalls in den von ihm zu entscheidenden Fällen107 – bei
dem Irrtum über die Arbeitgebereigenschaft um einen unbeachtlichen Subsumtionsirrtum, da der Täter die Umstände
gekannt habe, die zu der sozial- beziehungsweise arbeitsrechtlichen Bewertung geführt hätten.108 Somit forderte der
BGH keine Bedeutungskenntnis, sondern lässt die schlichte
Kenntnis der maßgeblichen Tatsachen genügen, um Vorsatz
anzunehmen. Irrtümer könnten daher allenfalls noch im
Rahmen eines Verbotsirrtums nach § 17 virulent werden, der
aber angesichts der dem Arbeitgeber offen stehenden Möglichkeit eines Statusfeststellungsverfahrens nach § 7a SGB IV
meist vermeidbar sein wird.
VI. Rechtswidrigkeit
Taten nach Abs. 1 und 2 der Vorschrift können nicht durch
eine wirksame Einwilligung des Arbeitnehmers gerechtfertigt
werden, da das geschützte Rechtsgut (das Vermögen des
102
Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a Rn. 16.
Hoyer (Fn. 8), § 266a Rn. 55.
104
Kudlich, ZIS 2011, 483 (488).
105
Kudlich, ZIS 2011, 483 (488); Weidemann, wistra 2010,
463; Saliger (Fn. 7), § 266a Rn. 24.
106
LG Karlsruhe StV 2010, 309 (310 f.); LG Ravensburg StV
2007, 412 (413 f.).
107
Mayer, NZWiSt 2015, 169 (171) geht davon aus, dass der
BGH weiterhin am Erfordernis der Bedeutungskenntnis festhalten wolle und nur in den konkreten Fällen eine Bedeutungskenntnis aufgrund der tatsächlichen Umstände für evident erachtete.
108
BGH NStZ 2010, 337; Wiedner (Fn. 84), § 266a StGB
Rn. 80.
103
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ZJS 2/2016
196
Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt – ein unbekannter Straftatbestand
Sozialversicherungsträgers) nicht zu seiner Disposition
steht.109
Eine Rechtfertigung durch den allgemeinen rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) hängt maßgeblich von der notwendigen Interessenabwägung, wonach bei einer Abwägung
der widerstreitenden Interessen das geschützte Interesse das
beeinträchtigte wesentlich überwiegen müsste (§ 34 S. 1
StGB), ab. Abzuwägen wäre demnach das Interesse des Sozialversicherungsbeitragsaufkommens mit dem Interesse am
Erhalt des Unternehmens beziehungsweise der Arbeitsplätze.
Letztgenanntes Interesse wird allerdings erstgenanntes regelmäßig nicht wesentlich überwiegen, da dem Arbeitnehmer, der seinen Arbeitsplatz verliert, gerade durch die Sozialversicherung sein Lebensunterhalt gesichert wird.110 Überdies wurde für diese Fälle der Abs. 6 geschaffen.111
Als Rechtfertigungsgrund kommt bei Unterlassungsdelikten (hier: §§ 266a Abs. 1, 2 Nr. 2 und Abs. 3 StGB) auch
stets eine rechtfertigende Pflichtenkollision in Betracht. Diese
liegt vor, wenn den Täter zwei Handlungspflichten treffen,
von denen er aber nur eine erfüllen kann.112 Hier kommt es
wiederum darauf an, ob man von einer Gleichrangigkeit der
Verpflichtungen oder von einem Vorrang der Sozialversicherungsbeiträge ausgeht.113 Nach hier vertretener Auffassung
kommt eine rechtfertigende Pflichtenkollision ob der Gleichrangigkeit der Verpflichtungen schon nicht in Betracht, da in
dieser Situation bereits der Tatbestand wegen fehlender
Handlungspflicht ausgeschlossen ist.114 Folgt man dagegen
der Gegenauffassung, so soll die rechtfertigende Pflichtenkollision – insoweit konsequent – nur für die Erfüllung gleichrangiger Verbindlichkeiten gelten.115 Eine gleichrangige
Pflicht liegt allerdings nur dann vor, wenn die Nichterfüllung
der Verbindlichkeit ebenfalls strafbewehrt ist, eine nur zivilrechtliche Handlungspflicht ist nicht ausreichend.116 Damit
verbleibt der rechtfertigenden Pflichtenkollision in der Praxis
nur ein geringer Anwendungsbereich.117
Einen Spezialfall der Pflichtenkollision stellt der Normkonflikt zwischen § 266a StGB und § 64 S. 1 GmbHG118 dar.
Im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers (hier:
GmbH) normiert § 64 S. 1 eine „Masseerhaltungspflicht“:
Der Geschäftsführer darf keine Zahlungen mehr tätigen, die
das Vermögen weiter schmälern würden. Auf der anderen
109
Möhrenschläger (Fn. 10), § 266a Rn. 77; Hoyer (Fn. 8),
§ 266a Rn. 57; Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 93; Perron
(Fn. 7), § 266a Rn. 18; Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 54.
110
Wittig (Fn. 9), § 266a Rn. 35.
111
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 18.
112
Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 18
Rn. 134.
113
Siehe dazu oben unter III. 1. c).
114
Ebenso Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 94.
115
Wittig (Fn. 3), § 22 Rn. 55.
116
BGH NStZ 2004, 283.
117
Saliger (Fn. 7), § 266a Rn. 25 m.w.N.
118
Vergleichbare Regelungen finden sich für den Vorstand
der Aktiengesellschaft in §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG;
zu dem Spannungsverhältnis vgl. auch Groß/Schork, NZI
2004, 358.
STRAFRECHT
Seite steht § 266a StGB, der die Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen bestraft. Für den Geschäftsführer
besteht ein Normenkonflikt: Führt er die Sozialbeiträge ab,
haftet er persönlich nach § 64 S. 1 GmbHG. Wollte er diese
Haftung vermeiden, würde er sich nach § 266a StGB strafbar
machen.
Hinweis zu Fall 2: Folgt man in Fall 2 bei der Streitfrage
der Vorrangigkeit der Ansicht der Rechtsprechung und
gelangt zur Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit, so ist auf
Rechtfertigungsebene eine rechtfertigende Pflichtenkollision zu prüfen. Hier liegt der oben angesprochene Normenkonflikt zwischen § 64 S. 1 GmbHG und § 266a
StGB vor, sodass § 64 S. 1 als Rechtfertigungsgrund greifen könnte.
Nach der Auffassung des 5. Strafsenats und – ihm folgend –
des 2. Zivilsenats des BGH gelte aber auch bei diesem Normenkonflikt grundsätzlich, dass den Sozialabgaben der Vorrang gebühre.119 Kommt der Arbeitgeber daher diesem Vorrang entgegen der Masseerhaltungspflicht nach und begleicht
die fälligen Beiträge, so sei dies mit der „Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns“ im Sinne des § 64 S. 1 Hs. 2 GmbHG
vereinbar und eine persönliche Haftung nach § 64 S. 1
GmbHG scheide demnach aus.120 Ausnahmsweise erkennt
die Rechtsprechung den § 64 S. 1 GmbHG als Rechtfertigungsgrund an, soweit die Tat innerhalb der Drei-WochenFrist des § 15a Abs. 1 InsO begangen wird.121 Nach dieser
Norm haben die Mitglieder des Vertretungsorgans der insolventen Gesellschaft binnen drei Wochen ab Zahlungsunfähigkeit einen Insolvenzantrag zu stellen. Die Rechtsprechung
begreift diesen Zeitraum als Sanierungszeitraum, in dem die
letzte Gelegenheit besteht, die Insolvenz abzuwenden, indem
finanzielle Mittel gesammelt werden.122 Somit sind ihrer
Auffassung nach in dieser Zeit Nichtabführungen nach § 64
S. 1 GmbHG gerechtfertigt.123
Hinweis zu Fall 2: Demnach wäre S in Fall 2 auch nach
Ansicht der Rechtsprechung ausnahmsweise gerechtfertigt, da sie die Tat innerhalb der Frist des § 15a InsO begangen hat.
Diese restriktive Rechtsprechung ist hinsichtlich der Wertung
des § 64 GmbHG bedenklich. Sinn und Zweck dieser Norm
ist unter anderem die Gewährleistung der Masseerhaltung im
Interesse aller Insolvenzgläubiger durch den Geschäftsführer.124 Zu den Insolvenzgläubigern gehören auch die Krankenkassen. Demnach muss § 64 S. 1 GmbHG konsequenter119
BGH NJW 2005, 3650 (3651); BGH NJW 2007, 2118
(2120).
120
BGH NJW 2007, 2118 (2119); BGH NJW 2005, 3650.
121
BGH NJW 2003, 3787; BGH NStZ 2006, 223 (224);
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 17.
122
Vgl. Waszczynski, ZJS 2009, 596 (599).
123
BGH NStZ 2004, 283; BGH NStZ 2006, 223 (224).
124
Haas, in: Baumbach/Hueck (Fn. 65), § 64 GmbHG
Rn. 1a.
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197
DIDAKTISCHE BEITRÄGE
Tobias Wickel
weise auch für die Sozialversicherungsbeitragsforderungen
der Krankenkassen gelten.125 Richtigerweise wäre daher für
den – praktisch höchst seltenen – Fall des beschriebenen
Normenkonflikts von einer rechtfertigenden Pflichtenkollision auszugehen, sodass der Arbeitgeber, der sich an § 64 S. 1
GmbHG hält, hinsichtlich der tatbestandlichen Verwirklichung des § 266a StGB über den von der Rechtsprechung
tolerierten Zeitraum hinaus gerechtfertigt wäre.126
VII. Strafzumessung – § 266a Abs. 4 StGB
Abs. 4 enthält einen – nicht abschließenden – Katalog von
Regelbeispielen, dem lediglich eine indizielle Wirkung zukommt.127 Dabei setzt § 266a Abs. 4 Nr. 1 StGB voraus, dass
der Täter subjektiv aus grobem Eigennutz und objektiv in
großem Ausmaß Beiträge vorenthält. Grober Eigennutz ist
gegeben, wenn sich der Täter bei der Tat in besonders anstößigem Maße vom Streben nach seinem eigenen Vorteil leiten
lässt.128 Ein großes Ausmaß soll vorliegen, wenn der Gesamtschaden sich deutlich von der Schadenshöhe gewöhnlich
vorkommender Fälle abhebt.129 Diskutiert werden konkrete
Beträge zwischen 50.000 €130 und 1 Million €131. Nr. 2 setzt
eine fortgesetzte Beitragsvorenthaltung mittels Verwendung
nachgemachter oder verfälschter Belege voraus. Das Regelbeispiel des § 266a Abs. 4 Nr. 3 StGB entspricht dem des
§ 264 Abs. 2 Nr. 3 StGB und sieht den erhöhten Strafrahmen
für den Fall, dass ein Arbeitgeber, der mit einem missbräuchlich handelnden Amtsträger (kollusiv) zusammenwirkt, vor.
In Betracht kommen auch stets unbenannte Regelbeispiele.
Ausgeschlossen ist indes eine Strafschärfung wegen „Gewerbsmäßigkeit“: Der Gesetzgeber hat auf die Aufnahme
dieses – bei anderen Tatbeständen (so z.B. § 263 Abs. 3 Nr. 1
Var. 1 StGB) durchaus üblichen – Regelbeispiels verzichtet,
da dieses dem Tatbestand des § 266a StGB grundsätzlich
immanent ist.132
125
Waszczynski, ZJS 2009, 596 (599).
So auch Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 95; Brand (GmbHR
2010, 237 [239 ff.] plädiert gegen eine Anwendung des § 64
S. 1 GmbHG und spricht sich stattdessen für eine „konsequente Anwendung des § 34 StGB“ aus, der hier eine Rechtfertigung ermögliche.
127
Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 (255); Radtke
(Fn. 14), § 266a Rn. 108.
128
BGH NStZ 1985, 459; Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 27.
129
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 27; Hadamitzky/Senge, in:
Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Kommentar,
206. Lfg. Stand: Januar 2016, § 370 AO Rn. 88; verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit des Begriffs formuliert der 5. Strafsenat des BGH in NJW 2004,
2990.
130
Lackner/Kühl (Fn. 5), § 266a Rn. 16b.
131
Ignor/Rixen, NStZ 2002, 510 (512 f.).
132
BGH wistra 2007, 307; Steinberg, wistra 2009, 55 (57);
Gercke/Leimenstoll, WiJ 2012, 246 (255).
126
VIII. Absehen von Strafe und persönlicher Strafaufhebungsgrund – § 266a Abs. 6 StGB
§ 266a Abs. 6 StGB sieht eine zweifach gestufte Rücktrittsmöglichkeit vor. Sie dient dem Täter, der die Beitragsentrichtung versäumt hat, als psychischer Anreiz, die Beiträge auch
nachträglich noch zu entrichten.133 Vom Gesetzgeber intendiert ist dabei insbesondere die Situation des sich in einer
temporären Krise befindlichen Klein- oder Mittelstandsbetriebes, dessen Betriebsleiter zum Fälligkeitszeitpunkt die
Zahlung nicht möglich ist, ohne dabei insolvenzgefährdet zu
sein.134 § 266a Abs. 6 StGB ist demnach eine „goldene Brücke“ in die Legalität und der Sache nach an der Selbstanzeige
im Steuerstrafrecht orientiert.135 Auf der ersten Stufe kann
das Gericht gemäß § 266a Abs. 6 S. 1 StGB nach pflichtgemäßem Ermessen von einer Strafe absehen, soweit die Voraussetzungen des S. 1 vorliegen, das heißt, wenn der Täter
zum Fälligkeitszeitpunkt oder unverzüglich danach der Einzugsstelle schriftlich die Höhe der vorenthaltenen Beiträge
mitteilt und die Unmöglichkeit fristgerechter Zahlung trotz
ernsthaften Bemühens darlegt. Die Vorschrift passt jedenfalls
ihrem Wortlaut nach (§ 266a Abs. 6 Nr. 2 StGB: „[...] darlegt, warum die fristgemäße Zahlung nicht möglich ist, [...]“)
nur auf Fälle der omissio libera in causa, da die Unmöglichkeit der Handlungspflicht (hier: Beitragsabführung) bereits
den Tatbestand eines Unterlassungsdelikts ausschließt.136 In
der Praxis hat die Norm somit nur einen äußerst eingeschränkten Anwendungsbereich. Demgemäß wird von einigen Stimmen – dem Zweck des Abs. 6 ensprechend – richtigerweise eine weitergehende Auslegung der Norm gefordert.137
Auf der zweiten Stufe (§ 266a Abs. 6 S. 2 StGB) erlangt
der Täter Straffreiheit, wenn er die vorenthaltenen Beträge,
über die er nach S. 1 Mitteilung gemacht hat, innerhalb einer
ihm von der Einzugsstelle gesetzten angemessenen Frist
entrichtet hat. Die Angemessenheit dieser Frist ist im Strafverfahren zu beurteilen.138 Hierbei handelt es sich um einen
persönlichen Strafaufhebungsgrund.139
IX. Konkurrenzen
In der Praxis wird die Beitragsvorenthaltung regelmäßig für
mehrere Mitarbeiter gegenüber unterschiedlichen Krankenkassen und womöglich gar über mehrere Monate hinweg
begangen, womit die Frage der Konkurrenzen zu klären
bleibt. Werden Sozialversicherungsbeiträge für mehrere Arbeitnehmer, die bei derselben Krankenkasse versichert sind,
hinterzogen, so ist mit der vorherrschenden Auffassung von
133
Saliger (Fn. 7), § 266a Rn. 30.
BT-Drs. 10/318, S. 26.
135
Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 118; Maurach/Schroeder/
Mailwald, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 10. Aufl. 2009,
§ 45 Rn. 70.
136
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 30.
137
So etwa Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 119; Saliger (Fn. 7),
§ 266a Rn. 30.
138
Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 135), § 45 Rn. 70.
139
Perron (Fn. 7), § 266a Rn. 26.
134
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ZJS 2/2016
198
Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt – ein unbekannter Straftatbestand
STRAFRECHT
einer einheitlichen Tat auszugehen.140 Sind die Mitarbeiter
bei verschiedenen Krankenkassen versichert, liegt Tatmehrheit vor.141 Werden Beiträge über mehrere Monate hinweg
vorenthalten, liegt gleichfalls Tatmehrheit vor.142 Was das
Verhältnis von § 266a StGB zu § 263 StGB angeht, so verdrängen Abs. 1 und Abs. 2 den Beitragsbetrug nach § 263
StGB im Wege der Spezialität.143
140
BGH wistra 2007, 307; Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 36;
Gercke (Fn. 34), Kap. 2 Rn. 99; a.A. (Tateinheit) Perron
(Fn. 7), § 266a Rn. 28.
141
BGHSt 48, 307 (314); OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR
1999, 104 (105); Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 36.
142
Fischer (Fn. 6), § 266a Rn. 36.
143
BGH NStZ 2007, 527; Radtke (Fn. 14), § 266a Rn. 101;
Wittig (Fn. 9), § 266a Rn. 50; ausführlich Gercke (Fn. 34),
Kap. 2 Rn. 102 ff. mit Überblick über die Rechtslage vor
Einfügung des Abs. 2.
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199
Fortgeschrittenenklausur: Rast mit Hindernissen
Von Wiss. Mitarbeiter Yannick Diehl, Potsdam*
Die Klausur beschäftigt sich mit zentralen Abgrenzungsfragen im Bereich der Rechtsgutbeeinträchtigung im Deliktsrecht. Besonders anspruchsvoll ist die präzise Unterscheidung des reinen Vermögensschadens von der Eigentumsbeeinträchtigung. Hilfreich sind hier Kenntnisse der Rechtsprechung zum bekannten Fleet-Fall des BGH. Daneben
müssen dem Bearbeiter die wichtigsten Schadensersatzanspruchsgrundlagen aus dem Bereich des Straßenverkehrsrechts bekannt sein, um eine vollständige Falllösung verfassen zu können. Der zugrundeliegende Sachverhalt ist angelehnt an das Urteil des BGH vom 9.12.2014 – VI ZR 155/14.1
Sachverhalt
B ist Transportunternehmer. Er transportiert mit einem ihm
gehörenden Sattelzug schwere Maschinen und Gerätschaften.
Am 8.10.2014 kam es auf der Bundesautobahn (BAB) 5 in
der Nähe der Ausfahrt Ettlingen-Rüppurr zu einem Unfall. B
war mit dem nicht vollständig abgesenkten und infolgedessen
bis in eine Höhe von 4,83 m ragenden Auslegearm eines von
ihm transportierten Baggers gegen eine über die Autobahn
führende Brücke gestoßen. Durch die Kollision wurde die
Brücke so stark beschädigt, dass Einsturzgefahr bestand. Das
betroffene Teilstück der BAB 5 wurde deshalb für mehrere
Tage gesperrt. Im Rundfunk wurde empfohlen, den gesperrten Bereich großräumig zu umfahren. Innerhalb des gesperrten Bereichs befindet sich an der BAB 5 eine Autobahnrastanlage, die von K als Pächter betrieben wird. Sie war aufgrund der Sperrung nicht mehr erreichbar und wurde von K
für die Dauer der Autobahnsperrung geschlossen, wodurch er
einen Gewinnausfall i.H.v. 40.000 € erlitten hat.
Aufgabe 1
Kann K von B diesen Betrag ersetzt verlangen?
Abwandlung
Während des Unfalls befand sich auf der BAB 5 der Lastwagen des T, der auf der Rastanlage des K tanken wollte. Aufgrund der Sperrung war es ihm jedoch nicht möglich, die
Rastanlage anzusteuern. T konnte mit seinem Kraftstoffrest
auch keine andere Tankstelle mehr anfahren und fuhr seinen
Lastwagen daher „trocken“. Erst nach drei Stunden konnte T
von einem Kollegen mit Diesel beliefert werden und seine
Fahrt fortsetzen. Durch die Verspätung konnte er seine Ladung nicht mehr rechtzeitig ausliefern. T verlangt Ersatz für
den ihm dadurch entstandenen Gewinnausfall i.H.v. 1.500 €.
* Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäisches Privatrecht, Internationales Privatund Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung von Prof. Dr.
Götz Schulze an der Universität Potsdam.
1
Die Entscheidung ist abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&az=VI%20ZR%20155/14&n
r=69899 (22.3.2016).
Aufgabe 2
Kann T von B diesen Betrag ersetzt verlangen?
Lösungsvorschlag
A. Vorbemerkungen
Der Sachverhalt ist übersichtlich und stellt keine besonders
hohen Anforderungen an den Gutachtenaufbau. Insoweit
wäre die Fallgestaltung auch für eine Anfängerklausur geeignet. Etwas anspruchsvoller ist es, zu erkennen, dass auch die
§§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG als Anspruchsgrundlagen in
Betracht kommen. Genau wie die Schadensersatzanspruchsgrundlage aus dem Bereich der Produkthaftung (§ 1 ProdHaftG) gehören diese Vorschriften zum Pflichtstoff für das
Staatsexamen. Als lex specialis sind diese Anspruchsgrundlagen als erstes zu prüfen. Daneben sind uneingeschränkt
aber auch die vertraglichen und deliktischen Haftungsansprüche des BGB anwendbar.2
Systematisch muss zudem beachtet werden, wie verschiedene Rechtsgut- bzw. Rechtsbeeinträchtigungen im Rahmen
des § 823 Abs. 1 BGB konkurrenzrechtlich zu behandeln
sind. Eingriffe etwa in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb sind lediglich subsidiär im Gutachtenaufbau zu berücksichtigen.3
In Aufgabe 1 muss zunächst im Rahmen der Prüfung der
§§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG die Beschädigung einer Sache
geprüft werden. Schon hier lauert ein erster Fallstrick: im
Unterschied zu § 823 Abs. 1 BGB verlangen §§ 7 Abs. 1, 18
Abs. 1 StVG ihrem Wortlaut nach keine Beeinträchtigung des
Eigentums oder eines sonstigen Rechtes, sondern lediglich
die Beschädigung einer Sache. Freilich wird der Begriff im
Ergebnis mit identischen Merkmalen wie Eigentum und berechtigter Besitz in § 823 Abs. 1 BGB ausgefüllt.4 Hier stellen sich sodann die ersten Abgrenzungsprobleme zur mittelbaren Beeinträchtigung des Eigentums, die einen Schwerpunkt der Klausur bilden. Spätestens seit der Fleet-Entscheidung5 und den Stromkabelfällen6 des BGH ist anerkannt, dass
die Linie zwischen nicht erfasstem Vermögensschaden und
erfasster Rechtsbeeinträchtigung im Deliktsrecht denkbar
filigran verläuft und im Einzelfall genau bestimmt werden
2
Medicus/Petersen, Bürgerliches Recht, 25. Aufl. 2015,
Rn. 604, 636.
3
Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts Band II/2 Besonderer Teil, 13. Aufl. 1994, S. 543.
4
Looschelders, Schuldrecht Besonderer Teil, 10. Aufl. 2015,
Rn. 1447.
5
BGHZ 55, 153 = NJW 1971, 886. Picker (JZ 2010, 541
[542]) fasst diese Fälle unter der Bezeichnung „Verletzung
des Eigentums durch Vorteilsentzug statt durch Nachteilszufügung“ zusammen, Deliktsrechtlicher Eigentumsschutz
bei Störungen der Sach-Umwelt-Beziehung.
6
BGHZ 29, 65 = NJW 1959, 479; BGHZ 41, 123 = NJW
1964, 720; BGHZ 64, 355 = NJW 1975, 1512; BGHZ 66,
388 = NJW 1976, 1740. Dazu auch Schieman, in: Erman
Kommentar zum BGB, 14. Aufl. 2014, § 823 Rn. 29.
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ZJS 2/2016
200
Fortgeschrittenenklausur: Rast mit Hindernissen
muss.7 Der wichtigste Unterschied der verschiedenen Schadensersatzanspruchsgrundlagen liegt in den divergierenden
Anforderungen an das Verschulden des Haftungspflichtigen.
§ 7 Abs. 1 StVG statuiert eine reine Gefährdungshaftung. Das
Verschulden des Halters beruht auf der Schaffung einer Gefahrenquelle durch die Zulassung eines Kraftfahrzeuges zu
eigenen Zwecken.8 Mit Ausnahme der Einschränkungen in
§ 7 Abs. 2, 3 StVG ist daher auch kein Haftungsausschluss
des Fahrzeughalters möglich.9 Im Gegensatz dazu enthält
§ 18 Abs. 1 StVG eine Verschuldensvermutung mit Exkulpationsmöglichkeit für den Fahrzeugführer, die in ihrer Systematik der des § 831 BGB ähnelt.10
Der Prüfungsschwerpunkt im Rahmen des § 823 Abs. 1
BGB liegt in der Bestimmung des sonstigen Rechts, in das
hier eingegriffen worden ist. Im Gegensatz zu den §§ 7
Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG ist es nicht ausreichend, dass eine
Sache beschädigt wurde, sondern es muss eine Rechts- oder
Rechtsgutsverletzung vorliegen.11
Anspruchsvoller stellt sich die Prüfung des § 823 Abs. 2
BGB i.V.m. einem Schutzgesetz dar. Hier muss gesehen
werden, dass auch die StVO als Schutzgesetz in Betracht
kommt. Problematisch gestalten sich dann die Fragen, welche
Schutzrichtung die StVO verfolgt und ob die Anspruchstellerin überhaupt zum durch die StVO geschützten Personenkreis gehört.
Aufgabe 2 dient noch einmal zur Verdeutlichung der Abgrenzungsprobleme im Bereich des Eingriffs. Hier ist zu
sehen, dass die Nichtbefahrbarkeit einer Straße allein kein
Eingriff in das Eigentum oder ein sonstiges Recht sein kann.
B. Anspruch des K gegen B auf Zahlung von 40.000 €
I. Anspruch aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG
K könnte einen Anspruch gegen B auf Zahlung von 40.000 €
aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG haben.
Hinweis: Im Sachverhalt findet sich die Formulierung,
dass der Sattelzug dem B „gehört“. Es ist daher davon
auszugehen, dass B auch der Halter des Sattelzuges ist
(dazu unten). § 18 Abs. 1 StVG erstreckt die Rechtsfolge
des § 7 Abs. 1 StVG auf den Fahrzeughalter und stellt lediglich andere Anforderungen an das Verschulden. Die
Anspruchsgrundlagen werden daher im Folgenden gemeinsam geprüft.
7
Dazu ausführlich Medicus/Petersen (Fn. 2), Rn. 613;
Looschelders (Fn. 4), Rn. 1209 ff.
8
Kuhn, in: Buschbell, Münchener Anwaltshandbuch Straßenverkehrsrecht, 4. Aufl. 2015, § 23 Rn. 8 f.; Sprau, in:
Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2016, Einf. v.
§ 823 Rn. 11.
9
Dazu Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 622; Medicus/Petersen
(Fn. 2), Rn. 633 f.
10
Siehe zum Ganzen die Übersicht bei Medicus/Petersen
(Fn. 2), Rn. 604 sowie Looschelders (Fn. 4), Rn. 1446.
11
Ausführlich Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 377; Looschelders
(Fn. 4), Rn. 1200 ff.; zu den „sonstigen Rechten“ siehe
Medicus/Petersen (Fn. 2), Rn. 607 ff.
ZIVILRECHT
1. Beschädigung einer Sache
Voraussetzung für den Anspruch ist die Beschädigung einer
Sache. Eine Sache ist jeder körperliche Gegenstand, § 90
BGB. Die Autobahnrastanlage ist eine Sachgesamtheit und
damit ein körperlicher Gegenstand. Sie müsste beschädigt
worden sein. Dies ist der Fall, wenn sie entweder in ihrer
Sachsubstanz nicht unerheblich verletzt wurde oder wenn
ihre bestimmungsgemäße Verwendung durch eine erhebliche
Einschränkung ihrer Brauchbarkeit nicht mehr möglich ist.12
a) Eingriff in die Sachsubstanz
Die Autobahnrastanlage der K könnte durch einen Eingriff in
die Sachsubstanz verletzt worden sein. Dazu ist erforderlich,
dass eine physische Einwirkung auf die Autobahnrastanlage
erfolgte.13 Eine solche liegt allerdings erkennbar nicht vor,
denn die Rastanlage befand sich jederzeit in unverändertem
und unbeeinträchtigtem physischem Zustand. Ein unmittelbarer Eingriff in die Sachsubstanz der Autobahnrastanlage liegt
mithin nicht vor.
b) Beeinträchtigung der Brauchbarkeit/bestimmungsgemäßen
Verwendung
Die Beschädigung einer Sache kann aber auch in der nicht
unerheblichen Beeinträchtigung der Brauchbarkeit bzw. der
Möglichkeit der bestimmungsgemäßen Verwendung liegen.14
Insoweit kann im Rahmen der §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG
auf die Grundsätze zur Beeinträchtigung des Eigentums nach
§ 823 Abs. 1 BGB zurückgegriffen werden.15
aa) Einschränkung der Möglichkeit der Gewinnerzielung
Isoliert betrachtet wurde die Brauchbarkeit der physisch einwandfreien Rastanlage und ihrer Einrichtungen durch den
Unfall nicht beeinträchtigt. Eingeschränkt ist vor allem (auch
aufgrund der Umfahrungsempfehlung im Radio) der Kundenzustrom und damit die Möglichkeit zur Gewinnerzielung.16 Beides reicht allein nicht aus, um eine Einschränkung
der Brauchbarkeit einer Sache anzunehmen. Insoweit ist die
Schutzrichtung der §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG zu beachten:
die Gewinnerzielungsmöglichkeit einer Sache ist lediglich
eine Vermögensbeeinträchtigung und wird daher gerade nicht
vom Integritätsinteresse der K umfasst.17
bb) Einschränkung des berechtigen Besitzes
In Abgrenzung zum reinen Vermögensschaden ist aber auf
den Zuweisungsgehalt der Rechtsposition abzustellen, in die
12
St. Rspr. seit BGHZ 55, 153 = NJW 1971, 886. Siehe auch
BGH NJW 2015, 1174 Rn. 8; Sprau (Fn. 8), § 823 Rn. 7;
Grüneberg, NJW 1992, 945 f.; a.A. Picker, JZ 2010, 541
(546 f.).
13
Schieman (Fn. 6), § 823 Rn. 27 ff.; Larenz/Canaris (Fn. 3),
S. 387; Looschelders (Fn. 4), Rn. 1208.
14
Nachweise siehe Fn. 11.
15
Looschelders (Fn. 4), Rn. 1447.
16
BGH NJW 2015, 1174 (1176 Rn. 19).
17
BGH NJW 2015, 1174 Rn. 8.
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201
ÜBUNGSFÄLLE
Yannick Diehl
eingegriffen wurde.18 Dies ist vorliegend der berechtigte
Besitz des Pächters K an der Rastanlage.19 Dieser umfasst
nicht nur negative Abwehrrechte, sondern auch positive,
rechtsgeschäftlich eingeräumte Nutzungsrechte wie die
Pacht.20 Die Sachbeschädigung kann somit in der erheblichen
Beeinträchtigung der Ausübung des Nutzungsrechts an der
Anlage liegen. Hieran sind enge Anforderungen zu stellen. Es
reicht nicht aus, dass einzelne Zufahrtswege der Anlage aufgrund einer vorübergehenden Störung gesperrt sind und somit der Kundenstrom abreißt.21 Vielmehr muss die Nutzungsmöglichkeit vollständig beseitigt sein.
Die Anlage und alle ihre Zufahrten lagen vorliegend innerhalb des gesperrten Autobahnabschnitts. Da somit nicht
nur die Kunden des K, sondern auch K selbst die Rastanlage
für mehrere Tage nicht erreichen konnte, waren die praktische Inbetriebnahme und jedwede Interaktion mit der Autobahnrastanlage nicht möglich. Damit war die Autobahnrastanlage ihrem bestimmungsgemäßen Gebrauch als Anlaufstelle für den rastwilligen Autobahndurchgangsverkehr und der
betrieblichen oder technischen Nutzung durch K vollständig
entzogen.22
Mithin liegt eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des
Nutzungsrechts an der Autobahnrastanlage vor. Die Autobahnrastanlage wurde somit beschädigt.
2. Kraftfahrzeug/Anhänger
Ein Kraftfahrzeug ist gem. § 1 Abs. 2 StVG jedes Landfahrzeug, dass durch Maschinenkraft angetrieben wird und nicht
an Bahngleise gebunden ist.
Die Zugmaschine eines Sattelzuges, wie ihn der B im vorliegenden Fall zum Transport von Waren nutzte, ist ein solches Kraftfahrzeug. Die Zugmaschine des Sattelzuges ist
auch kein Kraftfahrzeug im Sinne von § 8 Nr. 1 StVG, sodass
18
Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 374; siehe auch Picker, NJW
2015, 2304 (2305).
19
BGH NJW 1981, 750 (751 f.); BGH NJW 2015, 1174
(1175 Rn. 17); Burmann, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker,
Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl. 2014, § 7
StVG Rn. 16.
20
Sprau (Fn. 8), § 823 Rn. 13; Medicus/Petersen (Fn. 2),
Rn. 607.
21
Dann liegt ein reiner Vermögensschaden vor. So z.B. im
Falle eines Hafens, der wasserseitig aufgrund eines Dammbruches von Kunden nicht mehr angelaufen werden kann,
über Land aber weiterhin problemlos erreichbar ist, vgl.
BGHZ 86, 152 (154 f.) = NJW 1986, 152.
22
Im Unterschied zu BGH NJW 2015, 1174 Rn. 3, liegt die
Autobahnraststätte ausdrücklich innerhalb des gesperrten
Teilabschnittes der BAB 5 und kann daher nicht mehr angefahren werden. Der Fall ist daher ganz ähnlich gelagert wie in
BGHZ 55, 153 (159) = NJW 1971, 886 (888). Hier wurde ein
Schiff in einem Fleet so eingeschlossen, dass es nicht mehr
fortbewegt werden konnte. Der BGH begründete die Eigentumsverletzung damit, dass das Schiff als Transportmittel
„praktisch ausgeschaltet“ und seinem bestimmungsgemäßen
Gebrauch entzogen wurde. Siehe auch Sprau (Fn. 8), § 823
Rn. 7; Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 390.
die Haftung nach § 7 Abs. 1 StVG auch nicht ausgeschlossen
ist.
Anders kann es bei dem aufgeladenen Bagger liegen,
wenn dieser auf ebener Bahn nicht schneller als 20 Km/h
fahren kann. Auf den Bagger als Kraftfahrzeug kommt es
indes nicht an, da die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG auf der
Betriebsgefahr eines zugelassenen Fahrzeugs beruht. Ein abgeschlepptes Fahrzeug ist in der Regel jedoch nicht zugelassen, jedenfalls aber im Regelfall nicht versichert. Daher sind
abschleppendes Fahrzeug und abgeschlepptes Fahrzeug als
Betriebseinheit anzusehen.23
Ein Anhänger im Sinne von § 7 Abs. 1 StVG ist jedes
Fahrzeug, dass bestimmt und geeignet ist, hinter einem Kraftfahrzeug mitgeführt und abgeschleppt zu werden, vgl. § 2
Nr. 2 FZV.24 Der Auflieger eines Sattelzuges ist ein solcher
Anhänger. Auch hier kommt es allerdings wiederum auf das
Vorliegen einer Betriebseinheit an (siehe oben).
Mithin liegt in der Betriebseinheit von Zugmaschine,
Bagger und Anhänger ein Kraftfahrzeug vor.
3. Halter/Fahrzeugführer
B müsste Halter (§ 7 Abs. 1 StVG) bzw. Führer (§ 18 Abs. 1
StVG) des Kraftfahrzeuges gewesen sein.
a) B als Fahrzeughalter nach § 7 Abs. 1 StVG
Halter ist, wer die Verfügungsgewalt über das Kraftfahrzeug
oder den Anhänger ausübt und diese auf eigene Rechnung
gebraucht.25 Vorliegend „gehörte“ der Sattelzug dem B.
Demnach übte er die Verfügungsgewalt über Zugmaschine
samt Anhänger aus und gebrauchte sie. Er war damit Halter.
b) B als Fahrzeugführer nach § 18 Abs. 1 StVG
Kraftfahrzeugführer ist, wer das Kraftfahrzeug im Unfallzeitpunkt steuernd in seiner Gewalt hat.26 Der Fahrzeugführer
einer Zugmaschine ist gleichzeitig, jedenfalls solange der
Anhänger mit der Zugmaschine verbunden ist, auch Führer
des Anhängers.27
Vorliegend steuerte der B den Sattelzug über die BAB 5.
Der mit dem Bagger beladene Anhänger war mit der Zugmaschine verbunden. Mithin war der B Führer der gesamten Betriebseinheit von Zugmaschine und Anhänger.
4. Bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs
Die Beschädigung der Autobahnrastanlage müsste bei Betrieb eines Kraftfahrzeuges erfolgt sein.
23
OLG München r+s 2015, 463 Rn. 26; OLG Karlsruhe r+s
2014, 573.
24
Näher Burmann (Fn. 19), § 7 StVG Rn. 4.
25
RGZ 127, 174 (175); BGHZ 13, 351 (354) = NJW 1954,
1198 (1198 f.).
26
Heß, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Kommentar zum
Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl. 2014, § 18 StVG Rn. 3.
27
Heß (Fn. 26), § 18 StVG Rn. 1, 4.
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ZJS 2/2016
202
Fortgeschrittenenklausur: Rast mit Hindernissen
a) Betrieb des Kraftfahrzeuges
Umstritten ist, wann ein Kraftfahrzeug in Betrieb ist. Nach
einer Ansicht ist dies der Fall, solange das Fahrzeug im öffentlichen Verkehr bewegt wird oder in verkehrsbeeinflussender Weise ruht und damit potentiell eine Gefahr für andere
Verkehrsteilnehmer ist.28 Die Betriebseinheit von Sattelzug
und Anhänger befand sich vorliegend auf einer Bundesautobahn und bewegte sich mithin im öffentlichen Verkehr. Zudem hat der Betrieb des Sattelzugs die Unfallentstehung
wesentlich mitgeprägt. Mithin war er auch eine Gefahr für
andere Verkehrsteilnehmer.29 Nach dieser Ansicht war der
Sattelzug des B zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens daher in
Betrieb.
Nach anderer Ansicht kommt es auf die maschinentechnische Prägung des Betriebsbegriffs an.30 Demnach ist ein
Kraftfahrzeug in Betrieb, solange es Motorkräften ausgesetzt
ist und durch diese bewegt wird. Vorliegend wurde der Sattelzug zum Zeitpunkt des Unfalls durch Motorkraft bewegt
und war mithin auch nach dieser Ansicht in Betrieb.
Da beide Ansichten zu identischen Ergebnissen führen, ist
ein Streitentscheid hier nicht erforderlich.
Der Sattelzug des B war zum fraglichen Zeitpunkt in Betrieb.
b) Ursächlicher Zusammenhang/Kausalität
Die Beschädigung der Sache muss kausal auf dem Betrieb
des Kraftfahrzeuges beruhen. Ausreichend ist eine mittelbare
Verursachung des Schadensereignisses durch den Betrieb des
Kraftfahrzeuges oder Anhängers.31 Vorliegend kann der Zusammenstoß von Sattelzug und Brücke nicht hinweggedacht
werden, ohne dass die vorübergehende Nichterreichbarkeit
der Autobahnrastanlage durch die Sperrung des Teilabschnittes der BAB 5 entfiele. Demnach besteht ein ursächlicher
Zusammenhang von Fahrzeugbetrieb und Beschädigung der
Sache.
c) Schutzzweck/Zurechnungszusammenhang
Erforderlich ist darüber hinaus, dass der eingetretene Schaden
vom Schutzzweck der Gefährdungshaftungsnorm des § 7
Abs. 1 StVG erfasst wird.32 § 7 Abs. 1 StVG verfolgt den
Zweck, dem Gefährdungspotential eines zugelassenen Fahrzeugs mit der Verpflichtung des Halters zur Schadloshaltung
des Verkehrs zu begegnen. Da die Norm insoweit einen umfassenden Schutzzweck hat, ist dieses Erfordernis weit auszulegen. Es ist daher ausreichend, dass die eingetretene Beschädigung der Autobahnrastanlage in einem „nahen örtli-
28
Burmann (Fn. 19), § 7 StVG Rn. 7; Looschelders (Fn. 4),
Rn. 1451; Medicus/Petersen (Fn. 2), Rn. 633.
29
BGH NJW 1988, 2802; Burmann (Fn. 19), § 7 StVG Rn. 7
m.w.N. zur Rspr.
30
Burmann (Fn. 19), § 7 StVG Rn. 8; Looschelders (Fn. 4),
Rn. 1451.
31
Looschelders (Fn. 4), Rn. 1450.
32
Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 621.
ZIVILRECHT
chen und zeitlichen Zusammenhang“ mit dem Betrieb des
Kraftfahrzeuges steht.33
Vorliegend sorgte der Betrieb des Sattelzuges für den Unfall unweit der Autobahnrastanlage (siehe oben). Als Folge
trat nur wenig später die Sperrung der BAB 5 und damit die
Nichterreichbarkeit der Autobahnrastanlage ein. Ein naher
örtlicher und zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Betrieb des Sattelzuges und der Nichterreichbarkeit der Autobahnrastanlage besteht somit. Mithin ist die Beschädigung
der Autobahnrastanlage auch vom Schutzzweck des § 7
Abs. 1 StVG erfasst.
5. Verschuldensvermutung/Keine Exkulpation gem. § 18
Abs. 1 S. 2 StVG
§ 7 Abs. 1 StVG statuiert eine Gefährdungshaftung, daher
reicht bereits die Schaffung der Gefahrenquelle zur persönlichen Vorwerfbarkeit der Rechts- bzw. Rechtsgutverletzung
aus. Ein Haftungsausschluss gem. § 7 Abs. 2, 3 StVG kommt
vorliegend nicht in Betracht.
§ 18 Abs. 1 S. 1 StVG enthält dagegen eine Verschuldensvermutung hinsichtlich des Fahrzeugführers. Der Fahrzeugführer kann sich demnach gem. § 18 Abs. 1 S. 2 StVG
exkulpieren, wenn er nachweist, dass ihn im konkreten Fall
kein Verschulden trifft. Vorliegend gelingt die Exkulpation
jedoch nicht, da keine Anhaltspunkte für fehlendes Verschulden vorliegen. Verschulden liegt gem. § 276 Abs. 1 BGB
dann vor, wenn der Schädiger vorsätzlich oder fahrlässig
gehandelt hat. Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt.34 Vorliegend hat B es
versäumt, den Baggerarm vollständig einzufahren. Dies kann
als Fahrlässigkeit im Sinne des § 276 Abs. 1 S. 1 BGB gewertet werden. Mithin handelte der B vermutet und nachgewiesenermaßen schuldhaft.
6. Schaden
Auf Seiten der K müsste ein Schaden entstanden sein. Dieser
ermittelt sich gem. §§ 249 ff. BGB. Vorliegend kommt alleine ein Schaden aus entgangenem Gewinn gem. § 252 S. 1
BGB in Betracht. Dieser umfasst auch versäumte Einnahmen
aus einem Erwerbsgeschäft und liegt hier daher i.H.v.
40.000 € vor.
Dieser Schaden übersteigt die Höchstbeträge der §§ 12
Abs. 1 Nr. 2 und 12a Abs. 1 Nr. 2 StVG nicht und ist daher
auch nicht zu begrenzen.
7. Zwischenergebnis
Der K steht gegen den B ein Anspruch auf Zahlung von
40.000 € gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG zu.
II. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB
K könnte einen Anspruch gegen B auf Zahlung von 40.000 €
aus § 823 Abs. 1 BGB haben.
33
BGH BeckRS 2014, 03817, Rn. 5.
Zum Ganzen siehe Grüneberg, in: Palandt, Kommentar
zum BGB, 75. Aufl. 2016, § 276 Rn. 12 ff.
34
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203
ÜBUNGSFÄLLE
Yannick Diehl
ten und ausgeübten Gewerbebetrieb geprüft wird (etwa
weil die Verletzung des Besitzes zuvor abgelehnt wurde),
ist jedoch zu beachten, dass es vorliegend an der erforderlichen Unmittelbarkeit des betriebsbezogenen Eingriffs
fehlt. Ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB besteht dann
nicht.41
1. Anwendbarkeit
Die Vorschrift des § 823 Abs. 1 BGB ist gem. § 16 StVG
neben den §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG anwendbar.
2. Haftungsbegründender Tatbestand
a) Verletzung eines Rechtsguts oder Rechts
Voraussetzung für das Anspruchsbegehren der K ist, dass sie
in einem Rechtsgut oder einem Recht verletzt wurde.
aa) Eigentum
K könnte in ihrem Eigentum verletzt sein. Voraussetzung
dafür ist, dass der Autobahnrasthof in ihrem Eigentum stand.
Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall, da K lediglich Pächterin des Autobahnrasthofes ist. Mithin liegt keine Eigentumsverletzung vor.
bb) Eingriff in ein sonstiges Recht: Berechtigter Besitz
K könnte in einem sonstigen Recht nach § 823 Abs. 1 BGB
verletzt sein. Fraglich ist, was unter einem sonstigen Recht
im Sinne der Vorschrift zu verstehen ist.
Die K könnte in ihrem berechtigten Besitz aus dem
Pachtvertrag (§ 581 Abs. 1 S. 1 BGB) verletzt sein. Voraussetzung dafür ist, dass der berechtigte Besitz von § 823
Abs. 1 BGB als geschütztes Recht umfasst wird. Neben dem
absoluten Recht des Eigentums werden ausschließlich
Rechtsgüter (Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit) von § 823
Abs. 1 BGB aufgezählt. Daher können nur absolute Rechte
unter den Begriff „sonstiges Recht“ im Sinne von § 823
Abs. 1 BGB fallen. Der Besitz beschreibt indes lediglich das
tatsächliche Herrschaftsverhältnis einer Person zu einer Sache.35 Daher ist der unberechtigte Besitz nicht von § 823
Abs. 1 BGB erfasst.36 Anders ist es sich jedoch, wenn ein
Recht zum Besitz oder wenigstens redlicher Besitz vorliegt.37
Insoweit besteht eine ausreichende Ähnlichkeit zum Eigentumsrecht, sodass der berechtigte Besitz als „sonstiges Recht“
aufzufassen ist.38
Mithin wird der berechtigte Besitz von § 823 Abs. 1 BGB
erfasst. Die K ist auch in ihrem berechtigten Besitz verletzt.
Insoweit ist nämlich auch das Nutzungsrecht des Besitzers
umfasst. Dieses wurde vorliegend gestört (siehe oben). Mithin liegt die erforderliche Verletzung eines Rechts vor.39
Hinweis: Auch ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb kommt an dieser Stelle in Betracht. Ein solcher ist als Auffangtatbestand aber nur subsidiär zu prüfen.40 Soweit der Eingriff in den eingerichte35
Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 396; Looschelders (Fn. 4),
Rn. 1227.
36
Schieman (Fn. 6), § 823 Rn. 43; Larenz/Canaris (Fn. 3),
S. 396.
37
Schieman (Fn. 6), § 823 Rn. 43; Sprau (Fn. 7), § 823
Rn. 13.
38
Schieman (Fn. 6), § 823 Rn. 43; a.A. Larenz/Canaris
(Fn. 3), S. 396.
39
Dazu auch Grüneberg, NJW 1992, 945 (946).
40
BGH NJW 2015, 1174 (1776 Rn. 20 m.w.N. zur Rspr.).
b) Durch Tun/Unterlassen
Die Verletzung des berechtigten Besitzes hat B durch positives Tun herbeigeführt, indem er den Sattelzug gegen die
Brücke steuerte.
c) Haftungsbegründende Kausalität
Der Unfall war darüber hinaus auch adäquate conditio sine
qua non für die Besitzbeeinträchtigung (siehe oben).
d) Rechtswidrigkeit
Bei Vorliegen der haftungsbegründenden Rechtsverletzung
ist die erforderliche Rechtswidrigkeit indiziert.42 Anhaltspunkte für das Vorliegen etwaiger Rechtfertigungsgründe bestehen nicht.
e) Schuld
Die Herbeiführung der Besitzbeeinträchtigung erfolgte in
fahrlässiger Weise (siehe oben).
3. Haftungsausfüllender Tatbestand
Ein ersatzfähiger und zurechenbarer Schaden in Form des
entgangenen Gewinns i.H.v. 40.000 € liegt vor (siehe oben).
4. Zwischenergebnis
Der K steht gegen den B ein Anspruch auf Zahlung von
40.000 € gem. § 823 Abs. 1 BGB zu.
III. Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Schutzgesetz
Der K könnte gegen B ein Anspruch auf Zahlung der
40.000,- Euro aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. einem Schutzgesetz zustehen. Voraussetzung für die Haftung ist, dass der B
gegen ein Schutzgesetz verstoßen hat. Ein solches liegt vor,
wenn es drittschützenden Charakter hat und die geschädigte
Person zum geschützten Personenkreis gehört.43 In Betracht
kommen vorliegend Vorschriften der StVO.
1. Vorliegen eines Gesetzes
Dann müsste die StVO Schutzgesetz im Sinne des § 823
Abs. 2 BGB sein. Gem. § 2 EGBGB umfasst der Begriff des
Gesetzes jede Rechtsnorm. Hierunter fallen auch Verordnun-
41
BGH NJW 2015, 1174 (1176 Rn. 20); Schieman (Fn. 6),
§ 823 Rn. 63; Grüneberg, NJW 1992, 945 (946); Larenz/
Canaris (Fn. 3), S. 540.
42
Schieman (Fn. 6), § 823 Rn. 146; Sprau (Fn. 8), § 823
Rn. 25.
43
Schieman (Fn. 6), § 823 Rn. 157; Sprau (Fn. 8), § 823
Rn. 56; Coester-Waltjen, Jura 2002, 102 f.
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ZJS 2/2016
204
Fortgeschrittenenklausur: Rast mit Hindernissen
gen.44 Mithin ist die StVO ein Gesetz im Sinne des BGB.
Vorliegend kommen Verstöße des B gegen §§ 18 Abs. 1 S. 2;
22 Abs. 2 S. 1; 23 Abs. 1 S. 2; 29 Abs. 3 S. 1; 1 Abs. 2 StVO
in Betracht.
2. Schutzcharkter der StVO
Fraglich ist indes, ob die StVO auch Schutzgesetz im Sinne
von § 823 Abs. 2 BGB ist.
a) Sachlicher Schutzbereich
Dazu ist erforderlich, dass die Vorschriften, gegen die verstoßen wird, drittschützenden Charakter haben. Dies trifft auf
die fraglichen Vorschriften zu, wenn sie zumindest auch den
Schutz eines bestimmten Personenkreises bezwecken.45 Dies
ist für die Straßenverkehrsregeln der StVO jedenfalls hinsichtlich der anderen Verkehrsteilnehmer grundsätzlich der
Fall.46
b) Persönlicher Schutzbereich
Fraglich ist allerdings, ob die K im konkreten Fall auch persönlich durch das Schutzgesetz geschützt wird. Insoweit ist
zu unterscheiden: Das Vermögen wird durch die Schutzvorschriften der StVO grundsätzlich nicht geschützt.47 Allenfalls
werden die Rechtsgüter und Rechte anderer Personen und die
Sicherheit des Verkehrs im öffentlichen Interesse geschützt.
Es fragt sich daher, ob die geltend gemachten verletzten
Rechtsgüter der K vom Schutzbereich der Vorschriften der
StVO erfasst werden.48 Dazu ist eine Gesamtbetrachtung des
Einzelfalles im System des Haftungsrechts erforderlich. § 1
Abs. 2 StVO schützt dem Wortlaut nach („Anderer“) die
Integritätsinteressen eines unbestimmt großen Personenkreises. Jedenfalls erfasst sind alle anderen Verkehrsteilnehmer.49
Darüber hinaus können aber auch andere, mittelbar durch den
Gesetzesverstoß in ihren Rechten verletzte Personen geschützt sein.50 Der BGH hat anerkannt, dass der Eigentümer
eines Fahrzeugs auch in seinem Eigentum nach § 1 Abs. 2
StVO geschützt ist.51 Nichts anderes kann für ein Gebäude
gelten, das direkt an der Autobahn gelegen ist und daher dem
besonders schnell fließenden Autoverkehr ständig ausgesetzt
ist.
Jedenfalls über § 1 Abs. 2 StVO fällt der berechtigte Besitz der K an der Autobahnrastanlage daher auch in den persönlichen Schutzbereich des § 823 Abs. 2 BGB.
44
Larenz/Canaris (Fn. 3), S. 433; Looschelders (Fn. 4),
Rn. 1282; Coester-Waltjen, Jura 2002, 102.
45
Sprau (Fn. 8), § 823 Rn. 58; Coester-Waltjen, Jura 2002,
102 (103).
46
Coester-Waltjen, Jura 2002, 102 (103).
47
BGH NJW 2015, 1174 (1775 Rn. 13 m.w.N. zur Rspr.).
48
Coester-Waltjen, Jura 2002, 102 (103).
49
Über diesen Personenkreis hinaus offenlassend BGH
VersR 1972, 1072 (1073). Vgl. auch BGH NJW 2013, 1679
(1680 Rn. 13).
50
BGH VersR 1972, 1072 (1073).
51
BGH VersR 1972, 1072 (1073).
ZIVILRECHT
Gegen § 1 Abs. 2 StVO hat der B auch verstoßen, indem
er den Baggerarm nicht vollständig einfuhr. Mithin liegt hier
die Verletzung eines Schutzgesetzes vor.
Hinsichtlich der weiteren Anspruchsvoraussetzungen,
insbesondere derer des haftungsausfüllenden Tatbestandes,
kann nach oben verwiesen werden.
3. Zwischenergebnis
Der K steht gegen B auch ein Anspruch auf Zahlung von
40.000,- Euro nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1 Abs. 2
StVO zu.
IV. Ergebnis
Der K steht gegen B ein Anspruch auf Zahlung von 40.000 €
gem. §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1 BGB und
§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 1 Abs. 2 StVO zu.
C. Anspruch auf Zahlung von 1.500 €
In Betracht kommt ein Anspruch des T gegen den B auf Ersatz des entgangenen Gewinns i.H.v. 1.500 €.
Die möglichen Anspruchsgrundlagen entsprechen den bereits oben, Aufgabe 1, erläuterten. Fraglich und problematisch ist allein, ob hier die Beschädigung einer Sache bzw. ein
Eingriff in das Eigentum vorliegt.
I. Eingriff in Sachsubstanz
Auch in der Abwandlung liegt kein Eingriff in die Sachsubstanz vor, da keine physische Einwirkung auf den Lastwagen
erfolgt ist.
II. Beeinträchtigung der Brauchbarkeit/bestimmungsgemäßen Verwendung
In Betracht kommt wiederum allein die Beschädigung der
Sache bzw. ein Eingriff in das Eigentum durch die Beeinträchtigung der Brauchbarkeit bzw. der bestimmungsgemäßen Verwendung des LKW durch die Nichtbefahrbarkeit der
BAB 5. Indes ist der LKW des T vollständig intakt und auch
brauch- und verwendbar. Dass die Notwendigkeit der Befüllung des Tanks besteht und auf dem vorgesehenen Autobahnteilabschnitt nicht möglich ist, ist für die Integrität des
Eigentums des T unerheblich, denn insoweit fehlt es an einem Eingriff in den Zuweisungsgehalt eines Rechts des T.
Dem T war es schließlich lediglich nicht möglich, eine ganz
bestimmte Straße zu befahren. Das Nutzungsrecht am LKW
war hier aber uneingeschränkt gewährleistet.
Im Ergebnis macht T daher einen reinen Vermögensschaden geltend. Ein solcher wird von §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1
StVG; § 823 Abs. 1 BGB nicht gewährleistet.
Auch ein Schadensersatzanspruch gem. § 823 Abs. 2
BGB i.V.m. § 1 Abs. 2 StVO besteht nicht. Insoweit wird der
Vermögensschaden des T nicht vom Schutzzweck der StVO
umfasst: Ein Anspruch auf Ersatz eines Vermögensschadens
aufgrund von mangelnder Befahrbarkeit eines einzelnen
Straßenabschnittes besteht nicht. Lediglich der fließende
Straßenverkehr soll im öffentlichen Interesse vor Störungen
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205
ÜBUNGSFÄLLE
Yannick Diehl
geschützt werden. Individuelle Vermögensinteressen sind
von diesem Schutzzweck daher nicht erfasst.52
III. Ergebnis
T hat gegen B keinen Anspruch auf Schadensersatz.
52
BGH NJW 2015, 1174 (1175 Rn. 13).
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206
Fortgeschrittenenhausarbeit: Profit, Moral und die rechtlichen Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1*
Von Prof. Dr. Christoph Herrmann, LL.M., Wiss. Mitarbeiter Herbert Rosenfeldt, Passau**
Die anspruchsvolle und umfangreiche Hausarbeit beschäftigt
sich aus zweierlei Perspektive mit dem Recht der Kriegswaffenexportkontrolle. Der erste, staatsrechtlich bestimmte Teil
fordert die Bearbeitenden dazu auf, die verfassungsrechtlichen Grenzen einer verschärften Exportkontrolle in der prozessualen Einkleidung einer unionsrechtlich modifizierten
Verfassungsbeschwerde zu eruieren. In der Begründetheit
sind die Reichweite der Berufsfreiheit und die Prüfung des
Art. 26 Abs. 2 GG i.V.m. dem Gewaltenteilungsgrundsatz
(dazu maßgeblich BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11)
von besonderem Gewicht. Im zweiten Teil werden anhand
einer verweigerten Ausfuhrgenehmigung nach KrWaffKG der
systematische Umgang mit unbekannten Normen eingeübt
und Grundsätze des Verwaltungs(prozess)rechts wie der
Ermessensfehlerlehre wiederholt. Dabei ist ebenfalls auf
unionale Grundfreiheiten und Grundrechte einzugehen. Beide Teile der Hausarbeit lassen sich getrennt auch als eigenständige Examensklausuren mittleren Schwierigkeitsgrades
bearbeiten.
Sachverhalt
Inmitten einer öffentlichen Diskussion über die Beteiligung
von Unternehmen an Rüstungsexporten in den Nahen Osten,
darunter auch an Staaten mit mangelhaften Demokratie- und
Menschenrechtsbilanzen, werden Stimmen lauter, die einen
stärkeren deutschen Beitrag zur globalen Friedenspolitik
fordern. Anlässlich zahlreicher gewaltsam ausgetragener
Konflikte und politischer Umstürze dürften deutsche Kriegswaffen nicht in falsche Hände geraten. Zu erreichen sei dies
nur durch eine restriktivere Genehmigungspraxis unter Zurückstellung der wirtschaftlichen Interessen kriegswaffenproduzierender Unternehmen. Eine stärkere Einbindung des
Parlaments stelle politische Verantwortlichkeit her und sichere die erforderliche demokratische Kontrolle über Kriegswaffenexporte aus der Bundesrepublik Deutschland. Diese Argumente macht sich die im Bundestag vertretene oppositionelle X-Fraktion zu Eigen und legt einen Gesetzesentwurf
vor, der die Einrichtung eines parlamentarischen Kriegswaffen-Kontrollausschusses (KWKA) vorsieht.
Die Bundesregierung steht dem Gesetzesvorhaben kritisch gegenüber. Ein KWKA beschränke den Handlungsspielraum der Bundesregierung in verfassungswidriger Weise, da
* Aufgrund des Umfangs der Hausarbeit war eine Auftrennung in zwei Teile erforderlich. Der Lösungsvorschlag zu
dem 2. Teil des Sachverhalts folgt in der im Juni erscheinenden Ausgabe 3/2016.
** Der Autor Herrmann ist Inhaber des Lehrstuhls für Staatsund Verwaltungsrecht, Europarecht, Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Passau; der
Autor Rosenfeldt ist wiss. Mitarbeiter ebendort. Die Hausarbeit wurde im Rahmen der Übung im Öffentlichen Recht für
Fortgeschrittene im Wintersemester 2015/16 an der Juristischen Fakultät der Universität Passau gestellt.
Art. 26 Abs. 2 GG die Kriegswaffenexportkontrolle in den
Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung stelle. Nur so
seien die Sicherheitsinteressen Deutschlands und seiner internationalen Partner sowie die Beziehungen zu Empfängerstaaten, die auf Vertraulichkeit, schneller Entscheidungsfindung und hochpolitischen Erwägungen basierten, ausreichend
geschützt. Außerdem sei das Gremium seinerseits undemokratisch, weil nur ein Bruchteil der Bundestagsabgeordneten
darin mitwirken könne.
Der Gesetzesentwurf wird durch die X-Fraktion in den
Bundestag eingebracht. Im Rahmen der ordnungsgemäßen
Beratungen führt die X-Fraktion aus, eine strengere Waffenexportkontrolle diene der Verhinderung verbotener Angriffskriege und fördere den Weltfrieden und die internationale
Sicherheit im Sinne der Charta der Vereinten Nationen (UNCharta). Der Entscheidungsbefugnis der Bundesregierung
stehe ein KWKA nicht entgegen. Entscheidungen seien ohnehin nach § 6 Abs. 3 Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffG)
gebunden zu treffen. Der nachgeschaltete KWKA ergänze
das Verfahren sinnvoll, indem er als parlamentarisches Gremium die Rechtmäßigkeit der Verwaltung überprüfe und die
Entscheidung demokratisch legitimiere.
Mit dieser Argumentation überzeugt die X-Fraktion das
Plenum im Bundestag. Das Gesetz wird daraufhin mit 450
Stimmen bei 121 Gegenstimmen und 35 Enthaltungen beschlossen. Nachdem das Gesetz unverzüglich dem Bundesrat
weitergeleitet worden ist, beschließt dieser mit zwei Dritteln
der Stimmen seiner Mitglieder seine Zustimmung. Nach
ordnungsgemäßer Gegenzeichnung und Ausfertigung wird
das Gesetz am 16.6.2015 im Bundesgesetzblatt mit folgendem Wortlaut verkündet:
Gesetz zur Änderung des Kriegswaffenkontrollgesetzes
(KrWaffGÄndG)
Art. 1 Änderung des Kriegswaffenkontrollgesetzes (KrWaffG)
1. Nach § 10 KrWaffG wird folgender § 10a KrWaffG eingefügt:
㤠10a KrWaffG: Weiterleitung und Inkrafttreten der Genehmigung
(1) Die Genehmigung wird von den Genehmigungsbehörden
unverzüglich nach ihrer Erteilung an den KriegswaffenKontrollausschuss weitergeleitet. Die entsprechende Begründung und eine vollständige Abschrift des Antrags sind beizufügen.
(2) Die Genehmigung tritt zwei Wochen nach ihrer Erteilung
durch die Genehmigungsbehörden in Kraft, soweit der
Kriegswaffen-Kontrollausschuss der Genehmigung nicht
widersprochen hat. Widerspricht der Kriegswaffen-Kontrollausschuss der Genehmigung, gilt diese als nicht erteilt.
(3) Der Kriegswaffen-Kontrollausschuss kann der Genehmigung innerhalb der Frist des Abs. 2 S. 1 widersprechen, soweit
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207
ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
1. ein Vorhaben in Hinblick auf das Empfängerland, das
Rüstungsgut oder den Geschäftsumfang von besonderer Bedeutung ist und
2. ein Versagungsgrund nach § 6 Abs. 3 gegeben ist.
Ein Ausfuhrvorhaben ist insbesondere von besonderer Bedeutung, wenn der Bundessicherheitsrat mit dem Vorhaben
befasst wurde.“
2. Nach § 11 KrWaffG wird folgender § 11a KrWaffG eingefügt:
㤠11a KrWaffG: Kriegswaffen-Kontrollausschuss
(1) Der Bundestag bestellt einen Kriegswaffen-Kontrollausschuss zu dem Zweck, die nach §§ 2 bis 4a und § 6 erteilten
Genehmigungen zu überprüfen.
(2) Der Ausschuss setzt sich aus den Vorsitzenden und den
stellvertretenden Vorsitzenden der bestehenden Ausschüsse
für Auswärtiges, für Menschenrechte und humanitäre Hilfe,
für Verteidigung und für Wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung sowie höchstens fünf zusätzlichen Mitgliedern zusammen. Die Fraktionen benennen zusätzliche Mitglieder, soweit dies erforderlich ist, um das Stärkeverhältnis
der einzelnen Fraktionen besser abzubilden.
(3) Zu einem Beschluss des Ausschusses über einen Widerspruch nach § 10a Abs. 3 ist eine Mehrheit von mindestens
zwei Dritteln der Stimmen der Ausschussmitglieder erforderlich, im Übrigen die Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder.
Der Ausschuss gibt sich eine Geschäftsordnung.“
1. Teil
Die K-KG will nicht abwarten, bis sie wirtschaftliche Einbußen erleidet, die – was zutrifft – sicher zu erwarten seien und
sich im Waffenexportsektor bereits aus der abschreckenden
Wirkung eines zusätzlichen parlamentarischen Kontrollgremiums ergäben. Die K-KG beruft sich dabei auf den grundgesetzlichen Schutz wirtschaftlichen Tätigwerdens und den
aus ihrer Sicht jedenfalls bestehenden Anspruch auf ein
rechtmäßiges Genehmigungsverfahren im Einzelfall.
Sie erhebt am 18.6.2015 formgerecht Verfassungsbeschwerde gegen das KrWaffGÄndG. In der mündlichen Verhandlung wendet der Bevollmächtigte des Bundestages ein,
die K-KG müsse erst eine ablehnende Entscheidung im Einzelfall abwarten, bevor sie die Angelegenheit verfassungsgerichtlich klären lassen könne. Der gegen Art. 1 Abs. 2,
Art. 26 Abs. 1 GG verstoßende Kriegswaffenexport trete
jedenfalls hinter der Schutzpflicht des Staates gegenüber den
Opfern gewaltsamer Konflikte zurück und genieße keinen
Grundrechtsschutz. Der stehe der ausländischen K-KG ohnehin nicht zu. Berechtigten Geheimhaltungsinteressen könne
Rechnung getragen werden, indem der Ausschuss Gegenstände zur Verschlusssache (VS) mit hohem Geheimhaltungsgrad erkläre. Hilfsweise bekräftige schon die hohe Zustimmung zu dem Gesetzesbeschluss dessen Verfassungsmäßigkeit – ein derartiges Quorum erhebe das KrWaffGÄndG
in den Rang eines verfassungsändernden Gesetzes.
Art. 2 Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft.
2. Teil
Noch bevor das KrWaffGÄndG im Bundestag beraten wurde,
hatte die K-KG eine Voranfrage zur Einzelgenehmigungsfähigkeit für den beabsichtigten Transport von 50 Stück Bruno
3B8+ zum Zwecke des Exports nach Saudi-Arabien an das
Auswärtige Amt gerichtet. Den Transport aus der Produktionsstätte bei München nach Saudi-Arabien wollte die K-KG
selbst besorgen. Am 10.6.2015 hatte das Auswärtige Amt der
K-KG mitgeteilt, dass die Bundesregierung eine Genehmigung der Ausfuhr in Aussicht stelle, soweit sich die Umstände bis zum Zeitpunkt der Stellung des konkreten Antrags
nicht wesentlich ändern würden.
Auf Grundlage eines am 19.6.2015 formell ordnungsgemäß gestellten Antrags der K-KG auf Genehmigung nach § 3
Abs. 3 und 2 KrWaffG berät der Bundessicherheitsrat (BSR)
über das Ausfuhrvorhaben. Die daraufhin erteilte Genehmigung der Bundesregierung wird der K-KG am 22.6.2015
zugestellt. Darin heißt es zutreffend, das Ausfuhrvorhaben sei
zwar in Hinblick auf das Empfängerland von besonderer
Bedeutung, zwingende Versagungsgründe nach Art. 6 Abs. 3
KrWaffG lägen aber nicht vor. Auch das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) erteilt nach Vorlage an die Bundesregierung am 24.6.2015 eine Ausfuhrgenehmigung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 Außenwirtschaftsverordnung (AWV). Der neu konstituierte KWKA hingegen widerspricht mit der K-KG am 2.7.2015 zugestelltem Schreiben
der nach § 3 Abs. 3 und 2 KrWaffG beantragten Einzelgenehmigung. Nach zahlreichen kritischen öffentlichen Berichterstattungen widerruft die Bundesregierung am 9.7.2015 ihre
Genehmigung mit dem Hinweis darauf, dass die öffentliche
Meinung derart in den Abwägungsvorgang einzustellen war,
Die K-KG ist ein österreichisches Rüstungsunternehmen mit
Sitz in Wien, das gesetzlich von österreichischen Komplementären vertreten wird. Es produziert und vertreibt vorrangig militärische Rad- und Kettenfahrzeuge sowie Pioniergeräte. Ein erfolgreiches Exportprodukt in zahlreiche Staaten
des Nahen Ostens ist der innovative Kampfpanzer „Bruno
3B8+“ der K-KG, der in einer deutschen Produktionsstätte
der K-KG bei München hergestellt wird und dessen Vertrieb
mittlerweile mehr als die Hälfte des Jahresumsatzes des Unternehmens ausmacht. Die K-KG befürchtet durch die Gesetzesänderung erhebliche Umsatzeinbußen bis hin zu einer
Bestandsgefährdung, da zu erwarten sei, dass Abwägungsentscheidungen regelmäßig zu Lasten der Wirtschaft getroffen
würden, wenn die öffentliche Meinung gegen ein entsprechendes Geschäft sei. Die Kontrolle durch die Bundesregierung reiche völlig aus. Genehmigte Geschäfte würden im
öffentlich zugänglichen Rüstungsexportbericht der Bundesregierung Erwähnung finden. Ein zusätzliches entscheidungsbefugtes Gremium wie der KWKA schränke die K-KG
in ihrer Privatautonomie und der Vertraulichkeit von Betriebsgeheimnissen ein, da transparent werde, mit welchen
Partnern man welche Verträge schließe. Die Weitergabe
vertraulicher Daten und deren Verbreitung sei ein hohes
geschäftliches und politisches Risiko. Auf Diskretion bedachte Staaten würden allein deswegen weniger nachfragen.
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ZJS 2/2016
208
Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT
dass der Widerruf dieses sensiblen Waffenexports nunmehr
im gesamtstaatlichen Interesse der BRD liege und das Geschäftsinteresse der K-KG überwiege. Die K-KG habe zudem
ohnehin keinen ausreichenden Deutschlandbezug im Sinne
des KrWaffG.
Die K-KG hält weiterhin an dem Exportvorhaben fest. Ihre Rechtsabteilung teilt dies auf Anfrage der Bundesregierung
in einem ausführlichen Schreiben unter erneuter Antragstellung mit. Darin heißt es, der Widerruf sei nach dem Widerspruch des KWKA jedenfalls rechtswidrig. Ferner sei die
Genehmigungsbedürftigkeit als solche nicht mit der allgemeinen Ausfuhrfreiheit nach Art. 1 der Verordnung (EU)
2015/479 zu vereinbaren. Außerdem habe das BAFA den
Export bereits genehmigt. Hilfsweise ergebe sich der Anspruch auf Genehmigungserteilung aus der Bindungswirkung
der positiven Voranfrage, den EU-Grundfreiheiten und den
wirtschaftlichen Grundrechten der K-KG. Die Bundesregierung lehnt den erneuten Antrag unter inhaltlicher Bezugnahme auf den erfolgten Widerruf ab. Überdies hätten positive
Voranfragen keine Bindungswirkung. Die Grundfreiheiten
seien ohnehin nicht anwendbar, weil sie nur innerhalb der
Europäischen Union, nicht aber für die Ausfuhr in Drittstaaten gälten. Außerdem fänden nationale Sicherheitsinteressen
über Art. 346 AEUV auch unionsrechtliche Berücksichtigung.
Die K-KG erhebt daraufhin beim zuständigen Verwaltungsgericht formgerecht am 16.7.2015 Klage gegen die
Bundesregierung mit den folgenden Anträgen:
1. Der Bescheid der Beklagten vom 9.7.2015 wird aufgehoben.
2. Hilfsweise: Es wird festgestellt, dass die Klägerin zu
der Ausfuhr von 50 Stück des Kampfpanzers „Bruno 3B8+“
in das Königreich Saudi-Arabien keiner Ausfuhrgenehmigung der Beklagten bedarf.
3. Höchst hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, der
Klägerin nach Maßgabe der Vorschriften des KrWaffG eine
Ausfuhrgenehmigung, berechtigend zum Transport von 50
Stück des Kampfpanzers „Bruno 3B8+“ zum Export in das
Königreich Saudi-Arabien, zu erteilen.
Vermerk für die Bearbeiter
Die folgenden Fragen sind in der vorgegebenen Reihenfolge
zu bearbeiten:
1. Die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde der
K-KG sind gutachtlich zu prüfen. Dabei ist auf alle aufgeworfenen Rechtsprobleme – notfalls hilfsgutachtlich – einzugehen.
2. Die Erfolgsaussichten des verwaltungsgerichtlichen
Vorgehens der K-KG sind gutachtlich zu prüfen. Dabei ist
von der bundesverfassungsgerichtlich festgestellten Verfassungswidrigkeit des KrWaffGÄndG und von der Verfassungsmäßigkeit des KrWaffG im Übrigen auszugehen. Die
Ausführungen zu den Anträgen Nr. 2 und Nr. 3 sind auf Fragen der Statthaftigkeit und der Begründetheit zu beschränken.
Hinweise
Der aktuelle Bundestag hat 631 Mitglieder. Kampfpanzer
„Bruno 3B8+“ fällt unter die Kriegswaffenliste (Anlage zum
KrWaffG), unter Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste (Anlage
AL zur Außenwirtschaftsverordnung) und unter die Liste des
Rates vom 15.4.1958 nach Art. 346 Abs. 2 AEUV.
Auf die für einen Genehmigungsantrag erforderlichen
Angaben nach § 4 der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen
(KrWaffG) wird hingewiesen. Auf die Durchführungsverordnungen zum KrWaffG ist im Übrigen nicht einzugehen.
Auf die VO (EG) Nr. 428/2009, die Richtlinie
2009/43/EG, den Gem. Standpunkt 2008/944/GASP und den
Kriegswaffenexport regelndes sonstiges Völkerrecht ist nicht
einzugehen.
Es ist davon auszugehen, dass die Entscheidungen der
Bundesregierung im Einklang mit den Politischen Grundsätzen der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen
und sonstigen Rüstungsgütern vom 19.1.2000 stehen. Die
Verfassungsmäßigkeit des BSR ist nicht zu thematisieren.
Auf die Praxis der deutschen Rüstungsexportkontrolle –
nicht deren rechtliche Bewertung –, dargestellt im Rüstungsexport 2014 der Bundesregierung (S. 8 f.), abrufbar unter
http://www.bmwi.de/DE/Themen/Aussenwirtschaft/ruestungs
exportkontrolle,did=716882.html (9.3.2016) wird hingewiesen.
Lösungshinweise1
1. Teil: Verfassungsbeschwerde
Die Verfassungsbeschwerde der K-KG hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Zuständigkeit
Das Bundesverfassungsgericht ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a
GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG für Verfassungsbeschwerden zuständig.
II. Antragsberechtigung des Beschwerdeführers
Jedermann, d.h. zuvorderst natürliche, aber auch juristische
Personen, sind nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1
BVerfGG antragsberechtigt bzw. beschwerdefähig mit der
Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in ihren Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein.
Dazu müsste die K-KG überhaupt Träger dieser Rechte sein.
Dies wäre der Fall, wenn die K-KG eine inländische juristische Person wäre, auf die Grundrechte ihrem Wesen nach
anwendbar wären (Art. 19 Abs. 3 GG). Als juristische Person
1
Bearbeiter sollten die Aufgabenstellung und die zusätzlichen Hinweise beachten und auf formale Vollständigkeit
(Gutachten, Hilfsgutachten; auf höheren Gliederungsebenen
und bei problematischen Prüfungspunkten jeweils Obersätze,
Definitionen, Subsumtionen und Ergebnissätze) achten.
Ebenso wichtig ist eine konsequente Bearbeitung, etwa dass
sich der Ergebnissatz im Anschluss an das Hilfsgutachten
nach dem Ergebnis des Hauptgutachtens richtet. Die Beantwortung der beiden Fallfragen sollte gleiches Gewicht beigemessen werden.
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209
ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
kann sie sich jedenfalls auf die Prozessgrundrechte (Art. 101
Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1 GG) berufen.
1. Erfordernis einer inländischen juristischen Person
Der Wortlaut des Art. 19 Abs. 3 GG fordert allerdings eine
inländische juristische Person. Eine solche hat – unabhängig
von ihrem Organisationsstatut – ihren effektiven Sitz, das
Zentrum ihrer Aktionen, in Deutschland.2 Die K-KG unterhält lediglich eine Produktionsstätte im Inland. Sie hat ihren
Verwaltungssitz in Österreich und jedenfalls weitere Produktionsstätten außerhalb Deutschlands. Es handelt sich mithin
nicht um eine inländische juristische Person. Der Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz steht ihr damit grundsätzlich nicht zur Verfügung.
2. Unionsrechtlich gebotene Korrektur
Etwas anderes könnte jedoch in Hinblick auf die Zugehörigkeit der K-KG zu einem anderen EU-Mitgliedstaat gelten.
Als solche kann sich die K-KG auf das unionsrechtliche
Diskriminierungsverbot nach Art. 18 Abs. 1 AEUV, der am
Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor allen nationalen
Bestimmungen teilhat,3 berufen, wenn die Schlechterstellung
gemäß Art. 18 Abs. 1 AEUV im Anwendungsbereich der
Unionsverträge erfolgt. Dieser Anwendungsbereich ist weit
zu ziehen und umfasst alle Sachverhalte, die von den Tatbeständen einer Norm des Unionsrechts in irgendeiner Weise
erfasst werden.4 Die K-KG kann sich in ihrem wirtschaftlichen Tätigwerden in und aus einem anderen EU-Mitgliedstaat hinaus möglicherweise auf EU-Grundfreiheiten, insbesondere auf die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28, 34 AEUV)
und die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) berufen.
Diese unionsrechtlich begründeten Gewährleistungen müssen
in ihren mitgliedstaatlichen Ausprägungen allen Unionszugehörigen diskriminierungsfreie Schutzmechanismen zur Verfügung stellen. Insofern steht der Schutz der Berufsfreiheit
nach deutschem Recht in einem engen Zusammenhang mit
den EU-Grundfreiheiten und fällt in den Anwendungsbereich
der Verträge im Sinne des Art. 18 Abs. 1 AEUV.5 Juristische
Personen aus allen EU-Mitgliedstaaten, und damit auch die
K-KG, müssen sich zu gleichen Bedingungen darauf berufen
können.
3. Ergebnis zu II.
Eine – auch entstehungsgeschichtlich schwer vertretbare –6
europarechtskonforme Auslegung des Art. 19 Abs. 3 GG
scheitert an der Wortlautgrenze. Die Schlechterstellung von
juristischen Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten gegenüber inländischen juristischen Personen bedarf daher einer
unionsrechtskonformen Erweiterung.
Danach findet Art. 19 Abs. 3 GG entgegen dem Wortlaut
auch auf juristische Personen anderer Mitgliedstaaten und
damit auch auf die K-KG Anwendung.7
III. Prozessfähigkeit
Die K-KG kann selbst Prozesshandlungen nicht wirksam
vornehmen, wird allerdings durch ihre nach österreichischem
Recht zu bestimmenden gesetzlichen Vertreter, für die K-KG
ihre vertretungsbefugten Komplementäre, prozessfähig.
IV. Beschwerdegegenstand
Zulässiger Beschwerdegegenstand ist gem. Art. 93 Abs. 1
Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen
Gewalt, nämlich der Legislative, der Exekutive oder der
Judikative (Art. 1 Abs. 3 GG). Darunter fallen unzweifelhaft
Gesetzgebungsakte des Bundesgesetzgebers wie vorliegend
das KrWaffGÄndG.
Es handelt sich damit um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde.
V. Beschwerdebefugnis
Die K-KG ist gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG beschwerdebefugt, wenn sie behaupten kann, in ihren Grundrechten verletzt
zu sein. Dazu müsste eine Grundrechtsverletzung möglich
sein und die K-KG selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein.
1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung
Die Beschwerdebefugnis setzt zum einen die Möglichkeit
einer Grundrechtsverletzung voraus. Diese dürfte also nicht
von vornherein ausgeschlossen sein.
6
2
Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl. 2013,
Art. 19 Abs. 3 Rn. 79.
3
BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09 = NJW
2011, 3428 (3431 f.); Dreier (Fn. 2), Art. 19 Abs. 3 Rn. 83 f.;
Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 13. Aufl. 2014, Art. 19 Rn. 23; zu Umfang und Folgen
des Anwendungsvorrangs Oppermann/Classen/Nettesheim,
Europarecht, 6. Aufl. 2014, § 10 Rn. 3 ff.
4
v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das
Recht der Europäischen Union, Bd. 1 – AEUV, 57. EL 2015,
Art. 18 Rn. 34.
5
Ganz h.M., vgl. nur v. Bogdandy (Fn. 4), Art. 18 Rn. 48
m.w.N.
BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09 = NJW
2011, 3428 (3431).
7
Gleichfalls kann darauf abgestellt werden, dass sich Art. 19
Abs. 3 GG systematisch nur auf die Art. 1-17 GG bezieht und
die grundrechtsgleichen Verfahrensrechte nicht umfasst, vgl.
BVerfGE 21, 362 (373) und BVerfGE 64, 1 (11). Auf das
Inlandserfordernis müsste dann im Rahmen der Beschwerdebefugnis oder im persönlichen Schutzbereich der Berufsfreiheit eingegangen werden, vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.7.2011
– 1 BvR 1916/09 = NJW 2011, 3428 (3430 ff.). Von der
bereits verfassungsgerichtlich entschiedenen Frage der Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 3 GG auf EU-ausländische
juristische Personen ist die Frage zu unterscheiden, ob sich
EU-Ausländer auf Deutschen-Grundrechte berufen können.
Dazu ist in der Beschwerdebefugnis und dem persönlichen
Schutzbereich der Berufsfreiheit (kurz) Stellung zu nehmen,
wobei auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann.
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210
Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT
Zwar kann sich die K-KG in der Sache auf ein von der
Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) umfasstes freies wirtschaftliches Tätigwerden unter Wahrung ihrer Geschäftsgeheimnisse berufen, das durch die Einführung einer weiteren
Genehmigungsstelle und die Verbreitung des Genehmigungsantrags verletzt sein könnte. Ihrem Wesen nach ist die Berufsfreiheit auch und gerade auf privatwirtschaftlich tätige
juristische Personen anwendbar.8
Die K-KG beruft sich dabei auf ein Deutschen-Grundrecht. Fraglich ist, ob ihr dies als EU-ausländisches Unternehmen möglich ist. Aufgrund des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots nach Art. 18 Abs. 1 AEUV9 darf der
grundgesetzliche Schutz der Berufsfreiheit von EU-zugehörigen Unternehmen allerdings nicht schwächer sein als der
von inländischen Unternehmen.
In der Folge wird teilweise vertreten, dass die Anwendung von Art. 12 Abs. 1 GG aufgrund des Wortlauts ausgeschlossen sei und EU-Ausländer sich nur auf Art. 2 Abs. 1
GG berufen können. Die Gewährleistungen der allgemeinen
Handlungsfreiheit sollen jedoch in diesen Fällen inhaltsgleich
zu den Garantien des Deutschengrundrechts auszulegen sein
und so dem unionsrechtlichen Diskriminierungsverbot aus
Art. 18 Abs. 1 AEUV Rechnung tragen.10 Nach anderer Ansicht ist Art. 12 Abs. 1 GG über den Wortlaut hinaus auf EUAusländer anzuwenden, um die von Art. 18 Abs. 1 AEUV
geforderte vollständige tatsächliche Gleichstellung zu erreichen.11 Da mithin das gleiche Schutzniveau gewährleistet
werden kann, bedarf es keines Streitentscheides.12
2. Qualifizierte Betroffenheit
Die K-KG müsste selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein.
a) Selbstbetroffenheit
Sie macht eigene Grundrechte geltend und ist somit selbst
betroffen.
b) Unmittelbare Betroffenheit
Die K-KG müsste ferner unmittelbar, das heißt schon durch
die Rechtsnorm selbst, nicht erst durch einen besonderen,
vom Willen der vollziehenden Gewalt getragenen Vollzugsakt,13 betroffen sein. Davon ist auch auszugehen, wenn ihr
8
BVerfG, Urt. v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02 = BVerfG NJW
2004, 2363 (2364 f.).
9
Zu dessen Anwendbarkeit siehe oben A. II.
10
Dreier (Fn. 2), Vorb. Rn. 116.
11
Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 19 Rn. 12.
12
Aus prüfungstechnischen Gründen liegt es dennoch nahe,
sich für eine der Varianten zu entscheiden. Diese Entscheidung kann auch erst in der Begründetheit getroffen werden.
Gehen Bearbeiter allerdings begründet davon aus, dass nur
die Anwendung der (spezielleren) Deutschengrundrechte auf
EU-Ausländer eine vollständige Gleichstellung bewirkt,
scheidet die Prüfung des Art. 2 Abs. 1 GG aus.
13
Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 75. EL 2015, Art. 93 Rn. 67.
das Abwarten eines Vollzugsaktes unzumutbar ist.14 Dies ist
etwa bei nicht mehr rückgängig zu machenden Dispositionen
oder der Erforderlichkeit rechtswidrigen Verhaltens zur
Herbeiführung des Vollzugsaktes der Fall.15 Vorliegend wirkt
sich erst ein Widerspruch des KWKA nach § 10a Abs. 2,
Abs. 3 KrWaffG unmittelbar auf den Vollzug des KrWaffG
aus, indem der Widerspruch eine vorbehaltlich erteilte Exportgenehmigung aufhebt. Es bedarf damit sowohl der Genehmigungserteilung als auch des Widerspruchs des KWKA
im Einzelfall, bevor die K-KG davon betroffen wird. Eine
unmittelbare Betroffenheit bereits durch das KrWaffGÄndG
könnte allenfalls aus der abschreckenden Wirkung auf die
Geschäftspraxis resultieren. Allerdings kann auch diese –
dem Zweck des verfassungsgerichtlich entwickelten Kriteriums unmittelbarer Betroffenheit, nämlich der Inanspruchnahme fachgerichtlichem Rechtsschutzes und einer etwaigen
Inzidentkontrolle über Art. 100 Abs. 1 GG16 dienend – durch
den zumutbaren Verwaltungsrechtsweg letztendlich beseitigt
werden.
Die K-KG ist damit nicht unmittelbar durch das
KrWaffGÄndG betroffen (a.A. gut vertretbar).
VI. Zwischenergebnis
Die Verfassungsbeschwerde der K-KG ist unzulässig (a.A.
vertretbar).
VII. Hilfsgutachtliche Erwägungen
1. Gegenwärtige Betroffenheit
Die Beschwerdebefugnis (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) setzt außerdem voraus, dass die K-KG gegenwärtig betroffen ist. Dies
trifft zu, wenn die Rechtsnorm bereits bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde mit einiger Wahrscheinlichkeit die geschützten Rechte des Beschwerdeführers berührt.17 Es reicht
nicht aus, wenn in Zukunft in der Person des Beschwerdeführers ein Sachverhalt entstehen kann, der von der Rechtsnorm
unter Verletzung geschützter Rechte erfasst wird.18 Einerseits
ist die K-KG zum Zeitpunkt der Erhebung der Verfassungsbeschwerde an keinem Ausfuhrgenehmigungsverfahren beteiligt, auf das die Neuregelung anwendbar wäre. Andererseits liegt bereits eine positiv beschiedene Voranfrage für das
Ausfuhrgeschäft nach Saudi-Arabien vor, das nach Antragstellung davon betroffen wäre. Darüber hinaus macht die KKG geltend, dass die bloße Existenz des KWKA eine negative Vorwirkung auf ihre Geschäftstätigkeit als kriegswaffenexportierendes Unternehmen habe, da ihre Geschäftspartner
einer parlamentarischen Kontrolle kritisch gegenüberständen.
Mit dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung wird die K-KG
keine Rüstungsexporte – als Teil ihrer regelmäßigen Geschäftstätigkeit – mehr ohne die Kontrolle des KWKA vor14
BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 – 1 BvR 357/05, Rn 78.
Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, 6. Aufl.
2014, § 51 Rn. 41.
16
Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 4. Aufl.
2013, Rn. 696 m.w.N.
17
BVerfG, Urt. v. 15.2.2006 – 1 BvR 357/05, Rn. 78.
18
Maunz (Fn. 13), Art. 93 Rn. 67.
15
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ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
nehmen können. Insofern kann die K-KG hinreichend wahrscheinlich darlegen, dass die Bedingungen ihrer Berufsausübung sich bereits jetzt geändert haben, sodass sie gegenwärtig betroffen ist (a.A. vertretbar).
2. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
Die Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass alle anderen
Rechtsbehelfe zur Beseitigung der behaupteten Grundrechtsbeeinträchtigung ausgeschöpft wurden (§ 90 Abs. 2
BVerfGG).19
a) Rechtswegerschöpfung
Dazu gehört die Erschöpfung von Rechtsmitteln, die sich
unmittelbar gegen den angegriffenen Rechtssatz richten. Eine
unmittelbare (prinzipale) Rechtssatzkontrolle des formellen
Gesetzgebers ist den Fachgerichten allerdings nicht möglich.20 Das KrWaffGÄndG kann vor den Verwaltungsgerichten nicht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden.
Ein zu erschöpfender Rechtsweg besteht nicht.
b) Subsidiarität
Darüber hinaus kann die Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nur subsidiär, d.h. nachrangig erhoben werden. Nach der
Rechtsprechung des Bundeverfassungsgerichts wird daher die
Ausschöpfung aller Möglichkeiten inzidenter fachgerichtlicher Kontrolle mit anschließender Richtervorlage nach
Art. 100 Abs. 1 GG zur Abwendung oder Beseitigung der
möglichen Grundrechtsverletzung als ungeschriebene Zulässigkeitsvoraussetzung betrachtet, soweit diese zumutbar und
effektiv ist.21
Gegen die Versagung bzw. Nichterteilung einer konkreten
Ausfuhrgenehmigung nach KrWaffG könnte die K-KG zwar
eine verwaltungsgerichtliche Verpflichtungsklage erheben,
diese wäre aufgrund der gesetzlichen Ausgestaltung in § 6
Abs. 1, Abs. 2 KrWaffG, nach der kein Anspruch auf die
Genehmigung besteht, jedoch kaum erfolgversprechend.
Außerdem würden verwaltungsgerichtliche Klagen die abschreckende Wirkung des KWKA nicht beseitigen. Sie wären
in diesem Sinne folglich nicht effektiv. Der formal ungenehmigte Transport von Kriegswaffen nach einem Widerspruch
durch den KWKA würde wegen der in § 22a Abs. 1 Nr. 3, 4
KrWaffG normierten Strafbarkeit die inzidente Prüfung des
KWKA im Rahmen eines Strafverfahrens ermöglichen. Mit
Strafe bedrohte Handlungen zu begehen kann der K-KG
jedoch nicht zugemutet werden, um das KrWaffGÄndG
überprüfen zu lassen.
Die Verfassungsbeschwerde der K-KG wahrt damit den
Grundsatz der Subsidiarität (a.A. gut vertretbar).22
19
Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge
(Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 47. EL 2015, § 90
Rn. 383.
20
Bethge (Fn. 19), § 90 Rn. 402, 404.
21
Bethge (Fn. 19), § 90 Rn. 402; BVerfG, Beschl. v.
12.5.2009 – 2 BvR 890/06 = BVerfGE 123,148 (172).
22
Dies gilt gerade in Hinblick auf die durchaus bestehenden
Rechtsschutzmöglichkeiten der K-KG, wie sie im 2. Teil der
3. Form und Frist
Die Verfassungsbeschwerde muss schriftlich und mit Begründung innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten des Gesetzes erhoben werden (§ 92 Abs. 1, § 23 Abs. 1 und § 93
Abs. 3 BVerfGG). Die K-KG hat unter Einhaltung der Form
gegen das am 17.6.2015 in Kraft getretene Gesetz am
18.6.2015 und damit fristgerecht Verfassungsbeschwerde
erhoben.
B. Begründetheit (Hilfsgutachten)
Die Verfassungsbeschwerde der K-KG ist begründet, wenn
das KrWaffGÄndG die K-KG in ihren Grundrechten oder
grundrechtsgleichen Rechten verletzt.23
I. Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts
Diesbezüglich nimmt das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich eine umfassende Grundrechtsprüfung anhand spezifischen Verfassungsrechts vor.24 Auf eine mögliche Unionsrechtswidrigkeit des Gesetzes kommt es damit trotz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht an.
Klärungsbedürftig erscheint vorliegend jedoch, ob aufgrund der geltend gemachten Verfassungsänderung durch das
KrWaffGÄndG der modifizierte Prüfungsmaßstab des Art. 79
Abs. 3 GG anzuwenden ist, nach dem einzelne Grundrechte
nur insoweit geprüft werden, als davon die in den Art. 1 und
20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden.
Fraglich ist demnach, ob das Gesetz als verfassungsänderndes Gesetz im Sinne des Grundgesetzes zu qualifizieren
ist. Dafür spricht, dass mit der Zustimmung von zwei Dritteln
der Mitglieder des Bundestages (450 von 631) und des Bundesrates die Verfahrenserfordernisse eines verfassungsändernden Gesetzes nach Art. 79 Abs. 2 GG eingehalten wurden. Dagegen spricht, dass das Textänderungsgebot (Art. 79
Abs. 1 S. 1 GG) nicht beachtet wurde und es auch ansonsten
keine Hinweise darauf gibt, dass der Gesetzgeber das Grundgesetz ändern wollte. Eine stillschweigende Verfassungsänderung soll Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG jedoch vor dem historischen Hintergrund der Aushöhlung der Weimarer Verfassung
gerade ausschließen.25 Er verlangt eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers und eine in Hinblick auf ihren Geltungsrang transparente Gesetzgebung, die für Rechtsklarheit
und Rechtssicherheit sorgt.26
Das KrWaffGÄndG ändert die Verfassung somit nicht.
Art. 79 Abs. 3 GG findet keine Anwendung. Das BundesverHausarbeit zu erörtern sind. Eine umfassende Inzidentprüfung ist an dieser Stelle jedoch zu vermeiden; zur nachvollziehbaren generellen Kritik an dem Grundsatz der Subsidiarität im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung von Verfassungsbeschwerden siehe Bethge (Fn. 19), § 90 Rn. 412.
23
Wird die Verfassungsbeschwerde – wie hier – für unzulässig erachtet, kann aufbautechnisch anstelle der Begründetheit
der Verfassungsbeschwerde auch die Verfassungsmäßigkeit
des Gesetzes geprüft werden.
24
Sodan/Ziekow (Fn. 15), § 51 Rn. 58 ff.
25
Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 22 Rn. 12 ff.
26
Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 79 Rn. 3.
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Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT
fassungsgericht wird eine umfassende Grundrechtsprüfung
unter Wahrung des übrigen Verfassungsrechts vornehmen.27
II. Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG
Die Einrichtung und Einwirkungsmöglichkeiten des KWKA
nach §§ 10a, 11a KrWaffG könnten die Berufsfreiheit der KKG aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzen.
1. Schutzbereich
Die Exporttätigkeit der K-KG müsste in den Schutzbereich
der Berufsfreiheit fallen.
a) Sachlicher Schutzbereich
Die Berufsfreiheit schützt in sachlicher Hinsicht jede nicht
wegen ihrer Gemeinschaftsschädlichkeit generell verbotene
Tätigkeit, die auf Dauer angelegt ist und der Schaffung und
Erhaltung einer Lebensgrundlage dient.28
aa) Bereichsausnahme Kriegswaffenhandel
Fraglich ist, ob für den Bereich des Kriegswaffenhandels eine
grundsätzliche Bereichsausnahme anzunehmen ist, sodass die
Tätigkeit der K-KG keinen grundrechtlichen Schutz genießt.
Eine solche Bereichsausnahme lässt sich zum einen damit
begründen, dass der Umgang mit Kriegswaffen nach dem
KrWaffG einem umfassenden repressivem Verbot mit Befreiungsvorbehalt unterworfen ist.29 Eine staatlich grundsätzlich verbotene Tätigkeit könne schwerlich unter dem Schutz
des Grundgesetzes stehen. Gegen diese Argumentation
spricht jedoch entscheidend, dass es nicht dem einfachen,
sondern dem verfassungsgebenden bzw. -ändernden Gesetzgeber obliegt, die Grenzen der Berufsfreiheit zu ziehen. Ob
eine Tätigkeit einem einfachgesetzlichen Verbot unterliegt,
kann mithin nicht entscheidend sein für die Schutzbereichseröffnung der Berufsfreiheit.30 Ein Ausgleich widerstreitender Rechtsgüter kann weitaus differenzierter auf Rechtfertigungsebene gefunden werden.
Zum anderen könnte auf den Genehmigungsvorbehalt aus
Art. 26 Abs. 2 GG abgestellt werden. Dieser stellt eine Konkretisierung des Friedensgebots des Art. 26 Abs. 1 GG dar.31
Damit wird der Umgang mit Kriegswaffen als besonders
gefährlich für das friedliche Zusammenleben der Völker
eingestuft. Dies lässt sich auch entstehungsgeschichtlich als
Lehre aus zwei Weltkriegen begründen, die mit schwerem
Kriegsgerät geführt wurden, und an denen Deutschland maß-
geblichen Anteil hatte.32 Systematisch lässt sich für ein dem
Grundgesetz eigenes Verbot von Kriegswaffen auch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes (Präambel, Art. 1
Abs. 2, Art. 24 f. GG) anführen. Denn die diesbezügliche
Offenheit der deutschen Rechtsordnung verschafft den völkergewohnheitsrechtlich anerkannten und in Art. 1 Abs. 1
und Art. 2 Abs. 4 UN-Charta enthaltenen Friedensgebot und
Gewaltverbot Geltung. Die Verbreitung von Kriegswaffen
ermöglicht aber gerade friedensstörende Handlungen, sodass
das Geschäft und der Umgang mit solchen Geräten prinzipiell
zu missbilligen ist.
Andererseits lässt sich aus Art. 26 Abs. 2 GG kein striktes
Verbot herleiten.33 Der statuierte Genehmigungsvorbehalt
bringt zum Ausdruck, dass es unter bestimmten im KWaffG
geregelten Voraussetzungen zulässig ist, Kriegswaffen herzustellen, zu vertreiben und in den Verkehr zu bringen, es sich
also nicht um eine per se verbotene Tätigkeit handelt, wie sie
etwa den in der Literatur genannten Fallgruppen der Killerdienste, des Handels mit Drogen oder kinderpornographischem Material34 zu eigen ist. Der Umgang mit Kriegswaffen
birgt zwar besondere Gefahren, ist aber als solcher neutral
und damit sozialadäquat.35 Ein Unwerturteil kann erst im
konkreten Verwendungsfall erfolgen. Denn das Waffengeschäft kann ebenso friedensfördernde und konfliktvermeidende Wirkung haben, indem die Verteidigungsbereitschaft
von Staaten gestärkt und andere Staaten von Gewaltanwendungen abgeschreckt werden.36 Ebenso können Kriegswaffen
zum Schutz der inneren Sicherheit und zum Funktionieren
kollektiver Sicherheitssysteme wie der NATO beitragen.
Daher ist eine Bereichsausnahme im Ergebnis abzulehnen
(a.A. gut vertretbar).37
bb) Umfang der geschützten Tätigkeiten
Die einzelnen Kriegswaffenexportgeschäfte können von der
K-KG innerhalb des bestehenden Genehmigungsvorbehaltes
aus Art. 26 Abs. 2 GG, § 3 Abs. 3, Abs. 2 KrWaffG frei von
weiteren staatlichen Beschränkungen durchgeführt werden.
Außerdem wird die Berufsausübung insbesondere im Rüstungsexportbereich von den Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der Unternehmen geprägt. Wird exklusives wettbewerbserhebliches Wissen den Konkurrenten zugänglich,
mindert dies die Möglichkeit, die Berufsausübung unter
Rückgriff auf dieses Wissen erfolgreich zu gestalten, während Dritte unter Einsparung von Innovationskosten in Konkurrenz mit dem Geheimnisträger treten und beruflichen
32
27
Zu den im Folgenden analog anwendbaren verfassungsrechtlichen Grenzen des parlamentarischen Fragerechts zusammenfassend Harks, JuS 2014, 979 (980 ff.).
28
BVerfG, Urt. v. 28.3.2006 – 1 BvR 1054/01 = BVerfGE
115, 276 (300 f.); BVerfG, Einstweilige Anordnung v.
5.12.2006 – 1 BvR 2186/06 = BVerfGE 117, 126 (137).
29
Stemmler, DÖV 2015, 139 (143).
30
v. Poser und Groß Naedlitz, Die Genehmigungsentscheidung nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz, 1999, S. 42 f.;
Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 12 Rn. 9.
31
Stemmler, DÖV 2015, 139 (143 m.w.N.).
Kirchner, DVBl. 2012, 336 (339 f. m.w.N.).
Proelß, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts XI, 3. Aufl. 2013, § 227 Rn 29.
34
Manssen, Staatsrecht II, 12. Aufl. 2015, Rn. 599.
35
Pottmeyer, in: Wolffgang/Simonsen/Romann/Pottmeyer,
AWR, 38. EL Nov. 2013, Einl. KWKG Rn. 9.
36
v. Poser und Groß Naedlitz (Fn. 30), S. 28.
37
So konstatiert selbst die von Krauss-Maffei Wegmann
(ehemals: Kraus-Maffei) finanziell geförderte Dissertation
von v. Poser und Groß Naedlitz (Fn. 30, S. 43), dass sich der
gewerbliche Umgang mit Waffen „sicherlich auf den Randbereich des Schutzbereichs zu[bewegt]“.
33
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ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
Erfolg durch die Verarbeitung fremder vertraulicher Informationen generieren.38
Hinsichtlich der Durchführung von Kriegswaffenexporten
und der Vertraulichkeit von Informationen über konkrete
Kriegswaffenexportgeschäfte der K-KG ist der sachliche
Schutzbereich der Berufsfreiheit eröffnet.
b) Personaler Schutzbereich
In den personalen Schutzbereich der Berufsfreiheit fallen
natürliche Personen deutscher Staatsbürgerschaft (Deutschengrundrecht, vgl. Art. 12 Abs. 1 GG) und, da die Ausübung der Berufsfreiheit nicht an die Eigenschaft einer natürlichen Person anknüpft, grundsätzlich auch inländische juristische Personen des Privatrechts (Art. 19 Abs. 3 GG).39 Gleiches muss aufgrund des unionsrechtlichen Diskriminierungsverbots aus Art. 18 Abs. 1 AEUV auch für privatrechtlich
organisierte juristische Personen aus anderen EU-Mitgliedstaaten gelten (dazu siehe oben A. II. und V. 1.).
Für die K-KG als eine österreichische Kommanditgesellschaft ist der personale Schutzbereich der Berufsfreiheit
eröffnet.
c) Ergebnis zu 1.
Der Schutzbereich der Berufsfreiheit ist für die K-KG eröffnet.
2. Eingriff
Das Tätigwerden des KWKA müsste in die Berufsfreiheit
eingreifen. In die Berufsfreiheit greifen imperative Regelungen ein, durch die die Berufsausübung beeinträchtigt wird
(Regelungen mit subjektiv berufsregelnder Tendenz) wie z.B.
Erlaubnispflichten.40 Daneben geht das BVerfG auch bei
mittelbaren oder tatsächlichen Auswirkungen auf die berufliche Tätigkeit von einem Eingriff aus, soweit die Maßnahmen
objektiv berufsregelnde Tendenz besitzen, indem sie die
Rahmenbedingungen der beruflichen Tätigkeit verändern und
soweit aufgrund ihrer Gestaltung ein enger Zusammenhang
mit der Ausübung des Berufes besteht.41
Mit der Widerspruchsmöglichkeit des KWKA wird die
Kriegswaffenbeförderung der K-KG von der Entscheidung
eines weiteren Gremiums abhängig gemacht. Die Intention
des Gesetzgebungsvorhabens, eine restriktivere Genehmigungspraxis unter Zurückstellung der wirtschaftlichen Interessen kriegswaffenproduzierender Unternehmen zu erreichen, spricht eindeutig dafür, dass das Gesetz die Berufsausübung von Unternehmen wie der K-KG regeln soll.
Außerdem werden dem KWKA vertrauliche Informationen der Antragsteller bekannt gegeben. Dazu gehören die an
38
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 156.
BVerfG, Urt. v. 9.6.2004 – 1 BvR 636/02 = BVerfG NJW
2004, 2363 (2364 f.); Wernsmann, Jura 2001, 106 (107
m.w.N.).
40
Manssen (Fn. 34), Rn. 611.
41
BVerfG, Beschl. v. 13.7.2004 – 1 BvR 1298/94, 1 BvR
1299/94, 1 BvR 1332/95, 1 BvR 613/97 = BVerfGE 111, 191
(213).
39
der Beförderung beteiligten Akteure, das Rüstungsgut und
das Gesamtvolumen, der Zeitpunkt des Transportes und der
Endverbleib (§ 10a Abs. 1 KrWaffG i.V.m. § 4 der Zweiten
Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen). Diese Daten sind aber als Betriebsund Geschäftsgeheimnisse vor der Weitergabe an Dritte geschützt. Der KWKA erhält davon Kenntnis, ohne gesetzlich
einer besonderen Geheimhaltungspflicht zu unterliegen.
Selbst bei einer möglichen Einordnung als Verschlusssache
(VS) mit hohem Geheimhaltungsgrad erhöht sich mit jeder
Weitergabe das Verbreitungsrisiko. Außerdem sind die
Geheimhaltungspflichten des KWKA gesetzlich nicht geregelt, sodass der KWKA über den Umgang mit sensiblen
Daten im Einzelfall oder durch Geschäftsordnung (vgl. § 11a
Abs. 3 S. 2 KrWaffG) entscheiden könnte.
Schließlich führt das KrWaffGÄndG zu der (ggf. sogar
bezweckten) Abschreckung von Geschäftspartnern und der
Verkleinerung der Umsatzmöglichkeiten der K-KG.
Das KrWaffGÄndG greift damit in die Berufsfreiheit der
K-KG ein.42
3. Rechtfertigung
Der Eingriff in die Berufsfreiheit der K-KG könnte gerechtfertigt sein. Dazu müsste das KrWaffGÄndG eine seinerseits
verfassungsmäßige und verhältnismäßige Schranke der Berufsfreiheit darstellen.
a) Einschränkbarkeit des Grundrechts
Nach Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG steht die Berufsausübungsfreiheit unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Der Eingriff
darf nur durch oder aufgrund eines Parlamentsgesetzes erfolgen.
Das KrWaffGÄndG wurde durch den Bundestag beschlossen. Es handelt sich um ein Parlamentsgesetz.
b) Verfassungsmäßigkeit des Schrankengesetzes
Nur Gesetze, die sonstiges Verfassungsrecht wahren, können
Grundrechte gerechtfertigt einschränken.43 Daher müsste das
KrWaffGÄndG selbst formell und materiell verfassungsmäßig sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz müsste durch den zuständigen Gesetzgeber in
einem ordnungsgemäßen Verfahren formgerecht zustande gekommen sein.
(1) Zuständigkeit
Der Bundesgesetzgeber müsste abweichend von der Regelkompetenz der Länder (Art. 30, 70 Abs. 1 GG) zuständig
sein. Dazu bedarf es einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisung an den Bund.
Art. 26 Abs. 2 S. 2 GG könnte eine solche Zuweisung
vornehmen. Danach regelt ein Bundesgesetz die Genehmigungspflichtigkeit der Herstellung, Beförderung und In-Ver42
43
Ähnlich v. Poser und Groß Naedlitz (Fn. 30), S. 45-47.
Sodan/Ziekow (Fn. 15), § 51 Rn. 59.
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ZJS 2/2016
214
Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT
kehr-Bringung von zur Kriegsführung bestimmten Waffen.
Es handelt sich dabei um eine zu den Art. 71 ff. GG im Verhältnis der Spezialität stehende ausschließliche Gesetzgebungszuständigkeit auf dem Gebiet des Kriegswaffenkontrollrechts.44 Die grundsätzlich sachnahen Kompetenztitel aus
Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 (auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung), Art. 73 Abs. 1 Nr. 12 1. Var. GG (Waffenrecht) und
Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 (Recht der Wirtschaft) sind daher vorliegend nicht heranzuziehen.
Der Bund hat folglich die Gesetzgebungszuständigkeit in
diesem Sachbereich und davon durch das KrWaffGÄndG,
das das „Ausführungsgesetz zu Artikel 26 Abs. 2 des Grundgesetzes“ (d.h. das KrWaffG) hinsichtlich des Genehmigungsverfahrens ergänzt, ersichtlich auch Gebrauch gemacht.
(2) Verfahren
Das Gesetzgebungsverfahren müsste ordnungsgemäß durchgeführt worden sein.
Der Gesetzesentwurf wurde durch die X-Fraktion und
damit aus der Mitte des Bundestages gemäß Art. 76 Abs. 1
2. Var. GG in den Bundestag eingebracht. Der sich nach den
Beratungen anschließende Gesetzesbeschluss wurde von 450
der 605 abstimmenden Abgeordneten und damit von mehr als
der erforderlichen einfachen Mehrheit (Art. 42 Abs. 2 GG)
gefasst.
Fraglich ist, welche rechtliche Relevanz der Zustimmung
des Bundesrates zukommt. Zustimmungsbedürftige Gesetzgebungsmaterien zählt das Grundgesetz abschließend auf
(Enumerationsprinzip).45 Nach Art. 79 Abs. 3 GG muss der
Bundesrat einer Verfassungsänderung mit zwei Dritteln seiner Mitglieder zustimmen. Allerdings ist das KrWaffGÄndG
kein verfassungsänderndes Gesetz (siehe oben 1. Teil B. I.).
Der Kompetenztitel des Art. 26 Abs. 2 S. 2 GG sieht keine
Beteiligung des Bundesrates vor. Somit liegt ein Einspruchsgesetz vor, für dessen Zustandekommen ein Votum des Bundesrates nicht konstitutiv ist. Dass dieses dennoch erfolgte,
tangiert die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes folglich
nicht.
Hinsichtlich der Gegenzeichnung, Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes nach Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG bestehen
keine Bedenken.
Das Gesetzgebungsverfahren wurde ordnungsgemäß
durchgeführt.
(3) Form: Zitiergebot
Fraglich ist, ob das KrWaffGÄndG als grundrechtseinschränkendes Recht das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG) zu
beachten hat, das eine Warn- und Besinnungsfunktion gegenüber dem Gesetzgeber und einen Informationswert für den
Bürger besitzt.46 Die Berufsfreiheit kann aber durch oder
44
Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 26 Rn. 12; Uhle, in:
Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 75. EL
2015, Art. 73 Rn. 270.
45
Degenhart, Staatsrecht I, 31. Aufl. 2015, Rn. 708.
46
Sachs, in: Sachs (Hrsg.) Grundgesetz, 7. Aufl. 2014,
Art. 19 Rn. 25 f.
aufgrund von Gesetzen „geregelt“ werden (Art. 12 Abs. 1
S. 2 GG). Dieser Ausgestaltungsauftrag unterfällt nicht dem
Zitiergebot, das nur für einschränkende Gesetze gilt.47
Das KrWaffGÄndG unterfällt nicht dem Zitiergebot.
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das KrWaffGÄndG müsste materiell verfassungsmäßig sein.
(1) Verstoß gegen Art. 26 Abs. 2 GG
In Frage kommt vorliegend ein Verstoß gegen Art. 26 Abs. 2
GG. Danach dürfen zur Kriegsführung bestimmte Waffen nur
mit Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert
und in Verkehr gebracht werden. Sofern Art. 26 Abs. 2 S. 1
GG eine exklusive Entscheidungsbefugnis der Bundesregierung fordert, könnten die Befugnisse des neu geschaffenen
parlamentarischen KWKA dagegen verstoßen.48
Der Wortlaut „nur mit Genehmigung der Bundesregierung“ kann einerseits so verstanden werden, dass die Bundesregierung das einzig und abschließend zur Genehmigungserteilung berufene Organ ist. Andererseits könnte darin lediglich die notwendige Bedingung enthalten sein, dass der Umgang mit Kriegswaffen zwingend einer Kontrolle zu unterwerfen ist49 und die Bundesregierung zumindest immer auch
entscheiden muss. In diesem Wortsinne würde Art. 26 Abs. 2
S. 1 GG der parlamentarischen Mitentscheidungsbefugnis
nicht im Wege stehen.
Systematisch und teleologisch knüpft Art. 26 Abs. 2 GG
konkretisierend an das Verbot friedensstörender Handlungen
nach Abs. 1 an.50 Erst die Verbreitung von Kriegswaffen ermöglicht die nach Abs. 1 verbotenen Handlungen. Der Genehmigungsvorbehalt dient somit der internationalen Sicherheit, indem er den Kriegswaffenhandel kontrolliert und eindämmt. Ein Gremium wie der KWKA, der keine positiven
Genehmigungsentscheidungen treffen kann (vgl. § 10a Abs. 3
KrWaffG), erleichtert den Kriegswaffenhandel keinesfalls.
Nach dem Zweck des Gesetzesvorhabens, die Genehmigungspraxis restriktiver zu gestalten, ist vielmehr das Gegenteil zu erwarten.
47
St. Rspr. des BVerfG, vgl. Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 12
Rn. 32, Art. 19 Rn. 5; die a.A. ist gut vertretbar, vgl. nur
Sachs (Fn. 46), Art. 19 Rn. 29.
48
In seiner Entscheidung zu den Grenzen der Parlamentsbeteiligung in der Kriegswaffenexportkontrolle (BVerfG, Urt.
v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11) prüft das BVerfG den Art. 26
Abs. 2 GG inzident innerhalb der rechtsstaatlich geforderten
Gewaltenteilung (siehe unten (2), weswegen eine isolierte
Prüfung des Art. 26 Abs. 2 GG nicht zwingend zu erwarten
ist. Argumentativ verwenden lassen sich die verfassungsgerichtlichen Ausführungen im Wege des Erst-recht-Schlusses:
Wenn schon der Kontrolle dienende (nachträgliche) Informationsrechte des Bundestages über Rüstungsexportgeschäfte
nur in engen Grenzen bestehen, werden diese Grenzen von
echten parlamentarischen Mitwirkungsrechten, wie sie § 10a
Abs. 2 und 3 KrWaffG n.F. vorsieht, jedenfalls überschritten.
49
v. Poser und Groß Naedlitz (Fn. 30), S. 21.
50
Proelß (Fn. 33), § 227 Rn 29.
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ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
Der von Art. 26 Abs. 2 GG geforderten strengen Kontrolle des Kriegswaffengeschäftes durch die Bundesregierung
stehen die Einrichtung und die Einwirkungsbefugnisse des
KWKA nicht entgegen.51
(2) Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 GG
Der KWKA könnte als nachgeschaltete zweite Entscheidungsinstanz der verfassungsrechtlichen Stellung der Bundesregierung im Sinne der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG verankerten Gewaltenteilung widersprechen. Danach muss zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender
Gewalt unterschieden werden, um eine funktionsgerechte
Zuordnung hoheitlicher Befugnisse zu unterschiedlichen,
jeweils aufgabenspezifisch zuständigen und ausgeformten
Trägern öffentlicher Gewalt zu gewährleisten.52 Es besteht
ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, der einen
grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und
Handlungsbereich einschließt. Die dem Bundestag zugewiesene Aufgabe, das Regierungshandeln zu kontrollieren, darf
nicht zu einem Mitregieren Dritter bei Entscheidungen führen, die in der alleinigen Kompetenz der Regierung liegen.53
Eine Parlamentsmitwirkung ist nur dort statthaft, wo sie im
Grundgesetz vorgesehen ist.
Art. 26 Abs. 2 GG weist der Bundesregierung expressis
verbis die Zuständigkeit für die Kriegswaffen(export)kontrolle als Teil der Auswärtigen Gewalt zu, bei deren Ausübung komplexe sicherheits- und außenpolitische Erwägungen angestellt werden müssen. Diese beruhen auf vertraulichen Informationen der Nachrichtendienste und der Bündnispartner u.a. über die Sicherheitslage und die politische Situation in Drittstaaten, die als Empfänger von Kriegswaffen in
Frage kommen. Der Bundesregierung steht dabei traditionell
ein weiter Handlungsspielraum zu54, um die geheimhaltungsbedürftigen Belange der auswärtigen Beziehungen zum Wohl
des Staates zu schützen.55
Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) könnte
die Beeinträchtigung der Gewaltenteilung durch den KWKA
rechtfertigen, da der KWKA die Verantwortlichkeit der Bundesregierung als Teil der Exekutive gegenüber dem Bundestag stärkt. Doch die Gewaltenteilung darf nicht unter Berufung auf das Demokratieprinzip durch Einräumung parlamentarischer Mitentscheidungsbefugnisse unterlaufen und die
grundgesetzliche Kompetenzordnung nicht durch die Kon51
Entsprechend Augsberg, nach dem Art. 26 Abs. 2 GG keine klare Kompetenzabgrenzung zwischen Exekutive und
Legislative ermöglicht (wiedergegeben bei Sievers Diskussion, in: Ehlers/Terhechte/Wolffgang/Schröder [Hrsg.], Aktuelle Entwicklungen des Rechtsschutzes und der Streitbeilegung
im Außenwirtschaftsrecht, 2013, S. 207).
52
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 136.
53
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 137.
54
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11 , Rn. 139 ff.
55
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 145 ff.; mit
Stemmler (DÖV 2015, 139 [141]) ließe sich allerdings auch
darauf verweisen, dass das Staatswohl eine gemeinsame
Aufgabe der Verfassungsorgane darstellt und die Einbindung
des Bundestages damit gerade erforderlich ist.
struktion eines allumfassenden Parlamentsvorbehalts überlagert werden.56 Die der Bundesregierung anvertraute auswärtige Gewalt steht keineswegs außerhalb parlamentarischer
Kontrolle. Dem Bundestag verbleiben seine parlamentarischen Kontrollbefugnisse. Er kann sein Frage-, Debatten- und
Entschließungsrecht ausüben, seine Kontroll- und Haushaltsbefugnisse wahrnehmen und dadurch auf die Entscheidungen
der Regierung einwirken oder durch Wahl eines neuen Bundeskanzlers die Regierung stürzen.57
Im Ergebnis verletzen die durch § 10a Abs. 2 und 3
KrWaffG eingeräumten Befugnisse daher Art. 20 Abs. 2 S. 2
GG.58
(3) Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1, 20 Abs. 1 und 2 GG
Die Einrichtung des KWKA, dem nach § 11a Abs. 2
KrWaffG zwischen zehn und fünfzehn Parlamentarier angehören, könnte aufgrund dieser zahlenmäßigen Begrenzung
gegen die Gleichheit der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1, 20
Abs. 1 und 2 GG verstoßen.
Denn der Bundestag nimmt seine Repräsentationsfunktion
durch die Mitwirkung aller seiner Mitglieder wahr. Soweit
Abgeordnete durch die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss von der Mitwirkung an der parlamentarischen Entscheidungsfindung ausgeschlossen werden, ist dies nur zum Schutz anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zulässig.59
Solche anderen Güter von Verfassungsrang könnten die
Grundrechte der betroffenen Unternehmen sein. Doch die
Einrichtung eines KWKA greift selbst in diese Grundrechte
ein (siehe oben 1. Teil B. II. 2.). Sie scheiden damit als
Rechtfertigungsgründe aus.
Allerdings könnten Belange des Geheimschutzes, der im
Bereich der Rüstungsexportkontrolle dem Staatsschutz und
dem Schutz der außenpolitischen Handlungsfähigkeit dient,
die Einrichtung eines kleinen parlamentarischen Gremiums
rechtfertigen.60 Als bestehendes Beispiel dient das parlamentarische Kontrollgremium, das die Nachrichtendienste des
Bundes überwacht.61 Unter Umständen wäre ein kleines
Gremium aber nicht erforderlich, weil auf andere Weise (z.B.
durch Geheimschutzvorkehrungen, vgl. Sachverhalt) der
Wahrung vertraulicher Informationen Rechnung getragen
werden könnte. Für die Angemessenheit spricht die der Zusammensetzung des Bundestages entsprechende Besetzung
des KWKA (§ 11a Abs. 2 KrWaffG), die zumindest die Kräfteverhältnisse im Bundestag und damit auch die politischen
Präferenzen des Wahlvolkes widerspiegelt. Maßgeblich dagegen spricht, dass ein Kontrollgremium, was seinerseits
einen Großteil der Parlamentarier ausschließt, nur sehr eingeschränkt demokratische Legitimation und Kontrolle vermitteln kann. Das erforderliche Maß an Ungleichbehandlung der
56
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 141.
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 140.
58
So auch Zähe, Der Staat 44 (2005), 462 (482).
59
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 152.
60
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 151.
61
Vgl. (jedoch) die Aufgabenzuweisung in Art. 45d GG.
57
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ZJS 2/2016
216
Profit, Moral und Grenzen der Kriegswaffenexportkontrolle – Teil 1 ÖFFENTLICHES RECHT
übrigen Abgeordneten und Geheimhaltung vor der Öffentlichkeit höhlt den Zweck des KWKA derart aus, dass sich die
Gleichheit der Abgeordneten gegenüber den übergeordneten
Ausschusszwecken durchsetzt.62
Im Ergebnis verletzt die Zusammensetzung des KWKA
nach § 11a Abs. 2 KrWaffG damit die Gleichheit der Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 GG (a.A. gut vertretbar).
(4) Verhältnismäßigkeit
Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der K-KG müsste
darüber hinaus verhältnismäßig sein. Als spezielle Ausprägung der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist dabei die DreiStufen-Lehre63 anzuwenden. Berufsausübungsbeschränkungen (1. Stufe) betreffen die Modalitäten, unter denen sich die
berufliche Tätigkeit vollzieht.64 Sie können durch vernünftige
Gründe des Allgemeinwohls gerechtfertigt sein, wenn sie im
Übrigen verhältnismäßig sind.65
Der KWKA ergänzt das ohnehin bestehende Genehmigungsverfahren für den Umgang mit Kriegswaffen. Darunter
fällt auch ein Teil der Exporttätigkeit der K-KG, der allerdings nicht in seiner Gesamtheit, sondern lediglich im Einzelfall und nur möglicherweise im Fall eines Widerspruchs
betroffen ist. Ob die K-KG weiterhin gewerblich Kriegswaffen herstellt und vertreibt, bleibt davon unberührt, betroffen
sind lediglich konkrete Geschäftsvorgänge, also einzelne
Aspekte der beruflichen Tätigkeit.
Die Einrichtung und Tätigkeit des KWKA betrifft damit
die Berufsausübungsfreiheit der K-KG.
Die Einrichtung des KWKA soll demokratische Legitimation fördern und die Rechtmäßigkeit der Verwaltung stärken.
Daneben soll die Verbreitung von Kriegswaffen verhindert
und damit ein Beitrag zu Weltfrieden und internationaler
Sicherheit (Präambel und Art. 1 Abs. 2 GG, UN-Charta)
geleistet werden. Dabei handelt es sich zweifellos um sachliche Gründe des Allgemeinwohls.
Die Einrichtung und Einwirkungsmöglichkeiten des
KWKA eignen sich auch zur Zweckerreichung.
Sie wären erforderlich, wenn keine weniger belastenden
Mittel zur Verfügung stehen, die gleich effektiv sind.66 Zwar
bestehen andere Kontrollmöglichkeiten unterhalb der
Schwelle der Mitbestimmung durch einen KWKA, die die
Berufsausübung der K-KG weniger belasten würden (siehe
oben 1. Teil B. II. 3. b) bb) (2). Diese Kontrollmöglichkeiten
erfolgen jedoch retrospektiv und – etwa in Hinblick auf das
Fragerecht der Abgeordneten oder den Rüstungsexportbericht
der Bundesregierung – nicht in der durch den KWKA im
62
So in Hinblick auf Informationsrechte des Bundestages
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 195 ff.
63
Ausgang der grundrechtsdogmatischen Entwicklung ist
BVerfG, Urt. v. 11.6.1958 – 1 BvR 596/56 = BVerfGE 7,
377 (405 ff.).
64
Jarass/Pieroth (Fn. 3), Art. 12 Rn. 39.
65
Manssen (Fn. 34), Rn. 626; Epping, Grundrechte, 6. Aufl.
2014, Rn. 419.
66
Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, Grundrechte, 31. Aufl.
2015, Rn. 303.
Einzelfall gewährleisteten Kontrollintensität. Das KrWaffGÄndG trifft daher erforderliche Regelungen.
Der Eingriff wäre angemessen, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtabwägung die Berufsausübungsfreiheit der
K-KG Ziel hinter dem mit dem Eingriff bezweckten Ziel
zurücktreten muss. Dies bemisst sich nach der Schwere des
Eingriffs und dem Gewicht und der Dringlichkeit des staatlicherseits verfolgten Zieles.67
Gegen die Angemessenheit spricht, dass für die K-KG erhebliche Umsatzeinbußen zu befürchten sind. Aufgrund der
abschreckenden Wirkung des KWKA, der nunmehr dauerhaft
den Umgang mit dem umsatzstärksten Exportprodukt der KKG kontrolliert, droht daneben der Verlust von ausländischen
Kunden.
Für die Angemessenheit spricht die nach dem rechtlichen
Rahmen des KrWaffG nur sehr geringe Eingriffsintensität.
Der KWKA steht einer Genehmigungserteilung nicht
zwangsläufig entgegen. Er kann Genehmigungen nur widersprechen, wenn diese ohnehin aufgrund der zwingenden
Versagungsgründe nicht hätten erteilt werden dürfen (§ 10a
Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 6 Abs. 3 KrWaffG). Außerdem befasst
sich der KWKA nur mit Vorhaben von besonderer Bedeutung (§ 10a Abs. 3 Nr. 2 KrWaffG). Die K-KG kann sich
zumindest gegen ermessensfehlerhafte Genehmigungsentscheidungen verwaltungsgerichtlich zur Wehr setzen. Die
erhöhte demokratische Legitimation, die Rechtmäßigkeit der
Verwaltung und ein deutscher Beitrag zu Weltfrieden und
internationaler Sicherheit (Präambel und Art. 1 Abs. 2 GG,
UN-Charta) lassen es als verhältnismäßig erscheinen, die
Tätigkeit der K-KG als Waffenhersteller und -händler in dem
durch das KrWaffGÄndG erfolgte Maß erschweren.
Der Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit ist damit verhältnismäßig (a.A. vertretbar, insbesondere, wenn man die
oben angenommenen Verstöße gegen Art. 20 Abs. 2, Art. 38
Abs. 1 GG als „schutzbereichsverstärkend“ in die Abwägung
einbezieht).
cc) Ergebnis zu b)
Das KrWaffGÄndG ist verfassungswidrig.
4. Zwischenergebnis
Das KrWaffGÄndG verletzt die K-KG in ihrer Berufsfreiheit
aus Art. 12 Abs. 1 GG.
III. Verstoß gegen Art. 14 Abs. 1 GG
Fraglich ist, ob die K-KG auch in ihrer Eigentumsfreiheit aus
Art. 14 Abs. 1 GG verletzt ist. Das Eigentum umfasst jedoch
nur konkret zugeordnete vermögenswerte Rechtspositionen.68
Davon werden zukünftige Erwerbschancen nicht umfasst,
sondern nur das Erworbene.69 Insofern besteht ein Ausschlussverhältnis zwischen Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1
67
Epping (Fn. 65), Rn. 57.
Epping (Fn. 65), Rn. 450.
69
BVerfG, Beschl. v. 25.5.1993 – 1 BvR 345/83 = BVerfGE
88, 366 (377); BVerfG, Beschl. v. 26.6.2002 – 1 BvR 558/91,
1 BvR 1428/91 = BVerfGE 105, 252 (264).
68
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217
ÜBUNGSFÄLLE
Christoph Herrmann/Herbert Rosenfeldt
GG.70 Die Erwartung der K-KG, auch zukünftig Rüstungsexportgeschäfte im bisherigen Umfang zu tätigen, fällt nicht
unter die Eigentumsgarantie. Auch die Geschäftsgeheimnisse,
deren Offenbarung die K-KG befürchtet, entstehen durch ihre
Geschäftstätigkeit im Einzelfall. Dieses Tätigwerden unterfällt hingegen der Berufsfreiheit (siehe oben 1. Teil B. II. 1.).
Die K-KG ist nicht in ihrer Eigentumsfreiheit berührt.71
IV. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG
Das subsidiäre Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit72 wird vom spezielleren Grundrecht der Berufsfreiheit
aus Art. 12 Abs. 1 GG hier verdrängt.73
C. Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde der K-KG hat mangels Zulässigkeit keine Aussicht auf Erfolg.74
Der Beitrag wird fortgesetzt.
70
Schmidt, Grundrechte, 19. Aufl. 2016, Rn. 815 ff.
So auch v. Poser und Groß Naedlitz (Fn. 30), S. 52; vertretbar kann auch angenommen werden, dass die Wahrung
der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der K-KG Teil ihres
eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes, also der
Gesamtheit dessen, was den wirtschaftlichen Wert des konkreten Betriebs ausmacht, ist und im Rahmen der Eigentumsfreiheit geschützt ist; grundsätzlich wird dadurch allerdings
kein die Berufsfreiheit übersteigender Schutz gewährt, vgl.
BVerfG, Urt. v. 21.10.2014 – 2 BvE 5/11, Rn. 193.
72
Epping (Fn. 65), Rn. 450, 577 f.
73
Wer den Schutzbereich der Berufsfreiheit für Unternehmen
aus anderen EU-Mitgliedstaaten nicht entgegen des Wortlauts
öffnet, sollte mit einer teilweise vertretenen Ansicht an dieser
Stelle eine an den durch die Rechtsprechung entwickelten
Grundsätzen der Berufsfreiheit orientierte Prüfung der allgemeinen Handlungsfreiheit vornehmen (exemplarisch Mann,
in: Sachs [Hrsg.], Grundgesetz, 7. Aufl. 2014, Art. 12 Rn. 38,
34 f.).
74
Bearbeiter, die von der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ausgehen, kommen hier zu dem gegenteiligen Ergebnis mit der Folge, dass das Bundesverfassungsgericht
gemäß § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG die Nichtigkeit des
KrWaffGÄndG feststellen würde.
71
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ZJS 2/2016
218
Übungsfall: Die Antiterrordatei*
Von Diplom-Jurist Maik Knaust, Göttingen**
Der Fall wurde im Wintersemester 2015/16 im Begleitkolleg
Staatsrecht III der Georg-August-Universität Göttingen gestellt und entspricht einer möglichen Zwischenprüfungsklausur. Neben der prozessualen Einkleidung des Falls in eine
Verfassungsbeschwerde liegt der Schwerpunkt der Klausur in
der Zulässigkeit, in der sowohl die Anwendbarkeit der EUGrundrechtecharta thematisiert und die einschlägige Rechtsprechung rezipiert als auch besondere Problematiken bei
geheimen staatlichen Maßnahmen erkannt werden sollten.
Von den Bearbeitern wurde zudem erwartet, im Rahmen der
Verhältnismäßigkeit die Reichweite einzelner Normen des
Antiterrordateigesetzes zu problematisieren.
Sachverhalt
Zum verbesserten Informationsaustausch zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder bei der Aufklärung und Bekämpfung des internationalen
Terrorismus wurde 2006 entgegen starker Bedenken der
Oppositionsparteien das Antiterrordateigesetz (ATDG) verabschiedet, welches die Errichtung einer standardisierten
zentralen Antiterrordatei ermöglicht. Diese sammelt und
speichert in einer Verbunddatei sämtliche Informationen von
Personen wie Grunddaten (Namen, Adressen etc.) sowie auch
erweiterte Grunddaten (Bankverbindungen, Telefonanschlüsse, E-Mail-Adressen etc.), über die sich durch Querverweise
ein Verdacht auf geplante Attentate erhärten könnte. Ziel der
Datei ist es, weit im Vorfeld zu erkennen, ob jemandes Verhalten typischerweise dem eines potenziellen Attentäters
ähnelt, und weiterhin, die Lücken zu schließen, die prinzipiell
durch die Gewaltenteilung in demokratischen Staaten entstehen, damit potenzielle Terroristen diese nicht ausnutzen können.
Der designierte Richter B sieht sich durch dieses Gesetz
in seinen Grundrechten verletzt. Nach seiner Ansicht ermögliche das ATDG im Hinblick auf den weit gefassten Personenkreis auch unbescholtene Bürger, die sich gänzlich legal
verhalten, zum Objekt einer intensiven nachrichtendienstlichen Ausspähung zu machen, ohne dass man hiervon Kenntnis erlange. Er sieht sich daher in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wie auch ferner hinsichtlich seiner
Rechte aus Art. 10 Abs. 1, 13 Abs. 1 GG verletzt. Außerdem
rügt er eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG. Die durchgängige Verheimlichung der Maßnahmen nehme dem Beschwerdeführer jede Chance einer gerichtlichen Überprüfung.
Es fehle auch an einer anderen, den Rechtsweg ersetzenden
Nachprüfung. Überdies erhielten Polizeibehörden Zugriff auf
Informationen, die diese selbst nicht hätten erheben dürfen.
Das ATDG verletze daher auch das Gebot der Trennung von
Polizei und Nachrichtendiensten. Dieses Trennungsgebot
* Nachgebildet dem Urteil des BVerfG zum Antiterrordateigesetz (BVerfGE 133, 277).
** Der Autor ist Wiss. Hilfskraft und Doktorand am Institut
für Völker- und Europarecht bei BVR Prof. Dr. Andreas L.
Paulus.
folge aus Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG und verbiete die Angliederung der Nachrichtendienste an Polizeidienststellen, es verbietet den Verfassungsschutzbehörden polizeiliche Befugnisse (Exekutivverbot) und auch die Polizei dürfe ihrerseits
nicht auf Vorfelddaten für ihre Ermittlungen ohne Anfangsverdacht zugreifen. Das Gesetz atme nach B „den Geist des
Überwachungsstaates“. B legt daraufhin form- und fristgerecht eine Verfassungsbeschwerde ein.
Die Bundesregierung entgegnet, dass die Verfassungsbeschwerde des B bereits unzulässig sei, da der Beschwerdeführer nicht unmittelbar, selbst und gegenwärtig durch das
ATDG beschwert sei. Er trage keinen Sachverhalt vor, der
eine Speicherung in der Antiterrordatei nahelege, da er sich
vorher Informationen zu der Speicherung seiner Daten bei
den Behörden hätte einholen können. Auch liegt keine
Grundrechtsverletzung vor, da die Speicherung und der Abruf der Daten sowie ihre weitere Verwendung wegen des sehr
beschränkten gefahrträchtigen Bereichs des internationalen
Terrorismus gerechtfertigt seien. Betroffene wären auch nicht
gänzlich rechtsschutzlos gestellt, da sie grundsätzlich – soweit keine gewichtigen Argumente dagegen sprechen – nach
§ 10 Abs. 2 ATDG Auskunft über ihre gespeicherten Daten
erhalten können. Zudem sind die Behörden mit ca. 16 000
bisher gespeicherten Datensätzen auch relativ zurückhaltend
mit der Datenerhebung und -speicherung.
Dem Grundgesetz sei weiterhin ein strenges Verbot der
Informationshilfe zwischen Nachrichtendiensten und Polizeibehörden nicht zu entnehmen. Vielmehr lasse sich die Schaffung einer zentralen Datei auch der in Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG
angesiedelten Befugnis zur Errichtung von Zentralstellen zuordnen. Auch diene das ATDG allein dazu, im Hinblick auf
Personen, gegen die schon ermittelt werde, den Kontakt zwischen den beteiligten Behörden zu ermöglichen; es gestatte
nicht, „Verdächtige“ erst zu finden, was dem Trennungsgebot
somit gerecht werde.
Bei der Bearbeitung der Verfassungsbeschwerde kommen
dem zuständigen Senat Zweifel hinsichtlich der eigenen Zuständigkeit. Das Gesetz setze zwar nicht direkt eine Richtlinie
oder Europarecht um, ist also nicht europarechtlich determiniert. Allerdings betreffen die angegriffenen Vorschriften die
Ermöglichung eines Datenaustauschs zur Bekämpfung des
internationalen Terrorismus und damit Fragen, die zum Teil
auch Regelungsbereiche des Unionsrechts berühren. So verfügt die Europäische Union für Regelungen zum Datenschutz
in Art. 16 AEUV über eigene Kompetenzen. Dabei legt etwa
die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen
bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum
freien Datenverkehr wesentliche Anforderungen an die Datenverarbeitung fest, die grundsätzlich sowohl für Private als
auch für öffentliche Behörden gelten. Entsprechend kennt das
Unionsrecht diverse Kompetenz- und Rechtsgrundlagen im
Zusammenhang mit der Terrorismusabwehr. Die Richterinnen und Richter überlegen, ob deshalb der Maßstab nicht die
Europäische Grundrechte-Charta wäre und das Bundesverfassungsgericht die Rechtskontrolle daher dem EuGH überlas-
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219
ÜBUNGSFÄLLE
Maik Knaust
sen muss. Die Verfassungsbeschwerde könnte unzulässig
sein. Andere Richter des Senats betonen hingegen, dass die
Grundrechte-Charta nur für die nationale Durchführung von
Unionsrecht gelte. Eine bloße Tangierung unionsrechtlich
geregelter Rechtsbereiche sei nicht ausreichend. Dies sei so
klar, dass eine Vorlage an den EuGH nicht nötig sei.
Bearbeitervermerk
Hätte diese Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
Auszug aus den Vorschriften des ATDG1
§ 1 Antiterrordatei
[…] (2) Zur Teilnahme an der Antiterrordatei sind als beteiligte Behörden im Benehmen mit dem Bundesministerium
des Innern weitere Polizeivollzugsbehörden berechtigt, soweit
1. diesen Aufgaben zur Bekämpfung des internationalen
Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland
nicht nur im Einzelfall besonders zugewiesen sind,
2. ihr Zugriff auf die Antiterrordatei für die Wahrnehmung
der Aufgaben nach Nummer 1 erforderlich und dies unter
Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen der Betroffenen und der Sicherheitsinteressen der beteiligten Behörden
angemessen ist.
§ 2 Inhalt der Antiterrordatei und Speicherungspflicht
Die beteiligten Behörden sind verpflichtet, [...] zu speichern,
wenn [...] tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die
Daten sich beziehen auf
1. Personen, die [...]
b) einer Gruppierung, die eine Vereinigung nach Buchstabe a
[= terroristische Vereinigung o.Ä.] unterstützt, angehören
oder, [...]
2. Personen, die rechtswidrig Gewalt als Mittel zur Durchsetzung international ausgerichteter politischer oder religiöser
Belange anwenden oder eine solche Gewaltanwendung unterstützen, vorbereiten, befürworten oder durch ihre Tätigkeiten
vorsätzlich hervorrufen,
3. Personen, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen,
dass sie mit den in Nummer 1 Buchstabe a oder in Nummer 2
genannten Personen nicht nur flüchtig oder in zufälligem
Kontakt in Verbindung stehen und durch sie weiterführende
Hinweise für die Aufklärung oder Bekämpfung des internationalen Terrorismus zu erwarten sind (Kontaktpersonen)
4. [...] und die Kenntnis der Daten für die Aufklärung oder
Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit Bezug zur
Bundesrepublik Deutschland erforderlich ist. [...]
Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Die datenschutzrechtliche Kontrolle der Eingabe
und der Abfrage von Daten durch eine Landesbehörde richtet
sich nach dem Datenschutzgesetz des Landes.
(2) Über die nicht verdeckt gespeicherten Daten erteilt das
Bundeskriminalamt die Auskunft nach § 19 des Bundesdatenschutzgesetzes im Einvernehmen mit der Behörde, die die
datenschutzrechtliche Verantwortung nach § 8 Abs. 1 Satz 1
trägt und die Zulässigkeit der Auskunftserteilung nach den
für sie geltenden Rechtsvorschriften prüft. Die Auskunft zu
verdeckt gespeicherten Daten richtet sich nach den für die
Behörde, die die Daten eingegeben hat, geltenden Rechtsvorschriften.
Lösungsskizze mit Hinweisen
Die Verfassungsbeschwerde des B gemäß Art. 93 Abs. 1
Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG hat Aussicht auf
Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
I. Beschwerdeberechtigung
B müsste beschwerdeberechtigt sein. Beschwerdeberechtigt
ist gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG grundsätzlich jedermann,
das heißt jeder, der Träger eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts sein kann.2 Als natürliche Person ist B
Träger von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten.
Er ist somit beschwerdeberechtigt.
II. Beschwerdegegenstand
Die Verfassungsbeschwerde müsste gegen einen tauglichen
Beschwerdegegenstand gerichtet sein. Nach § 90 Abs. 1
BVerfGG ist jeder Akt der öffentlichen Gewalt tauglicher
Beschwerdegegenstand. Der Begriff der öffentlichen Gewalt
umfasst dabei anders als in Art. 19 Abs. 4 GG alle drei Gewalten, um einen umfassenden Grundrechtsschutz im Sinne
des Art. 1 Abs. 3 GG zu gewährleisten.3 B wendet sich gegen
bestimmte Regelungen des Antiterrordateigesetzes (ATDG),
welches einen Akt der Legislative darstellt. Ein tauglicher
Gegenstand ist mithin im Wege der Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegeben.
III. Beschwerdebefugnis
Der B müsste beschwerdebefugt sein. Dies ist gemäß Art. 93
Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG dann der Fall, wenn
er durch das Gesetz möglicherweise selbst, gegenwärtig und
unmittelbar in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt ist.
§ 10 Datenschutzrechtliche Kontrolle, Auskunft an den Betroffenen
(1) Die Kontrolle der Durchführung des Datenschutzes obliegt nach § 24 Abs. 1 des Bundesdatenschutzgesetzes dem
2
1
Es handelt sich hierbei um die bis zum 1.1.2015 geltende
Fassung. Der Gesetzgeber hat in Folge des diesem Falle zugrunde liegenden Urteils des BVerfG das ATDG reformiert;
vgl. auch Fn. 49.
Lechner/Zuck, BVerfGG Kommentar, 7. Aufl. 2015, § 90
S. 642 Rn. 32; BVerfGE 3, 383 (391).
3
Vgl. dazu Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/
Bethge (Hrsg.), BVerfGG Kommentar, 37. Lfg., Stand: Oktober 2009, § 90 Rn. 3.
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ZJS 2/2016
220
Übungsfall: Die Antiterrordatei
1. Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung
Eine Grundrechtsverletzung müsste zunächst möglich erscheinen. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung besteht, wenn der Grundrechtsverstoß nicht von vornherein ausgeschlossen ist.
Das ATDG gestattet den Polizeibehörden und Nachrichtendiensten nicht nur das heimliche Beobachten, sonstige
Aufklären durch nachrichtendienstliche Mittel und Speichern
von personenbezogenen Daten (insbesondere durch die Teilnahme an Kommunikationseinrichtungen), sondern ermöglicht es ihnen auch derartige gewonnene Informationen auszutauschen.4 Es erscheint möglich, dass bei der heimlichen
Beobachtung und Speicherung der Daten Grundrechte von B
verletzt werden. Es ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen, dass durch eine solche Tätigkeit das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung und die Grundrechte der
Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 GG sowie die Telekommunikationsfreiheit, Art. 10 GG verletzt sind. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung ist folglich gegeben.
2. Selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen
B müsste durch das ATDG zudem selbst, gegenwärtig und
unmittelbar betroffen sein. Selbstbetroffenheit ist gegeben,
wenn der Beschwerdeberechtigte eine Verletzung eigener
Grundrechte geltend macht. Eine gewillkürte Prozessstandschaft wäre im Rahmen der Verfassungsbeschwerde somit
grundsätzlich ausgeschlossen.5 B hat dargelegt, dass er sich
in seinen Grundrechten verletzt fühlt. Er ist persönlich und
damit selbst betroffen.
Eine gegenwärtige Betroffenheit liegt vor, wenn der Beschwerdeführer schon oder noch in seinen Grundrechten
betroffen ist. Das Gesetz ist bereits existent und könnte B
gegenwärtig betreffen. Jedoch ist es nicht ausreichend, dass
der Beschwerdeführer irgendwann in der Zukunft hiervon
betroffen sein könnte. Etwas anderes muss sich jedoch ergeben, wenn vom Betroffenen üblicherweise keine Kenntnis
des Vollzugsakts erlangt werden kann.6 Ist es für ihn jedoch
möglich, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, durch die
Norm in seinen Grundrechten verletzt zu werden, nachzuweisen, gilt das Gegenwärtigkeitskriterium als erfüllt. Das erforderliche Maß der darzulegenden Wahrscheinlichkeit einer
gegenwärtigen Betroffenheit ist abhängig von der Weite des
Normadressatenkreises.7 Je mehr Personen möglicherweise
von der Norm erfasst werden, desto weniger spezifisch muss
die zu erwartende Beeinträchtigung vorgetragen werden.8 Die
sehr weite Fassung von zumindest § 2 S. 1 ATDG erfasst
dabei sogar die Unterstützer von Unterstützern terroristischer
Vereinigungen. Um dem weiten Adressatenkreis hier gerecht
4
Siehe hierfür § 2 ATDG.
Bereits BVerfGE 129, 78 (92, Anwendungserweiterung);
77, 263 (268, Teso).
6
Siehe BVerfGE 120, 378 (396, automatisierte Kennzeichenerfassung).
7
Prügel, ZIS 2013, 529 (530).
8
BVerfGE 133, 277 (311 ff., ATDG).
5
ÖFFENTLICHES RECHT
zu werden, sind keine hohen Anforderungen an B für eine
gegenwärtige Betroffenheit zu stellen.
B müsste zudem unmittelbar betroffen sein. Die Verfassungsbeschwerde ist unmittelbar gegen das ATDG gerichtet.
Die Bundesregierung bestreitet daher die Beschwerdebefugnis, da erst mit einer tatsächlich den B betreffenden Datenerhebung und/oder -speicherung möglicherweise eine Rechtsverletzung vorliege. Prinzipiell ist eine unmittelbare Betroffenheit gegeben, wenn die grundrechtsbeeinträchtigenden
Wirkungen ohne weiteren Vollzugsakt eintreten. Das ATDG
erfordert jedoch noch weitere Vollzugsakte in Form von
Datenerhebung, -speicherung und -austausch. Die Möglichkeit, eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein
Gesetz zu erheben, das zu heimlichen Maßnahmen berechtigt,
entfällt deshalb unter dem Gesichtspunkt der Unmittelbarkeit
jedenfalls in der Regel nur, wenn die spätere Kenntniserlangung des Betroffenen durch eine aktive Informationspflicht
des Staates rechtlich gesichert ist.9 Eine solche Informationspflicht sieht das ATDG indes nicht vor, weswegen auch weitere Vollzugsakte nicht zur Kenntnis des Betroffenen gelangen.
Zudem ist auch ein Auskunftsanspruch nach § 10 Abs. 2
ATDG10 dabei nicht ausreichend, wenn die Behörde unter
Umständen berechtigt ist, nicht alle angeforderten Informationen herauszugeben. Auf diesem Weg kann er ebenso lediglich dagegen vorgehen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt
Daten über ihn tatsächlich gespeichert sind, nicht aber – wie
es seinem Rechtsschutzanliegen entspricht – dagegen, dass
eine solche Speicherung, ohne dass er hierauf Einfluss hat
oder hiervon Kenntnis erlangt, jederzeit möglich ist.11
Da B weder von der Speicherung noch von der weiteren
Verwendung seiner Daten nach den angegriffenen Vorschriften verlässlich Kenntnis erhalten kann bzw. muss, ist die
unmittelbare Betroffenheit nach diesen Grundsätzen zu bejahen.
B ist durch das ATDG folglich selbst, gegenwärtig und
unmittelbar betroffen.
3. Mögliche Verletzung von EU-Grundrechten?12
Den Richtern des Bundesverfassungsgerichtes kommen jedoch Zweifel, ob die eingelegte Verfassungsbeschwerde zu9
So in BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v.
25.4.2001 – 1 BvR 1104/92 = NVwZ 2001, 1261 (1262 f.).
10
Die Norm bezieht sich auf die ursprüngliche Fassung zur
Zeit der Erhebung der Verfassungsbeschwerde. Heute ist dieses Auskunftsersuchen in § 10 Abs. 3 ATDG festgeschrieben.
11
BVerfGE 133, 277 (312, ATDG).
12
Der Prüfungsort der Anwendbarkeit der EUGrCh weicht in
der Lösungsskizze von dem des BVerfG ab. Dieses prüft eine
Vorlagepflicht zwischen Zulässigkeit und Begründetheit. Ob
die gerügten EU-Grundrechte jedoch überhaupt möglicherweise verletzt sind, müsste allerdings bereits dogmatisch in
der Beschwerdebefugnis thematisiert und geprüft werden. In
diesem Falle wären nämlich bereits die deutschen Grundrechte wegen der untergeordneten Stellung schon nicht anwendbar, was eine mögliche Verletzung von vornherein ausschließen würde. Die Zulässigkeit der Verfassungsbe-schwerde
würde dann auch mangels Zuständigkeit scheitern.
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221
ÜBUNGSFÄLLE
Maik Knaust
lässig wäre. Das angegriffene ATDG tangiert nämlich teilweise Regelungsbereiche des primären und sekundären EURechts, wie u.a. Art. 16 AEUV oder die EU-Datenschutzrichtlinie 95/46 zeigen, die wiederrum selbst im Wege der
EUGrCh auszulegen sein könnten (Art. 7, 8 EUGrCh).13
Diese Regelungen erteilen der EU beispielsweise Kompetenzen im Bereich des Datenschutzes, welcher im Rahmen des
ATDG durchaus eine Rolle spielen könnte. Da das BVerfG
jedoch grundsätzlich nicht befugt ist, Handlungen auf Vereinbarkeit mit Unionsrecht allein zu überprüfen, wäre das
BVerfG eventuell durch die eingelegte Verfassungsbeschwerde verpflichtet, ein Vorabentscheidungsverfahren vor
dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) gem. Art. 267 AEUV
zur Klärung der Reichweite des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes in Bezug auf einen Datenaustausch von verschiedenen Sicherheitsbehörden im Rahmen einer Verbunddatei (wie ihn das ATDG regelt) einzuleiten, bevor es eine
Entscheidung fällt. Fraglich ist somit, ob die EUGrCh vorliegend überhaupt anwendbar ist und die Vorlagepflicht auslöst.
Hinweis zum Grundrechtsschutz im „Mehrebenensystem“: Grundrechtsschutz gibt es sowohl in der Union als
auch in deren Mitgliedstaaten. Die einzelnen Grundrechtskataloge sind dabei weder in ihrem Wortlaut noch
in ihrer durch die Rechtsprechung konkretisierten Form
absolut kongruent, weswegen sich Abgrenzungsfragen
stellen, wann welche Grundrechte maßgeblich sind.
a) Anwendbarkeit der europäischen Grundrechte, Art. 51
EUGrCh14
Für ein Vorabentscheidungsverfahren müsste zunächst überhaupt das Unionsrecht anwendbar sein. In Betracht kommen
hierbei die Art. 7 und 8 EUGrCh. Die Anwendbarkeit der
EUGrCh bemisst sich jedoch nach Art. 51 EUGrCH. Danach
bindet diese zum einen die Organe, Einrichtungen und andere
Stellen der EU, Art. 51 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 EUGrCh. Deren gesamtes Handeln muss sich am Maßstab der Grundrechtecharta messen lassen, insbesondere die europäische Gesetzgebung
(per Verordnungen und Richtlinien) und die europäische
Verwaltung sind bei ihren Handlungen an diese gebunden.
Zum anderen bindet die Charta aber auch die Mitgliedstaaten, soweit diese Unionsrecht durchführen, indem sie
etwa europäische Richtlinien in nationales Recht umsetzen
oder – durch ihre nationalen Verwaltungen – europäische
Verordnungen ausführen.
Keine Anwendung findet die Charta somit auf rein nationale Sachverhalte. Hier sind die mitgliedstaatlichen Grundrechte alleiniger Prüfungsmaßstab für Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG.
Ob die Grundrechtecharta jedoch auch vorliegend für
Deutschland als Mitgliedstaat Anwendung findet, bestimmt
sich somit nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 EUGrCh.
aa) Auffassung des Europäischen Gerichtshofs15
In seiner ständigen Rechtsprechung geht der EuGH im Allgemeinen von einem unbedingten Vorrang des Unionsrechts
vor nationalem Recht aus.16 Dies gelte nach Art. 51 Abs. 1
S. 1 Alt. 2 EUGrCh jedenfalls dann, wenn die Mitgliedstaaten Unionsrecht ausführen, d.h. beim Vollzug und bei der
Umsetzung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten.17
Was Durchführung meint, bestimmt mangels Definition in
den Verträgen allein der EuGH.18
In Åkerberg Fransson fasst er die Anwendbarkeit des
Unionsrechts äußerst weit auf und lässt dabei bereits ausreichen, dass eine Handlung in den „Geltungsbereich des Unionsrechts“ fällt.19 Eine einzelfallbezogene Verknüpfung zum
Unionsrecht löse diesen Geltungsbereich aus. Obwohl es im
Fall Åkerberg Fransson um nationales Steuer- und Strafrecht
ging, sah der EuGH es für die Anwendbarkeit der EUGrCh
als ausreichend an, dass eine Richtlinie zur Mehrwertsteuer
existiere20 und nach Art. 325 AEUV die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, zur Vorbeugung rechtswidriger Handlungen
gegen die finanziellen Interessen der EU, Abschreckungsmaßnahmen zu ergreifen.21 Weiterhin besteht ein „unmittelbarer Zusammenhang“ zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuer und der Abgabe an den Haushalt der Union; da
jedes Versäumnis bei der Erhebung der Mehrwertsteuer zugleich zu einer potentiellen Verringerung des Unionshaushalts führt, sah er damit in der Sanktionierung beider Maßnahmen eine Durchführung von Unionsrecht.22
Hinweis: Åkerberg Fransson hatte in den Jahren 2004 und
2005 falsche Angaben zu seinem Einkommen gemacht,
wodurch er in seinem Heimatland Schweden unzulässigerweise weniger Mehrwertsteuern entrichtete. Als die
zuständige Finanzbehörde hiervon Kenntnis erlangte, legte sie ihm „Steuerzuschläge“ wegen unrichtiger steuerlicher Angaben auf und meldete es zudem der schwedischen Staatsanwaltschaft.
Angesichts derselben Sache erhob die schwedische
Staatsanwaltschaft zusätzlich Anklage wegen Steuerhinterziehung. Das hierfür zuständige Gericht hatte dabei
Zweifel, ob es einen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis
in idem (Verbot der Doppelbestrafung) gem. Art. 50
EUGrCH darstelle, der so in Schweden bis dato nicht
existierte, wenn Åkerberg Fransson für dieselbe Tat von
15
EuGH NVwZ 2013, 561 (Åkerberg Fransson).
Seit EuGH, Urt. v. 15.7.1964 – 6/64 (Costa/E.N.E.L.) =
Slg. 1964, 1251 (1269 f.).
17
EuGH NVwZ 2013, 561 (562, Åkerberg Fransson).
18
Lenaerts, EuR 2012, 3 (4).
19
EuGH NVwZ 2013, 561 (562, Åkerberg Fransson).
20
Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006
über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem der EU.
21
EuGH NVwZ 2013, 561 (562, Åkerberg Fransson).
22
Vgl. hierzu auch Safferling, NStZ 2014, 545 (547 f.).
16
13
Vgl. zur Auslegung der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG
bspw. EuGH, Urt. v. 6.10.2015 – C-362/14 (Schrems v. Data
Protection Commissioner), Rn. 38 ff.
14
Vgl. allgemein zur EU-Grundrechtecharta und deren Anwendbarkeit Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 2. Aufl. 2013; Heselhaus/Nowak,
Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2015.
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ZJS 2/2016
222
Übungsfall: Die Antiterrordatei
zwei unterschiedlichen Behörden eine Strafe auferlegt bekommt und legte deshalb diese Frage dem EuGH vor. Der
EuGH prüfte im Rahmen dessen als Anknüpfungspunkt
Art. 51 EuGrCH und bejahte diesen mit vorgenannten
Argumenten.
Er sah in der doppelt auferlegten Strafe allerdings keinen
Verstoß gegen Art. 50 EuGrCH, da verwaltungsrechtlichen Sanktionen – wie von der Steuerbehörde – nicht
stets ein strafrechtlicher Charakter zukäme.
zum Vorabentscheidungsverfahren wegen einer Verletzung
von EU-Grundrechten vorzulegen.28
Hinweis zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung:
Die EU darf nur Rechtsakte erlassen, wenn sie in den EUVerträgen von den Mitgliedstaaten dazu ermächtigt wurde. Die Mitgliedstaaten werden deshalb auch als die „Herren der Verträge“ bezeichnet.
Hinweis zu den Ultra-Vires-Akten: Überschreitet ein Organ der EU dieses Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und handelt außerhalb der von den Mitgliedstaaten
übertragenen Befugnisse (Art. 5 Abs. 1 EUV), spricht
man von einem Ultra-Vires-Akt. Entsprechende Handlungen wären dann nach deutschem Verfassungsrecht
auch nicht mehr von Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG gedeckt.
Für die Feststellung, ob ein Organ Ultra-Vires handelt, ist
grds. der EuGH zuständig. Problematisch ist dies jedoch
dann, wenn der EuGH außerhalb seiner zugeordneten
Kompetenzen agiert. In diesen Fällen behält sich das
BVerfG eine Prüfungskompetenz vor.
Hinweis: Nach dem EuGH reicht somit irgendein Bezug
zum Unionsrecht aus, um dessen Anwendbarkeit und Zuständigkeit zu bejahen.
bb) Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes23
Auch das Bundesverfassungsgericht geht von einem Vorrang
des Unionsrechts aus, solange ein ausreichender Grundrechtsschutz im Verhältnis zu den deutschen Grundrechten auf
europäischer Ebene gewährleistet wird und sofern dass Unionsrecht Anwendung findet.24 Da der Kompetenzrahmen der
Union gem. Art. 51 Abs. 2 EUGrCh und Art. 6 Abs. 1 EUV
nicht über die geregelten Zuständigkeiten hinaus ausgedehnt
werden darf, um neue Zuständigkeiten zu schaffen (Prinzip
der begrenzten Einzelermächtigung) muss die Anwendbarkeit
an den bisherigen Kompetenzübertragungen gemessen werden.25
Das BVerfG stellt dabei klar, dass aus der Rechtssache
Åkerberg Fransson keine umfassende Überprüfung des
EuGH von nationalen Rechtsakten anhand des Unionsrechts
folgt. Dies wäre nicht nur mit der Identität der Verfassungsordnung unvereinbar und widerspräche dem Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH,26 sondern würde
einen sog. Ultra-Vires-Akt darstellen. Aufgrund dessen verneinte das BVerfG in Bezug auf das ATDG die Anwendung
der EUGrCH. Eine darauf basierende behördliche Tätigkeit
stelle noch keine Durchführung von Unionsrecht im Sinne
des Art. 51 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 der EUGrCh dar, da die Errichtung und Durchführung staatlicher Terrorismusbekämpfungsmechanismen nach Maßgabe des ATDG nicht explizit durch
Unionsrecht determiniert seien.27 Ebenso existiere keine
Richtlinie, die die BRD zum Erlass eines Antiterrordateiengesetzes verpflichte. Die Kompetenzbereiche der EU im
Bereich des Datenschutzes gem. Art. 16 AEUV betreffen die
Fragen zur Terrorismusbekämpfung auch nur mittelbar. Eine
mittelbare Tangierung des Unionsrechts über Art. 16 AEUV
kann aber nicht ausreichen, einen Fall, der sich ausschließlich
im Bereich der deutschen Grundrechte bewegt, dem EuGH
23
BVerfGE 133, 277 (ATDG).
BVerfGE 37, 271 (Solange I); 73, 339 (Solange II); 89,
155 (Maastricht); 123, 267 (Lissabon).
25
BVerfGE 133, 277 (313 ff., ATDG). So auch EuGH
NVwZ 2012, 97 (100), Rn. 71; Lenaerts, EuR 2012, 3.
26
So seit BVerfGE 89, 155 (Maastricht).
27
Vgl. Art. 3 Abs. 2 der Direktive 95/46/EG, der den Anwendungsbereich der behördlichen Datenverarbeitung in Bezug
u.a. auf die öffentliche Sicherheit von der Kompetenz der
Europäischen Union ausdrücklich ausnimmt.
24
ÖFFENTLICHES RECHT
cc) Streitzusammenfassung
Stein des Anstoßes war ursprünglich zu wenig Grundrechtsschutz durch den EuGH (Solange-Rechtsprechung des
BVerfG). Darauf folgte in der Rechtssache Åkerberg Fransson (EuGH C-617/10) das Problem, dass der EuGH zu viel
Grundrechtsschutz gewährte und die Reichweite der Unionsgrundrechte auszuufern drohte. Nach dem EuGH binden die
Unionsgrundrechte grundsätzlich beim indirekten Vollzug
auch die Mitgliedstaaten, was zu einer weiten Auslegung des
Art. 51 EUGrCh durch den EuGH führte. Nach dem EuGH
ist Art. 51 EUGrCh „ausschließlich bei der Durchführung des
Unionsrechts“ so zu lesen, dass ein mittelbarer Anknüpfungspunkt zum Unionsrecht ausreichend sei. Mit der Eröffnung
der Anwendung des Unionsrechts gelten dann auch die Unionsgrundrechte.
Das BVerfG lehnte hingegen in seiner Entscheidung zur
Antiterrordatei eine so weite Geltung der Grundrechtecharta
ab; eine Geltung der Charta bei der jeder sachliche Bezug
einer Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des
Unionsrechts ohne rein tatsächliche Auswirkungen ausreiche,
käme nicht in Betracht (Trennungsthese).
Die besseren Argumente sprechen hierbei für das
BVerfG. Würde man jeden Bezug einer Handlung zum EURecht für die Anwendbarkeit der EUGrCh genügen lassen,
wären kaum noch Fälle denkbar, in denen der EuGH nicht
zuständig wäre, was so aber keineswegs mit den übertragenen
Befugnissen auf die EU und deren Organe im Einklang stünde. Würde das BVerfG dennoch seine Zuständigkeit eigenhändig bejahen, würde der EuGH dann sogar zur Revisionsinstanz des BVerfG aufsteigen.
Zudem lässt sich dem Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1
EUGrCh vielmehr entnehmen, dass die Charta für die Mitgliedstaaten nur gilt, wenn sie als „Vertreter der Union“ Uni28
Dieser Entscheidung zustimmend Prügel, ZIS 2013, 529
(531).
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223
ÜBUNGSFÄLLE
Maik Knaust
onsrecht durchführen und eben nicht bei der Durchführung
bloßen nationalen Rechts.29
b) Zwischenergebnis
Eine Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens, das von
den Richtern und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts in Erwägung gezogen wurde, scheidet mangels Anwendbarkeit der EUGrCh aus. Es liegt hierfür nach Art. 51
Abs. 1 S. 1 Alt. 2 EUGrCh keine „Durchführung von Unionsrecht“ vor.
IV. Rechtswegerschöpfung und Subsidiarität
Gemäß § 90 Abs. 2 BVerfG muss der Beschwerdeführer den
Rechtsweg erschöpft haben, d.h. den Instanzenzug vor den
zuständigen Gerichten ausgeschöpft haben. Erfordert ein
Gesetz dabei weitere Vollzugsakte muss gegen diese zuerst
vorgegangen werden, soweit der Betroffene von diesen Akten
verlässlich Kenntnis erlangen kann. Von einer Rechtswegerschöpfung ist jedoch dann auszugehen, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht beschreiten kann, weil er keine
Kenntnis von den betreffenden Vollzugsmaßnahmen erhält.30
In solchen Fällen steht ihm die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz ebenso zu wie in den Fällen, in
denen die grundrechtliche Beschwer ohne Vollzugsakt durch
Gesetz eintritt.31
So liegt der Fall auch hier, weswegen B sich direkt gegen
das ATDG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde wenden
konnte. Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer
sonstige, auch außergerichtliche Möglichkeiten, Rechtsschutz
zu erlangen, nicht genutzt hat und somit die weitergehende
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde missachtet hätte,
sind nicht zu erkennen.
V. Form und Frist
B müsste die Verfassungsbeschwerde schriftlich eingelegt
und begründet haben, § 23 BVerfGG. Für Rechtssatzverfassungsbeschwerden besteht eine Frist nach § 93 Abs. 3
BVerfGG von einem Jahr nach Inkrafttreten. Der Sachverhalt
geht sowohl von einer form- als auch fristgerechten Erhebung
der Verfassungsbeschwerde aus.
VI. Zwischenergebnis
Die Verfassungsbeschwerde des B ist somit zulässig; von
einer Annahme zur Entscheidung gem. § 93a BVerfGG ist
auszugehen.
B. Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde müsste auch begründet sein.
Dies ist der Fall, wenn B durch die Regelungen des ATDG
tatsächlich in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 13 Abs. 1 GG, Art. 10 GG und in
Verbindung damit Art. 19 Abs. 4 GG verletzt ist.
I. Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
In Betracht kommt eine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG
i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG in der Ausprägung des Rechts auf
informationelle Selbstbestimmung.
1. Eröffnung des Schutzbereichs
Der Schutzbereich müsste für B in sachlicher und persönlicher Hinsicht eröffnet sein.
a) Persönlich
Beim Allgemeinen Persönlichkeitsrecht handelt es sich um
ein Jedermanngrundrecht. Unter den Begriff „Jedermann“
fällt jeder, der Träger eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts sein kann. Als natürliche Person ist B Träger
von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten. Er ist
somit vom persönlichen Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst.
b) Sachlich
Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist im Grundgesetz
nicht ausdrücklich geregelt. Das BVerfG sieht dieses jedoch
in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankert. Dem
Einzelnen steht demnach ein autonomer Bereich privater
Lebensgestaltung zu, indem er seine Individualität entwickeln
und wahren kann. Die Rechtsprechung hat dabei im Laufe
der Zeit den Schutzbereich durch die Herausarbeitung einzelner Rechte konkretisiert. Darunter fallen etwa das Selbstbestimmungsrecht (z.B. Recht auf informationelle Selbstbestimmung), das Selbstbewahrungsrecht oder das Selbstdarstellungsrecht. Diese Entwicklung der Konkretisierung ist aber
noch nicht abgeschlossen, sondern muss aktuellen Entwicklungen angepasst werden. Geschützt werden mittlerweile
über die informationelle Selbstbestimmung konkret die Informationen über eine Person, die durch staatliche Datenerhebung sowie -verarbeitung erlangt werden und sie garantiert
ein Recht auf Inkenntnissetzen über derartige Vollzugsakte.32
Bereits die erstmalige Bündelung bestehender Daten in der
Datei durch die partizipierenden Behörden gemäß § 2 ATDG
sowie die Erhebung neuer Daten tangiert die Privatsphäre
und eröffnet den Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
2. Eingriff
Nach der klassischen Eingriffsdefinition liegt ein Eingriff
vor, wenn sich ein Rechtsakt, der mit Befehl und Zwang
durchsetzbar ist, final und unmittelbar freiheitsverkürzend auf
die Rechtssphäre des Bürgers auswirkt. „Ein Eingriff liegt
dabei zunächst in der Verknüpfung der Daten aus verschiedenen Quellen durch die Anordnung einer Speicherungspflicht gemäß §§ 1 bis 4 ATDG. Dem steht nicht entgegen,
dass es sich bei den Daten um bereits anderweitig erhobene
29
So Lenaerts, EuR 2012, 3 (4); a.A. durchaus vertretbar.
BVerfGE 133, 277 (311 f., ATDG).
31
BVerfGE 133, 277 (311 f., ATDG).
30
32
BVerfGE 65, 1 (42 f., Volkszählung); 118, 168 (183 ff.,
Kontostammdaten).
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ZJS 2/2016
224
Übungsfall: Die Antiterrordatei
Daten handelt, denn sie werden nach eigenen Kriterien zusammengeführt und aufbereitet, um sie anderen Behörden als
denen, die sie erhoben haben, zu deren Zwecken zur Verfügung zu stellen. Weitere Eingriffe liegen in den Regelungen
zur Verwendung der Daten gemäß den §§ 5 und 6 ATDG in
Form von Recherchen, in der Zugriffsmöglichkeit auf die
einfachen Grunddaten im Trefferfall gemäß § 5 Abs. 1 S. 1
und 2, § 6 Abs. 1 S. 1 ATDG sowie in der Zugriffsmöglichkeit auch auf die erweiterten Grunddaten im Eilfall gemäß
§ 5 Abs. 2, § 6 Abs. 2 ATDG.“33 Ein Eingriff liegt somit vor.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
Der Eingriff könnte jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein, wenn und soweit die Regelung von den Schranken
des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gedeckt ist.
a) Generelle Einschränkbarkeit des APR
Fraglich ist jedoch, welchen Schranken das Allgemeine Persönlichkeitsrecht unterliegt. Aufgrund seiner Verankerung in
Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG liegt es nahe, Art. 2 Abs. 1
GG und dessen Schranken heranzuziehen, sofern der Kernbereich des Art. 1 Abs. 1 GG unangetastet bleibt.
Art. 2 Abs. 1 GG unterliegt der sog. Schrankentrias: den
Rechten anderer, der verfassungsmäßigen Ordnung und dem
Sittengesetz. Zentrale Bedeutung kommt hierbei dem Begriff
der verfassungsmäßigen Ordnung zu. Aufgrund der weiten
Auslegung des Schutzbereiches umfasst diese Regelung nach
der Ansicht des BVerfG alle Rechtsnormen, die formell und
materiell mit der Verfassung im Einklang stehen. Damit
unterliegt das Allgemeine Persönlichkeitsrecht einem einfachen Gesetzesvorbehalt. Aufgrund dessen kommt den „Rechten anderer“ und dem „Sittengesetz“ keine eigenständige
Bedeutung mehr zu, da diese Bereiche bereits von der allgemeinen Rechtsordnung erfasst werden. Erforderlich ist damit,
dass das Gesetz formell und materiell verfassungsgemäß ist.
b) Verfassungsmäßige Rechtsgrundlage
Das ATDG müsste formell und materiell verfassungsgemäß
sein.
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
Mangels Angaben im Sachverhalt zu Verfahren und Form
lässt sich allein die Zuständigkeit klären. Die Gesetzgebungskompetenz liegt gemäß Art. 71, 73 Abs. 1 Nr. 10 lit. a-c
GG bzgl. der Zusammenarbeit der Behörden vor. Zusammenarbeit ist eine auf Dauer angelegte Form der Kooperation, die
die laufende gegenseitige Unterrichtung und Auskunftserteilung, die wechselseitige Beratung sowie gegenseitige Unterstützung und Hilfeleistung in den Grenzen der je eigenen
Befugnisse umfasst und funktionelle und organisatorische
Verbindungen, gemeinschaftliche Einrichtungen und gemeinsame Informationssysteme erlaubt.34 Das ATDG ist genau
auf eine derartige Zusammenarbeit hin geschaffen worden.
33
34
BVerfGE 133, 277 (317, ATDG).
BVerfGE 133, 277 (317 f., ATDG).
ÖFFENTLICHES RECHT
Der Bund hat folglich die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für das ATDG.
Aus Art. 87 Abs. 1 S. 2 GG ergibt sich zudem, unabhängig von der ungeklärten Frage, ob eine Verwaltungskompetenz des Bundes zum Führen einer Verbunddatei im Sinne
des ATDG notwendig ist, eine Zuständigkeit für die Einrichtung von Zentralstellen für das polizeiliche Auskunfts- und
Nachrichtenwesen,35 womit das Gesetz formell verfassungsgemäß ist.36
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
Das Gesetz müsste auch materiell verfassungsgemäß sein.
Bedenken bestehen im Hinblick auf das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Wahrung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.
(1) Verhältnismäßigkeit
Das Gesetz muss verhältnismäßig sein. Es müsste zunächst
einen legitimen Zweck verfolgen. Das ATDG soll den
Sicherheitsbehörden in erster Linie schnell und einfach
Kenntnis darüber verschaffen, ob bei anderen Sicherheitsbehörden relevante Informationen zu bestimmten Personen aus
dem Umfeld des internationalen Terrorismus vorliegen. Damit will es Vorinformationen vermitteln, mit denen diese
Behörden schneller und zielführender Informationsersuchen
bei anderen Behörden stellen können und die in dringenden
Fällen auch eine erste handlungsleitende Gefahreneinschätzung ermöglichen.37 Der Schutz der Bevölkerung stellt einen
legitimen Zweck dar, da er dem Schutzauftrag des Staates
entspricht, die Bevölkerung vor Gefahren zu schützen.
Hinweis: Würde als Zweck ein allgemeiner Austausch
personenbezogener Daten aller Sicherheitsbehörden bezweckt oder der Abbau jeglicher Informationsgrenzen
zwischen ihnen; würde dies den Grundsatz der Zweckbindung als solchen unterlaufen und wäre dann von vornherein unzulässig.38
Das Gesetz müsste auch zur Erreichung des gesetzten Zweckes geeignet sein. Dies ist dann der Fall, wenn das eingesetzte Mittel den legitimen Zweck zumindest fördert. Das
heimliche Ausspähen samt der Möglichkeit des heimlichen
Zugriffs sowie die Speicherung von Daten über potentielle
Terroristen oder diesem nahe stehende Personen und die
Weitergabe dieser Informationen sind förderlich, dem Zweck
der Terrorismusbekämpfung zu dienen, da es die Möglichkeiten der Nachrichtendienste und Polizeibehörden erweitert,
Bedrohungslagen im Vorfeld aufzuklären.
35
Vgl. auch Prügel, ZIS 2013, 529 (531).
Soweit § 1 Abs. 1 ATDG als weitere Behörden den Bundesnachrichtendienst, den Militärischen Abschirmdienst, das
Zollkriminalamt und die Bundespolizei mit einbezieht, findet
dies in Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 GG eine Kompetenzgrundlage.
37
BVerfGE 133, 277 (321, ATDG).
38
Vgl. BVerfGE 133, 277 (321, ATDG).
36
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225
ÜBUNGSFÄLLE
Maik Knaust
Die Regelung müsste aber auch erforderlich sein, d.h. der
Zweck dürfte nicht durch ein milderes Mittel, das gleich
geeignet ist, erreicht werden können. Eine „offene Untersuchung“ wäre gegenüber dem heimlichen Zugriff als milderes
Mittel anzusehen. Dies kann jedoch nicht als gleich geeignet
angesehen werden, da die Personen, die beobachtet werden
sollen, sich andere Mittel und Wege suchen würden, zu kommunizieren bzw. ein Hinweis der Durchsuchung die Ziele der
Maßnahme ernsthaft gefährden würde. Mildere Mittel, um
diese Erkenntnisziele zu erreichen, sind nicht ersichtlich.
Außerdem müsste die Regelung angemessen sein und die
Beeinträchtigung nicht außer Verhältnis zum angestrebten
Zweck stehen. Auf Seiten der Betroffenen kann die Aufnahme in eine Antiterrordatei ernstlich belastende Wirkung haben, die zusätzlich dadurch erhöht wird, dass die Antiterrordatei auch den Informationsaustausch zwischen den eigentlich geheim agierenden Nachrichtendiensten und den offen
ermittelnden Polizeibehörden ermöglicht.39 Grundsätzlich ist
jeder Behörde ein bestimmter Kernbereich von Aufgaben zur
eigenständigen Wahrnehmung übertragen worden. Nachrichtendienste sind auf die verdeckte Vorfeldaufklärung beschränkt, weshalb sie keinen erhöhten Anforderungen an
erheblich ausdifferenzierten Rechtsgrundlagen zur Informationsgewinnung und zum generellen Tätigwerden unterliegen.40 Die offene Polizeiarbeit stützt sich hingegen auf detaillierte Rechtsgrundlagen und ist grundsätzlich für die Einleitungen von Ermittlungen an das Vorliegen eines Anfangsverdachts gebunden.41 Ein Zugriff der Polizeibehörden auf sämtliche Daten nachrichtendienstlicher Informationsgewinnung,
die sie selbst eigentlich nicht hätten erheben dürfen, würde
zur Umgehung der polizeilichen Rechtsgrundlagen führen
und ihre Befugnisse über den Rand des Rechtsstaates ausdehnen. Daher leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein informationelles Trennungsprinzip für den Datenaustausch zwischen den beiden Behörden her, welches bei Nichteinhaltung
einen besonders schweren Eingriff darstelle.42 Dieser kann
allerdings ausnahmsweise zulässig sein, wenn er einem herausragenden öffentlichen Interesse diene.43
Der Eingriff der Behörden wird vorliegend zumindest dadurch gemindert, dass sich die Antiterrordatei nur auf bereits
39
Vgl. BVerfGE 133, 277 (322, ATDG). Die Polizei unterliegt auch im Bereich der Gefahrenabwehr dem Grundsatz
der offenen Datenerhebung (vgl. § 31 Abs. 2 S. 1 NSOG,
§ 21 Abs. 3 BPolG, Art. 30 Abs. 3 BayPAG, § 27 Abs. 1
S. 3, Abs. 2 BremPolG, § 26 Abs. 5 S. 1 RhPfPOG, § 2
Abs. 3 S. 1 Hamburger Gesetz über die Datenverarbeitung
der Polizei, § 29 Abs. 3 BbgPolG, § 13 Abs. 7 HSOG, § 9
Abs. 4 PolG NRW, § 31 Abs. 3 S. 1 ThürPAG, § 19 Abs. 2
S. 1 PolGBW, § 37 Abs. 5 S. 1 SächsPolG, § 178 Abs. 2 S. 1
LVwG-SH, § 26 Abs. 2 S. 1 SOG MV).
40
BVerfGE 133, 277 (322, ATDG).
41
Vgl. §§ 152 Abs. 2 i.V.m. 160 Abs. 1, 163 Abs. 1 StPO.
42
BVerfGE 133, 277 (322, ATDG).
43
Kritisch hierzu Arzt, NVwZ 2013, 1328 (1329). Vgl. zum
Trennungsgebot allgemein Volkmann, Jura 2014, 820 (821);
Roggan/Bergemann, NJW 2007, 876.
erhobene Daten begrenzt und einen Informationsaustausch
nur in dringenden Ausnahmefällen erlaubt. Zudem ist auch
dem Anliegen der Antiterrordatei, die sich gegen den Terrorismus als Gefahr für die „Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Ordnung und das Gemeinwesen als Ganzes“44 richtet,
im Rahmen der Angemessenheitsprüfung auch ein erhebliches Gewicht beizumessen. Die restringierte Ausgestaltung
der Antiterrordatei sowie der nur in begrenzten Fällen zulässige Datenaustausch überwiegen gegenüber den Interessen
der Bürger, die potentiell in eine derartige Datei aufgenommen werden können.45
(2) Bestimmtheit/Übermaßverbot
Die Regelungen des Antiterrordateigesetzes müssten aber
auch hinsichtlich der zu erfassenden Daten und deren Nutzungsmöglichkeiten mit Blick auf die Normenbestimmtheit
und dem Übermaßverbot übereinstimmen. Hierfür müssten
die Bestimmungen nicht nur klar und begrenzt formuliert
sein, sondern müssen qualifizierte Anforderungen an eine
Kontrolle der agierenden Behörden im Zusammenhang mit
der Antiterrordatei gestellt werden, um eine Umgehung zu
vermeiden.46
Die Vorschrift des § 2 S. 1 Nr. 1 ATDG erfasst zunächst
Angehörige, Unterstützer und unterstützende Gruppierungen
von terroristischen Vereinigungen. Sie erweitert diesen Kreis
aber auf Personen, die eine unterstützende Gruppierung lediglich unterstützen, ohne klarzustellen, dass es sich um eine
willentliche Unterstützung der den Terrorismus unterstützenden Aktivitäten handeln muss. Daher können Personen erfasst werden, die im Vorfeld und ohne Wissen von einem
Terrorismusbezug eine in ihren Augen unverdächtige Vereinigung unterstützen. Dies verstößt gegen den Grundsatz der
Normenklarheit und ist mit dem Übermaßverbot nicht vereinbar.
Auch § 2 S. 1 Nr. 2 ATDG, der das bloße „Befürworten
von Gewalt“ im Sinne dieser Vorschrift beinhaltet, reicht
nach der einhelligen Auffassung des Senats für die Erfassung
von Personen in der Antiterrordatei nicht aus. Die Vorschrift
ist demnach zu weit und verstößt insoweit gegen das Übermaßverbot.
Nach § 2 S. 1 Nr. 3 ATDG sind die einfachen Grunddaten
in die Datei einzustellen, soweit Kontaktpersonen von einem
Terrorismusbezug der Hauptperson nichts wissen. Der Personenkreis ist somit nicht mehr klar abgrenzbar geregelt und zu
weit gefasst. Diese Vorschrift ist daher mit dem Bestimmtheitsgrundsatz unvereinbar.
Das ATDG entspricht den qualifizierten Anforderungen
der Normenklarheit und hinreichenden bestimmten Begrenzung nicht und genügt nicht den verfassungsrechtlichen Maßstäben.
Hinweis: § 1 Abs. 2 ATDG, der die Beteiligung weiterer
Polizeivollzugsbehörden an der Antiterrordatei nur nach
weiten und wertungsoffenen Kriterien regelt, ist mit dem
44
BVerfGE 133, 277 (323, ATDG).
Im Ergebnis so auch BVerfGE 133, 277 (322 f., ATDG).
46
BVerfGE 133, 277 (323, ATDG).
45
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ZJS 2/2016
226
Übungsfall: Die Antiterrordatei
Bestimmtheitsgebot ebenso unvereinbar. Will der Gesetzgeber die Entscheidung über die beteiligten Behörden in
die Hände der Exekutive legen, ist er vorliegend auf die
Form der Rechtsverordnung verwiesen. Eine bloße Verwaltungsvorschrift reicht insoweit nicht aus.
(3) Zwischenergebnis
B ist folglich in seinem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus
Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in der Ausprägung der
informationellen Selbstbestimmung verletzt.
Hinweis: Das BVerfG stellt deutlich fest, dass ein Gesetz
wie das ATDG dabei per se nicht verfassungswidrig wäre,
sondern vielmehr nur in seiner unbestimmten Ausgestaltung mit der Verfassung unvereinbar.
II. Verletzung der Telekommunikationsfreiheit, Art. 10
Abs. 1 GG
In Betracht kommt zudem eine Verletzung der Telekommunikationsfreiheit, Art. 10 Abs. 1 GG, soweit die von der Speicherung und Verwendung betroffenen Daten durch Eingriff
in Art. 10 Abs. 1 GG erhoben wurden, ist auch deren Folgeverwendung an diesen Grundrechten zu messen.
Als Jedermanngrundrecht kann sich B als natürliche Person darauf berufen.
Die Gewährleistung des Telekommunikationsgeheimnisses schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs. Das Grundrecht erfasst jede Form der Telekommunikation unabhängig von ihrer Übermittlungsart. Der
Schutzbereich wäre diesbzgl. auch eröffnet.
Hinsichtlich des Eingriffs kann auf die Ausführungen
oben verwiesen werden.
Die konkrete Ausformung des ATDG könnte allerdings
diesen Eingriff verfassungsrechtlich rechtfertigen, sofern es
auch den verfassungsmäßigen Anforderungen standhält. Angesichts des besonderen Schutzgehalts gelten für Datenerhebungen, die in diese Grundrechte eingreifen, in der Regel besonders strenge Anforderungen. Durch die uneingeschränkte
Einstellung auch solcher Daten in die Antiterrordatei werden
die Informationen unabhängig von bereits geschehenen oder
bevorstehenden Terrorakten für Ermittlungsmaßnahmen noch
im Vorfeld greifbarer Gefahrenlagen zur Verfügung gestellt,
obwohl hierfür eine Datenerhebung unter Eingriffen in das
Telekommunikationsgeheimnis oder die Unverletzlichkeit
der Wohnung nicht gerechtfertigt werden könnte.47 Dies unterläuft die entsprechenden Datenerhebungsanforderungen.48
Die gesetzlich vorgesehene vollständige und uneingeschränkte Einbeziehung aller auch durch Eingriff in Art. 10 Abs. 1
GG erhobenen Daten in die Antiterrordatei ist mit der Verfassung somit ebenso wenig vereinbar.
47
48
BVerfGE 133, 277 (372 ff., ATDG).
BVerfGE 133, 277 (372 ff., ATDG).
ÖFFENTLICHES RECHT
III. Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 GG
In Betracht kommt eine Verletzung des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung, Art. 13 GG. Eine Verletzung liegt aus
selbigen Erwägungen wie auch schon bei Art. 10 GG vor.
IV. Ergebnis der Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet hinsichtlich der informationellen Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m.
Art. 1 Abs. 1 GG sowie Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 GG.
C. Ergebnis
Die Verfassungsbeschwerde des B ist zulässig und begründet.
Sie hätte somit Aussicht auf Erfolg.49
49
Vgl. auch die Umsetzung der Änderung des Antiterrordateigesetzes durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Antiterrordateigesetzes und anderer Gesetze v. 18.12.2014
(BGBl. I 2014, S. 2318; BGBl. I 2016, S. 48; in Kraft seit
1.1.2015) des Gesetzgebers in Folge des vorbenannten Urteils
des Bundesverfassungsgerichtes. Der Gesetzgeber hielt sich
dabei eng an den Vorgaben des Urteils. Dennoch steht auch
das neue ATDG in der Kritik: Vgl. dafür Hörauf, NVwZ
2015, 181.
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227
Übungsfall: Ein zauderndes Trio
Von Prof. Dr. Georg Steinberg, Potsdam, stud. iur. Vida Malakooti, Wiesbaden*
Diese Aufgabe hat der Erstautor im Frühlingstrimester 2014
in der Kleinen Übung Strafrecht (zweites Fachtrimester) an
der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden gestellt; die Bearbeitungszeit betrug 120 Minuten. Die Aufgabe
konzentriert sich ganz auf Versuch und Rücktritt, indem sie
Problemkonstellationen zum unmittelbaren Ansetzen, zum
Rücktrittsverhalten und zur Freiwilligkeit abprüft. In Kombination mit der sorgfältig in den Aufbau zu implementierenden
Mittäterschaft sowie deren Vorstufe, der Verbrechensverabredung, ist die Aufgabenstellung durchaus anspruchsvoll.
Sachverhalt
Alfred (A), Bruno (B) und Carl (C) verabredeten sich am
8.5., den Ortwin (O) am 25.5. zu töten, ihm nämlich, wenn
dieser um ca. 22.00 Uhr von seiner Stammkneipe nach Hause
kommen werde, vor seinem Haus aufzulauern und ihn gemeinsam zu erwürgen.
Die drei legten sich am Abend des 25.5. hinter einem Gebüsch, das einige Meter von der Haustür des O entfernt war,
mit über den Kopf gezogenen Strumpfmasken auf die Lauer.
O kam, wie erwartet, um 22.00 Uhr zu Fuß auf sein Haus
zugeschritten, allerdings war er nicht allein, sondern hatte
seinen Kollegen Kevin (K) bei sich, den er noch auf ein „kurzes Schnäpschen“ bei sich zu Hause eingeladen hatte.
Als A dies sah, raunte er B und C zu, die Sache sei ihm,
da O nicht allein sei, „zu heiß“. Den geflüsterten Einwand
von B und C, dass man doch zu dritt in der Lage sei, auch
den K rasch mundtot zu machen, ohne von ihm erkannt zu
werden und ohne dass man ihn lebensgefährlich verletzen
müsse, ließ A zwar gelten. Aber er war nicht bereit, abgesehen von dem ihm verhassten O einen Menschen zu verletzen.
Daher versuchte er durch eindringliches – aber erfolgloses –
Zureden, B und C von der Tatausführung abzubringen.
Diese sprangen vielmehr überaus flink, noch bevor A sie
körperlich hätte zurückhalten oder den O durch einen Ruf
hätte warnen können, aus dem Gebüsch und auf O und K zu,
die gerade vor der Haustür standen. B und C hatten jedoch
das Reaktionsvermögen des K unterschätzt, der ihnen blitzschnell mit geballten Fäusten entgegentrat. Zwar wussten B
und C, dass sie zusammen deutlich stärker waren als K und
der schwächliche O, aber auf einen offenen Kampf wollten
sie sich nicht einlassen und liefen daher sofort davon.
Lösung
I. Strafbarkeit von A, B und C nach §§ 212 Abs. 1, 25
Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB
A, B und C könnten sich, indem sie sich hinter das Gebüsch
legten und B und C aus dem Gebüsch hervor- und auf K und
O zusprangen, nach §§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1
StGB strafbar gemacht haben.
Hinweis: Es ist zulässig und ratsam, – wie hier – unter
Hintanstellung der Chronologie zuerst §§ 212 Abs. 1, 25
Abs. 2, 22, 23 Abs. 1, dann § 30 Abs. 2 Var. 3 i.V.m.
§ 212 Abs. 1 StGB zu prüfen, nämlich mit Blick auf deren
Konkurrenzverhältnis und mit Blick darauf, dass zuerst
die dem (intendierten) Taterfolg nächst vorausgehende
Tathandlung untersucht wird. Ebenso zulässig ist es aber
auch, chronologisch, also die Verbrechensverabredung
zuerst zu prüfen.
Statt der hier gemeinsam durchgeführten Prüfung von A,
B und C (die eine sorgfältige Differenzierung bei der Prüfung des unmittelbaren Ansetzens erfordert), kann man
ebenso gut zunächst B und C gemeinsam und dann, neu
ansetzend, A isoliert prüfen.
1. Vorprüfung
Die Tat blieb mangels Todeserfolg unvollendet. Der Versuch
ist strafbar nach §§ 212 Abs. 1 a.E., 12 Abs. 1, 23 Abs. 1
StGB.
2. Tatentschluss
A, B und C müssten zur Tat entschlossen gewesen sein, also
Vorsatz zur Verwirklichung aller Merkmale des objektiven
Tatbestands gehabt haben. Vorsatz ist Wissen und Wollen.1
A wollten den tatbestandsmäßigen Erfolg des § 212 Abs. 1
StGB, nämlich den Tod des O. Geplante Handlung war das
gemeinsame Erwürgen, das nach der Vorstellung von A, B
und C kausal, nämlich ohne dass es hätte hinweggedacht werden können, ohne dass der Erfolg entfallen wäre,2 hätte sein
sollen. Auch sollte der Tod objektiv zurechenbar sein, indem
sich die spezifische Gefahr des – rechtlich missbilligten –
Würgens im konkreten Todeserfolg, den Erstickungstod, realisieren sollte.3
Hinweis: Da all das evident ist, kann hier der schlichte
Feststellungsstil gewählt werden; etwas ausführlicher zu
subsumieren ist indes nicht falsch.
Bearbeitervermerk
Prüfen Sie, ob A, B und C sich im Hinblick auf § 212 StGB
strafbar gemacht haben. § 211 StGB ist nicht zu prüfen.
Nicht exakt geplant war indes, welche Handlung wessen
beim „gemeinsamen Würgen“ erfolgskausal sein sollte. Da-
* Prof. Dr. Georg Steinberg ist Inhaber eines Lehrstuhls für
Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Potsdam;
Vida Malakooti war stud. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht an
der EBS Universität für Wirtschaft und Recht Wiesbaden.
1
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
63. Aufl. 2016, § 15 Rn. 3.
2
Vgl. Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 4
Rn. 8 f.
3
Vgl. Fischer (Fn. 1), Vor § 13 Rn. 25.
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ZJS 2/2016
228
Übungsfall: Ein zauderndes Trio
rauf kommt es aber auch nicht an, wenn A, B und C Mittäter
nach § 25 Abs. 2 StGB sein wollten, denn dann wären die
geplanten Handlungen wechselseitig zurechenbar gewesen.
Den hierfür erforderlichen gemeinsamen Tatplan hatten A, B
und C am 8.5. gefasst. Die Tatherrschaftslehre fordert sodann, dass jeder Mittäter die Tat funktional beherrscht in dem
Sinne, dass er maßgeblich auf ihren Verlauf einwirken kann.
A, B und C wollten gemeinsam am Tatort sein und sämtlich
gemeinsam die geplantermaßen kausale Handlung, das Würgen, vornehmen, wollten danach also Mittäter sein. Die (abgeschwächt) subjektive Theorie fordert, dass die Täter die Tat
als eigene wollen (animus auctoris), worauf aus den objektiven Umständen zu schließen sein soll; A, B und C hatten
gleiches Interesse am Taterfolg und verstanden sich, wie auch
das intendierte gemeinsame Würgen zeigt, sämtlich als Täter,
waren also auch danach Mittäter. Mithin sind ihnen die geplanten einzelnen Würgehandlungen wechselseitig zuzurechnen, und A, B und C waren zur mittäterschaftlichen Tötung
des O entschlossen.
Hinweis: Bekanntlich werden verschiedene Aufbauten der
Prüfung mittäterschaftlicher Begehung vertreten und sind
demnach auch zulässig. Der hiesige hebt die Zurechnungswirkung des § 25 Abs. 2 StGB hervor und ist daher
u.E. besonders empfehlenswert.
3. Unmittelbares Ansetzen
a) Durch Auf-der-Lauer-Liegen
A, B und C müssten unmittelbar angesetzt, also – ihre Tatvorstellung zugrundegelegt – objektiv zur Tatbestandverwirklichung angesetzt und subjektiv die Schwelle zum „Jetzt geht
es los“ überschritten haben. Die Täter setzen objektiv unmittelbar an, wenn das Opfer aus ihrer Sicht bereits unmittelbar
gefährdet ist und der Erfolg in räumlicher und zeitlicher Nähe
ohne weitere Zwischenschritte herbeigeführt werden kann.4
Fraglich ist, ob dies gegeben war, als A, B und C auf der
Lauer lagen und O herannahte. Zwar waren zur körperlichen
Attacke gegen den O plangemäß nur wenige Meter Raum –
in wenigen Sekunden – zu überwinden, so dass räumliche
und zeitliche Nähe im Sinne der Sphärentheorie gegeben
sind.5 Jedoch waren die plangemäß zu bewältigenden Zwischenschritte – Herausspringen aus dem Gebüsch, Zulaufen
auf den O, Würgehandlung – bedeutungsvoll und zur Erfolgsherbeiführung wesentlich. Gefährdet war O nach Tatplan ebenfalls noch nicht durch sein Herannahen an die auf
der Lauer Liegenden. Insbesondere bei der Konstellation des
Auflauerns ist das von § 22 StGB geforderte „Ansetzen“ vielmehr als ein In-Bewegung-Setzen im Sinne einer Attacke gegen die Rechtsgüter des Opfers zu interpretieren,6 an dem es
4
Vgl. Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
45. Aufl. 2015, Rn. 855; Heger, in: Matt/Renzikowski
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 22 Rn. 27 f.;
Fischer (Fn. 1), § 22 Rn. 10.
5
Vgl. Heger (Fn. 4), § 22 Rn. 32.
6
Kühl (Fn. 2), § 15 Rn. 72-76.
STRAFRECHT
hier fehlt. In Abwägung der objektiven Kriterien haben A, B
und C daher noch nicht unmittelbar angesetzt.
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist, wenn gut begründet, vertretbar.
b) Durch Zuspringen des B und C auf K und O
aa) Bezüglich B und C
B und C könnten jedoch unmittelbar angesetzt haben, indem
sie auf O und K zusprangen. Zwar lag (dem geänderten Tatplan gemäß) zwischen dieser Handlung und dem Erfolg noch
das Überwinden des K und das Würgen des O; aber das Herausspringen sollte unmittelbar in die beiden genannten Handlungen münden, so dass nicht nur nach dem Sphärengedanken, sondern auch dem der plangemäßen Opfergefährdung –
die gefährliche Attacke gegen O sollte unmittelbar erfolgen –
B und C unmittelbar ansetzten. Auch waren, bezogen auf den
Gedanken der wesentlichen Zwischenschritte, das Überwinden des K und das Würgen des O zwar notwendige, aber sich
zäsurlos an das räumliche Erreichen der beiden anschließende
und daher nicht mehr als wesentlich abgrenzbare Zwischenschritte. B und C erfüllten also die objektiven Kriterien und
überschritten beim Herausspringen auch subjektiv die
Schwelle zum „Jetzt geht es los“, setzten also unmittelbar an.
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist, wenn gut begründet, vertretbar.
bb) Bezüglich A
Fraglich ist, ob auch A unmittelbar zur Tat ansetzte. Er selbst
setzte nicht unmittelbar an. Nach der Einzellösung, nach der
maßgeblich ist, wann jeder Mittäter für sich zu Tat ansetzt,
hat A also nicht unmittelbar angesetzt.
Möglich könnte aber – nach der Gesamtlösung – die Zurechnung des unmittelbaren Ansetzens von B und C nach
§ 25 Abs. 2 StGB sein. Fraglich ist indes, wie es sich auswirkt, dass A sich zu dem Zeitpunkt, als B und C unmittelbar
ansetzten, von der Tat distanziert hatte, so dass kein gemeinsamer Tatplan als Basis der Mittäterschaft mehr bestand.
Vertreten wird zwar, dass eine Zurechnung nach § 25 Abs. 2
StGB möglich bleibt, auch wenn sich der Mittäter im Vorbereitungsstadium von der Tat lossagt, allerdings nur unter der
Voraussetzung, dass dann ein im Vorbereitungsstadium geleisteter, bedeutungsvoller und die Mittäterschaft begründender Beitrag (etwa die detaillierte Tatplanung) erfolgte und
noch maßgeblich weiterwirkt.7 Einzig die Beteiligung des A
an der gemeinsamen – nicht komplexen – Tatplanung sowie
die psychische Unterstützung durch sein Mitkommen zum
Tatort wirkten hier weiter, reichten indes für sich genommen
nicht als objektive Beiträge zur Begründung der Mittäterschaft aus, können also auch kein Fortwirken der Zurechenbarkeit im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB stützen.8 Dem A ist
also das unmittelbare Ansetzen von B und C schon deshalb
nicht zurechenbar. A setzte folglich nicht unmittelbar an.
7
8
Etwa BGH NJW 1979, 1721 f.; BGHSt 37, 289 (293).
Vgl. Kühl (Fn. 2), § 20 Rn. 105.
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229
ÜBUNGSFÄLLE
Georg Steinberg/Vida Malakooti
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist nur begründbar,
indem man einer kaum abgeschwächten Spielart der subjektiven Theorie folgt.
4. Rechtswidrigkeit und Schuld (B und C)
B und C handelten rechtswidrig und schuldhaft.
5. Rücktritt von B und C nach § 24 Abs. 2 S. 1 StGB
B und C könnten nach § 24 Abs. 2 S. 1 StGB zurückgetreten
sein.
a) Kein Fehlschlag
Dazu dürfte ihr Versuch nicht subjektiv fehlgeschlagen sein;
B und C müssten also geglaubt haben, dass sie die Tat mit
den gegebenen Mitteln noch im zeitlichen und räumlichen
Zusammenhang realisieren konnten.9 B und C gingen, auch
nachdem sich K ihnen in den Weg gestellt hatte, davon aus,
dass sie – nach gemeinsamer Überwindung des K – den O
noch erwürgen konnten, so dass der Versuch nicht fehlgeschlagen war.
b) Hinreichendes Rücktrittsverhalten
B und C müssten nach § 24 Abs. 2 S. 1 StGB die Vollendung
verhindert haben; hierfür reicht – nach Wortlaut und Zweck
der Vorschrift – auch das Aufgeben der Tat aus, wenn der
Versuch noch nicht beendet war,10 wenn also die Täter zutreffend glaubten, noch nicht alles zur Erfolgsherbeiführung
Notwendige getan zu haben.11 B und C wussten, dass O noch
ungefährdet war, so dass ihre Abstandnahme von der weiteren Tatausführung als Rücktrittsverhalten nach § 24 Abs. 2
S. 1 StGB ausreichte.
c) Freiwilligkeit
Fraglich ist, ob die Aufgabe der weiteren Tatausführung freiwillig, also aus autonomen Motiven erfolgte.12 Heteronom
kann die Motivation insbesondere dann sein, wenn unerwartete neue Tatumstände eintreten. Zunächst kam, als B und C
noch im Gebüsch lagen, unerwarteterweise O nicht allein,
sondern gemeinsam mit K des Weges. Dies indes veranlasste
B und C zur Modifizierung des Tatplans (gemeinsame Überwindung des K), nicht hingegen zur Tataufgabe, so dass
schon deswegen dieser Umstand die Freiwilligkeit des Rücktritts nicht beseitigen kann.
Zum Rücktritt bewog sie hingegen der – nach ihrer letzten
auf den Erfolg zielenden Handlung,13 dem Hervorspringen
und Herannahen, wiederum neu eingetretene – Umstand, dass
K sich ihnen mit geballten Fäusten in den Weg stellte. Ein
neu hinzutretender Umstand macht die Rücktrittsmotivation
heteronom, wenn er die Tat aus Tätersicht als nicht mehr
sinnvoll durchführbar erscheinen lässt. Das kann insbesonde9
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 7.
Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 37 f.
11
Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 14.
12
Vgl. Kühl (Fn. 2), § 16 Rn. 54-56; Fischer (Fn. 1), § 24
Rn. 19.
13
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 24.
10
re der Fall sein, wenn der hinzugetretene Umstand die Tatausführung wesentlich erschwert oder das Entdeckungsrisiko
wesentlich erhöht.14 B und C mussten nun, anders als zuvor
geplant, damit rechnen, dass es zu einem offenen Kampf
kommen konnte, in dessen Verlauf sie körperliche Verletzungen davontragen konnten; durch die längere Zeitspanne,
die das Tatgeschehen nun prognostisch dauern würde, erhöhte sich auch das Risiko, dass Dritte hinzukamen oder dass O
Hilfe holte oder ins Haus flüchten konnte. All das spricht
gegen die Autonomie der Entscheidung.
Allerdings schließen solche Erschwernisse und Risiken
die Freiwilligkeit so lange nicht aus, wie dem Täter ein erheblicher Abwägungsspielraum zwischen Vollendung und
Rücktritt verbleibt.15 Ins Gewicht fällt hier insbesondere, dass
sich B und C dem K körperlich überlegen wussten, so dass
die Möglichkeit eines längeren Kampfes mit den geschilderten Folgerisiken zwar gegeben, aber doch gering war. B und
C gingen vielmehr davon aus, dass sie den K in kürzester Zeit
und ohne Folgerisiken überwältigen konnten. Dass sie den
offenen Kampf mit ihm nicht aufnehmen wollten, stellt sich
vor diesem Hintergrund als autonome Entscheidung gegen
die – nicht der „Verbrechervernunft“ widersprechende –
weitere Tatausführung dar. B und C handelten insofern freiwillig.
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist ebenso vertretbar.
Forderte man ein inneres Abstandnehmen vom Unrecht der
Tat als moralische Qualität der Rücktrittsmotivation, so wäre
die – nur aus der erkannten Verwirklichungserschwernis resultierende – Entscheidung von B und C als unfreiwillig zu
qualifizieren. Für diese Position könnte sprechen, dass nur
der innerlich von der Tat sich abkehrende Täter belohnenswert erscheint und prognostisch ungefährlich ist.16 Zentraler
Zweck des § 24 StGB ist indes nicht die Belohnung des Täters für einen Gesinnungswandel unter Berücksichtigung
künftigen Täterverhaltens, sondern der Rechtsgüterschutz in
der akuten Situation:17 § 24 StGB will den Täter bewegen,
sich – freiwillig – gegen die Tatvollendung zu entscheiden,
unabhängig von der moralischen Qualität des Motivs.18 B und
C traten demnach freiwillig zurück.
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist mit höherem Begründungsaufwand vertretbar.
14
Etwa BGH NStZ 1993, 76 (77); BGH NStZ-RR 2006, 168
(169).
15
Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 19a; Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015, § 37 Rn. 103-106.
16
Nachweise zu diesen Positionen und Argumenten bei
Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 20.
17
Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl. 2014, § 24
Rn. 14; Fischer (Fn. 1), § 24 Rn. 2.
18
Rengier (Fn. 15), § 37 Rn. 94; etwa BGH NStZ 2005, 150
(151); BGH NStZ 1988, 404 (405).
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ZJS 2/2016
230
Übungsfall: Ein zauderndes Trio
6. Ergebnis
Die Strafbarkeit von A, B und C entfällt.
II. Strafbarkeit des A nach § 30 Abs. 2 Var. 3 i.V.m. § 212
Abs. 1 StGB
A könnte sich nach § 30 Abs. 2 Var. 3 i.V.m. § 212 Abs. 1
StGB strafbar gemacht haben, indem er am 8.5. mit B und C
vereinbarte, den O gemeinsam zu erwürgen.
1. Tatbestand, Rechtswidrigkeit, Schuld
Objektiv verwirklichte A, indem er das Verbrechen des Totschlags (§§ 212 Abs. 1 a.E., 12 Abs. 1 StGB) mit B und C
verabredete, sich nämlich mit B und C auf die mittäterschaftliche Begehung der hinreichend konkreten Tatverwirklichung19 (gemeinsames Erwürgen des O am 25.5. um 22.00
Uhr vor dessen Haus) einigte, den Tatbestand des § 30 Abs. 2
Var. 3 i.V.m. § 212 Abs. 1 StGB. Den subjektiven Tatbestand
erfüllte er, indem er vorsätzlich, das heißt wissentlich und
willentlich insbesondere mit Blick auf die Tatausführung und
seine täterschaftliche Beteiligung handelte. A handelte auch
rechtswidrig und schuldhaft.
2. Rücktritt
a) Nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 StGB
A könnte nach § 31 Abs. 1 Nr. 3 StGB zurückgetreten sein,
indem er nicht aus dem Gebüsch hervorsprang und B und C
aufforderte, davon ebenfalls abzusehen. Fehlgeschlagen war
der Versuch aus seiner Sicht, da A glaubte, trotz des Erscheinens des K am Tatort den Taterfolg hier und jetzt gemeinsam
mit B und C verwirklichen zu können, noch nicht.
Fraglich ist, ob A die Tat verhinderte; dafür, dass B und C
den Erfolg nicht herbeiführten, war Aʼs erfolglose Bemühung, sie zur Tataufgabe zu überreden, nicht kausal. Auch
dass A nicht aus dem Gebüsch hervorsprang (das Aufgeben
der Tat kann ebenfalls ein Verhindern im Sinne des § 31
Abs. 1 Nr. 3 StGB sein20), war, da B und C sich hierdurch
nicht vom Hervorspringen als nächster tatplangemäßer Handlung abhalten ließen, nicht kausal für den Nichteintritt des
Tatbestandserfolgs. A nahm also keine hinreichende Rücktrittshandlung im Sinne von § 31 Abs. 1 Nr. 3 StGB vor.
Nach dieser Vorschrift trat er also nicht zurück.
b) Nach § 31 Abs. 2 Alt. 1 StGB
A könnte jedoch nach § 31 Abs. 2 Alt. 1 StGB zurückgetreten sein. Der Versuch war zum Zeitpunkt der potentiellen
Rücktrittshandlungen nicht fehlgeschlagen (s.o.). Die Tatausführung, nämlich das Erwürgen des O, unterblieb auch, und
zwar, da er auf die Rücktrittsentscheidung von B und C keinen Einfluss hatte, ohne Zutun des A.
Fraglich ist, ob die genannten Handlungen des A ein hinreichendes ernsthaftes Bemühen der Tatverhinderung sind.
Erforderlich ist dazu, dass der Täter alles tut, was nach seiner
Einschätzung und seinen Kräften geeignet ist, den Erfolg
abzuwenden oder die Begehung der Tat zu verhindern;21
bemerkt er, dass das bisher Getane nicht ausreicht, muss er
weitere Maßnahmen ergreifen.22 A glaubte zunächst, B und C
durch sein Aussteigen aus der Tat und seine Überredungsbemühungen von der Tatausführung abbringen zu können. Als
er erkannte, dass dies nicht der Fall war, sprangen B und C
bereits aus dem Gebüsch und liefen auf O und K zu, ohne
dass A – so der gegebene Sachverhalt – dies hätte verhindern
können; unmittelbar darauf traten B und C bereits selbst
zurück, so dass dem A keine weitere Verhinderungshandlung
blieb. Demnach tat er alles aus seiner Sicht zur Erfolgsabwendung Erfolgversprechende, bemühte sich also ernsthaft,
die Tat zu verhindern.
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist, bei entsprechender Sachverhaltsinterpretation, gut vertretbar.
A müsste freiwillig, also autonom motiviert gehandelt haben.
Hiergegen könnte sprechen, dass das unerwartete Erscheinen
des K seine Rücktrittsentscheidung auslöste. Indes fürchtete
A weder eine wesentliche Erschwernis der Tat noch etwaige
Folgerisiken bei der Überwältigung des K. Sondern er entschied sich aus der – autonomen, nicht durch „Verbrechervernunft“ sich aufdrängenden – Motivation heraus, außer
dem O niemanden körperlich verletzen zu wollen. A trat also
freiwillig zurück.
Hinweis: Das gegenteilige Ergebnis ist vertretbar.
3. Ergebnis
A ist nicht strafbar nach § 30 Abs. 2 Var. 3 i.V.m. § 212
Abs. 1 StGB.
III. Strafbarkeit von B und C nach § 30 Abs. 2 Var. 3
i.V.m. § 212 Abs. 1 StGB
Eine mögliche Strafbarkeit von B und C entfällt nach dem
Ziel des verwirklichten § 24 Abs. 2 StGB erst recht für die
Verabredung als Vorstufe des Versuchs.
Hinweis: Als korrekt akzeptiert wird hier auch, wenn BearbeiterInnen dieses Ergebnis – u.E. dogmatisch nicht
überzeugend – auf § 31 Abs. 1 Nr. 3 StGB stützen. Wer
oben (I.) die Strafbarkeit von B und C nach §§ 212
Abs. 1, 25 Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB bejaht hat, kann
kurz feststellen, dass die Verbrechensverabredung auf
Konkurrenzebene als subsidiär zurücktritt; das ist aber erlässlich, da selbstverständlich.
IV. Gesamtergebnis
A, B und C bleiben straflos.
19
21
20
22
Vgl. Fischer (Fn. 1), § 30 Rn. 12.
Fischer (Fn. 1), § 31 Rn. 5; Rengier (Fn. 15), § 47 Rn. 39;
etwa BGH NJW 1984, 745.
STRAFRECHT
Heger (Fn. 4), § 31 Rn. 16.
Heine/Weißer, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,
Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 31 Rn. 11.
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231
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
Von Wiss. Mitarbeiter Christopher Penkuhn, Göttingen*
Die Hausarbeit wurde im Wintersemester 2014/2015 im
Anschluss an die Vorlesung Strafrecht I an der GeorgAugust-Universität Göttingen zur Bearbeitung ausgegeben.
Als Schwerpunkte sind die Notwehrrestriktion durch Art. 2
Abs. 2 lit. a EMRK sowie die objektive Erfolgszurechnung bei
„Retterfällen“ zu behandeln. Weiterhin stellt sich die Frage,
ob die erstrebte Vermeidung von Vermögensabflüssen das
Mordmerkmal der Habgier erfüllt. Schließlich beinhaltet die
im Schwierigkeitsgrad als moderat einzustufende Hausarbeit
die Frage, ob eine Ingerenzhaftung aus einem durch Notwehr
gerechtfertigten Vorverhalten begründet werden kann. Im
Durchschnitt erreichten die Kandidaten 5,59 Punkte. Die
Misserfolgsquote betrug 31,09%.
Sachverhalt
Theodor (T) kommt abends nach Hause und findet seine
Ehefrau Ella (E) mit seinem Arbeitskollegen Konrad (K) im
gemeinsamen Ehebett vor. T stürmt in die Küche, um ein
Messer zu holen, mit dem er den K schwerstmöglich verletzen will. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrt, ist K allerdings schon aus dem Fenster geflohen. T sieht den K durch
den Garten laufen und nimmt die Verfolgung auf. Vor dem
Haus steigt K eilig in seinen Wagen und will davon fahren. T
läuft zu dem am Fahrbahnrand abgestellten Luxuswagen
seines Nachbarn Bert (B), mit dem er den K verfolgen will. T
schlägt die Scheibe der Fahrertür ein, die er sodann von innen
öffnet und schließt den Wagen kurz. Der Passant Paul (P),
der seinen täglichen Abendspaziergang unternimmt, wird
Zeuge des Geschehens. P wurde schon öfters überfallen und
führt daher stets seine Walther PPK/E zur Verteidigung mit
sich. Da T bereits am Steuer der Luxuslimousine Platz genommen hat, sieht P keine andere Möglichkeit T zu stoppen
als mit dem Einsatz seiner Waffe. Zunächst gibt er einen
Warnschuss in die Luft ab. T, der immer noch den K verfolgen will, fährt dennoch los. P gibt nunmehr einen gezielten
Schuss auf das Fahrzeug ab. Dabei nimmt er billigend in
Kauf, dass er den T tödlich treffen könnte. Primär kommt es
P jedoch darauf an, die Entwendung des PKW zu verhindern.
Die Kugel verfehlt den Wagen, woraufhin T entkommt, der
aber den K mittlerweile aus den Augen verloren hat. Frustriert stellt T den PKW am Ortsausgang ab und geht zu Fuß
zurück nach Hause. T wollte den Wagen ohnehin seinem
Schicksal überlassen, nachdem er den K gestellt hätte. Dabei
lässt er die Fahrertür offen stehen und geht nicht davon aus,
dass der Luxuswagen seinen Weg zurück zu B findet.
Zuhause angekommen erwartet ihn bereits die E in der
Küche und empfängt ihn mit den Worten: „Ich lasse mich
von dir scheiden und fange mit K ein neues Leben an! Mit
deinen Unterhaltszahlungen wird es mir gut gehen!“ T, der
Unterhaltszahlungen an die E um jeden Preis verhindern will,
* Der Autor ist wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht,
Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung (RiLG Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos) an der GeorgAugust-Universität Göttingen.
greift zu dem Tranchiermesser im Messerblock und stürzt
sich auf die E, die er – bevor sich E versieht und reagieren
kann – mit drei gezielten Stichen in die Brust tötet.
Nach der Attacke auf seine Ehefrau ist die Wut des T auf
den K immer noch groß. Deshalb fasst er den Entschluss, sich
an K zu rächen. Dazu beschließt er, das Wohnhaus des K
anzuzünden, damit dieses vollständig niederbrennt. So begibt
sich T in der darauf folgenden Woche zum örtlichen Fitnessstudio, in dem K, wie T weiß, regelmäßig trainiert, um sicherzugehen, dass sich dieser nicht in dem Haus aufhält. Als
er den K im Trainingsraum erkennt, fährt er geradewegs zu
dessen Haus und verteilt sodann im Schutz der Dunkelheit
Brandbeschleuniger um das Gebäude, den er im Anschluss
entzündet. Wie von T geplant, ergreifen die Flammen das
gesamte Wohnhaus, das bis auf die Grundmauern niederbrennt. In dem Feuer findet der Feuerwehrmann Fred (F), der
dem zum Brandort gerufenen Löschzug angehörte, den Tod.
F, der den K aus dem örtlichen Schützenverein kannte und
von dessen Katze Stupsi wusste, wollte diese aus dem Haus
retten, obwohl der Einsatzleiter wegen Einsturzgefahren
weitere Lösch- und Rettungsarbeiten in dem Wohnhaus untersagt hatte. T hatte darauf vertraut, dass Personen nicht zu
Schaden kommen würden.
T ergreift nun aus Angst vor einer möglichen Strafverfolgung die Flucht und setzt sich nach Italien ab. Dort kommt er
in einem Hotel am Gardasee unter. Auch K verbringt einige
Tage in dem Ferienort, um Abstand von den vergangenen
Ereignissen zu gewinnen. K, der von den deutschen Polizeibehörden erfahren hat, dass der Brand seines Hauses aufgrund der gesicherten Rückstände des Brandbeschleunigers
auf eine Brandstiftung zurückzuführen ist, vermutet den T
hinter den Geschehnissen. Als K zu einem Spaziergang aufbricht, trifft er außerhalb des Ferienortes auf den T. Fest
entschlossen, sich an T zu rächen, läuft er auf diesen zu, um
ihn niederzuschlagen. T erblickt den K rechtzeitig und kann
der Attacke ausweichen. Schnell hat K jedoch zu einem gezielten Handkantenschlag ausgeholt und trifft den T, der
unter der Wucht des Schlages zu Boden geht. Sodann stürzt
sich K mit den Worten „Du dreckige Sau! Dich mach ich
kalt!“ auf den T und beginnt, diesen in Tötungsabsicht zu
würgen. T ist dem Angriff des körperlich überlegenen K
hilflos ausgesetzt und bekommt Todesangst. Im Laufe des
Geschehens schafft T es jedoch, sein Springmesser aus der
Tasche zu ziehen und rammt es dem K in den Hals. K sackt
schwer verletzt zusammen. T erkennt zutreffend, dass K
dringend ärztlicher Hilfe bedarf, um nicht zu verbluten, ergreift aber dennoch die Flucht. Kurze Zeit später entdeckt ein
zufällig vorbeikommender Passant den schwer verletzen K
und informiert die Rettungskräfte, die K ins nächstgelegene
Krankenhaus transportieren, wo dieser gerettet wird.
Bearbeitervermerk
In einem Rechtsgutachten ist die Strafbarkeit von P und T
nach dem StGB zu prüfen. Delikte des Brandstiftungskatalogs (§§ 306-306f StGB) und die Aussetzung (§ 221 StGB)
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ZJS 2/2016
232
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
bleiben außer Betracht. Gehen Sie für die Bearbeitung davon
aus, dass das italienische Strafgesetzbuch (Codice Penale) die
zu prüfenden Delikte entsprechend dem deutschen StGB
unter Strafe stellt und E, F, K, P und T die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Ggf. erforderliche Strafanträge gelten
als gestellt.
Lösung
A. Erster Tatkomplex – Die misslungene Verfolgung
I. Strafbarkeit des P gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1
StGB
P könnte sich durch den Schuss auf T des versuchten Totschlags gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar
gemacht haben.
1. Vorprüfung
Der Schuss hat nicht zum tatbestandlichen Erfolg geführt.
Mangels Erfolgseintritts liegt somit eine Nichtvollendung der
Tat vor. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich gem. § 23
Abs. 1 StGB aus der Natur des Delikts als Verbrechen oder
bei Vergehen aus deren expliziter gesetzlicher Anordnung.
Als Verbrechen gilt gem. § 12 Abs. 1 StGB jedes Delikt mit
einer angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Der
Totschlag ist gem. § 212 Abs. 1 StGB mit fünf Jahren Freiheitsstrafe im Mindestmaß bedroht und somit ein Verbrechen. Der Versuch ist demzufolge strafbar.
2. Tatentschluss
P müsste einen Tatentschluss gefasst haben. Als solcher ist
der Vorsatz zur Verwirklichung des objektiven Unrechtstatbestandes unter Einschluss weiterer subjektiver Tatbestandsmerkmale zu verstehen.1 P müsste somit Vorsatz zur Verwirklichung des vollendeten Tötungsdelikts gehabt haben.
Vorsatz ist nach h.M. der Wille zur Verwirklichung des Tatbestandes in Kenntnis aller objektiven Tatumstände.2 P hatte
die Todesfolge weder beabsichtigt, noch wusste er sicher,
dass der Schuss tödlich sein würde. In Betracht kommt der
Eventualvorsatz. In kognitiver Hinsicht setzt dieser voraus,
dass der Täter den Eintritt des Erfolges zumindest für möglich hält.3 Ob darüber hinaus auch ein voluntatives Element
erforderlich ist, ist umstritten. Die strengsten Anforderungen
stellt hierbei die Billigungstheorie.4 Demnach ist Eventualvorsatz zu bejahen, wenn der Täter sich mit dem Taterfolg
STRAFRECHT
abfindet, selbst wenn dieser ihm unerwünscht ist.5 P wollte
hier vorrangig die Entwendung des KFZ unterbinden, hat
dabei jedoch auch eine tödliche Schussverletzung des T für
möglich gehalten. Er hat somit den Todeserfolg gebilligt und
handelte im Ergebnis mit Eventualvorsatz. Dieser müsste
auch den Kausalverlauf und die objektive Zurechnung mit
einbeziehen. Nach der condicio-sine-qua-non-Formel ist jede
Ursache äquivalent kausal, die nicht hinweg gedacht werden
kann, ohne dass der tatbestandliche Erfolg in seiner konkreten Form entfiele.6 P hat den Tod als Folge des Schusses in
seine Vorstellung aufgenommen. Zudem hat der Täter mit
dem Schuss eine rechtlich missbilligte Gefahr für das Leben
des T begründet, die sich nach seiner Vorstellung im Todeserfolg realisieren sollte. Die objektive Zurechnung war folglich ebenfalls vom Tatentschluss gedeckt.
3. Unmittelbares Ansetzen
P müsste weiterhin unmittelbar zur Tatausführung angesetzt
haben (§ 22 StGB). Der Täter setzt dann unmittelbar zur Tat
an, wenn er subjektiv die Schwelle zum „Jetzt-geht-es-los“
überschreitet und in objektiver Hinsicht zur tatbestandlichen
Ausführungshandlung übergegangen ist.7 Mit der Abgabe des
Schusses hat P alles getan, um den tatbestandlichen Erfolg
ohne weitere Zwischenakte eintreten zu lassen. Er hat demnach unmittelbar angesetzt.
4. Rechtswidrigkeit
P müsste auch rechtswidrig gehandelt haben. Die Rechtswidrigkeit ist zu bejahen, wenn der Täter den Tatbestand verwirklicht hat, und dieser Verwirklichung kein Erlaubnistatbestand gegenübersteht.8 In Betracht kommt hier die Nothilfe
gem. § 32 StGB in Form der Notwehr für Dritte. Dafür müsste P in einer Notwehrlage die geeignete, erforderliche und
gebotene Handlung zur Abwehr eines Angriffs vorgenommen
haben.
a) Notwehrlage
Zunächst bedarf es zur Rechtfertigung aus § 32 StGB einer
Notwehrlage. Unter einer solchen versteht das Gesetz einen
gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff.
Als Angriff ist jede menschliche und auf die Verletzung
von Rechtsgütern abzielende Handlung zu verstehen.9 Die
Handlung des T war darauf gerichtet, das Eigentum des B an
dessen PKW zu verletzen und somit ein Angriff. Gegenwärtig ist der Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade
1
Kindhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2015,
§ 31 Rn. 4; Wessels/Beulke/Satzger, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 45. Aufl. 2015, Rn. 851.
2
BGHSt 19, 295 (298); Momsen, in: Satzger/Schluckebier/
Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2. Aufl.
2014, § 15 Rn. 7.
3
Kühl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 7. Aufl. 2012, § 5
Rn. 43; vgl. Joecks, Strafgesetzbuch, Studienkommentar,
11. Aufl. 2014, § 15 Rn. 12.
4
BGHSt 36, 1 (9 f.); 51, 18 (Kochsalzfall); Weber, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl.
2003, § 20 Rn. 53.
5
BGHSt 7, 363 (366 ff. – Lederriemenfall); BGH NStZ
2009, 91; Krey/Esser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl.
2012, Rn. 388; vgl. auch Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 333.
6
BGHSt 1, 332 f.; Rengier, Strafrecht, Allgemeiner Teil,
7. Aufl. 2015, § 13 Rn. 3.
7
So die gemischt subjektiv-objektive Theorie der h.M.: BGH
wistra 2008, 105 f.; Rönnau, JuS 2013, 879.
8
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 386.
9
Rengier (Fn. 6), § 18 Rn. 6; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 483.
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233
ÜBUNGSFÄLLE
Christopher Penkuhn
stattfindet oder noch fortdauert.10 Als P den Schuss abgegeben hat, ist T gerade davon gefahren und hat die Besitzlage
entgegen den zivilrechtlichen Eigentumsverhältnissen aufrechterhalten und damit das Eigentum des E weiterhin verletzt. Der Angriff dauerte somit fort und war noch gegenwärtig. Für die Rechtswidrigkeit des Angriffs ist erforderlich,
dass dem Angreifer seinerseits kein Rechtfertigungsgrund zur
Seite steht.11 Gegenüber dem Eigentum des E steht T kein
Erlaubnistatbestand zur Verletzung zur Verfügung. Er handelte somit auch rechtswidrig. Im Ergebnis ist somit eine
Notwehrlage zu bejahen.
b) Notwehrhandlung
Der Schuss des P müsste auch den Anforderungen an eine
Notwehrhandlung genügen. Als Notwehrhandlung ist die
geeignete, erforderliche und gebotene Handlung zur Abwehr
des Angriffs zu verstehen.
Die Handlung ist geeignet, wenn sie den Angriff beendet
oder zumindest abschwächt.12 Der Schuss hätte den T verletzt
oder getötet, wenn P den T getroffen hätte. Damit hätte der
Schuss den Angriff gegen das Eigentum des E beenden, zumindest aber erschweren können. Der Schuss war somit
grundsätzlich geeignet. Der Schuss müsste darüber hinaus
auch erforderlich gewesen sein. Die Erforderlichkeit ist dann
gegeben, wenn kein Mittel zur Verfügung steht, das den
Aggressor weniger beeinträchtigt, zugleich aber gleich geeignet ist.13 Fraglich ist jedoch, welche Beurteilung sich aus dem
sofortigen Einsatz einer Schusswaffe ergibt. Der Einsatz
lebensgefährdender Waffen unterliegt nach der Rspr. aufgrund seines hohen Gefahrenpotentials restriktiven Anforderungen: Im Rahmen des Möglichen ist danach ein dreistufiges Vorgehen zu verlangen (Androhung, Verletzung weniger
sensiblerer Körperpartien und schlussendlich die Tötung).14 P
hat ohne einen vorherigen Warnruf sofort von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Fraglich ist nun, ob der vorherige
Warnruf als milderes Mittel vor dem Schuss hätte eingesetzt
werden müssen. Für die Beurteilung entscheidend ist die exante Betrachtung der einzelfallabhängigen „Kampflage“15.
Da T hier bereits am Steuer Platz genommen hatte und losgefahren war, drohte sich die eigentumswidrige Besitzlage zu
perpetuieren und der Angriff nicht mehr abwehren zu lassen.
Ein vorheriger Warnruf hätte wohl dazu geführt, dass T sogleich davon gefahren und die Verteidigung des Eigentums
unmöglich geworden wäre. Der Schuss ist somit grundsätzlich als erforderlich zu qualifizieren.
10
BGH JZ 2003, 50 f.; Erb, in: Joecks/Miebach (Hrsg.),
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl.
2011, § 32 Rn. 104.
11
Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.),
Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 1, 4. Aufl. 2013,
§ 32 Rn. 61.
12
BGH NStZ 2005, 85 f.; BGH NStZ 2006, 153; Günther, in:
Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, 148. Lfg., Stand: Dezember 2014, § 32 Rn. 91.
13
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 498.
14
BGH NStZ 2014, 148 f.; BGH NStZ 2013, 106.
15
Vgl. BGH NStZ 2014, 148; Satzger, Jura 2009, 759 (762).
aa) Krasses Missverhältnis
Zuletzt müsste die Handlung des P auch geboten sein. Allein
aus dem Verhältnis von Sachwert zum drohenden beeinträchtigten Rechtsgut (Leben des T) kann nicht auf eine fehlende
Gebotenheit geschlossen werden. Da das Notwehrrecht eine
Güterabwägung nicht kennt, erfasst das Merkmal der Gebotenheit u.a. Fälle, die bei der Verteidigung von Sachwerten
durch ein krasses Missverhältnis geprägt sind.16 Da es sich
um einen Luxuswagen handelt, scheidet ein solches Missverhältnis jedoch aus.
bb) Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK
Fraglich bleibt, ob die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 lit. a
EMRK eine Notwehrrechtfertigung des P ausschließt. Art. 2
EMRK verbürgt das Recht auf Leben, lässt jedoch eine Tötung nicht als Konventionsverletzung gelten, wenn sie zur
Verteidigung eines Dritten eingesetzt wird (Art. 2 Abs. 2 lit. a
EMRK). Im Umkehrschluss könnte dies bedeuten, dass eine
Tötung zur Verteidigung von Sachwerten von der EMRK
nicht gedeckt ist.17
Die h.M. geht davon aus, dass die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag allein die Konventionsstaaten binde und den
Bürgern Schutz vor staatlichen Eingriffen gewähre, weshalb
eine Geltung der EMRK zwischen einzelnen Bürgern abzulehnen sei.18 Bereits der Wortlaut („Vollstreckung eines Todesurteils“) lasse allein eine intendierte Beschränkung staatlicher Hoheitsgewalt erkennen.19 Ziel der Vertragsparteien sei
es zudem gewesen, mit der EMRK einen höheren Schutz
individueller Freiheitsrechte zu gewährleisten20 ohne dabei
nationalstaatliche Verteidigungsrechte zu beschränken.21
Die Gegenauffassung sieht in Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK
ein unmittelbar geltendes Tötungsverbot zur Verteidigung
von Sachwerten.22 Die Vorschrift lasse eine Tötung nur zur
16
Siehe den Überblick bei Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 512 ff.
17
Perron, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 32 Rn. 62 m.w.N.
18
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar,
63. Aufl. 2016, § 32 Rn. 40; Rönnau/Hohn, in: Laufhütte/
Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 2, 12. Aufl. 2006, § 32 Rn. 237; Erb
(Fn. 10), § 32 Rn. 22; Rengier (Fn. 6), § 18 Rn. 60; Günther
(Fn. 12), § 32 Rn. 117; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 514.
19
Rengier (Fn. 6), § 18 Rn. 60.
20
Ambos, Internationales Strafrecht, 4. Aufl. 2014, § 10
Rn. 78.
21
Perron (Fn. 17), § 32 Rn. 62.
22
So etwa Frister, GA 1985, 553 (564); Zieschang, GA
2006, 415 (419); im Grundsatz auch Rosenau, in:
Satzger/Schluckebier/Widmaier (Fn. 2), § 32 Rn. 37; für eine
konventionskonforme Interpretation explizit Koriath, in:
Ranieri (Hrsg.), Die Europäisierung der Rechtswissenschaft,
2002, S. 47 (53).
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ZJS 2/2016
234
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
Verteidigung eines Menschen zu.23 Zudem wird auf die konventionskonforme Auslegung des nationalen Rechts24 hingewiesen, wonach § 32 StGB im Lichte des Art. 2 Abs. 2 lit. a
EMRK zu interpretieren sei.
Eine dritte Ansicht orientiert sich am Wortlaut des Art. 2
Abs. 1 EMRK, der jedwede Form absichtlicher Tötungen
ausschließe.25 Demnach sei eine Tötung mit Eventualvorsatz
einer Rechtfertigung durch § 32 StGB zugänglich.26 Der
Verteidiger eines Sachwertes handle primär mit einem auf
den Erhalt der zu verteidigenden Sache gerichteten Vorsatz
und nehme den Todeserfolg nur billigend in Kauf.27 Dieser
auf die Tötung gerichtete Eventualvorsatz sei von der Konvention nicht erfasst.28
Zunächst gilt es, die Frage einer möglichen Drittwirkung
der EMRK zu klären. Ausgehend von der Einordnung der
EMRK als völkerrechtlichen Vertrag überzeugt die Aussage,
dass diese die Mitgliedstaaten binde. Damit ist jedoch nicht
gesagt, welchen konkreten Einfluss die EMRK auf die
Rechtsposition des Einzelnen hat. Gem. Art. 1 EMRK sichern die Vertragsparteien ihren Staatsbürgern die in der
Konvention selbst genannten Rechte zu. Somit regelt die
EMRK nicht zwingend nur die Beschränkung staatlicher
Hoheitseingriffe, sondern begründet eine geschützte Rechtsposition des Einzelnen und damit eine objektive Werteordnung.29 Auch der EGMR hat in seiner Auslegung des Art. 2
EMRK einen effektiven Lebensschutz bejaht.30 Die EMRK
enthält somit nicht nur die Pflicht des Staates, in die garantierten Rechte nicht einzugreifen, sondern darüber hinaus, sie
vor Eingriffen positiv zu schützen.31 Es ist somit davon auszugehen, dass der Schutzgehalt der EMRK zur mittelbar
begründeten Rechtsposition der Staatsbürger führt und damit
im Rahmen der Gebotenheitsprüfung zu berücksichtigen ist.
In einem zweiten Schritt bedarf es nun näherer Erörterung, wie Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK auf § 32 StGB einwirkt.
Dass die Konventionsvorschrift nur absichtliche Tötungen
erfasse, kann nicht überzeugen: Zum einen ist der Hinweis
auf eine regelmäßig nicht vorkommende absichtliche Tötung32 unzulänglich, da die Beurteilung der Vorsatzform
23
Lührmann, Tötungsrecht zur Eigentumsverteidigung?,
1999, S. 258 ff.; vgl. Engländer, in: Matt/Renzikowski
(Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar, 2013, § 32 Rn. 56.
24
BVerfGE 111, 307 (325).
25
Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006,
§ 15 Rn. 88; ders., ZStW 93 (1981), 99; Günther (Fn. 12),
§ 32 Rn. 117.
26
Vgl. Erb (Fn. 10), § 32 Rn. 21; vgl. auch Satzger, Jura
2009, 759 (763) und Ambos (Fn. 20), § 10 Rn. 78.
27
So Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschränkung des
Notwehrrechts, 1984, S. 135; Roxin (Fn. 25), § 15 Rn. 88.
28
Roxin (Fn. 25), § 15 Rn. 88; i.E. auch Rosenau (Fn. 22),
§ 32 Rn. 37.
29
So auch Frister, GA 1985, 553 (554 ff.); Satzger, Jura
2009, 759 (762); vgl. auch Ambos (Fn. 20), § 10 Rn. 78.
30
EGMR NJW-RR 2009, 1394.
31
Zust. Engländer (Fn. 23), § 32 Rn. 57; Meyer-Ladewig,
EMRK, Kommentar, 3. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 9.
32
Roxin, ZStW 93 (1981), 99; Joecks (Fn. 3), § 32 Rn. 28.
STRAFRECHT
nicht die Frage einer Einschränkung des Notwehrrechts selbst
beantworten kann. Die Auffassung geht außerdem davon aus,
dass der Begriff absichtlich in der deutschen Übersetzung der
EMRK dem Erfordernis des dolus directus 1. Grades entspreche. Dagegen muss jedoch angebracht werden, dass die deutsche Übersetzung keine amtliche Fassung darstellt und von
einer Übersetzung der amtlichen Fassungen („intentionally“/
„intentionnellement“) kein Rückschluss auf die Intention der
Vertragsparteien eines völkerrechtlichen Vertrages geschlossen werden kann, die in der Garantie von Rechtspositionen
besteht.33
Es bleibt somit festzuhalten, dass die EMRK mittelbare
Wirkung unter Privaten entfaltet und mit Eventualvorsatz
geführte Tötungshandlungen zur Verteidigung von Sachwerten ebenfalls Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK widersprechen. Überzeugen kann das Ergebnis, dass solche Tötungen konventionswidrig und nicht gerechtfertigt sind, allerdings nicht. Ziel
des Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK ist die Garantie des Lebensschutzes.34 Vor diesem Hintergrund darf jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Angreifer selbst Unrecht begeht
– und sei es auch nur gegen Vermögenswerte.35 Dieser Umstand führt dazu, dass ihm Duldungspflichten hinsichtlich
etwaiger Verteidigungshandlungen auferlegt werden. § 32
StGB gewährt dem Verteidiger an dieser Stelle – in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK – jede Art von Verteidigungsmaßnahmen mit Ausnahme der Fremdtötung. Im
Ergebnis liefe diese Beurteilung darauf hinaus, dass der Täter
besser gestellt würde als dasjenige Opfer, das sich nur mit
tödlichen Verteidigungsmaßnahmen zur Wehr setzen kann.
Das Ziel der EMRK kann es aber nicht gewesen sein, es
Straftätern zu gestatten, das Verteidigungsrecht des Opfers
unter Berufung auf ihr Recht aus Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK
blockieren zu können. Eine konventionskonforme Auslegung
des § 32 StGB kann zu keinem anderen Ergebnis führen, da
die EMRK in ihrem Rang gem. Art. 59 Abs. 2 GG einem
Bundesgesetz gleichsteht36 und eine solche Deutung zu einem
praktischen Vorrang des Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK führen
würde.37 Folglich überzeugt es, Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK so
zu interpretieren, dass eine Tötung nur dann als Konventionsverletzung anzusehen sein wird, wenn sie nicht das letztmögliche Verteidigungsmittel darstellt. Im Ergebnis lässt
Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK die Gebotenheit der Notwehrhandlung unberührt.
cc) Kein Ausschluss durch aufgedrängte Nothilfe
Zuletzt dürfte die Nothilfe nicht aufgedrängt sein. In Fällen
der Verteidigung gegen den explizit zum Ausdruck gebrachten oder aus den Umständen erkennbaren Willen des
33
Vgl. Ambos (Fn. 20), § 10 Rn. 78, der auf die weite Auslegungsmöglichkeit der Fassungen hinweist.
34
Rosenau (Fn. 22), § 32 Rn. 37; vgl. auch Engländer
(Fn. 23), § 32 Rn. 57.
35
So auch Engländer (Fn. 23), § 32 Rn. 57.
36
Kühl, ZStW 100 (1988), 408; Rönnau/Hohn (Fn. 18), § 32
Rn. 235.
37
So auch Ladiges, JuS 2011, 879 (881); Bülte, GA 2011,
145 (163).
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235
ÜBUNGSFÄLLE
Christopher Penkuhn
Angriffsopfers würde die Nothilfe dessen Selbstbestimmung
zuwider laufen und wird deshalb – die Disponibilität des
betroffenen Rechtsguts vorausgesetzt – überwiegend als
unzulässig betrachtet.38 Ein der mit einem Angriff auf das
Leben des T verbundenen Nothilfehandlung entgegenstehender Wille des B liegt weder in ausdrücklicher Form vor, noch
lässt er sich den Umständen entnehmen. Eine aufgedrängte
Nothilfe liegt somit nicht vor.
c) Subjektives Rechtfertigungselement
Hier will P den T stoppen und das Eigentum verteidigen. Er
handelt somit mit Verteidigungswillen und erfüllt damit die
strengsten Anforderungen an das subjektive Rechtfertigungselement. P handelte somit gerechtfertigt.
5. Ergebnis
P hat sich durch den Schuss nicht des versuchten Totschlags
gem. § 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
II. Strafbarkeit des P gem. §§ 223 Abs. 1, Abs. 2, 224
Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1, Nr. 5, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB
P könnte sich zudem durch den Schuss auf den PKW der
versuchten gefährlichen Körperverletzung gem. §§ 223
Abs. 1, Abs. 2, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 und Nr. 5, Abs. 2, 22,
23 Abs. 1 StGB zulasten des T strafbar gemacht haben.
Neben dem Todes- ist auch der Körperverletzungserfolg
ausgeblieben. Die Versuchsstrafbarkeit ergibt sich aus der
gesetzlichen Anordnung in § 224 Abs. 2 StGB.
Unter einer körperlichen Misshandlung versteht das Gesetz jede üble unangemessene Behandlung, die das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigt.39
Als Gesundheitsbeschädigung ist das Hervorrufen eines vom
Normalzustand nachteilig abweichenden und somit pathologischen Zustands gemeint.40 Durch die Schusswunde würde
ein nachteiliger pathologischer und das körperliche Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigender Zustand
geschaffen. Somit richtete sich der Tatentschluss auch auf
eine vollendete Körperverletzung. Waffe im Sinne des § 224
Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StGB meint Hieb-, Stich- und Schusswaffen, die ihrer technischen Funktion nach zur Verletzung bestimmt sind.41 Die Schusswaffe des P unterfällt als Waffe im
technischen Sinn dem Qualifikationstatbestand. P wollte die
Verletzungen mittels der Waffe beibringen und hatte somit
einen auf die Qualifikation gerichteten Tatentschluss. § 224
Abs. 1 Nr. 5 StGB verlangt, dass die Körperverletzung mit38
BGHSt 5, 245 (247 f.); Kühl (Fn. 3), § 7 Rn. 143; Wessels/
Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 497; a.A. Schmidhäuser, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1975, 9/107; ausführlich
zum Ganzen Kaspar, JuS 2014, 769.
39
Murmann, Grundkurs Strafrecht, 3. Aufl. 2015, § 22 Rn. 7;
Momsen/Momsen-Pflanz, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier
(Fn. 2), § 223 Rn. 5.
40
BGHSt 36, 1 (6); 43, 346 (354); Eser, in: Schönke/
Schröder (Fn. 18), § 223 Rn. 5.
41
Stree/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder (Fn. 18),
§ 224 Rn. 5; vgl. auch BGHSt 4, 125 (127).
tels einer das Leben gefährdenden Behandlung begangen
wird. Die beabsichtigte Körperverletzung müsste hierfür in
vollendeter Form geeignet gewesen sein, das Leben des Opfers in Gefahr zu bringen.42 Die Frage, ob die Gefahr konkret
bestehen muss oder eine Gefährdung in abstrakter Weise
ausreicht,43 bedarf keiner Klärung, da der gezielte Schuss auf
einen anderen Menschen mit erheblichen Risiken eines tödlichen Ausgangs verbunden und somit konkret lebensgefährlich ist. Der Tatentschluss trägt somit auch die angestrebte
qualifizierte Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB.
Die Gebotenheit einer möglichen Nothilfe gem. § 32
StGB scheitert hier nicht an einem krassen Missverhältnis.
Die Beeinflussung des Art. 2 Abs. 2 lit. a EMRK entfällt in
diesem Bereich, da die Konventionsvorschrift die Tötung,
nicht aber die Verletzung zur Verteidigung von Sachwerten
verbietet. Andere Anhaltspunkte für einen Missbrauch des
Notwehrrechts bestehen nicht. Schließlich handelte P auch
mit Verteidigungswillen. P handelte gerechtfertigt.
5. Ergebnis
P hat sich nicht der versuchten gefährlichen Körperverletzung
gem. §§ 223 Abs. 1, Abs. 2, 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 und
Nr. 5, Abs. 2, 22, 23 Abs. 1 StGB zulasten des T strafbar
gemacht.
III. Strafbarkeit des P gem. §§ 303 Abs. 1, Abs. 3, 22, 23
Abs. 1 StGB
T könnte sich durch den Schuss wegen versuchter Sachbeschädigung gem. §§ 303 Abs. 1, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1 StGB
strafbar gemacht haben.
Die versuchte Sachbeschädigung ist gem. § 303 Abs. 3
StGB strafbar. Der Taterfolg des § 303 Abs. 1 StGB drückt
sich in der Beschädigung oder Zerstörung einer fremden
Sache aus. Das Auto ist ein körperlicher Gegenstand und
damit eine Sache im Sinne des § 90 BGB. Die Fremdheit des
Tatobjektes bemisst sich nach zivilrechtlichen Eigentumsverhältnissen (§§ 903 ff. BGB).44 Das Auto stand im Eigentum
des B, war für P fremd und damit taugliches Tatobjekt. Als
Beschädigung ist die nicht nur unerhebliche Beeinträchtigung
der Sachsubstanz oder bestimmungsgemäßen Brauchbarkeit
zu verstehen.45 Eine Substanzbeeinträchtigung liegt bei einer
Aufhebung der stofflichen Unversehrtheit der Sache vor.46 P
hat auf den Wagen geschossen und eine Beschädigung in
42
BGH NStZ-RR 1997, 67; Wessels/Hettinger, Strafrecht,
Besonderer Teil, Bd. 1, 39. Aufl. 2015, Rn. 282.
43
Siehe zum Streitstand Paeffgen, in: Kindhäuser/Neumann/
Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,
Bd. 2, 4. Aufl. 2013, § 224 Rn. 27; Joecks (Fn. 3), § 224
Rn. 48 f., sowie zur Stellungnahme der Bundesregierung
BT-Drs. 13/8587, S. 83.
44
Altenhain, in: Matt/Renzikowski (Fn. 23), § 303 Rn. 4;
Stree/Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 18), § 303 Rn. 6.
45
BGHSt 44, 34 (38); Fischer (Fn. 18), § 303 Rn. 6.
46
Zaczyk, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos
Kommentar, Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl. 2013, § 303
Rn. 6.
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ZJS 2/2016
236
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
Kauf genommen. Der Tatentschluss richtete sich somit auf
die Beschädigung der Autoscheibe und schloss die Zurechenbarkeit des Erfolges durch Schaffung einer neuen rechtlich
missbilligten Gefahr mit ein.47
Eine Rechtfertigung gem. § 32 StGB scheitert hier an der
fehlenden Zuordnung zum Angreifer. Die Notwehr als Verteidigungsrecht gewährt Gegenmaßnahmen gegen einen
(menschlichen) Angriff.48 Von dem PKW geht jedoch kein
Angriff aus. Eine mutmaßliche Einwilligung könnte die
Rechtswidrigkeit entfallen lassen. Hier kommt ein Handeln
im materiellen Interesse des Betroffenen in Betracht, dessen
Maßstab das „Wahrscheinlichkeitsurteil über den wahren
Willen des Betroffenen“ ist.49 Ausschlaggebend sind die
individuellen Interessen des Betroffenen.50 Demnach stehen
sich hier der völlige Verlust des Eigentums und dessen (behebbare) Beeinträchtigung durch Beschädigung gegenüber.
Ein genereller Erfahrungssatz, seinen Wagen lieber beschädigt als gestohlen zu wissen, besteht zwar insoweit nicht.
Jedoch lässt sich grundsätzlich annehmen, dass mit einer
weniger verletzenden Verteidigung gegenüber einem stärker
beeinträchtigenden Angriff die Interessen des Rechtsgutsinhabers gewahrt sind. Demnach ist eine Rechtfertigung aufgrund mutmaßlicher Einwilligung gegeben.
Hinweis: Kandidaten, die diesem Ergebnis unter Verweis
auf die Auffassung, dass der Vorrang eines mutmaßlichen
Interesses eines Eigentümers am (beeinträchtigten) Erhalt
seines Rechtsguts zu Unrecht allein auf die objektive Gewichtung abstellen und die den Einwilligungsregeln zugrunde liegende subjektiv zu bewertende Preisgabe eigener Werte vernachlässigen würde,51 vertretbar entgegentreten, müssten sich in der Folge mit dem Verhältnis der
mutmaßlichen Einwilligung zum rechtfertigenden Notstand auseinandersetzen. Eine Rechtfertigung gem. § 34
StGB würde überzeugenderweise an der fehlenden Diversität von beeinträchtigtem und zu schützendem Rechtsgut
scheitern, da der Notstand keine Konstellationen intrapersonaler Konflikte erfasst.52 Für solche Fälle bilden vielmehr nach h.L. die Einwilligungsregeln das Autonomie-
STRAFRECHT
prinzip wahrende selbstständige Regelungen zur Rechtfertigung.53
P hat sich nicht gem. §§ 303 Abs. 1, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1
StGB strafbar gemacht.
IV. Strafbarkeit des T gem. §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2
Nr. 1 und 2 StGB
T könnte sich durch das Entwenden des PKW des B eines
besonders schweren Falls des Diebstahls gem. §§ 242 Abs. 1,
243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 StGB zu dessen Lasten strafbar
gemacht haben.
1. Tatbestandsmäßigkeit
a) Objektiver Tatbestand
Hierfür müsste T eine fremde bewegliche Sache weggenommen haben. Beweglich ist eine Sache, die fortgeschafft werden kann.54 Das Auto stand hier im Eigentum des B und war
für T somit fremd. Ein PKW ist zudem geeignet, fortbewegt
zu werden und damit beweglich. T müsste die Limousine
auch weggenommen haben. Unter einer Wegnahme ist der
Bruch fremden und die Begründung neuen, nicht notwendigerweise tätereigenen Gewahrsams zumindest ohne Einverständnis des Berechtigten zu verstehen (Apprehensionstheorie).55 Der Begriff des Gewahrsams versteht sich als eine von
einem tatsächlichen Herrschaftswillen getragene Sachherrschaft56 und ist nicht mit dem zivilrechtlichen Besitzverständnis identisch.57 Das Herrschaftsverhältnis selbst, das
nach der sozialen Anschauung beurteilt wird,58 verlangt, dass
der den Gewahrsam Ausübende ohne Hindernisse auf die
Sache einwirken kann.59 Mit der Verkehrsauffassung lässt es
sich vereinbaren, dass der Inhaber eines PKW die Einwirkungsmacht führt, obwohl der Wagen in räumlicher Entfernung abgestellt ist.60 B hatte somit Gewahrsam an seinem
PKW. T hat hier durch die Entwendung eine eigene Sachherrschaft begründet, die des B ohne dessen Willen gebrochen und den Wagen weggenommen.
53
47
Siehe zur Risikoersetzung Frisch, JuS 2011, 116 (117);
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 287.
48
Siehe etwa zu Tierangriffen Roxin (Fn. 25), § 15 Rn. 6;
Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Handkommentar,
Gesamtes Strafrecht, 3. Aufl. 2013, § 32 StGB Rn. 5.
49
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 571.
50
BGHSt 45, 219 (221); Rengier (Fn. 6), § 23 Rn. 58.
51
Neumann, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Fn. 11),
§ 34 Rn. 19; Roxin (Fn. 25), § 18 Rn. 5. Zur Indizwirkung
dieser objektiven Bewertung auch BGHSt 35, 246 (249 f.).
52
Kindhäuser (Fn. 11), § 34 Rn. 33; Duttge (Fn. 48), § 34
Rn. 9; Engländer, GA 2010, 21; a.A. Wessels/Beulke/Satzger
(Fn. 1), Rn. 476; Perron ([Fn. 17], § 34 Rn. 8a), der die primäre Anwendung der Einwilligungsregeln anerkennt, jedoch
§ 34 ebenfalls zur Anwendung gelangen lässt.
Zieschang, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann
(Fn. 18), § 34 Rn. 93; Neumann (Fn. 51), § 34 Rn. 19;
Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch (Fn. 4), 17/114; Roxin
(Fn. 25), § 18 Rn. 6.
54
Kindhäuser (Fn. 11), § 242 Rn. 14; Wessels/Hillenkamp,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 38. Aufl. 2015, Rn. 78.
55
BGHSt 16, 271; Vogel, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/
Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar,
Bd. 8, 12. Aufl. 2010, § 242 Rn. 48 f.; Kudlich, in: Satzger/
Schluckebier/Widmaier (Fn. 2), § 242 Rn. 17.
56
BGHSt 8, 273 (274 f.); Kudlich (Fn. 55), § 242 Rn. 18.
57
Eser/Bosch, in: Schönke/Schröder (Fn. 18), § 242 Rn. 31.
58
BGHSt 16, 271 (273); Fischer (Fn. 18), § 242 Rn. 11;
Wessels/Hillenkamp (Fn. 54), Rn. 90.
59
Schmidt, in: Matt/Renzikowski (Fn. 23), § 242 Rn. 14;
Eser/Bosch (Fn. 57), § 242 Rn. 25.
60
Kudlich (Fn. 55), § 242 Rn. 19; vgl. explizit zum abgestellten PKW BGH GA 1962, 78 f.
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237
ÜBUNGSFÄLLE
Christopher Penkuhn
b) Subjektiver Tatbestand
T wollte den Wagen nutzen, um den K zu verfolgen. Folglich
wollte er die Herrschaft des B über den PKW brechen und
eine eigene begründen. Dass der Wagen dem B gehörte und
für ihn somit fremd war, war ihm bekannt. T handelte also
vorsätzlich.
Bei dem Diebstahl handelt es sich weiterhin um ein Delikt
mit überschießender Innentendenz. Hierbei besteht keine
volle Kongruenz zwischen objektiven und subjektiven Tatbestand; vielmehr enthält letzterer ein zusätzliches Erfordernis,
das keinen Bezugspunkt im objektiven Tatbestand findet.61
Diesem Kriterium entspricht im § 242 Abs. 1 StGB das Element der Absicht rechtswidriger Zueignung im Zeitpunkt der
Wegnahme. Diese setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Der Aneignungsabsicht und dem Enteignungsvorsatz.62
Die Aneignungsabsicht verlangt, dass der Täter die Sache
zumindest vorübergehend für eigene Rechnung in sein Vermögen einverleibt.63 Die Enteignung dagegen setzt voraus,
dass der Täter sich in die wirtschaftliche Position des Eigentümers hinein- und letzteren dauerhaft aus seiner Stellung
verdrängt.64 T ist hier mit dem Wagen davon gefahren, hat
diesen somit für seine Zwecke benutzt und sich eine Stellung
angemaßt, wie sie nur dem Eigentümer oder von diesem
berechtigten Dritten zustünde (se ut dominum gerere).65 Er
hat sich somit den PKW vorübergehend in seine Vermögen
einverleibt und hatte eine Aneignungsabsicht. Darüber hinaus
hat T wie geplant den PKW ungesichert zurückgelassen. Im
Falle des Gebrauchs von Kraftfahrzeugen hat die Rspr. eine
Reihe von Beweiszeichen für einen Enteignungsvorsatz
(bspw. den Ort des Abstellens, die Schwere des Auffindens
oder die Sicherung gegen den Zugriff Dritter) kategorisiert.66
T plante, dass der Wagen seinen Weg nicht zurück zu B findet und hat entsprechend seinem Tatplan die Luxuslimousine
ungesichert zurückgelassen. Er hatte folglich auch einen
Enteignungsvorsatz.
Die erstrebte Zueignung müsste auch rechtswidrig sein,
d.h. im Widerspruch zur Vermögenslage stehen, wie sie die
Rechtsordnung vorsieht.67 Ein Rechtfertigungsgrund für die
beabsichtigte Zueignung ist nicht ersichtlich. Insbesondere
kommt ein schuldrechtlicher Anspruch auf Übereignung des
PKW nicht in Betracht. Somit bezog sich die Absicht auch
auf die Rechtswidrigkeit der erstrebten Zueignung.
61
Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 2, 8. Aufl.
2014, § 2 Rn. 61; Schmitz, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 4, 2. Aufl.
2012, § 242 Rn. 110.
62
Joecks (Fn. 3), § 242 Rn. 26; Schmidt (Fn. 59), § 242
Rn. 27.
63
RGSt 61, 232 f.; Kudlich (Fn. 55), § 242 Rn. 41.
64
BGHSt 1, 262 (264); 16, 190; Joecks (Fn. 3), § 242 Rn. 28.
65
Vgl. LG Düsseldorf NStZ 2008, 155; Kindhäuser (Fn. 11),
§ 242 Rn. 90; Kudlich (Fn. 55), § 242 Rn. 48.
66
Siehe hierzu etwa BGH HRRS 2010, 563; BGH NStZ
1996, 38; BGH NStZ 1982, 420.
67
Kudlich (Fn. 55), § 242 Rn. 49.
2. Rechtswidrigkeit und Schuld
Rechtfertigungsgründe kommen nicht in Betracht. Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe greifen ebenfalls nicht ein. T handelte rechtswidrig und schuldhaft.
3. Strafzumessungsvorschrift des § 243 Abs. 1 S. 2 StGB
T könnte zudem das Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 S. 2
Nr. 1 StGB erfüllt haben. In Betracht kommt hierbei die Tatmodalität des Einbrechens in einen umschlossenen Raum.
Als solcher ist jedes zum Betreten durch Menschen bestimmte Raumgebilde definiert.68 Hierunter fallen ebenfalls KFZ
als bewegliche Raumgebilde.69 Sodann müsste T in den PKW
eingebrochen sein. Einbrechen bezeichnet das gewaltsame
Eindringen unter Überwindung eines Zugangshindernisses.70
T hat hier die Wagentür von innen geöffnet, nachdem er die
Scheibe eingeschlagen hat und somit Gewalt angewandt. T ist
folglich in einen umschlossenen Raum eingebrochen.
Für die Erfüllung des § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 StGB müsste der Wagen des B durch eine besondere Schutzvorrichtung
gegen Diebstahl besonders gesichert gewesen sein. Als solche Schutzvorrichtung kommt jede Vorkehrung in Betracht,
die geeignet und bestimmt ist, die Sache gegen Entwendung
zu sichern oder diese zu erschweren.71 Diese Schutzvorrichtung müsste sodann dazu führen, dass die Sache besonders
gesichert ist, was der Fall ist, wenn die Sicherung primär den
Schutz der Sache vor Entwendung bezweckt.72 Sowohl die
Schließanlage eines Fahrzeugs als auch die Wegfahrsperre
dienen in erster Linie dazu, den Zugriff auf den PKW durch
unberechtigte Dritte zu verhindern und damit auch vor Entwendung zu schützen.73
4. Ergebnis
T hat sich des Diebstahls in einem besonders schweren Fall
gem. §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2 StGB strafbar gemacht.
V. Strafbarkeit des T gem. § 303 Abs. 1 StGB
T könnte sich durch das Einschlagen der Autoscheibe auch
der Sachbeschädigung gem. § 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. T hat die Scheibe eingeschlagen, damit deren
Unversehrtheit aufgehoben und sie im Ergebnis beschädigt. T
hat die Scheibe zudem vorsätzlich eingeschlagen, um mit
dem Wagen davonfahren zu können. Der Strafantrag gem.
§ 303c StGB liegt vor. T hat sich der Sachbeschädigung gem.
§ 303 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
68
BGHSt (GrS) 1, 159 f.; Joecks (Fn. 3), § 243 Rn. 12.
BGHSt 2, 214 f.
70
Eser/Bosch (Fn. 57), § 243 Rn. 11; Fischer (Fn. 18), § 243
Rn. 5.
71
BayObLG NJW 1981, 2826; Kindhäuser (Fn. 11), § 243
Rn. 21; Wessels/Hillenkamp (Fn. 54), Rn. 235.
72
Vgl. BGH NJW 1974, 567; OLG Schleswig NJW 1984,
67 f.
73
Vgl. Fischer (Fn. 18), § 243 Rn. 12; Schmitz (Fn. 61),
§ 243 Rn. 34.
69
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ZJS 2/2016
238
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
B. Zweiter Tatkomplex – Der Tod der E
I. Strafbarkeit des T gem. §§ 211, 212 Abs. 1 StGB
T könnte sich durch das Niederstechen der E des Mordes
gem. §§ 211, 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.
1. Tatbestandsmäßigkeit
E wurde von T mit einem Stich in die Lunge verletzt und hat
daraufhin in kausaler und objektiv zurechenbarer Weise den
Tod gefunden.
a) Heimtücke
T könnte die E auch heimtückisch, mithin unter bewusstem
Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit getötet haben.74 Arglos ist dasjenige Opfer, das sich keines Angriffs auf sein
Leben im Zeitpunkt der ersten mit Tötungsvorsatz geführten
Handlung versieht.75 Die Wehrlosigkeit definiert die Unfähigkeit bzw. eingeschränkte Fähigkeit zur Verteidigung aufgrund der Arglosigkeit.76 E hat laut Sachverhalt im Zeitpunkt
der Messerstiche nicht mit einem Angriff gerechnet und war
demnach arglos. Aus dieser Arglosigkeit resultiert ebenfalls
ihre Wehrlosigkeit, in deren beider Kenntnis T zur Tötungshandlung angesetzt hat und damit auch ein Ausnutzungsbewusstsein hatte.
Die Anwendung des Mordmerkmals der Heimtücke sieht
sich Restriktionsbestrebungen ausgesetzt. Zum einen wird im
Rahmen sogenannter Tatbestandslösungen die Heimtücke auf
Fälle begrenzt, in denen der Täter in feindlicher Willensrichtung agiert77 oder die Tötung auf einem verwerflichen Vertrauensbruch gründet,78 wobei der Begriff des Vertrauens
nicht dem der Arglosigkeit entspricht und auch familiären
Verhältnissen abgesprochen werden könne. Zudem wird auf
Grundlage der Typenkorrektur eine Gesamtbetrachtung erwogen, die eine Tötung nur dann als heimtückisch erachtet,
sollte die Gesamtbewertung die Tat als verwerflich erscheinen lassen.79 Demgegenüber bezieht die Rechtsfolgenlösung
für eine Berücksichtigung der Gesamtumstände in der Strafzumessung Stellung.80 Demnach sei anstelle der absoluten
Strafandrohung der lebenslangen Freiheitsstrafe im Wege
eines minder schweren Falls des Mordes der Strafrahmen des
74
BGHSt 2, 251 (254); Rengier, Strafrecht, Besonderer Teil,
Bd. 2, 16. Aufl. 2015, § 4 Rn. 23.
75
BGH NStZ 2005, 692; Eser/Sternberg-Lieben, in:
Schönke/Schröder (Fn. 18), § 211 Rn. 24.
76
BGH GA 1971, 114; Rössner/Wenkel, in: Dölling/Duttge/
Rössner (Fn. 48), § 211 StGB Rn. 12.
77
BGHSt 9, 385 (390); BGH GA 1987, 129; Rössner/Wenkel
(Fn. 76), § 211 StGB Rn. 19; Maurach/Schroeder/Maiwald,
Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 10. Aufl. 2009, § 2 Rn. 45.
78
Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 75), § 211 Rn. 26 f.; Schmidhäuser, JR 1978, 265 (270).
79
Vgl. Eser/Sternberg-Lieben (Fn. 75), § 211 Rn. 10;
Rengier (Fn. 74), § 4 Rn. 33; Küper/Zopfs, Strafrecht, Besonderer Teil, 9. Aufl. 2015, Rn. 326.
80
BGHSt (GrS) 30, 105 (114); 48, 255 (262 f.); BGH NStZ
2005, 155; Rengier, MDR 1980, 1.
STRAFRECHT
§ 212 StGB bzw. der des § 49 Abs. 2 Nr. 1 StGB analog zur
Anwendung zu bringen.81
Eine Tötung in feindlicher Willensrichtung wird bejaht,
wenn der Täter nicht zum vermeintlich Besten des Opfers
oder aus Mitleid handelt.82 T wollte die E töten, um Unterhaltszahlungen zu vermeiden und handelte somit nicht zum
vermeintlichen Besten des Opfers, mithin in feindlicher Willensrichtung. Das Kriterium des verwerflichen Vertrauensbruchs erscheint hier vor dem Hintergrund des zerrütteten
Eheverhältnisses nicht einschlägig. Der Ansatz sieht sich
allerdings zu Recht der Kritik ausgesetzt. Zum einen muss er
sich den Einwand der Ungenauigkeit vorwerfen lassen, und
zum anderen wird kritisiert, dass der Heimtücke dann die
Konstellationen nicht unterfielen, in denen der Täter sein
Opfer nicht kennt oder gar hinterhältig tötet.83 Infolge dessen
würde der Anwendungsbereich unangemessen beschränkt.
Was die Typenkorrektur betrifft, ist zu bemängeln, dass die
Mordmerkmale nach gesetzgeberischer Vorstellung echte
Tatbestandsmerkmale sind, nach jenem Dafürhalten jedoch
als Regelbeispiele klassifiziert werden. Im Ergebnis können
somit die tatbestandlichen Restriktionsbemühungen nicht
überzeugen. Von der Bewertung der feindlichen Willensrichtung kann hier wegen Erfüllung abgesehen werden. Im Ergebnis sind Restriktionsbestrebungen auf der Ebene der
Rechtsfolgen zu suchen, ohne dass hier genauere Angaben
zur Strafzumessung zu erfolgen haben.
b) Vorsatz
T müsste vorsätzlich gehandelt haben. T wollte die E töten,
um Unterhaltszahlungen zu entgehen. T handelte somit mit
zielgerichtetem Erfolgswillen84 zur Vermeidung der Unterhaltspflicht und damit absichtlich und im Ergebnis vorsätzlich.
c) Habgier
Neben der vorsätzlichen Tötung der E könnte T das Mordmerkmal der Habgier erfüllt haben. Unter Habgier ist die
Tötung eines anderen Menschen aus rücksichtsloser Gewinnerzielungsabsicht um jeden Preis zu verstehen.85 T weiß, dass
er durch den Tod der E Unterhaltsleistungen nicht erbringen
müsste, welche ihm im Scheidungsfall entstünden
(§§ 1601 ff. BGB). Dies bedeutet jedoch lediglich, dass er
sich durch den Tod der E einer drohenden Zahlungsverpflichtung entlasten und gerade keine Vermögensvermehrung erlangen würde. Fraglich ist insoweit, ob dies genügt, um das
Mordmerkmal der Habgier zu begründen.
81
Siehe hierzu die Darstellung bei Rengier (Fn. 74), § 4
Rn. 34.
82
BGHSt 9, 385 (390); 37, 376 f.; Momsen (Fn. 2), § 211
Rn. 50.
83
So auch BGHSt (GrS) 30, 105 (114 ff.); Kindhäuser, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 7. Aufl. 2015, § 2 Rn. 30;
Wessels/Hettinger (Fn. 42), Rn. 108.
84
Vgl. Kühl (Fn. 3), § 5 Rn. 33; Wessels/Beulke/Satzger
(Fn. 1), Rn. 318.
85
BGHSt 10, 399; BGH NJW 2001, 763.
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239
ÜBUNGSFÄLLE
Christopher Penkuhn
Die h.M. behandelt die Konstellationen gleich, in denen
der Täter tötet, um sein Vermögen durch aktive Wertpositionen zu vermehren und die, in denen die Tötung zur Verhinderung eines Vermögensabflusses erfolgt.86 Entscheidend sei,
dass der Täter aus wirtschaftlichem Vermögensstreben ein
Menschenleben opfere.87 In beiden Fällen töte der Täter, um
seine wirtschaftliche Situation zu verbessern, was das erhöhte
Unwerturteil begründe.88
Die Gegenauffassung bewertet beide Fälle unterschiedlich.89 Der Annahme der Habgier wird entgegengehalten,
dass sich die Definition des Mordmerkmals explizit auf das
Töten aus Gewinnerstrebungs- und nicht auf Gewinnerhaltungsabsicht beziehe.90 Danach fehle es der Tötung zur Erhaltung einer Vermögenslage („Behaltegier“) an der für die
Habgier erforderlichen Verwerflichkeit91 und begründe eine
von der Erstrebung von Vermögensvorteilen zu differenzierende Defensivsituation.92 Als Folge wird die Tötung zum Erhalt von Vermögenswerten als Tötung aus niederen Beweggründen im Sinne der ersten Gruppe der Mordmerkmale eingeordnet.93
Eine differenzierte Behandlung der Konstellationen kann
nicht überzeugen. Sie ist zum einen in sich widersprüchlich,
da sie die Tötung eines Menschen zu Erhaltungszwecken als
nicht verwerflich aus dem Merkmal der Habgier ausgliedert,
sie jedoch zugleich in den Auffangtatbestand der sonstigen
niederen Beweggründe einzugliedern sucht, welche jedoch
selbst einen Beweggrund auf sittlich niedrigster Stufe fordern, der als besonders verachtenswert anzusehen sein
muss.94 Konstellationen der Erhaltungsabsicht würden somit
aus demselben Grund unter die sonstigen niederen Beweggründe subsumiert, aus welchem sie aus der Habgier ausgeschlossen werden. Auch führte diese Ansicht zu einer weites
gehenden Reduzierung des Anwendungsbereichs der Habgier.95 Zum anderen ist nicht ersichtlich, warum eine Tötung
zu Erhaltungs- statt zu Gewinnzwecken weniger verwerflich
sein soll, da beiderseits monetäre Absichten über ein Menschenleben gestellt werden, und auch eine Tat aus Erhal86
So etwa BGHSt 10, 399; Mitsch, in: Leipold/Tsambikakis/
Zöller (Hrsg.), AnwaltKommentar StGB, 2. Aufl. 2015,
§ 211 Rn. 30; Schneider, in: Joecks/Miebach (Fn. 61), § 211
Rn. 66; Neumann (Fn. 51), § 211 Rn. 22.
87
Schneider (Fn. 86), § 211 Rn. 65; Safferling, in: Matt/
Renzikowski (Fn. 23), § 211 Rn. 17.
88
Neumann (Fn. 51), § 211 Rn. 22.
89
Safferling (Fn. 87), § 211 Rn. 17.
90
So etwa Joecks (Fn. 3), § 211 Rn. 19.
91
Sinn, in: Wolter (Fn. 12), § 211 Rn. 19; Mitsch, JuS 1996,
124; vgl. Schneider (Fn. 86), § 211 Rn. 66.
92
Mitsch, JuS 1996, 124 f.; zusammenfassend Küper/Zopfs
(Fn. 79), Rn. 309.
93
So Joecks (Fn. 3), § 211 Rn. 19; auch Momsen ([Fn. 2],
§ 211 Rn. 16), der das Merkmal des Bereicherns vom Bestehen eines Anspruchs abhängig macht.
94
BGHSt 2, 60 (63); BGH NJW 1993, 1665; Schneider
(Fn. 86), § 211 Rn. 69.
95
Gössel/Dölling, Strafrecht, Besonderer Teil, Bd. 1, 2. Aufl.
2004, § 4 Rn. 48.
tungsabsicht dazu dient, Vermögensinteressen des Täters zu
wahren.96 Hinzu kommt, dass der Täter, der einen Menschen
tötet, um sich den Erhalt möglicher Verpflichtungsposten zu
sichern, eine nicht gerechtfertigte Privilegierung erfahren
würde.97 Es würde demnach der Täter, der seinen Gläubiger
tötet, gegenüber demjenigen, der einen Dritten tötet, um aus
dessen Vermögen seinen Gläubiger zu befriedigen, bevorteilt,
was zu einer nicht hinnehmbaren Abwägung unter Menschenleben führen würde. Ausgangspunkt muss somit das
Missverhältnis zwischen wirtschaftlichem Tatvorteil und
vernichtetem Menschenleben sein. Denn der generalpräventive Schutzaspekt des Habgiermerkmals zielt auf eine Abschreckung dahingehend ab, Tötungen zwecks Besserung
einer Vermögenslage zu verhindern.98 T hat seine Frau im
Ergebnis mittels der Messerstiche vorsätzlich, heimtückisch
und aus Habgier getötet.
2. Ergebnis
T hat sich durch das Niederstechen der E des Mordes gem.
§§ 211, 212 Abs. 1 StGB zu ihren Lasten strafbar gemacht.
C. Dritter Tatkomplex – Der Wohnhausbrand
I. Strafbarkeit des T gem. § 222 StGB zulasten des F
T könnte sich durch Entzünden des Brandbeschleunigers
schließlich der fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB zulasten des F strafbar gemacht haben.
1. Tatbestandsmäßigkeit
a) Tatbestandlicher Erfolg
Der Erfolg liegt mit dem Tod des F vor. Der Tod des F ist
auch hier in einem natürlichen Ursachenzusammenhang auf
das Entzünden des Brandbeschleunigers zurückzuführen und
somit die Kausalität zu bejahen.
b) Objektive Sorgfaltspflichtverletzung
Mittelpunkt der Prüfung im fahrlässigen Begehungsdelikt ist
sodann die objektive Sorgfaltspflichtverletzung. Gefragt wird
hierbei, ob der Täter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt
außer Acht gelassen hat, obwohl er den tatbestandlichen
Erfolg hätte vorhersehen müssen.99 Hierfür sind zunächst die
Sorgfaltspflicht und sodann deren Verletzung zu bestimmen.
Als objektiv vorhersehbar gilt, was eine dem Täter gleiche
vorausschauende Durchschnittsperson in der Tatsituation
erkennen würde.100 Zwar hat T mit der Schädigung von Per96
So auch Jähnke, in: Jähnke/Laufhütte/Odersky (Hrsg.),
Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 5, 11. Aufl.
2005, § 211 Rn. 8.
97
BGHSt 10, 399; Köhne, Jura 2008, 805; Safferling
([Fn. 87], § 211 Rn. 17), der explizit von einer „nicht privilegierungsfähigen Defensivsituation“ spricht.
98
Zust. Schneider (Fn. 86), § 211 Rn. 60.
99
So die h.M.: Kühl (Fn. 3), § 17 Rn. 14; Sternberg-Lieben,
in: Schönke/Schröder (Fn. 18), § 15 Rn. 116; Wessels/Beulke/
Satzger (Fn. 1), Rn. 939.
100
Kühl (Fn. 3), § 17 Rn. 40; Rengier (Fn. 6), § 13 Rn. 62.
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ZJS 2/2016
240
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
sonen nicht gerechnet, doch schließt das lediglich einen weiteren Schädigungsvorsatz aus. Die Vorhersehbarkeit des
Erfolges ergibt sich hier aus der grundsätzlichen Brandgefahr
und damit einhergehender Verletzungsrisiken. Aus dieser
Vorhersehbarkeit resultiert die Sorgfaltspflicht, das Verhalten
aufgrund der Gefahren entsprechend zu kontrollieren oder zu
unterlassen.101 T hatte hier somit die Pflicht, keinen Brand zu
legen. Dieser Sorgfaltspflicht hat er mit der Entzündung des
Brandbeschleunigers zuwider gehandelt und seine Sorgfaltspflicht verletzt.
c) Objektive Zurechnung
Der Tod des F müsste dem T auch objektiv zurechenbar sein.
Auch hier muss die Brandlegung also eine rechtlich missbilligte Gefahr darstellen, die sich im Tod des F niedergeschlagen hat. Problematisch ist hier, dass F nicht ums Leben gekommen wäre, wenn er nicht selbst in das brennende Haus
gelaufen wäre. Der objektive Zurechnungszusammenhang
könnte also durch ein eigenverantwortliches Opferverhalten
unterbrochen sein (Retterfall).
Eine Ansicht rechnet das Verhalten des Retters dem Täter
grundsätzlich zu.102 Der Täter schaffe mit der Tatbegehung
eine Gefahr, die sich weiterhin im Erfolg niederschlage. Dass
der Retter eigenverantwortlich in das Tatgeschehen eingreife,
behindere nicht die Erfolgsrealisierung der ursprünglichen
Gefahr.103
Die Gegenansicht schließt eine solche Zurechnung generell aus, da der Retter eigenverantwortlich handle und damit
die Verletzungsgefahr in eigener Person begründe.104 Die
Erfolgsrealisierung sei danach gerade nicht Folge der Tat-,
sondern der eigenverantwortlichen Rettungshandlung.
Die h.M. berücksichtigt zum einen das freiverantwortliche Verhalten des Retters, zum anderen aber auch die Gefahr
durch das Täterverhalten (hier der Brandlegung), und rechnet
den Erfolg dem Täter dann nicht zu, wenn es sich um eine
freiverantwortliche Selbstgefährdung handelt.105 Die Freiverantwortlichkeit sei danach zu beurteilen, ob der Ersttäter
durch sein Verhalten einen erkennbaren Anreiz zur Rettungshandlung gebe und letztere sich im Rahmen des Vernunftgemäßen und Verhältnismäßigen bewege.106 Die h.M. würde
somit nach den zu berücksichtigenden Kriterien (wie Maß der
verbundenen Gefahren, zu rettendes Rechtsgut, etwaige Rettungspflicht des Retters)107 zu dem Schluss gelangen, dass
eine Zurechnung hier (nicht) ausscheidet.
101
Vgl. OLG Bamberg NStZ-RR 2008, 10; Wessels/Beulke/
Satzger (Fn. 1), Rn. 942.
102
Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl.
1996, § 28 IV. 4.
103
Vgl. Kindhäuser (Fn. 1), § 11 Rn. 57.
104
Roxin (Fn. 25), § 11 Rn. 137.
105
BGHSt 39, 322 (325) m. Anm. Amelung, NStZ 1994, 338;
OLG Stuttgart NStZ 2009, 331; Kindhäuser (Fn. 1), § 11
Rn. 58.
106
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 282; Kühl (Fn. 3), § 4
Rn. 96; vgl. auch Murmann (Fn. 39), § 23 Rn. 87.
107
Vgl. etwa Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 282.
STRAFRECHT
Die h.M. überzeugt, da sie die Verantwortungsbereiche
von Täter und Opfer sinnvoll und angemessen voneinander
abgrenzt. Eine generelle Zurechnung würde waghalsige und
sinnlose Rettungsversuche ebenfalls dem Täter anlasten.
Diese stellen jedoch keine Ausprägung der Tatgefahr mehr
dar.108 Eine grundsätzliche Ablehnung der Zurechnung wird
hingegen der solidarischen Beistandspflicht nicht gerecht, die
in § 323c StGB zum Ausdruck kommt. Zudem wären Rettungspflichtige (bspw. Garanten) damit schutzlos gestellt,
wenn sie zum einen zur Hilfe verpflichtet sind, eine mögliche
Schädigung von der Rechtsordnung aber ihnen selbst angelastet würde. Somit überzeugt es, Rettungshandlungen bis zu
einer gewissen Grenze dem Täter zuzurechnen. F unterliegt
als Feuerwehrmann einer Rettungspflicht, weshalb zunächst
eine Zurechnung überzeugt, da der Rettungsversuch nicht auf
einem freien Entschluss des F, sondern seiner beruflichen
Verpflichtung beruht. Zugleich spricht gegen eine Zurechnung, dass der Einsatzleiter aufgrund der Einsturzgefahr
weitere Rettungsmaßnahmen untersagt hatte. Da es sich hier
zudem nicht um einen zu rettenden Menschen handelt, erscheinen die Gründe angesichts der Gefahrensituation nicht
für einen einsichtigen Rettungsversuch zu sprechen. T hat im
Ergebnis eine Sorgfaltspflicht verletzt und den Taterfolg in
kausaler Weise herbeigeführt. Dieser ist ihm jedoch objektiv
nicht zuzurechnen.
2. Ergebnis
T hat sich nicht der fahrlässigen Tötung gem. § 222 StGB
strafbar gemacht.
III. Strafbarkeit des T gem. §§ 303 Abs. 1, 305 Abs. 1
StGB
T könnte sich durch das Anzünden des Brandbeschleunigers
schließlich der Zerstörung von Bauwerken gem. §§ 303
Abs. 1, 305 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben.
Als Gebäude ist ein mit dem Erdboden verbundenes Bauwerk zu verstehen, dass durch Wände und Dach begrenzt und
für den Zutritt durch Menschen bestimmt ist.109 Das Haus
steht ebenfalls im Eigentum des K und ist für T fremd. Als
Zerstörung gilt – entsprechend dem Verständnis im Rahmen
des § 303 Abs. 1 StGB 110 – die Aufhebung der Sachsubstanz
oder Beschädigung in dem Maße, dass ihre bestimmungsgemäße Brauchbarkeit aufgehoben wird.111 Das Haus ist komplett niedergebrannt und damit zerstört. Die Zerstörung hat T
willentlich in seine Vorstellung aufgenommen und handelte
demnach vorsätzlich. T hat sich der Zerstörung von Bauwerken gem. §§ 303 Abs. 1, 305 Abs. 1 StGB strafbar gemacht.
108
Zust. Satzger, Jura 2014, 695 (704).
BGHSt 1, 158 (163); 6, 107; Zaczyk (Fn. 46), § 305 Rn. 2.
110
Fischer (Fn. 18), § 305 Rn. 5; Momsen (Fn. 2), § 305
Rn. 4.
111
Joecks (Fn. 3), § 303 Rn. 7; Stree/Hecker (Fn. 44), § 303
Rn. 14.
109
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241
ÜBUNGSFÄLLE
Christopher Penkuhn
D. Vierter Tatkomplex – Das Geschehen in Italien
I. Strafbarkeit des T gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1
StGB
T könnte sich durch den Messerstich des versuchten Totschlags gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB zulasten des
K strafbar gemacht haben.
1. Anwendung deutschen Strafrechts
Die staatliche Hoheitsgewalt und mit ihr die Strafgewalt sind
nach völkerrechtlichen Grundsätzen auf das staatliche Territorium beschränkt (Gebietshoheit). Da die Messerattacke auf
italienischem Boden stattfand (Auslandstat), unterfällt die
Handlung nach dem Territorialitätsprinzip112 grundsätzlich
italienischer Strafgewalt. Fraglich ist, ob die Tat auch nach
Maßgabe des deutschen Strafrechts verfolgt werden kann.
Hierfür bedarf es eines völkerrechtlichen legitimierenden Anknüpfungspunktes (real link).
a) Aktives Personalitätsprinzip
Zum einen kommt das aktive Personalitätsprinzip in Betracht.
Hiernach unterliegen der Strafgewalt eines Staates Auslandstaten seiner eigenen Staatsangehörigen.113 Seine Grundlage
findet dieses Prinzip in der Rückbindung des Einzelnen an
seine Rechtsordnung über die Staatsangehörigkeit und die
damit begründete Personalhoheit des Staates über seine
Staatsbürger.114 Das aktive Personalitätsprinzip findet seine
gesetzliche Grundlage in § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB und setzt
voraus, dass der Täter zur Zeit der Tat Deutscher war und das
Delikt auch am Tatort mit Strafe bedroht ist. Die Tötungsdelikte sind auch nach italienischem Recht strafbar. Der Begriff
des Deutschen umfasst dabei deutsche Staatsangehörige und
Volkszugehörige gem. Art. 116 GG.115 K besitzt die deutsche
Staatsbürgerschaft und ist somit Deutscher im Sinne des § 7
Abs. 2 Nr. 1 StGB. Auf die Tat findet somit deutsches Strafrecht Anwendung.
b) Passives Personalitätsprinzip
Nach dem passiven Personalitätsprinzip unterliegen Auslandstaten deutscher Strafgewalt, wenn durch diese Individualrechtsgüter deutscher Staatangehöriger verletzt werden
(Individualschutzprinzip).116 Auch die extraterritoriale Strafgewalt im Rahmen des passiven Personalitätsprinzips ist an
einen legitimierenden Anknüpfungspunkt gebunden, der auch
hier durch die identische Tatortnorm begründet ist (§ 7 Abs. 1
StGB). T als Opfer ist ebenfalls deutscher Staatsbürger. Auch
nach Maßgabe des passiven Personalitätsprinzips unterliegt
die Handlung deutscher Strafgewalt.
112
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,
7. Aufl. 2016, § 4 Rn. 5; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 87.
113
Satzger (Fn. 112), § 4 Rn. 7; Rengier (Fn. 6), § 6 Rn. 20.
114
Ambos (Fn. 20), § 3 Rn. 39; Wessels/Beulke/Satzger
(Fn. 1), Rn. 91.
115
Ambos (Fn. 20), § 3 Rn. 46.
116
Ambos (Fn. 20), § 3 Rn. 70; Satzger (Fn. 112), § 4 Rn. 11.
2. Versuchstatbestand
Der Totschlag ist als Verbrechen im Versuch strafbar. K ist
nicht verblutet und der Todeserfolg demnach ausgeblieben.
Unabhängig von dem Verteidigungswillen bezog sich die
Vorstellung des T auf die Herbeiführung des Taterfolges.
Sodann müsste T auch zur Tatausführung unmittelbar angesetzt haben. T hat hier den lebensgefährlichen Stich abgegeben und folglich die tatbestandliche Verletzungshandlung
ausgeführt. Weiterer Zwischenakte zur Erfolgsherbeiführung
bedurfte es nicht.
3. Rechtswidrigkeit
Hier kommt wiederum eine Rechtfertigung aus Notwehr
gem. § 32 StGB in Betracht. Zur Zeit des Messerstichs hatte
K den T in seiner Gewalt und würgte diesen mit Tötungsabsicht. Es lag mithin ein Angriff vor. Da dieser noch fortdauerte, war er auch gegenwärtig. Rechtfertigungsgründe zugunsten des K kommen hier nicht in Betracht. Der Angriff war
rechtswidrig.
Der Stich mit dem Springmesser müsste sodann die Anforderungen an eine geeignete, erforderliche und gebotene
Notwehrhandlung erfüllen. Aufgrund des Messerstichs war K
nicht mehr in der Lage, den T weiter zu würgen. Die Handlung des T hat den Angriff damit beendet und war geeignet.
Damit der Stich auch als erforderlich beurteilt werden kann,
dürfte kein anderes gleich geeignetes und den Angreifer weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung gestanden
haben. T konnte sich dem Würgegriff des körperlich überlegenen K nicht durch eigene Körperkraft entziehen. Andere
Verteidigungsmittel standen ebenfalls nicht zur Verfügung.
Der Messerstich war demnach auch erforderlich. Im Zusammenhang mit der Voraussetzung der Gebotenheit gilt es ferner zu beachten, dass T durch die vorangegangenen Ereignisse eine Ursache für den Angriff des K gesetzt hat und eine
Provokation der sich anschließenden Notwehrlage zu erwägen ist. In Betracht kommt hier eine nicht absichtliche, jedoch in sonstiger Weise vorwerfbare Provokation.117 Hierfür
bedarf es zunächst eines objektiven Provokationszusammenhangs, der einen inhaltlichen und engen räumlichen sowie
zeitlichen Zusammenhang zwischen dem provozierenden
Verhalten und dem Angriff verlangt.118 Der Angriff erfolgte
einige Tage später nach der letzten Straftat des T zulasten des
K (Wohnhausbrand) und zudem in Italien und damit zeitlich
und räumlich distanziert von den provozierenden Geschehnissen. Der erforderliche Provokationszusammenhang ist damit nicht mehr gewahrt. Der Stich des T ist folglich geboten
und durch Notwehr gerechtfertigt.
4. Ergebnis
T hat sich nicht des versuchten Totschlags zulasten des K
strafbar gemacht.
117
Jäger, Examens-Repetitorium, Strafrecht, Allgemeiner
Teil, 7. Aufl. 2015, Rn. 122; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 524.
118
BGH NStZ 2009, 626 f.; Fischer (Fn. 18), § 32 Rn. 44;
Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1), Rn. 526.
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ZJS 2/2016
242
Anfängerhausarbeit: Grenzüberschreitende Rachegelüste
II. Strafbarkeit des T gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13
Abs. 1 StGB
T könnte sich durch das Zurücklassen des K des versuchten
Totschlags durch Unterlassen gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23
Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar gemacht haben. Das deutsche Strafrecht findet hier unter den oben getroffenen Feststellungen Anwendung.
1. Vorprüfung
Der versuchte Totschlag bleibt im Versuch strafbar. Hier ist
der Todeserfolg nicht eingetreten und die Versuchsstrafbarkeit eröffnet.
2. Tatentschluss
Der Tatentschluss muss hier alle Tatumstände des Unterlassungsdelikts umfassen. T wusste, dass K ohne Hilfe verbluten
würde. Er hatte somit sicheres Wissen und damit einen Vorsatz zur Herbeiführung des Taterfolges. Diese Vorstellung
schloss auch den Kausalverlauf ab Verlassen des Tatortes
und die objektive Zurechnung des Todeserfolgs mit ein.
Da es sich um ein unechtes Unterlassungsdelikt handelt,
müsste die Vorstellung des T außerdem seine Garantenstellung einbeziehen. Zu erwägen wäre eine Überwachergarantenstellung aus vorangegangenem gefährdenden Verhalten
(Ingerenz), die sich aus dem Messerstich des T ergeben könnte. Hierbei wird der Täter garantenpflichtig, weil er durch
sein Vorverhalten eine Gefahr geschaffen hat, die er nun zu
kontrollieren verpflichtet ist.119 Zunächst ist festzuhalten,
dass die h.M. für die Begründung einer Ingerenz ein zumindest pflichtwidriges Vorverhalten verlangt.120 Diese Anforderungen sind erfüllt, da T mit dem Messerstich ein den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllendes Verhalten gezeigt hat.
Fraglich ist allerdings, wie sich der Umstand auswirkt, dass T
den Messerstich in Notwehr geführt hat.
Die heute überwiegende Auffassung verneint eine Ingerenz bei vorherigem gerechtfertigtem Verhalten aus § 32
StGB.121 Es entstehe sonst eine Wertungswiderspruch, wenn
der Verteidiger zum einen gerechtfertigt, zum anderen aber
sogleich als Garant verantwortlich wäre.122 Zudem sei der
Aggressor dann besser geschützt, wenn er vom Verteidiger
verletzt wäre, als wenn seine Verletzung ohne Dritthandeln
eingetreten wäre.123
Die Gegenansicht124 beruft sich ebenfalls auf einen Wertungswiderspruch: Der gerechtfertigte Verteidiger könne im
Rahmen der Verteidigungshandlung nicht den Notwehrschranken unterworfen, sodann aber ohne Garantenpflicht aus
STRAFRECHT
der Verantwortung entlassen werden.125 Hingewiesen wird
auch darauf, dass die Verteidigungsmaßnahme selbst gerechtfertigt war, das sich anschließende Unterlassen jedoch eine
selbstständige Gefahr begründe und von der Rechtfertigung
losgelöst sei.126
Zunächst mag es überzeugen, dass derjenige, der durch
seinen Angriff Verteidigungsmaßnahmen auslöst, eine neue
Gefahr begründet. Doch das ließe die Wertung des § 323c
StGB unberücksichtigt. Der Gesetzgeber hat dem § 323c
StGB eine allgemeine Beistandspflicht zugrunde gelegt. Für
eine erhöhte Solidarität greifen die unechten Unterlassungsdelikte ein. Wenn ein Unbeteiligter nur dem § 323c StGB
unterfällt, leuchtet nicht ein, wenn ein obendrein gerechtfertigt Handelnder strengeren Anforderungen unterliegen sollte.127 Zudem kann das Argument, das Unterlassen begründe
eine abstrakte Gefahr, vor dem Hintergrund nicht überzeugen, dass der Angreifer somit gezielt eine Garantenpflicht
hervorrufen könnte.128 Hinzu kommt, dass der Notwehrübende, würde er mit seiner Verteidigungshandlung eine Garantenpflicht begründen, darauf achten müsste, seine Abwehrhandlung auf das Maß zu beschränken, dass den Aggressor
wiederum in keine hilflose Lage bringt. Das kann dem Verteidiger in der konkreten Abwehrlage weder zugemutet werden, noch lässt sich für solche Anforderungen eine Stütze im
§ 32 StGB finden. Somit unterlag T keiner Garantenstellung
aus Ingerenz, auf die sich sein Tatentschluss beziehen könnte.
3. Ergebnis
T hat sich nicht des versuchten Totschlags durch Unterlassen
gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB strafbar
gemacht.
III. Strafbarkeit des T gem. § 323c StGB
T könnte sich durch das Zurücklassen des K der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c StGB strafbar gemacht haben.
Das deutsche Strafrecht findet auch hier Anwendung. Als
Unglücksfall ist ein mit Gefahren für Menschen oder Sachen
verbundener sich plötzlich ereignender Zustand zu verstehen.129 Der Stich hat eine Gefahr für das Leben des K bewirkt, und stellt somit einen Unglücksfall dar. Die Tathandlung besteht in der Nichtvornahme der Hilfeleistung.130 Diese
Rettungshandlung muss erforderlich, mithin die die Gefahrenverhinderung am sichersten gewährleistende und zumutbar sein.131 K bedurfte dringender ärztlicher Hilfe. Erforderlich war somit die Benachrichtigung der Rettungskräfte. T hat
125
Vgl. Rengier (Fn. 6), § 50 Rn. 78.
Vgl. Kühl (Fn. 3), § 18 Rn. 95.
127
I.E. auch Freund, in: Joecks/Miebach (Fn. 10), § 13
Rn. 152.
128
Zust. Kühl (Fn. 3), § 18 Rn. 94.
129
OLG Düsseldorf NJW 1991, 2979; Sternberg-Lieben/
Hecker, in: Schönke/Schröder (Fn. 18), § 323c Rn. 5.
130
Nach h.M. ist die Tat mit der Willensbetätigung, die Hilfeleistung nicht zu erbringen, vollendet. So etwa BGHSt 21, 50
(55); Fischer (Fn. 18), § 323c Rn. 22.
131
Wessels/Hettinger (Fn. 42), Rn. 1045.
126
119
Rengier (Fn. 6), Rn. 70.
BGH NStZ 2000, 414; Joecks (Fn. 3), § 13 Rn. 55.
121
So BGHSt 23, 327 f.; BGH NStZ 2000, 414; Fischer
(Fn. 18), § 13 Rn. 53; Wessels/Beulke/Satzger (Fn. 1),
Rn. 1023.
122
Rengier (Fn. 6), § 50 Rn. 77.
123
Wohlers/Gaede, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen
(Fn. 11), § 13 Rn. 45; Rengier (Fn. 6), § 50 Rn. 77.
124
Vgl. Arzt, JA 1980, 714 (715).
120
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243
ÜBUNGSFÄLLE
Christopher Penkuhn
die erforderliche und zumutbare Rettungshandlung nicht
vorgenommen. Hierbei handelte er auch vorsätzlich. Rechtfertigungsgründe sowie Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich. T hat sich durch
das Zurücklassen des K gem. § 323c StGB strafbar gemacht.
E. Konkurrenzen
Im Ergebnis besteht eine Strafbarkeit des P wegen versuchter
Sachbeschädigung gem. §§ 303 Abs. 1, Abs. 3, 22, 23 Abs. 1
StGB, sowie des T wegen Mordes zulasten seiner Ehefrau E,
wegen eines besonders schweren Falls des Diebstahls zulasten des B, wegen Sachbeschädigung, wegen Zerstörung von
Bauwerken und unterlassener Hilfeleistung zulasten des K.
Die Strafbarkeiten wegen des besonders schweren Falls
des Diebstahls und der Sachbeschädigung am PKW bilden
eine natürliche Handlungseinheit und stehen somit in Tateinheit. Eine Konsumtion kommt hier nicht in Betracht, da von
Regelbeispielen eine solche Wirkung nicht ausgeht.132 Diese
und die Strafbarkeit wegen Mordes sind wiederum auf zwei
unterschiedliche Lebenssachverhalte zurückzuführen und stehen daher in Realkonkurrenz zueinander. Diese stehen wiederum jeweils in Tatmehrheit zur Zerstörung von Bauwerken
und zur unterlassenen Hilfeleistung.
T ist strafbar wegen Mordes, in Tatmehrheit mit einem
besonders schweren Fall des Diebstahls in Tateinheit mit
Sachbeschädigung, in Tatmehrheit mit der Zerstörung von
Bauwerken und unterlassener Hilfeleistung, §§ 211, 212
Abs. 1, 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 und 2, 303 Abs. 1,
305 Abs. 1, 323c, 52, 53 StGB.
132
So BGH NStZ 2001, 642; Zaczyk (Fn. 46), § 303 Rn. 33;
Rengier, JuS 2002, 850; dagegen KG JR 1979, 249.
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ZJS 2/2016
244
EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)
Böse
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Entscheidungsbesprechung
Entscheidungen mit beschränkter Rechtkraft als grenzüberschreitendes Verfahrenshindernis
Ein gerichtlicher Beschluss, mit dem die Eröffnung des
Hauptverfahrens abgelehnt wird und der ein erneutes
Strafverfahren wegen derselben Tat ausschließt, sofern
keine neuen Belastungstatsachen auftauchen, ist eine
rechtskräftige Aburteilung im Sinne von Art. 54 SDÜ und
hindert damit die Einleitung eines Strafverfahrens in
einem anderen Mitgliedstaat.
(Leitsatz des Verf.)
SDÜ Art. 54
EU-GRC Art. 50
EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)1
I. Einleitung
In seiner tradierten Form schützt der Grundsatz „ne bis in
idem“ nur vor einer erneuten Strafverfolgung in derselben
Strafrechtsordnung, d.h. er begründet ein Verfahrenshindernis nur in dem Staat, in dem das erste Strafverfahren geführt
und abgeschlossen worden ist (Art. 103 Abs. 3 GG; siehe
auch Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK2: „in
einem Strafverfahren desselben Staates“).3 Mit Art. 54 des
Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ)4 wurde
dieses Verfolgungshindernis für den Schengen-Raum mit
einer grenzüberschreitenden Wirkung versehen, und wenige
Jahre später wurde diese völkervertragliche Regelung mit
dem Vertrag von Amsterdam als Bestandteil des SchengenBesitzstandes in das Unionsrecht überführt.5 Zugleich wurde
damit eine Zuständigkeit des EuGH begründet, im Rahmen
des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) über die
ihm von nationalen Gerichten vorgelegten Auslegungsfragen
zu Art. 54 SDÜ zu entscheiden. Der neue unionsrechtliche
Kontext hat die Reichweite dieses Verfahrenshindernisses
nachhaltig geprägt: Unter Betonung der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der in den Mitgliedstaaten ergangenen
Urteile (vgl. nunmehr Art. 67 Abs. 3, Art. 82 Abs. 1 AEUV)
1
Im Internet abrufbar unter
http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CE
LEX:62012CJ0398&qid=1455548395233&from=DE
(17.2.2016) sowie abgedruckt u.a. in NJW 2014, 3010.
2
Siehe das Protokoll Nr. 7 zur Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 22.11.1984 = SEV
Nr. 117, das allerdings bislang von der Bundesrepublik
Deutschland nicht ratifiziert worden ist.
3
Siehe insoweit BVerfGE 12, 62 (66); 75, 1 (15 f.); BVerfG
StraFo 2008, 151 (152).
4
Übereinkommen zur Durchführung des Schengener Abkommens (Schengener Durchführungsübereinkommen) v.
19.6.1990 = BGBl. II 1993, S. 1010.
5
Siehe das Protokoll über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand = ABl. EU
1997 Nr. C 340 v. 10.11.1997, S. 93.
und des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger (Art. 21
AEUV) stellte der EuGH bereits in seiner ersten Entscheidung zu Art. 54 SDÜ in der Rechtssache Gözütok und Brügge die Weichen zu einer weiten Auslegung dieser Vorschrift.6
Dieser verfolgtenfreundliche Ansatz wurde durch das Inkrafttreten der EU-Grundrechte-Charta (EU-GRC) gestärkt, die
mit Art. 50 EU-GRC auch den Grundsatz „ne bis in idem“
einschließlich seiner grenzüberschreitenden Dimension („in
der Union“) umfasst.
Ein grenzüberschreitender Strafklageverbrauch setzt nach
Art. 54 SDÜ dreierlei voraus: (1) eine rechtskräftige Aburteilung, (2) das – in Art. 50 GRC nicht erwähnte und umstrittene7 – sog. Vollstreckungselement (die verhängte Strafe wird
gerade vollstreckt, ist bereits vollstreckt worden oder kann
nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt
werden) und (3) die Identität der Tat. Die vorliegende Entscheidung des EuGH8 betrifft die erste Voraussetzung und
die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen eine
gerichtliche Entscheidung, mit der die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt wird, als „rechtskräftige Aburteilung“
anzusehen ist, die eine Strafverfolgung in einem anderen
Mitgliedstaat ausschließt. Das Urteil folgt dem oben angedeuteten, weiten Verständnis des Art. 54 SDÜ und setzt damit die in ihrer Grundtendenz verfolgtenfreundliche Auslegung fort.
II. Sachverhalt
Der Entscheidung des EuGH lag folgender Sachverhalt zugrunde:9 Gegen den in Belgien wohnhaften italienischen
Staatsangehörigen M wurde in Belgien ein strafrechtliches
Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf sexuellen
Missbrauch und anderen Sexualdelikten geführt. Die Ermittlungsergebnisse wurden im Jahr 2008 von der Staatsanwaltschaft dem für die Entscheidung über den weiteren Verfahrensfortgang zuständigen Untersuchungsgericht (der Ratskammer des Tribunal de première instance) vorgelegt, das
eine Weiterleitung an das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht aus Mangel an Beweisen im Dezember 2008
ablehnte (ordonnance de non-lieu, Art. 128 Code d’instruction criminelle). Die für die Kontrolle der verfahrensabschließenden Entscheidungen der Ratskammer zuständige
Anklagekammer am Berufungsgericht bestätigte die Einstellung des Verfahrens im April 2009, und auch das hiergegen
eingelegte Rechtsmittel wurde vom obersten Gerichtshof (der
Cour de cassation) im Dezember 2009 zurückgewiesen. Aufgrund einer in Italien im Jahr 2006 erstatteten Anzeige hatten
6
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Verb. Rs. C-187/01 und C385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345 Rn. 33,
38 ff.
7
Siehe dazu EuGH, Urt. v. 27.5.2014 – C-129/14 (Spasic) =
NJW 2014, 3007 einerseits und Böse, in: Hochmayr (Hrsg.),
„Ne bis in idem“ in Europa, 2015, S. 171 (172 ff.) andererseits.
8
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M) = NJW 2014, 3010.
9
Siehe insoweit EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12,
Rn. 15 ff. (zum Sachverhalt) sowie Rn. 9 ff. (zum belgischen
Recht).
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245
EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)
Böse
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die dortigen Strafverfolgungsbehörden zuvor ebenfalls Ermittlungen wegen desselben Tatvorwurfs aufgenommen, die
schließlich Ende 2008 zur Eröffnung des Hauptverfahrens
gegen M geführt hatten. In der Hauptverhandlung berief sich
M im Dezember 2009 auf den Grundsatz „ne bis in idem“
und das – kurz zuvor ergangene – Urteil des belgischen Kassationshofes, mit dem das Strafverfahren in Belgien endgültig
abgeschlossen worden sei. Nach belgischem Strafverfahrensrecht schließt die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens eine erneute Strafverfolgung zwar grundsätzlich aus;
dies gilt jedoch nicht für den Fall, dass nach der Entscheidung neue belastende Tatsachen bekannt werden (Art. 246
Code d’instruction criminelle). Das italienische Gericht setzte
daraufhin das Strafverfahren aus und legte dem EuGH die
Frage vor, ob eine derartige Entscheidung als rechtskräftige
Aburteilung im Sinne des Art. 54 SDÜ anzusehen ist.
III. Entscheidung
Der EuGH bejahte die ihm vorgelegte Auslegungsfrage. Eine
„rechtskräftige Aburteilung“ im Sinne des Art. 54 SDÜ setzt
nach Auffassung des EuGH zweierlei voraus: Erstens muss
es sich bei der verfahrensabschließenden Entscheidung um
eine Sachentscheidung handeln, d.h. eine Entscheidung, die
ohne Prüfung des Schuldvorwurfes erfolgt (z.B. die Einstellung mit Blick auf ein im Ausland geführtes Strafverfahren,
vgl. § 153c StPO), ist für eine „Aburteilung“ nicht ausreichend.10 Diese Anforderungen erfüllt der Einstellungsbeschluss, da dieser auf der Grundlage einer eingehenden Prüfung erging, ob die im Ermittlungsverfahren gesammelten
Beweismittel für die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen
des gegen M erhobenen Vorwurfs ausreichen oder nicht.11
Zweitens muss die verfahrensabschließende Entscheidung
„rechtskräftig“ sein, d.h. zu einem endgültigen Verbrauch der
Strafklage führen.12 Dies bestimmt sich nach dem Strafverfahrensrecht des Mitgliedstaates, in dem die verfahrensabschließende Entscheidung ergangen ist (Urteilsstaat);13 eine
Verfahrenseinstellung, welche der Fortführung des Strafverfahrens bzw. weiteren Ermittlungen wegen derselben Tat ohne Weiteres nicht entgegensteht (vgl. § 170 Abs. 2 StPO)14,
genügt diesen Anforderungen nicht.15 Auch diese Vorausset-
zung ist nach Ansicht des EuGH gegeben, da der Einstellungsbeschluss mit der Entscheidung des belgischen Kassationshofes (formell) rechtskräftig geworden und eine Verfolgung von M wegen der verfahrensgegenständlichen Tat ausgeschlossen bzw. nur ausnahmsweise bei Vorlage von neuem
Beweismaterial zulässig sei (Art. 246 Code d’instruction criminelle, siehe oben).16
Der EuGH gelangt damit zu dem Kern der Vorlagefrage,
nämlich ob auch verfahrensabschließende Entscheidungen,
die nur zu einem beschränkten Strafklageverbrauch führen,
als „rechtskräftige Aburteilung“ anzusehen sind. Da der Einstellungsbeschluss (ordonnance de non-lieu) keinen umfassenden Strafklageverbrauch begründet und auch im belgischen Schrifttum als vorläufige Entscheidung angesehen
wird17, wäre an dieser Stelle auch eine engere Auslegung
denkbar gewesen, weshalb der EuGH sein Ergebnis im Folgenden auf weitere Erwägungen zu Art. 50 EU-GRC stützt:
Art. 54 SDÜ sei nämlich im Lichte des Art. 50 EU-GRC
auszulegen,18 dessen Gewährleistungsgehalt ausweislich der
bei der Auslegung der Charta zu berücksichtigenden Erläuterungen19 (siehe Art. 52 Abs. 7 EU-GRC) in Anlehnung an
Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK zu bestimmen sei.20
Aus Art. 4 Abs. 2 dieses Zusatzprotokolls gehe hervor, dass
die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens aufgrund neuer oder neu bekannt gewordener Tatsachen das
Vorliegen einer rechtskräftigen Aburteilung (Verurteilung
oder Freispruch) im Sinne des Art. 4 Abs. 1 des Zusatzprotokolls nicht ausschließe.21 Der EuGH verweist insoweit auf die
Rechtsprechung des EGMR, wonach außerordentliche
Rechtsbehelfe zur Durchbrechung der Rechtskraft (Antrag
auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, §§ 44 ff. StPO;
Antrag auf Wiederaufnahme, §§ 359 ff. StPO) insoweit unberücksichtigt bleiben müssen,22 und folgert daraus, dass auch
die im belgischen Strafverfahren bestehende Möglichkeit, das
Strafverfahren gegen M bei neuen Tatsachen fortzusetzen,
der Annahme einer rechtskräftigen Aburteilung nicht entgegenstehe.23 Der EuGH gelangt damit zu dem Ergebnis, dass
ein gerichtlicher Beschluss, mit dem die Eröffnung des
Hauptverfahrens abgelehnt wird und der ein erneutes Strafverfahren ausschließt, sofern keine neuen Belastungstatsachen auftauchen, als „rechtskräftige Aburteilung“ im Sinne
10
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 28; siehe insoweit
EuGH, Urt. v 10.3.2005 – C-469/03 (Miraglia) = NJW 2005,
1337 (1338 Rn. 30); siehe aber zum Freispruch wegen Verjährung: EuGH, Urt. v. 28.9.2006 – C-467/04 (Gasparini) =
NJW 2006, 3403 (3404 Rn. 26 ff.).
11
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 30.
12
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 31.
13
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 36.
14
Siehe zu § 170 Abs. 2 StPO Moldenhauer, in: Hannich
(Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung,
7. Aufl. 2013, § 170 Rn. 23 m.w.N.
15
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 32; siehe insoweit
EuGH, Urt. v. 22.12.2008 – C-491/07 (Turanský) = NStZ-RR
2009, 109 (110 Rn. 34 ff.); vgl. auch zur Ablehnung eines
grenzüberschreitenden Strafklageverbrauchs einer deutschen
Einstellungsverfügung nach § 170 Abs. 2 StPO in Frankreich
Cour de Cassation, Urt. v. 2.4.2014 – 13-80474 (Krombach)
= Bulletin des Arrêts Chambre Criminelle 4/2014, 228 (229
Leitsatz 1).
16
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 33.
17
Vgl. Franchimont/Jacobs/Masset, Manuel de procedure
pénale, 4. Aufl. 2012, S. 606 („caractère provisoire“); siehe
auch das Vorbringen der belgischen Regierung bei Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 6.2.2014, in: EuGH,
Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 39.
18
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 35.
19
ABl. EU 2007 Nr. C 303 v. 14.12.2007, S. 17, 32.
20
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 37.
21
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 37.
22
Siehe insoweit EGMR, Urt. v. 10.2.2009 – 14939/03
(Zolotukhin/Russland) = NJOZ 2010, 2630 (2635 Rn. 108).
23
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 39 f.
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EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)
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des Art. 54 SDÜ die Strafverfolgung derselben Tat in einem
anderen Mitgliedstaat ausschließt.
IV. Würdigung
1. Erneute Verfolgung bei Aufklärungsmängeln?
Die Auslegung des EuGH liegt nach dem (deutschen) Wortlaut24 des Art. 54 SDÜ („rechtskräftig abgeurteilt“) nicht
unbedingt nahe. Es ist daher nicht überraschend, dass die
Rechtsprechung der nationalen Gerichte zunächst einem
engeren Begriffsverständnis gefolgt ist. So hat der BGH den
Einstellungsbeschluss (ordonnance de non-lieu) einer französischen Anklagekammer im Jahr 1999 nicht als rechtskräftige
Aburteilung im Sinne des Art. 54 SDÜ angesehen, da unter
diesen Begriff nur ausländische „Urteile“, nicht aber Einstellungsentscheidungen fielen, denen – wie der Vergleich mit
dem Nichteröffnungsbeschluss (§§ 204, 211 StPO) zeige –
nicht die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils zukomme.25
Auf dieser Linie liegt auch die kurz vor dem besprochenen
Urteil ergangene Entscheidung der französischen Cour de
Cassation im Fall Dieter Krombach.26 Dieser stand in dem
Verdacht, in Deutschland seine Stieftochter misshandelt und
getötet zu haben, und wurde von einem französischen Gericht
in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt; nachdem Deutschland die Auslieferung verweigert hatte, ließ der Vater des Opfers Krombach nach Frankreich entführen, woraufhin dort das Strafverfahren wieder aufgenommen und Krombach erneut zu einer Freiheitsstrafe von 15
Jahren verurteilt wurde.27 Das gegen die Verurteilung eingelegte Rechtsmittel wurde u.a. darauf gestützt, dass ein wegen
derselben Tat in Deutschland eingeleitetes Ermittlungsverfahren eingestellt (§ 170 Abs. 2 StPO) und der gegen die Einstellung gerichtete Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom
OLG München verworfen worden war (§§ 172, 174 StPO).
Ungeachtet der beschränkten Rechtskraftwirkung der letztgenannten Entscheidung (§ 174 Abs. 2 StPO: Anklage nur bei
neuen Tatsachen oder Beweismitteln), verneinte die Cour de
cassation eine „rechtskräftige Aburteilung“ im Sinne des
Art. 54 SDÜ, da der gerichtlichen Entscheidung keine Anklage zugrunde gelegen habe.28
In beiden Urteilen kommt die Sorge zum Ausdruck, dass
verfahrensabschließende Entscheidungen bei einer weiten
Auslegung auch dann ein grenzüberschreitendes Verfolgungshindernis begründen können, wenn sie auf einer unzureichenden Aufklärung des Sachverhalts beruhen und aus
diesem Grund fehlerhaft sind. Zwar können derartige Aufklä24
Siehe zum Wortlaut der anderen Amtssprachen Böse, GA
2003, 744 (748).
25
BGHSt 45, 123 (127 f.).
26
Cour de Cassation, Urt. v. 2.4.2014 – 13-80474 (Krombach) = Bulletin des Arrêts Chambre Criminelle 4/2014, 228.
27
Wiegel, FAZ v. 20.12.2012, abrufbar im Internet unter
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/fall-kalinka-hohe-frei
heitsstrafe-fuer-dieter-krombach-12000379.html (17.2.2016);
eingehend zur Vorgeschichte Netzer, ZJS 2009, 752.
28
Cour de Cassation, Urt. v. 2.4.2014 – 13-80474 (Krombach) = Bulletin des Arrêts Chambre Criminelle 4/2014, 228
(229 Leitsatz 1).
rungsmängel auch bei einem rechtskräftigen Urteil nicht
vollkommen ausgeschlossen werden; das Hauptverfahren
bietet jedoch aufgrund der Reichweite der Kognitionspflicht
(Überzeugung von der Schuld des Angeklagten) und der
Methoden der Sachverhaltsaufklärung (Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme) eine größere Gewähr für die Richtigkeit
der Entscheidung.29 Eine Beschränkung des Art. 54 SDÜ auf
nach einer öffentlichen Hauptverhandlung ergangene Urteile
wäre daher gut nachvollziehbar, und es ist daher wenig überraschend, dass das Europäische Übereinkommen über die
internationale Geltung von Strafurteilen in der Vorläuferregelung zu Art. 54 SDÜ die grenzüberschreitende Wirkung des
Grundsatzes „ne bis in idem“ auf nach einem Strafverfahren
ergangene Urteile beschränkte (Art. 53 i.V.m. Art. 1 lit. a)
und Strafverfügungen (Strafbefehle) ausdrücklich von der
Geltung dieses Grundsatzes ausnahm (vgl. Art. 1 lit. g).30
2. Die objektive Dimension: Gegenseitige Anerkennung und
internationale Arbeitsteilung
Wie bereits eingangs erwähnt, hat der EuGH derartige Bedenken bereits in der Rechtssache Gözütok und Brügge zurückgewiesen, indem er – im Gegensatz zum BGH31 – die
staatsanwaltschaftliche Einstellung gegen Auflagen (vgl.
§ 153a StPO) als „rechtskräftige Aburteilung“ im Sinne des
Art. 54 SDÜ qualifizierte.32 Ein tragendes Element der Entscheidungsbegründung ist das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung (vgl. Art. 82 Abs. 1 AEUV), das nach Auffassung
des EuGH in Art. 54 SDÜ angelegt sei und die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichte, die in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen verfahrensabschließenden Entscheidungen
zu akzeptieren.33 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
greift den rechtshilferechtlichen Kontext des Art. 54 SDÜ –
die Vorschrift ist eingerahmt von den Bestimmungen über die
Rechtshilfe in Strafsachen (Art. 48 ff. SDÜ) und Auslieferung (Art. 59 ff. SDÜ) – auf,34 hält die Mitgliedstaaten aber
29
Eingehend Radtke, Zur Systematik des Strafklageverbrauchs verfahrenserledigender Entscheidungen im Strafprozess, 1994, S. 342 ff.
30
Europäisches Übereinkommen über die internationale
Geltung von Strafurteilen v. 28.5.1970 = SEV Nr. 70.
31
BGH NStZ 1998, 149 (151 f., zur transactie im belgischen
Strafverfahren).
32
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Verb. Rs. C-187/01 und C385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345.
33
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Verb. Rs. C-187/01 und C385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345, Rn. 33;
siehe auch die Schlussanträge von Generalanwalt RuízJarabo Colomer (a.a.O), Rn. 127 ff.; ferner Hecker, Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 13 Rn. 35; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 7. Aufl. 2016, § 10
Rn. 53.
34
Siehe die Bezugnahme auf das gegenseitige Vertrauen im
erläuternden Bericht (explanatory report) zum Europäischen
Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen (Fn. 30), S. 11. Die rechtshilferechtlichen Ursprünge
des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bestätigen daher
eine Rückführung des Art. 54 SDÜ auf dieses Prinzip und
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EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)
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zugleich zu einer Vertiefung der strafrechtlichen Zusammenarbeit an.35 Die gegenseitige Anerkennung verfahrensabschließender Entscheidungen kann zu einer effektiveren
grenzüberschreitenden Strafverfolgung in der Union beitragen, indem die Ressourcen der anderen Mitgliedstaaten geschont und für die Verfolgung anderer Straftaten eingesetzt
werden können.36 Will man die in den Mitgliedstaaten verfügbaren Strafverfolgungskapazitäten im Wege der internationalen Arbeitsteilung37 möglichst effektiv nutzen, so sollte
sich die grenzüberschreitende Erledigungswirkung nicht auf
Urteile beschränken, sondern auch andere Entscheidungen
umfassen, mit denen ein Strafverfahren endgültig abgeschlossen wird; das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung spricht
insoweit also tendenziell für eine weite Auslegung des
Art. 54 SDÜ.38
Wenngleich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
mit dem Vertrag von Lissabon im Primärrecht (Art. 67
Abs. 3, Art. 82 Abs. 1 AEUV) verankert worden ist und damit auch für die Auslegung des Unionssekundärrechts größere Bedeutung erlangt hat, gilt die Pflicht zur gegenseitigen
Anerkennung nicht ausnahmslos.39 Für Art. 54 SDÜ bestätigt
sich dies in den nach Art. 55 SDÜ vorgesehenen Ausnahmen,
die den Mitgliedstaaten zur Wahrung nationaler Strafverfolgungsinteressen eine erneute Strafverfolgung ermöglichen.40
Die gleichen Erwägungen könnten auch gegen die Anerkennung von Entscheidungen sprechen, die auf einer summarischen Prüfung beruhen und daher in besonderer Weise die
Gefahr einer unzureichenden bzw. fehlerhaften Sachverhaltsaufklärung bergen, denn die Anerkennung fehlerhafter Entscheidungen könnte sich mit Blick auf das Ziel einer effektiven grenzüberschreitenden Strafverfolgung als dysfunktional
erweisen. Diesem Einwand lässt sich jedoch entgegenhalten,
dass eine Korrektur der verfahrensabschließenden Entscheidung in dem Urteilsstaat weiterhin möglich bleibt, soweit die
innerstaatlichen Regelungen über die (beschränkte) Rechtsseine dynamische Fortentwicklung im Unionsrecht, vgl. dagegen Hochmayr, in: Hochmayr (Fn. 7), S. 89 (98 ff.);
Lelieur, Utrecht Law Review 4/2013, 198 (204 f.), wonach
die individualschützende Funktion im Vordergrund steht
(siehe dazu unten IV. 3.).
35
Siehe Generalanwalt Ruíz-Jarabo Colomer, abgedruckt bei
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Verb. Rs. C-187/01 und C-385/01
(Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345, Rn. 130.
36
Böse, GA 2003, 744 (752).
37
Zum Modell des „international-arbeitsteiligen Strafverfahrens“: Schomburg/Lagodny/Schallmoser, in: Böse (Hrsg.),
Europäisches Strafrecht mit polizeilicher Zusammenarbeit,
2013, § 13 Rn. 76 ff.
38
Böse, GA 2003, 744 (752).
39
Burchard, HRRS 2015, 26 (29); siehe dazu Böse, in:
Leible/Terhechte (Hrsg.), Europäisches Rechtsschutz- und
Verfahrensrecht, 2014, § 36 Rn. 12 ff. m.w.N.
40
Die Fortgeltung der insoweit von den Mitgliedstaaten eingelegten Vorbehalte ist allerdings umstritten, siehe dazu
Böse, in: Esser (Hrsg.), Festschrift für Hans-Heiner Kühne
zum 70. Geburtstag am 21. August 2013, 2013, S. 519
m.w.N.
kraft dies zulassen.41 Dementsprechend weist der EuGH in
der vorliegenden Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass
ein erneutes Verfahren wegen neuer belastender Tatsachen
nur in dem Mitgliedstaat zulässig ist, in dem der Einstellungsbeschluss (d.h. die rechtskräftige Aburteilung) ergangen
ist.42 Anders als im Urteilsstaat begründet die verfahrensabschließende Entscheidung damit in anderen Mitgliedstaaten
ein absolutes Verfahrenshindernis und führt damit zu einer
Konzentration der Zuständigkeit im Urteilsstaat.43 Diese Zuständigkeitskonzentration entspricht auch dem mit Art. 54
SDÜ (als Ausprägung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung) verfolgten Ziel, die Strafverfolgungsressourcen der
Mitgliedstaaten zu schonen, indem der Mitgliedstaat für zuständig erklärt wird, der das Verfahren schon bis zu einer
verfahrensabschließenden Entscheidung geführt hat und dementsprechend an die bisherigen Ermittlungsergebnisse anknüpfen kann.44 Auch dieser Gedanke spiegelt sich in den
Regelungen über die internationale Zusammenarbeit wider,
soweit im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile die Zuständigkeit für die Wiederaufnahme
des Strafverfahrens ausschließlich dem Urteilsstaat zugewiesen wird.45
3. Die subjektive Dimension: Vertrauensschutz und Relativität des Strafklageverbrauchs
Neben der objektiven, aus dem Prinzip der gegenseitigen
Anerkennung abgeleiteten Koordinationsfunktion (siehe oben
2.) hat Art. 54 SDÜ aber auch eine individualschützende
Funktion: Der Grundsatz „ne bis in idem“ ist ein Verfahrensgrundrecht (Art. 103 Abs. 3 GG, Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK),46 dessen transnationale Dimension
nunmehr auch über Art. 50 EU-GRC garantiert wird. Geschützt wird das Vertrauen des Verfolgten in die Endgültigkeit der gegen ihn ergangenen Entscheidung und die Sicherheit vor erneuter Strafverfolgung.47 In Bezug auf die grenzüberschreitende Wirkung wird dieser Schutz durch das all41
Böse, GA 2003, 744 (752, 755).
EuGH, Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12, Rn. 40; Generalanwältin Sharpston, Schlussanträge v. 6.2.2014, abgedruckt bei
EuGH (a.a.O.), Rn. 59.
43
Böse, GA 2003, 744 (755); Burchard, HRRS 2015, 26
(27); Gaede, NJW 2014, 2990 (2992); einschränkend Hecker
(Fn. 33), § 13 Rn. 62.
44
Burchard, HRRS 2015, 26 (28).
45
Art. 19 Abs. 2 Rahmenbeschluss 2008/909/JI v. 27.11.2008
über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen
Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für
die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union =
ABl. EU 2008 Nr. L 327 v. 5.12.2008, S. 27; siehe auch
Art. 13 des Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.3.1983 = BGBl. II 1985, S. 98.
46
Siehe bereits Generalanwalt Ruíz-Jarabo Colomer, abgedruckt bei EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Verb. Rs. C-187/01 und
C-385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345,
Rn. 114 f.
47
Radtke, in: Böse (Fn. 37), § 12 Rn. 8 m.w.N.
42
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gemeine Freizügigkeitsrecht (Art. 21 AEUV) flankiert, das
der Verfolgte nicht mehr ausüben könnte, wenn er sich damit
in anderen Mitgliedstaaten der Gefahr einer erneuten Strafverfolgung aussetzen würde.48 Der individualschützenden
Funktion des Art. 54 SDÜ entsprechend, zieht der EuGH zur
Auslegung Art. 50 EU-GRC (und Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK) heran.
Nun könnte man auch insoweit hinterfragen, ob das Vertrauen in die Endgültigkeit einer gerichtlichen Verfahrenseinstellung in gleicher Weise schutzwürdig ist wie dasjenige in
die Rechtskraft eines Urteils (im engeren Sinne). So ist dem
EuGH denn auch vorgehalten worden, in seiner Parallele zum
Wiederaufnahmeverfahren als außerordentlichem Rechtsbehelf (Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK) Äpfel
und Birnen zu vergleichen, da die Durchbrechung der Rechtskraft im Wege der Wiederaufnahme nicht mit der Fortführung des Verfahrens bei neuen Tatsachen gleichgesetzt werden könne.49 Der Vergleich ist indes insofern berechtigt, als
beide Entscheidungsarten geeignet sind, ein Verfahrenshindernis zu begründen, das aber unter bestimmten Voraussetzungen beseitigt werden kann; allein die Reichweite des
Strafklageverbrauchs unterscheidet sich aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen für eine Durchbrechung der
(beschränkten) Rechtskraft (Relativität des Strafklageverbrauchs).50 Dementsprechend wird im Schrifttum davon ausgegangen, dass auch Entscheidungen mit beschränkter
Rechtskraft (Strafbefehle, Einstellungen nach § 153a StPO)
als rechtskräftige Verurteilungen im Sinne des Art. 4 Abs. 1
des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK anzusehen sind.51
Damit ist allerdings noch nicht hinreichend begründet,
dass der Verfolgte auch darauf vertrauen darf, nach einem
Abschluss des Strafverfahrens im Urteilsstaat in anderen
Mitgliedstaaten überhaupt nicht (d.h. auch nicht unter den
Voraussetzungen für eine Durchbrechung der – ggf. beschränkten – Rechtskraft) erneut strafrechtlich verfolgt zu
werden.52 Die über das Prioritätsprinzip begründete ausschließliche Zuständigkeit des Mitgliedstaates dient nicht
dem Vertrauensschutz53, sondern dem ebenfalls in Art. 50
EU-GRC angelegten Schutz vor übermäßiger Verfolgung.
Als Verbot der Doppelbestrafung ist der Grundsatz „ne bis in
idem“ (auch) auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
48
EuGH, Urt. v. 11.2.2003 – Verb. Rs. C-187/01 und C385/01 (Gözütok und Brügge) = Slg. 2003, I-1345 Rn. 40.
49
Burchard, HRRS 2015, 26 (28).
50
Siehe zu diesem Zusammenhang Radtke (Fn. 29), S. 314 ff.
51
Esser, in: Hochmayr (Fn. 7), S. 27 (32, 33); Sinner, in:
Karpenstein/Meyer (Hrsg.), EMRK, Kommentar, 2012,
Art. 4 ZP VII Rn. 2.
52
Burchard, HRRS 2015, 26 (30).
53
Insoweit wäre eher der Grundsatz des gesetzlichen Richters
einschlägig (Art. 47 EU-GRC), der allerdings nur in begrenztem Maße das Vertrauen in den Bestand einer Zuständigkeit
schützt und kein Rückwirkungsverbot (in Bezug auf die abzuurteilende Tat) begründet, siehe Eser, in: Sinn (Hrsg.),
Jurisdiktionskonflikte bei grenzüberschreitender Kriminalität,
2012, S. 557 (567); vgl. zu Art. 6 Abs. 1 EMRK EGMR, Urt.
v. 12.2.2004 – 7856/02 (Mione/Italien).
zurückzuführen,54 und diese Erwägung lässt sich – insbesondere im transnationalen Kontext – auf die bereits mit einem
zweiten Strafverfahren (in einem anderen Mitgliedstaat)
verbundenen Belastungen des Verfolgten übertragen.55 Die
zunehmende Erleichterung und Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union
macht die Situation des Beschuldigten besonders prekär und
verlangt nach ergänzenden verfahrensrechtlichen Sicherungen.56 Mit Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GRC wird eine solche transnationale prozedurale Sicherung geschaffen, und es
obliegt den Mitgliedstaaten, durch eine Koordination ihrer
Strafgewalten eine effektive Strafverfolgung im ersten Zugriff zu gewährleisten.57 Dies schließt eine Korrektur fehlerhafter Entscheidungen nicht aus (siehe oben), es wäre jedoch
unverhältnismäßig, eine solche Korrektur dem Belieben konkurrierender Strafgewalten zu überlassen, nachdem ein Mitgliedstaat das Strafverfahren bereits zum Abschluss gebracht
hat.58 Es ist vielmehr zur Wahrung der mitgliedstaatlichen
Strafverfolgungsinteressen ausreichend (siehe aber Art. 55
SDÜ), wenn der Urteilsstaat darüber entscheidet, ob die verfahrensabschließende Entscheidung nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts zu korrigieren oder aufrechtzuerhalten ist,
und auf dieser Grundlage weiter verfahren wird.
V. Schluss
Die Entscheidung des EuGH verdient Zustimmung. Sie stärkt
das in Art. 54 SDÜ und Art. 50 EU-GRC garantierte Verfahrensgrundrecht auf Schutz vor doppelter Strafverfolgung in
der Union. Der EuGH entwickelt das in der Rechtssache
Gözütok und Brügge entwickelte Verständnis konsequent
weiter, indem er nunmehr ausdrücklich feststellt, dass der
grenzüberschreitende Strafklageverbrauch verfahrensabschließender Entscheidungen weiter reicht als im Urteilsstaat,
da dieser allein zuständig ist, bei Vorliegen neuer Tatsachen
über eine Fortführung des abgeschlossenen Verfahrens zu
entscheiden (siehe oben IV. 2.). Einer einschränkenden Aus54
Tomkin, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward (Hrsg.), The EU
Charter of Fundamental Rights, 2014, Art. 50 Rn. 50.13.;
siehe zu Art. 103 Abs. 3 GG: Schmidt-Aßmann, in: Maunz/
Dürig, Grundgesetz, Kommentar, 75. Lfg., Stand: September
2015, Art. 103 Rn. 261, 275 ff.
55
In diesem Sinne wohl auch Eser/Burchard, in: Derra
(Hrsg.), Freiheit, Sicherheit und Recht, Festschrift für Jürgen
Meyer zum 70. Geburtstag, 2006, S. 499 (522, „inquisitorischer overkill“); vgl. allgemein van Bockel, The Ne Bis in
Idem Principle in EU Law, 2010, S. 27.
56
Allgemein Meyer, NStZ 2009, 657 (662 f.); siehe insoweit
die Forderungen der European Criminal Policy Initiative, A
Manifesto on European Criminal Procedure Law, 2014,
S. 58, 84 ff.
57
Siehe insoweit den Rahmenbeschluss 2009/948/JI v.
30.11.2009 über die Vermeidung und Beilegung von Kompetenzkonflikten in Strafverfahren = ABl. EU 2009 Nr. L 328
v. 15.12.2009, S. 42; siehe de lege ferenda den Vorschlag von
Böse/Meyer/Schneider, GA 2014, 572.
58
Vgl Lelieur, Utrecht Law Review 4/2013, 198 (210): Sicherheit vor unbegrenzter Verfolgung.
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249
EuGH (4. Kammer), Urt. v. 5.6.2014 – C-398/12 (M)
Böse
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legung, wie sie von nationalen Gerichten favorisiert worden
ist (siehe oben IV. 1.), wird damit eine klare Absage erteilt.59
Die Entscheidung unterstreicht zugleich die Bedeutung des
Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV). Diese steht
und fällt freilich mit der Bereitschaft der obersten Gerichte
der Mitgliedstaaten, dem EuGH derartige Auslegungsfragen
vorzulegen (siehe die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3
AEUV).60 Anderenfalls wird auch in Zukunft zu beklagen
sein, dass manche klärende Entscheidung des EuGH für den
Angeklagten (siehe oben IV. 1. zum Fall Krombach) zu spät
kommt.
Prof. Dr. Martin Böse, Bonn
59
Siehe auch die Kritik an der Auslegung des Art. 54 SDÜ
durch die Cour de Cassation im Fall „Krombach“: Lelieur,
AJPénal 2014, 365 (367).
60
Siehe die diesbezügliche Kritik an der Cour de Cassation
im Fall „Krombach“: Lelieur, AJPénal 2014, 365 (367); vgl.
zur entsprechenden Kritik am BGH Satzger, in: Bockemühl
(Hrsg.), Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg zum
70. Geburtstag, 2015, S. 391.
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BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14
Singbartl/Rübbeck
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Entscheidungsanmerkung
Kein Ausschluss des Widerrufsrechts des Verbrauchers
bei Fernabsatzverträgen über die Lieferung von Heizöl
Bei Fernabsatzverträgen über die Lieferung von Heizöl
ist das Widerrufsrecht des Verbrauchers nicht nach
§ 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB aF ausgeschlossen, denn kennzeichnend für diese Ausnahmevorschrift ist, dass der
spekulative Charakter den Kern des Geschäfts ausmacht.
Einen solchen spekulativen Kern weist der Ankauf von
Heizöl durch den Verbraucher jedoch nicht auf.
(Amtlicher Leitsatz)
BGB § 312d Abs. 4 Nr. 6
BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14 (LG Bonn, AG
Euskirchen)1
I. Einleitung
Man stelle sich vor, Heizöl wird via Internet bestellt, man
wurde nicht über sein etwaiges Widerrufsrecht belehrt und
das Öl wird wochenlang nicht geliefert und genau in dieser
Zeitspanne sinkt der Preis gewaltig. Der Bundesgerichtshof
hat nun entschieden, dass Verbraucher in diesem Fall die
Bestellung von Heizöl widerrufen können. „Bei Fernabsatzverträgen über die Lieferung von Heizöl ist das Widerrufsrecht keineswegs ausgeschlossen“, so lautet die zentrale Aussage des Grundsatzurteils der Karlsruher Richter. Selbst im
Falle einer wirksamen Belehrung kann der Verbraucher den
Kaufvertrag innerhalb von 14 Tagen ab Vertragsschluss widerrufen, solange das Öl nur per Telefon, per Fax oder via
Internet bestellt worden ist und die Ware noch nicht geliefert
wurde. Es überrascht daher keineswegs, dass der Heizölhandel moniert, dass das Risiko von Preisschwankungen auf
unfaire Art und Weise auf den Unternehmer abgewälzt wird
und vorbringt, dass hiesiges Urteil durch das höchste deutsche Zivilgericht nicht hingenommen werden könne. Aus
diesem Grunde verwundert es auch nicht, dass in der Folge
das Urteil mit einer Anhörungsrüge im Sinne des § 321a ZPO
angegriffen wurde.2 Aber sowohl die Anhörungsrüge als auch
die folgende Gegenvorstellung blieb ohne Erfolg, da der
erkennende Senat die genannten Gründe nicht für durchgreifend erachtete.3 Der BGH stellt recht apodiktisch fest, dass
der Erwerb von Heizöl durch den Verbraucher keinen spekulativen Kern aufweise und das Geschäft dem Verbraucher
normalerweise zur Eigenversorgung diene und gerade nicht
dazu, durch einen etwaigen Weiterverkauf finanzielle Gewinne zu erzielen. Interessant ist das Urteil nicht zuletzt
schon deswegen, weil dem Verbraucher nun eine Widerrufsoption zusteht, auch wenn der Heizölpreis innerhalb der 141
Die Entscheidung ist abrufbar unter
http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/docu
ment.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=f72a8a2ab038c4777d3c
a2864e96e9c8&nr=71692&pos=0&anz=1 (24.3.2016).
2
Vgl. BeckRS 2015, 16522.
3
Vgl. zur Gegenvorstellung BeckRS 2015, 19301.
tätigen Widerrufsfrist fällt. Folgerichtig bietet hiesige Entscheidung in hohem Maße Anlass zur Diskussion.
II. Sachverhalt4
Gegenstand des der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts war ein Vertrag über die Lieferung von Heizöl. Über
eine Internetplattform bestellte die Beklagte am 25.2.2013 bei
der Klägerin 1.200 Liter Heizöl für den privaten Gebrauch.
Diese Bestellung wurde von dem Portal an die Klägerin weitergeleitet und von dieser noch am selben Tag schriftlich
bestätigt. Im Vertrag wurde durch AGB unter anderem festgelegt, dass ein etwaiges Verbraucherwiderrufsrecht gem.
§ 312d Abs. 4 Nr. 6 a.F. BGB ausgeschlossen ist und für den
Fall der Stornierung eine pauschalierte Entschädigung zu
zahlen ist. Es folgte sodann die Weigerung der Beklagten, das
Heizöl in Empfang zu nehmen. Die Klägerin forderte im
Gegenzug am 18.3.2013 die Zahlung der in den AGB vereinbarten Entschädigung. Hierauf folgend erklärte die Beklagte
am 4.4.2013 den Widerruf ihrer auf Abschluss des Vertrages
gerichteten Willenserklärung.
III. Kernaussagen der Entscheidung
1. Anwendbarkeit des Verbraucherwiderrufsrechts
Da der Bundesgerichtshof sich in Schweigen hüllt, aber in
der Konsequenz davon ausgeht, dass das Verbraucherwiderrufsrecht Anwendung findet, wird auf diese Thematik an
dieser Stelle in gebotener Kürze eingegangen. Fest steht, dass
zwischen den Parteien ein wirksamer Kaufvertrag zustande
gekommen ist, da über eine Internetplattform ein wirksames
Angebot abgegeben worden ist und eben jenes seitens des
Unternehmers auch angenommen wurde. Auch geht der Bundesgerichtshof stillschweigend davon aus, dass der Anwendungsbereich der §§ 312 ff. BGB eröffnet ist. Dies ist in der
Konsequenz auch durchaus richtig, da der Händler Unternehmer im Sinne des § 14 Abs. 1 BGB und der Besteller
Verbraucher im Sinne des § 13 BGB ist. Ferner ist der hiesige Vertrag auf eine entgeltliche Leistung ausgelegt, sodass
auch § 312 Abs. 1 BGB verwirklicht ist. Zudem wird nicht
thematisiert, ob denn ein Fall von § 312 Abs. 2 BGB vorliegt.
Dies ist deshalb von Bedeutung, da der Vertrag nicht gem.
§ 312 Abs. 2 BGB von der Anwendbarkeit der §§ 312b ff.
BGB ausgenommen sein darf. Es bleibt nur zu spekulieren,
warum die Karlsruher Richter mit keiner Silbe hierauf einge4
Vgl. AG Euskirchen, Urt. v. 21.2.2014 – 23 C 82/13; LG
Bonn, Urt. v. 31.7.2014 – 6 S 54/14; BGH, Urt. v. 17.6.2015
– VIII ZR 249/14; der Originalfall spielte im Jahr 2013. Zu
diesem Zeitpunkt war in § 312d Abs. 4 Nr. 6 a.F. BGB geregelt, dass bei Fernabsatzverträgen, die die Lieferung von
Waren zum Gegenstand haben, deren Preis auf dem Finanzmarkt Schwankungen unterliegt, auf die der Unternehmer
keinen Einfluss hat und die innerhalb der Widerrufsfrist auftreten können, kein Widerrufsrecht besteht. Da sich dieser
Ausschlussgrund ohne inhaltliche Änderungen seit dem
13.6.2014 in § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB wiederfindet, wird in
hiesiger Entscheidungsbesprechung die aktuelle Rechtslage
zugrunde gelegt.
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BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14
Singbartl/Rübbeck
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hen. Als etwaiger Ausschlussgrund käme § 312 Abs. 2 Nr. 8
BGB in Betracht. Allerdings greift diese Ausschlussnorm
nicht, da es sich bei dem gekauften Heizöl zwar um einen
Haushaltsgegenstand des täglichen Bedarfs handelt, aber das
Heizöl vom Unternehmer eben nicht im Rahmen häufiger
Fahrten geliefert wird, sondern im Schnitt nur einmal im
Jahr.5 Insgesamt bleibt daher festzuhalten, dass die Normen
des 2. Kapitels, also der §§ 312b ff. BGB Anwendung finden.
2. Tatbestand des § 312c BGB
Da die Bestellung im Rahmen eines für den Fernabsatz organisierten Vertriebssystems durchgeführt wurde, ist der Tatbestand des § 312c Abs. 1 BGB verwirklicht.
3. Ausschlussgründe
a) Etwaiger Ausschluss gem. § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB
Das Widerrufsrecht besteht gem. § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB
nicht bei der Lieferung von Waren, wenn diese nach der
Lieferung auf Grund ihrer Beschaffenheit untrennbar mit
anderen Gütern vermischt wurden. In casu wurde aber der
Vertrag noch vor der eigentlichen Lieferung des Heizöls
widerrufen, sodass das Widerrufsrecht nicht nach § 312g
Abs. 2 Nr. 4 BGB ausgeschlossen ist.6
b) Etwaiger Ausschluss gem. § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB
Das Widerrufsrecht könnte jedoch gemäß § 312g Abs. 2
Nr. 8 BGB ausgeschlossen sein. Ausweislich dieser Regelung
besteht bei Verträgen über die Lieferung von Waren oder
über die Erbringung von Dienstleistungen, deren Preis von
Schwankungen auf dem Finanzmarkt abhängt, auf die der
Unternehmer keinen Einfluss hat und die innerhalb der Wider-rufsfrist auftreten können, kein Widerrufsrecht.7 In casu
war und ist umstritten, ob sich der Ausschluss des Widerrufsrechts gem. § 312 g Abs. 2 Nr. 8 BGB auch auf die Lieferung
von Heizöl erstreckt.
aa) Ansicht des Landgerichts Bonn als Vorinstanz
So bejaht das Landgericht Bonn den Ausschluss des Widerrufs nach § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB. In dem Urteil wird näher
ausgeführt, dass es sich bei dem Heizöl um eine Ware handele, deren Preis auf dem Finanzmarkt Schwankungen unterläge, auf die der Unternehmer keinen Einfluss hat und die innerhalb der Widerrufsfrist von 14 Tagen in einem nicht unerheblichen Umfang auftreten können.8 Der Begriff des Finanzmarktes sei weit zu verstehen und umfasse somit auch
Rohstoffbörsen.9 Der Anwendbarkeit des § 312g Abs. 2 Nr. 8
BGB stehe auch nicht entgegen, dass das Heizöl nicht unmittelbar an der Rohstoffbörse bezogen worden ist. Aus dem
Wortlaut ergebe sich weder, dass der Unternehmer die Ware
unmittelbar dort bezogen haben muss, noch dass der Preis
unmittelbar durch den Finanzmarkt bestimmt werden müsse.
Ausreichend sei dem Wortlaut nach, dass die Ware an der
Rohstoffbörse gehandelt werde und der Preis gerade dort
Schwankungen innerhalb der Widerrufsfrist unterworfen sei,
auf die ein Unternehmer, der mit dieser Ware handele, unabhängig von der Bezugsquelle, keinen Einfluss nehmen könne.10 Nur eine solche Auslegung werde dem Sinn und Zweck
gerecht, die einseitige Überwälzung des spekulativen Risikos
auf den Unternehmer während der Widerrufsfrist zu vermeiden. Ansonsten hätte es der Verbraucher, der Öl zu einem
bestimmten Preis bei einem Online-Händler bestellt, in der
Hand, von seinem Widerrufsrecht Gebrauch zu machen,
wenn der Ölpreis an der Börse und damit auch der Verbraucherpreis fällt, um sodann eine neue Ölbestellung zu einem
günstigeren Preis bei einem anderen Händler aufzugeben.11
Das Landgericht Bonn führt weiter aus, dass dies auch dann
gelte, wenn der Unternehmer mit dem Verbraucher einen
Festpreis vereinbart habe. Denn ein solcher eröffne dem
Verbraucher erst die Möglichkeit zur Spekulation und die
Vorschrift solle gerade verhindern, dass der Verbraucher die
Ware zu einem vermeintlich günstigeren Preis erwirbt und
das Widerrufsrecht dazu nutzt, sich für den Fall eines Preisverfalls von den Folgen eines für ihn nachteiligen Geschäfts
zu befreien.
Insgesamt kann somit festgehalten werden, dass nach Ansicht des Landgerichts Bonn der Ausschlussgrund des § 312g
Abs. 2 Nr. 8 BGB bei der Lieferung von Heizöl greift.
bb) Argumentationslinien des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof hat mit der Entscheidung vom
17.6.201512 unmissverständlich klargestellt, dass sich seiner
Ansicht nach der Ausschluss des Widerrufsrechts nach
§ 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB nicht auf Fernabsatzverträge über
die Lieferung von Heizöl erstreckt.
(1) Wortlaut nicht eindeutig
Der Ausschluss ergebe sich allerdings nicht schon aus dem
Gesetzeswortlaut. Zum einen umfasse der Begriff „Finanzmarkt“ neben Edelmetallbörsen auch Waren- und Rohstoff-
9
5
Ein klassischer Fall des § 312 Abs. 2 Nr. 8 BGB ist das
„Essen auf Rädern“, vgl. etwa zum Ganzen auch Grüneberg,
in: Palandt, Kommentar zum BGB, 75. Aufl. 2015, § 312
Rn. 16, der als weiteres Beispiel auch noch der „wöchentliche
Biokorb“ erwähnt. Vgl. ferner auch BT-Drs. 14/3195,
S. 30 ff.
6
Hierzu auch sogleich unter IV. Kritische Würdigung; ferner
auch BeckRS 2015, 12478 Rn. 6.
7
Vgl. auch expressis verbis § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB.
8
Vgl. LG Bonn MMR 2015, 250 (251 Rn. 18).
Vgl. LG Bonn MMR 2015, 250 (251 Rn. 19) mit Verweis
auf Grüneberg (Fn. 5), § 312d Rn. 14; Schmidt-Räntsch, in:
Beckʼscher Online-Kommentar zum BGB, Ed. 37, Stand:
13.6.2014, § 312d Rn. 56.
10
Vgl. LG Bonn MMR 2015, 250 (251 Rn. 20); a.A. wohl
Thüsing (in: Staudinger, Kommentar zum BGB, 2012, § 312
Rn. 76), der vertritt, dass es für die Anwendbarkeit des
§ 312d Abs. 4 Nr. 6 a.F. BGB entscheidend darauf ankomme,
dass, wenn die Ware schon nicht am Finanzmarkt gehandelt
wird, sie zumindest unmittelbar dort beschafft werden müsse.
11
So LG Bonn MMR 2015, 250 (251 Rn. 21).
12
Vgl. BGH BeckRS 2015, 12478.
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BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14
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börsen13, sodass unter anderem Erdöl als ein an Börsen gehandelter Rohstoff in Betracht zu ziehen sei.14 Zum anderen
sei der Begriff des „Preises“ weit zu verstehen. Gemeint sei
nicht nur ein unmittelbar auf dem Finanzmarkt gebildeter
Börsenpreis, sondern auch ein den Marktpreis mittelbar beeinflussender Basiswert.15 Generell bleibt damit festzuhalten,
dass auch nach Ansicht des erkennenden Senats der Wortlaut
nicht eindeutig in die eine oder andere Richtung geht und
somit aus dem bloßen Wortlautargument keine weiteren
Schlüsse gezogen werden können.
(2) Teleologische Reduktion des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB auf
spekulative Rechtsgeschäfte
Nach Aussage des Bundesgerichtshofs kommt es entscheidend darauf an, dass Geschäfte über den Ankauf von Heizöl
durch den Verbraucher keinen spekulativen Kern aufweisen.
Sinn und Zweck des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB bestehe darin,
das Risiko eines wenigstens mittelbar finanzmarktbezogenen
spekulativen Geschäfts nicht einseitig dem Unternehmer
aufzubürden, sondern mit seinem Abschluss in gleicher Weise auf beide Parteien zu verteilen.16 Kennzeichnend für den
Ausnahmetatbestand des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB sei im
Wesentlichen, dass der spekulative Charakter den Kern des
Geschäfts ausmacht.17 Nach dieser Maßgabe hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass kein Widerrufsrecht bei Fernabsatzverträgen über basiswertabhängige Finanzinstrumente
besteht.18 Sodann wird festgestellt, dass diese Beurteilung auf
Fernabsatzverträge über die Lieferung von Heizöl nicht übertragbar sei, da der Erwerb von Heizöl keinen spekulativen
Charakter aufweise. Das Geschäft diene dem Verbraucher
nicht dazu, durch Weiterveräußerung einen finanziellen Gewinn zu erzielen, sondern richte sich typischerweise auf Eigenversorgung durch Endverbrauch der Ware. Zwar ermögliche das Widerrufsrecht dem Verbraucher sich vom Fernabsatzvertrag zu lösen, wenn der Heizölpreis innerhalb der
Widerrufsfrist fällt. Diese Risikoverteilung sei jedoch im
Gesetz angelegt und deshalb hinzunehmen.19 Im Ergebnis
handele es sich gerade beim Heizölkauf um kein spekulatives
Geschäft, weshalb das Widerrufsrecht des Verbrauchers nicht
nach § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB ausgeschlossen sei.
IV. Kritische Würdigung
1. Allgemeines
Hiesige Entscheidung kann durchaus kritisch beurteilt werden. Der Bundesgerichtshof begrenzt den Anwendungsbereich des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB auf Fälle, bei denen der
spekulative Charakter des Geschäfts im Vordergrund steht,
was gerade bei einer Heizöllieferung nicht der Fall sein soll.
Selbstredend ergibt sich daraus die Konsequenz, dass das
Widerrufsrecht nicht ausgeschlossen ist. Gerade dies muss
jedoch kritisch beurteilt werden. Denn der Verbraucher kann
genau das tun, was der eigentliche Grund für den Ausschluss
darstellt: Er kann spekulieren. In concreto bedeutet das, dass,
auch wenn innerhalb der Widerrufsfrist der Preis am Markt
fällt, der Vertrag jederzeit problemlos widerrufen werden
kann und sodann das Heizöl von einem anderen Anbieter zu
günstigeren Konditionen bezogen werden kann.
2. Spekulativer Kern des Geschäfts
Zentrales Argument des Bundesgerichtshofs für den Ausschluss des spekulativen Kerns ist, dass der Verbraucher das
Heizöl ausschließlich zum Eigenverbrauch kauft und keinesfalls einen gewinnbringenden Weiterverkauf im Sinn hat.
Dem wird in der Sache auch zuzustimmen sein, denn Heizöl
ist für Verbraucher unweigerlich ein Verbrauchsgut. Allerdings begegnet es größten Bedenken, als Merkmal von „Spekulation“ einen gewinnorientierten Weiterverkauf zu fordern.
Vielmehr erscheint es sachgerecht, von einem weiteren Spekulationsbegriff auszugehen20. Hiernach werden auch risikobehaftete Geschäfte, die, basierend auf einer streng wirtschaftlichen Betrachtung und in Anbetracht aller das Geschäft determinierenden Faktoren, dazu getätigt werden, den
status-quo-ante des Spekulanten zu verbessern, von § 312g
Abs. 2 Nr. 8 BGB erfasst. Es scheint sogar möglich, dass ein
unterlassenes Geschäft in Aussicht der späteren Vornahme
des selbigen eine Spekulation darstellt. Denn zentrales Gewicht hat für den Spekulanten der Zeitpunkt der Vornahme
des Geschäfts in Bezug auf den jeweils aktuellen Preis. Da
Heizöl auf dem Markt großen Schwankungen unterliegt,
weist der Heizölkauf insbesondere bezüglich des Zeitpunkts
seiner Vornahme einen spekulativen Charakter auf. Sicherlich ist zuzugeben, dass für die Ansicht des Bundesgerichtshofs spricht, dass es sich mit Rücksicht auf Sinn und Zweck
um eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift handelt. Allerdings muss hierbei zumindest kritisch betrachtet werden,
dass, indem der Bundesgerichtshof den spekulativen Charakter des Geschäfts derart eng auslegt, der Anwendungsbereich
des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB auf ein Minimum reduziert
wird. Man muss sich sicherlich die Frage stellen, ob vorzitierte Norm nicht weitestgehend leerläuft, denn welcher Verbraucher spekuliert schon mit sonstigen Rohstoffen? Mit
Ausnahme des Finanzhandels wird der § 312g Abs. 2 Nr. 8
BGB somit seines Anwendungsbereichs zu einem großen
Teil beraubt.
13
Vgl. etwa Grüneberg (Fn. 5), § 312g Rn. 11.
Vgl. zum Ganzen BGH BeckRS 2015, 12478 Rn. 22.
15
Vgl. zum Ganzen BGH BeckRS 2015, 12478 Rn. 22.
16
Vgl. zum Ganzen BGH BeckRS 2015, 12478 Rn. 26.
17
Vgl. BT-Drs. 14/2658, S. 44; ferner auch BT-Drs. 15/2946,
S. 22; ferner auch BGH NJW 2013, 1223.
18
Vgl. nur BGHZ 195, 375 und die Entscheidungsbesprechung Baumann, GWR 2013, 88.
19
Zitiert wird seitens des BGH hier BGHZ 154, 239 (243).
Ein Argument liefert dieser Verweis indes mitnichten.
14
20
Vgl. gegenteilig Junker (jurisPR-ITR 23/2014 Anm. 3), der
einen Vergleich zu Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen
zieht. Dies überzeugt allerdings in vielerlei Hinsicht nicht:
Zum einen schwankt der Preis für Haushaltsgeräte nicht annähernd so stark wie der für Heizöl. Zum anderen werden
Haushaltgeräte im Vergleich zu Öl nicht an der Börse gehandelt. Daher geht insbesondere das Argument, der Lieferant
bestimme den Preis ähnlich wie im Falle des Haushaltsgeräts
maßgeblich mit, wohl fehl.
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3. Widerspruch zu § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB
Darüber hinaus steht die hiesige Entscheidung in einen gewissen Widerspruch zu § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB.21 Geht
man dem Bundesgerichtshof folgend davon aus, dass das
Widerrufsrecht des Verbrauchers nicht grundsätzlich nach
§ 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB ausgeschlossen ist, so stößt man
auf das Problem, dass der Lieferant das Widerrufsrecht durch
Lieferung unterlaufen kann. Denn gem. § 312g Abs. 2 Nr. 4
BGB ist das Verbraucherwiderrufsrecht ausgeschlossen,
wenn die gelieferte Ware untrennbar mit anderen Gütern
verbunden wurde, was bei Heizöl regelmäßig der Fall sein
wird.22 Um das Widerrufsrecht des Bestellers nicht zu konterkarieren, müsste der Heizöllieferant somit 14 Tage mit der
Lieferung des Heizöls warten. Eine solche Wartezeit ist weder im Sinne des Bestellers, der sein Heizöl zügig geliefert
bekommen will, noch im Sinne des Lieferanten, der auf zusätzliche Lagerungskosten in der Wartezeit gerne verzichtet.
Daher läuft die Einzelfalllösung über § 312g Abs. 2 Nr. 4
BGB den Interessen der Rechtsverkehrs erheblich zuwider.
Ebenso stößt es auf Bedenken, dass das Widerrufsrecht von
dem recht zufälligen Faktor der Lieferung abhängen soll.
Schließlich liegt die Rechtssicherheit auch und gerade im
Interesse des Verbrauchers, welcher ob seiner strukturellen
Unterlegenheit einen Prozess tendenziell scheut.23 Ferner
wird der Käufer mittelbar dazu ermutigt, zunächst die Lieferung abzulehnen. Gerade dies läuft jedoch einem effizienten
und zügigen Warenverkehr zuwider. Darüber hinaus ist man
keineswegs zwingend auf eine Regelung wie den § 312g
Abs. 2 Nr. 4 BGB angewiesen. Der Problematik einer Vermischung von Gütern muss schließlich nicht unbedingt mit dem
Vertragsrecht begegnet werden.24 Sicherlich ließe sich hierauf trefflich erwidern, dass die Regelung nun schlicht dem
Willen des Gesetzgebers entspräche und daher anzuwenden
sei, auch wenn das Ergebnis auf o.g. Bedenken stößt. Dies
überzeugt jedoch in concreto nicht gänzlich, da eine weite
Auslegung des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB als legitime Alternative zur Verfügung steht. Und hier schließt sich der Kreis:
Ein Widerspruch in Bezug auf § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB wird
durch die Anwendung des grundsätzlichen Ausschluss des
Widerrufsrechts nach § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB im Falle des
Heizöls gerade vermieden.
4. Resultat: Gestörte Vertragsparität
Schließlich begnügt sich der erkennende Senat mit der Feststellung, dass die für den Unternehmer nachteilige Risikoverteilung im Gesetz angelegt und somit schlicht hinzunehmen
sei.25 Zunächst verwundert es in systematischer Hinsicht
schon, dass davon ausgegangen wird, diese Risikoverteilung
ergebe sich aus dem Gesetz, obwohl nur wenige Zeilen zuvor
eine teleologische Reduktion der Vorschrift vorgenommen
wurde, aus der sich die o.g. Risikoverteilung ja gerade erst
ergibt.26 Auch jenseits dieser zirkulären Argumentation erscheint höchst problematisch, ob eine für den Unternehmer
nachteilige Risikoverteilung tatsächlich im Gesetz angelegt
ist. Man bedenke schließlich, dass allgemein anerkannt ist,
dass § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB eine unternehmerschützende
Vorschrift ist.27 Der Unternehmer soll durch die Regelung
gerade davor geschützt werden, dass der Verbraucher zu
seinen Lasten spekuliert. Der findige Verbraucher hat nun,
wie bereits mehrfach angeklungen, die Möglichkeit, den
Vertrag bei einem Preisabfall am Markt zu widerrufen und
bei einem anderen Unternehmer zu günstigen Konditionen
Heizöl zu kaufen. Der Unternehmer muss nun das von ihm zu
einem hohen Preis eingekaufte Heizöl für den aktuellen,
niedrigeren Preis verkaufen. Auf ihn wird für die Dauer der
Widerrufsfrist das gesamte Risiko abgewälzt. Dies entspricht
somit gerade nicht der im Gesetz angelegten Risikoverteilung, sondern läuft dem Zweck der Norm eklatant zuwider.
Zu beachten ist schließlich, dass diese gestörte Vertragsparität im Endeffekt gerade dem Verbraucher zur Last fällt.28
Denn das für den Unternehmer enorm erhöhte Risiko gibt
dieser mittels erhöhten Preises an den Verbraucher weiter.
Und ob es sich aus Verbrauchersicht lohnt, für ein eventuell29
bestehendes Widerrufsrecht mit unter Umständen erheblichen
Preiserhöhungen zu „bezahlen“ darf durchaus bezweifelt
werden.
21
25
Dieser entspricht seinem Anwendungsbereich nach leicht
verengt dem § 312d Abs. 4 Nr. 1 a.F. BGB, weshalb die
folgende Argumentation uneingeschränkt auch für die alte
Rechtslage gilt.
22
So ist doch in aller Regel davon auszugehen, dass ein
Heizöltank nicht vor jeder Lieferung gereinigt wird. Daher
befindet sich stets ein Rest des „alten“ Heizöls im Tank, was
sich in der Folge mit dem „neuen“ Heizöl untrennbar vermischt.
23
Zur „rationalen Apathie“ des Verbrauchers vgl. Singbartl,
GWR 2015, 126.
24
Man beachte an dieser Stelle nur die §§ 946 ff. BGB mit
Verweis auf die §§ 812 ff. BGB.
V. Fazit und Thesen
Insgesamt ist zu konstatieren, dass die hiesige Entscheidung30
des Bundesgerichtshofs in mannigfaltiger Hinsicht kritikwürdig erscheint. Er hält das Widerrufsrecht für grundsätzlich
nicht nach § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB ausgeschlossen, da der
Heizöllieferungsvertrag keinen spekulativen Kern aufweise.
Diese enge, dem Schutzzweck der Norm evident widersprechende Auslegung, scheint indes nicht sachgerecht. Zunächst
hat die restriktive Betrachtungsweise des Bundesgerichtshofs
Vgl. BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14, Rn. 26.
Vgl. oben unter III. 3. b) bb) (2).
27
Dies ist wohl allgemein anerkannt und wird auch vom
BGH bestätigt, vgl. BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR
249/14, Rn. 25 m.w.N.
28
Dies verkennt wohl Schmidt-Räntsch ([Fn. 9], § 312g
Rn. 57), die meint, die Risikoverteilung zu Lasten des Unternehmers rechtfertige sich dadurch, dass dieser den Preis, zu
dem er sein Heizöl vertreibt, autonom festlegt. Doch tatsächlich ist diese Festlegung des Preises in hohem Maße an den
Börsenpreis gebunden.
29
Beachte nochmals § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB.
30
BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14.
26
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BGH, Urt. v. 17.6.2015 – VIII ZR 249/14
Singbartl/Rübbeck
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zur Folge, dass der Verbraucher sein Risiko eines Wertverlusts des Heizöls insgesamt auf den Unternehmer abwälzt.
Dieses Ergebnis stößt an sich schon auf Bedenken, da es
keinesfalls im Gesetz angelegt ist, sondern vielmehr vom
Bundesgerichtshof im Rahmen freier Rechtsfindung apodiktisch festgestellt wird. Darüber hinaus zeitigt die auf den
ersten Blick verbraucherschützende Auslegung seitens des
erkennenden Senats auch negative Auswirkungen für eben
den Verbraucher. Als logische Konsequenz des ihm aufgebürdeten Risikos erhöht der Unternehmer seine Preise.31 Dies
erscheint in Anbetracht dessen, dass selbst bei einer engen
Auslegung des § 312g Abs. 2 Nr. 8 BGB das Widerrufsrecht
häufig nach § 312g Abs. 2 Nr. 4 BGB ausgeschlossen ist,
keinesfalls verbraucherfreundlich. Hier zeigt sich sehr anschaulich, dass oftmals auf den ersten Blick verbraucherschützende Restriktionen des Marktes zu einer, auch und
gerade den Verbraucher belastenden Entwicklung führen.
Schließlich profitiert von hohen Preisen und einseitig gelagertem Risiko weder der Verbraucher noch der Unternehmer.
Wiss. Mitarbeiter Jan Singbartl, stud. iur. Johannes
Rübbeck, München
31
Diese äußerst problematischen Folgen ähneln stark jenen
der Weber/Putz Entscheidung des EuGH, vgl. EuGH, NJW
2011, 2269.
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OLG Thüringen, Urt. v. 18.3.2015 – 2 U 674/14
Simokat/Köhler
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ten und dabei einen Schwerpunkt auf den verfassungsrechtlichen Einschlag dieser Thematik zu legen.
Entscheidungsanmerkung
Musik auf Wahlkampfveranstaltungen – auch bei möglicherweise verfassungsfeindlichen Parteien?
Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist
nicht befugt, das Lied „Atemlos durch die Nacht“ von
Helene Fischer im Rahmen ihres Thüringer Landtagswahlkampfs zu spielen. Der hiermit verbundene Eingriff
in das Künstlerpersönlichkeitsrecht Helene Fischers ist
weder durch das Parteienprivileg noch durch Grundrechte zu rechtfertigen.
(Leitsätze der Verf.)
UrhG § 75 S. 1
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 3
Abs. 1 i.V.m. Art. 21, Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Art. 5 Abs. 3
S. 1 Alt. 1, Art. 21 Abs. 1 S. 1
OLG Thüringen, Urt. v. 18.3.2015 – 2 U 674/14 (LG Erfurt)1
I. Einführung in die Problematik
Ohne Musik sind Wahlkampfveranstaltungen in heutiger Zeit
nicht mehr denkbar. Freilich sind mit dem Einsatz von Musik
für Wahlkampfzwecke erhebliche urheberrechtliche Probleme verbunden. Diese resultieren daraus, dass der Urheber
bzw. ausübende Künstler des Musikstücks möglicherweise
gegen seinen Willen in den Zusammenhang mit einer von
ihm abgelehnten politischen Partei gestellt wird. Es stellt sich
in einem solchen Fall die Frage nach Umfang und Einschränkbarkeit der Rechte des Urhebers bzw. ausübenden
Künstlers sowie der Bedeutung dieser Rechtspositionen im
Verhältnis zu den Rechtsgütern der das Musikstück verwendenden Partei. Besondere Probleme ergeben sich dann, wenn
die Partei (möglicherweise) verfassungsfeindlich ist. Denn
gerade in einem solchen Fall besteht ein gesteigertes Interesse des Urhebers bzw. ausübenden Künstlers, nicht mit der
Partei in Verbindung gebracht zu werden.
Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht am
7.12.2015 veröffentlichten positiven Entscheidung über die
Eröffnung eines zweiten Parteiverbotsverfahrens gegen die
NPD2 – und der in diesem Verfahren Anfang März stattgefundenen Verhandlungstage –3 bietet es sich an, ein Urteil
des OLG Thüringen vom Anfang letzten Jahres4 zum Anlass
zu nehmen, die dargestellte Problematik kritisch zu beleuch1
Die Entscheidung ist abrufbar unter
http://www.telemedicus.info/urteile/Allgemeines-Persoenlich
keitsrecht/1548-OLG-Jena-Az-2-U-67414-Schlagersaengerin
-kann-Abspielen-eines-bekannten-Hits-auf-Partei-Wahlkamp
fveranstaltung-untersagen-Atemlos.html (21.3.2016).
2
https://www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?cmsur
i=/juris/de/nachrichten/zeigenachricht.jsp&feed=juna&wt_m
c=rss.juna&nid=jnachr-JUNA151202757 (21.3.2016).
3
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/npd-verbotsverfa
hren-bundesverfassungsgericht-verhandelt-ueber-die-gefahrder-rechtsextremisten-a-1080483.html (21.3.2016).
4
OLG Thüringen, Urt. v. 18.3.2015 – 2 U 674/14.
II. Sachverhalt
Während des letzten Thüringer Landtagswahlkampfes verwendete die NPD Helene Fischers Dauerbrenner „Atemlos
durch die Nacht“ ohne deren Willen bei ihren Parteiveranstaltungen.
Der Landesvorsitzende stellte sich bei diesen Wahlveranstaltungen nach seiner politischen Rede den interessierten Zuhörern zum Gespräch. Derweil wurde das streitgegenständliche Lied zusammen mit 15 weiteren Liedern über Lautsprecher abgespielt.5 Dies führte zu einer Klage der Sängerin, mit
der diese eine Verletzung ihres Künstlerpersönlichkeitsrechts
gegenüber der NPD geltend machte.
Vor dem Landgericht Erfurt hatte die Sängerin mit ihrer
einstweiligen Verfügung keinen Erfolg.6 Dies wurde damit
begründet, dass das bloße Abspielen des Liedes im Auge unbefangener Dritter nicht auf eine Sympathie der Sängerin für
die politischen Auffassungen der NPD schließen lasse. Somit
seien eine unmittelbare Gefährdung des Rufes und/oder des
Ansehens der Sängerin nicht zu erwarten.
Die Entscheidung wurde von der Sängerin durch eine Berufung angefochten. Die Auffassung des Landgerichts Erfurt
sei rechtsfehlerhaft. Durch die Verwendung des Liedes stelle
die NPD sich bewusst in einen ihr wesensfremden politischen
Zusammenhang.
III. Zusammenfassung der Entscheidung des OLG Thüringen
Helene Fischer bekam vor dem OLG Thüringen Recht, da sie
gem. § 75 S. 1 UrhG berechtigt sei, eine Beeinträchtigung
ihrer Darbietung zu verbieten.7 Die Musik sei gerade nicht als
Pausenfüller verwendet, sondern vielmehr als Begleitmusik
für den Auftritt des NPD-Landesvorsitzenden eingesetzt worden. Infolgedessen könne nicht ausgeschlossen werden, dass
der Eindruck entstehe, die Sängerin wirke im Wahlkampf der
NPD duldend mit. Deshalb überwiege bei der im Rahmen des
§ 75 S. 1 UrhG gebotenen Interessenabwägung das Künstlerpersönlichkeitsrecht der Sängerin.
IV. Einordnung der Entscheidung in ihren rechtshistorischen Kontext
Das geschilderte Verfahren ist – abgesehen von den zeitgleichen Parallelverfahren8 anderer Künstler gegen die NPD – in
der Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit bislang einmalig
und bedarf daher einer kritischen Analyse. Nur durch eine
eingehende Auseinandersetzung mit der Problematik können
5
OLG Thüringen, Urt. v. 18.3.2015 – 2 U 674/14.
LG Erfurt, Urt. v. 5.9.2014 – 3 O 1076/14.
7
OLG Thüringen, Urt. v. 18.3.2015 – 2 U 674/14.
8
LG Erfurt, Beschl. v. 29.9.2014 – 3 O 1241/14
(Madson/NPD); LG Erfurt, Urt. v. 7.10.2014 – 3 O 1087/14;
LG Erfurt, Urt. v. 8.10.2014 – 3 O 1181/14 (Die Ärzte/NPD);
LG Erfurt, Urt. v. 13.10.2014 – 3 O 1190 /14; LG Erfurt, Urt.
v. 30.10.2014 – 3 O 1139/14.
6
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die sich in Anbetracht des jetzt beim BVerfG anhängigen
zweiten Parteiverbotsverfahrens gegen die NPD auch in Zukunft stellenden Probleme im Zusammenhang mit der Verwendung von Musik durch die NPD richtig gelöst werden.
Hierdurch ergeben sich möglicherweise auch Rückschlüsse
für die Zulässigkeit der Verwendung von Musik durch nichtverfassungsfeindliche Parteien.
V. Kommentar
Im Ergebnis hält das Urteil einer rechtlichen Überprüfung
nicht stand.
1. Ermittlung der in die Abwägung einzustellenden Rechtspositionen
Noch in nicht zu beanstandender Weise hat das Gericht allerdings für die Beurteilung der Frage nach der Rechtmäßigkeit
des Verhaltens der Verfügungsbeklagten (NPD) auf § 75
UrhG abgestellt, denn bei dem durch das Spielen des Liedes
auf einer Wahlkampfveranstaltung der Verfügungsbeklagten
verbundenen Eingriff in das Künstlerpersönlichkeitsrecht9 der
Verfügungsklägerin (Helene Fischer) handelt es sich um eine
andere Beeinträchtigung im Sinne des § 75 S. 1 UrhG. Davon
sind solche Eingriffe umfasst, die indirekt zu einer Verfälschung oder Abwertung der Werkdarbietung führen.10 Durch
das Spielen des Liedes, das politisch neutral ist und der
Unterhaltungsmusik zuzurechnen ist, auf den Wahlkampfveranstaltungen der NPD wird dieses von einer rechtsradikalen
Partei für parteipolitische Zwecke verwendet. Dies ist eine
Verfälschung des ursprünglichen, auf die bloße Unterhaltung
der Zuhörerschaft gerichteten Zweckes der Werkdarbietung
und damit eine tatbestandlich von § 75 S. 1 UrhG erfasste
„andere Beeinträchtigung“.11
Weiter hat das Gericht zu Recht zugunsten Helene Fischers nur deren Künstlerpersönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und nicht deren Kunstfreiheit
(Art. 5 Abs. 3 S. 1 Alt. 1 GG) in Rechnung gestellt. Weder
der Werk- noch der Wirkbereich der Kunstfreiheit sind betroffen.
Auch die dem Künstlerpersönlichkeitsrecht möglicherweise entgegenstehenden Rechte der NPD hat das OLG
rechtlich korrekt identifiziert. Dabei hat das Gericht in nicht
zu beanstandender Weise nicht auf ein möglicherweise der
NPD zustehendes allgemeines Persönlichkeitsrecht abgestellt.
9
Im vorliegenden Fall kommt nur eine Verletzung des Künstlerpersönlichkeitsrechts gemäß § 75 UrhG und nicht eine
solche des Urheberrechts gemäß §§ 11 ff. UrhG in Betracht.
Helene Fischer ist nicht Songwriterin des Liedes „Atemlos
durch die Nacht“. Vielmehr wurde dieses von Kristina Bach
geschrieben.
10
Büscher, in: Wandtke/Bullinger, Praxiskommentar zum
Urheberrecht, 4. Aufl. 2014, § 75 Rn. 6; vgl. auch § 14 Rn. 3.
11
Anders dürfte es sein, wenn das Lied von einer Partei lediglich zu Unterhaltungszwecken gespielt wird. So dürfte es
urheberrechtlich unproblematisch sein, dass die CDU im
Rahmen der Feier ihres Sieges bei der letzten Bundestagswahl am 23.9.2013 das Lied „Tage wie diese“ der Toten
Hosen gespielt hat.
Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob das allgemeine
Persönlichkeitsrecht Personenvereinigungen12 und insbesondere politischen Parteien13 zustehen kann, war dies im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Die NPD war nicht in ihrer
„Persönlichkeit“, also in ihrer Qualität als Rechtssubjekt14
beeinträchtigt, da sie auch bei Verbot des Abspielens des
Liedes nicht an der Durchführung von Wahlkampfveranstaltungen gehindert gewesen wäre. Auch auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 GG) konnte sich die NPD, wie
das OLG zu Recht ausgeführt hat, nicht berufen. Das Abspielen des Liedes auf den Wahlkampfveranstaltungen enthält
keine „durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens geprägte Äußerung“15, ist also keine Meinungsäußerung. Vielmehr wird von der NPD lediglich ein fremdes
Kunstwerk verwendet. Das streitgegenständliche Lied besitzt
keinen politischen Text, sondern dient nur dem Transport
einer gewissen Stimmung. Deswegen konkretisiert sich durch
die Inanspruchnahme des Liedes auch nicht ein politischer
Wille im Sinne des Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG. Die NPD konnte
sich also lediglich auf ihre allgemeine Handlungsfreiheit
(Art. 2 Abs. 1 GG) berufen.
2. Absteckung des im vorliegenden Fall einschlägigen Abwägungsmaßstabs
Bei der nach h.M.16 als ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung des § 75 S. 1 UrhG erforderlichen Abwägung zwi12
Bejahend Bamberger, in: Bamberger/Roth, Beckʼscher
Online-Kommentar zum BGB, Ed. 36, Stand: 1.8.2015, § 12
Rn. 124, 131 f.; Born, AfP 2005, 110 (111); Sprau, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 74. Aufl. 2015, § 823 Rn. 91 f.;
krit. Brauer, Das Persönlichkeitsrecht der juristischen Personen, 1963, S. 40; Jarass, NJW 1989, 857 (860); Kau, Vom
Persönlichkeitsschutz zum Funktionsschutz, 1989, S. 42 ff.;
Lettl, wrp 2005, 1045 (1050); Quante, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht juristischer Personen, 1999, S. 130; Raue,
AfP 2009, 1 (6); Schramm, GRUR 1972, 348 (351); siehe
auch Ziegelmayer, GRUR 2012, 761 (762), der ein Unternehmenspersönlichkeitsrecht ablehnt, aber einen Reputationsschutz in den Art. 2 Abs. 1, 12 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG
verorten will; vgl. Koreng, GRUR 2010, 1065 (1068 ff.), der
das Unternehmenspersönlichkeitsrecht für eine falsa demonstratio hält; vgl. Rixecker, in: Münchener Kommentar zum
BGB, 6. Aufl. 2012, Anh. § 12 Rn. 22.
13
Bejahend LG Mainz NJW 2001, 761 (762); OLG München
NJW 1996, 2515; Bamberger (Fn. 12), § 12 Rn. 98; Sprau
(Fn. 12), § 823 Rn. 91 f.
14
Vgl. Ipsen, Staatsrecht II, 9. Aufl. 2006, Rn. 299; Pieroth/
Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 28. Aufl. 2012,
Rn. 392/397.
15
Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 74. Lfg., Stand: Mai 2015, Art. 5 Rn. 47 m.
zahlr. Rechtsprechungsnachweisen in Fn. 5.
16
Büscher (Fn. 10), § 75 Rn. 13; Dreier, in: Dreier/Schulze,
Kommentar zum Urheberrechtsgesetz, 5. Aufl. 2015, § 75
Rn. 7; Wiebe, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen
Medien, 3. Aufl. 2015, § 75 Rn. 2; a.A. Apel, Der ausübende
Musiker im Recht Deutschlands und der USA, 2011, S. 343.
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schen dem Künstlerpersönlichkeitsrecht und den Interessen
des die Beeinträchtigung vornehmenden Rechtssubjekts waren demnach nur die im Rahmen der rechtlichen Bewertung
eines Eingriffs in das Künstlerpersönlichkeitsrecht üblichen
Kriterien zu beachten. Dies sind vor allem die Intensität des
Eingriffs, das Maß der Abweichung von vertraglichen Vereinbarungen und die Möglichkeit der vertraglichen Gestaltung, die wirtschaftlichen Interessen und Vermögensdispositionen der Parteien.17 Nur wenn im Rahmen dieser Interessenabwägung das Künstlerpersönlichkeitsrecht überwiegt, ist
von einer ruf- bzw. ansehensgefährdenden Beeinträchtigung
auszugehen.
3. Überprüfung des Abwägungsergebnisses
Das Abwägungsergebnis des OLG hält einer rechtlichen
Überprüfung jedoch nicht stand. Die Intensität des Eingriffs
durch die NPD ist, anders als vom OLG angenommen, lediglich unerheblich. Deswegen hat das OLG die Rechte Helene
Fischers im Rahmen der Abwägung zu stark gewichtet.
a) Das Spielen des Liedes als Pausenfüller
Soweit vom OLG ausgeführt wird, dass die NPD sich nicht
darauf zurückziehen könne, das Lied sei lediglich – zusammen mit einigen anderen – als „Pausenfüller“ eingespielt
worden und habe mit den politischen Inhalten der Veranstaltung nichts zu tun, sondern nur der Unterhaltung gedient,
überzeugt diese Begründung nicht.
Zwar wurde das Lied in der Tat nicht nur als Pausenfüller,
sondern in innerem Zusammenhang mit der Wahlkampfveranstaltung wiedergegeben. Das ergibt sich daraus, dass das
Lied nicht nur Lücken in der Tagesordnung überbrücken,
sondern vielmehr den Landesvorsitzenden im Rahmen seines
informellen Beisammenseins mit potenziellen Wählern begleiten sollte. Allerdings ist der innere Zusammenhang nicht
so eng, dass das Abspielen des Liedes unmittelbar als Instrument der politischen Meinungsäußerung anzusehen wäre.
Anders ist lediglich dann zu entscheiden, wenn das Lied
unmittelbar während des Vortrages des Landesvorsitzenden
oder bei dessen Vorstellung gespielt worden wäre. Im vorliegenden Fall wurde das Lied jedoch lediglich während eines
losen Beisammenseins im Anschluss an die Rede des Landesvorsitzenden gespielt.
b) Recht Helene Fischers auf Gegendarstellung
Die Intensität des Eingriffs in das Künstlerpersönlichkeitsrecht wird insbesondere dadurch relativiert, dass Helene
Fischer in dem Falle, dass die Medien über das Spielen ihres
Liedes im NPD-Wahlkampf berichten, ein Recht auf Gegendarstellung zustünde, dass sie mit den politischen Ansichten
der NPD nicht sympathisiert, sondern – wie ihre letzte neue
Maßstäbe setzende Stadiontournee „Farbenspiel“ zeigte –
17
OLG Dresden ZUM 2000, 955 (957, Die Csárdásfürstin);
Stang, in: Ahlberg/Götting, Beck’scher Online-Kommentar
zum Urheberrecht, Ed. 9, Stand: 1.7.2015, § 75 Rn. 18;
Vogel, in: Schricker/Loewenheim, Kommentar zum Urheberrecht, 4. Aufl. 2010, § 75 Rn. 32.
vielmehr eine in allen gesellschaftlichen Schichten populäre
Künstlerin mit einer breiten Anhängerschaft ist. Nach dem
BVerfG18 ist „das Gegendarstellungsrecht heute als ein den
Gegebenheiten der modernen Massenkommunikationsmittel
angepasstes, für das Sondergebiet des Medienrechts näher
ausgestaltetes Mittel zum Schutz des Einzelnen gegen Einwirkungen der Medien auf seine Individualsphäre anerkannt.“
c) Bedeutung von Wahlkämpfen in einer pluralistischen Gesellschaftsordnung
Ferner ist im Rahmen der Abwägung der Interessen Helene
Fischers mit denen der NPD die Bedeutung von Wahlkämpfen für die Demokratie in Rechnung zu stellen. Ohne sie sind
besonders kleinere Parteien, die von der bürgerlichen Gesellschaft mehrheitlich abgelehnt werden, so gut wie nicht in der
Lage, ihre politischen Ansichten gerade auch über ihre
Stammklientel hinaus in der Gesellschaft zu verbreiten.
Wahlkämpfe sind somit in einer pluralistischen Gesellschaftsordnung integraler Bestandteil. Gerade die jüngere
Vergangenheit hat gezeigt, dass im Rahmen von Wahlkämpfen auch die Musik immer bedeutender wird, um politisch
Desinteressierte und Nichtwähler zu mobilisieren.19 Zwar
könnten die Parteien der Bedeutung von Musik für Wahlkämpfe dadurch Rechnung tragen, dass sie Künstler zu LiveAuftritten auffordern. Hierbei dürften es jedoch gerade die
kleineren Parteien besonders schwer haben. Die faktische
Beschränkung der Wahlkämpfe kleinerer Parteien würde
diese in erheblicher Weise gegenüber den großen Volksparteien diskriminieren. Das wäre insbesondere mit dem vom
BVerfG20 in seiner Wichtigkeit für die Demokratie immer
wieder unterstrichenen Prinzip der Chancengleichheit der
Parteien (Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 21 GG) unvereinbar.
Auch radikale oder sogar im Sinne des Art. 21 Abs. 2 S. 1
GG verfassungsfeindliche Parteien sind von diesem Prinzip
geschützt, da sie die Parteienprivilegien genießen, solange sie
nicht vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig
erklärt wurden, vgl. Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG. Hierdurch wird
den Parteien eine „erhöhte Schutz- und Bestandsgarantie“21,
vom BVerfG mitunter missverständlich22 auch als „Parteien18
BVerfG, Beschl. v. 8.2.1983 – 1 BvL 20/81, Rn. 29.
Seidel, Musik als politisches Mittel in Barack Obamas
Wahlkampf 2008, in: Samples, Online-Publikation des Arbeitskreises Studium populärer Musik e.V. (ASPM), Jahrgang 11 (2012), Version vom 21.11.2012.
20
BVerfGE 1, 208 (242); vgl. zuletzt BVerfGE 120, 82,
104 f.; vgl. auch Kröger, in: Festschrift für Wilhelm G. Grewe zum 70. Geburtstag am 16. Oktober 1981, 1981, S. 507 f.
21
BVerfGE 12, 296 (305).
22
Nach zutreffender Ansicht von Klein, in: Maunz/Dürig,
Kommentar zum Grundgesetz, Loseblatt, 74. Lfg., Stand:
Mai 2015, Art. 21 Rn. 541 m.w.N. bezeichnet der Begriff des
Privilegs die ungleiche rechtliche Behandlung gleicher Sachverhalte. Er ist deshalb nicht angebracht, wo Verschiedenes
seiner Eigenart entsprechend verschieden behandelt wird.
Parteien sind aber schon wegen ihrer exponierten Stellung im
GG – etwas anderes als „Vereine und Gesellschaften“ im
Sinne von Art. 9 Abs. 1 GG.
19
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privileg“23 bezeichnet, gewährt, was der großen Bedeutung
Rechnung trägt, die den Parteien im demokratischen Verfassungsstaat zukommt.24
d) Keine unmittelbare Beziehung Helene Fischers zu den
Ansichten der NPD
Ferner spricht für ein Überwiegen der Interessen der NPD
gegenüber dem Künstlerpersönlichkeitsrecht, dass die NPD
Helene Fischer nicht unmittelbar in eine Beziehung zu ihren
politischen Ansichten und zur NPD selbst setzt; vielmehr
bringt sie lediglich zum Ausdruck, dass ihr bzw. insbesondere dem Thüringer Landesvorsitzenden das Lied „Atemlos
durch die Nacht“ gefällt.
e) Keine Darstellung einer Sympathie Helene Fischers für die
Ansichten der NPD durch das Spielen des Liedes
Zudem lässt sich gegen ein Überwiegen des Künstlerpersönlichkeitsrechts Helene Fischers ins Felde führen, dass ein
verständiger Konsument von Berichten über Wahlkampfveranstaltungen der NPD nicht davon ausgehen wird, dass Helene Fischer mit den Ansichten der NPD sympathisiert. Zwar
ist zuzugeben, dass sich bereits gedankliche Assoziationen
für eine Ansehens- bzw. Rufbeeinträchtigung eignen.25 Insbesondere bei Assoziationen im Zusammenhang mit einer
Produktwerbung muss es der ausübende Künstler wegen
seines Interesses an seiner künstlerischen Entfaltung nicht
hinnehmen, dass aus seiner Darbietung ein „Vorspann“ für
ein Warenangebot gemacht wird und dass es dadurch zu einer
Vereitelung des vom ausübenden Künstler verfolgten künstlerischen Zweckes kommt.
In diesem Kontext kann jedoch bereits bezweifelt werden,
dass es sich bei der Werbung der NPD für ihr Parteiprogramm um einen mit der dargestellten Konstellation des
Werbens für ein Produkt vergleichbaren Sachverhalt handelt.
Es liegt aber jedenfalls sehr fern, dass angenommen werden kann, nur aufgrund des Spielens eines Musikstücks auf
einer Wahlkampfveranstaltung könne auf eine Sympathie des
ausübenden Künstlers für die politischen Ansichten der Partei
geschlossen werden. Eine Verpflichtung, vor dem Durchführen einer öffentlichen Veranstaltung mit Musikbeiträgen die
Künstler um Genehmigung zu bitten, diese spielen zu dürfen,
gibt es nicht. Vielmehr besteht lediglich eine Anmeldepflicht
der Veranstaltung gegenüber der GEMA26 und die Verpflichtung zur Entrichtung von Lizenzentgelten gegenüber dieser.27
Sofern die geschuldeten Lizenzentgelte entrichtet werden, ist
die GEMA zur Einräumung der Nutzungsrechte verpflichtet.
f) Mögliche wirtschaftliche Nachteile als allgemeines Lebensrisiko
Auch der Umstand, dass Helene Fischer wirtschaftliche
Nachteile daraus erwachsen können, dass sie in Zusammenhang mit einer von ihr nicht unterstützten politischen Partei
gebracht werden kann, insbesondere dann, wenn deren Ziele
nur von einem geringen Teil der Bevölkerung geteilt werden,28 vermag ein Überwiegen ihres Künstlerpersönlichkeitsrechts gegenüber den Rechten der NPD nicht zu rechtfertigen. Schließlich ist es ein allgemeines Lebensrisiko, dass
man in Zusammenhang mit Ansichten erwähnt wird, die man
nicht teilt. Insbesondere ist dies gerade das „Berufsrisiko“ in
der Öffentlichkeit stehender Personen. Zudem bietet das bereits erwähnte Recht zur Gegendarstellung der Sängerin eine
hinreichende Möglichkeit, sich von den Ansichten der NPD
zu distanzieren und die ihr durch eine Assoziation mit der
NPD entstehenden wirtschaftlichen Nachteile somit zu minimieren.
VI. Fazit
Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass nicht nur verfassungsgemäße, sondern auch möglicherweise verfassungsfeindliche Parteien – selbst solche, über die gerade ein Parteiverbotsverfahren beim BVerfG anhängig ist – das Recht
zusteht, auf ihren Wahlkampfveranstaltungen Musik zu spielen. Eine Beschränkung dieses Rechts kommt angesichts der
Unerlässlichkeit von Musik für einen wirkungsvollen Wahlkampf nicht in Betracht.
Ref. iur. Dr. Alexander Simokat, Mag. iur. Sebastian-B.
Köhler, Hamburg
23
BVerfGE 17, 155 (166); 47, 130 (139).
Klein (Fn. 22), Art. 21 Rn. 542.
25
Vgl. hierzu auch BGHZ 30, 7.
26
Die Abkürzung steht für „Gesellschaft für musikalische
Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte“. Die
GEMA ist nach § 11 UrhWahrnG verpflichtet, aufgrund der
von ihr wahrgenommenen Rechte jedermann auf Verlangen
zu angemessenen Bedingungen Nutzungsrechte einzuräumen.
27
https://www.gema.de/fileadmin/user_upload/Musiknutzer/
Tarife/Tarife_AD/tarifuebersicht_veranstaltungen_tontraeger.
pdf (21.3.2016).
24
28
Vgl. BGH NJW 2010, 3362.
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Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com
259
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14
Bender
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Entscheidungsanmerkung
Einzelfallbezogener, menschenwürderadizierter Grundrechtsschutz im Rahmen der Identitätskontrolle
Das BVerfG gewährleistet im Wege der Identitätskontrolle den gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3
und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.
(Leitsatz des Verf.)
GG Art. 23 Abs. 1 S. 3, 79 Abs. 3, Art. 1 Abs. 1
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/141
I. Einleitung
Solange die durch das Schlagwort des Kooperationsverhältnisses2 eingefangene spannungsreiche Kontroverse3 zwischen
BVerfG4 und EuGH5 um den Grund der Geltung des Unionsrechts fortdauert, sind Positionierungen beider Gerichte zu
dieser Streitfrage gerade vor dem Hintergrund des noch ausstehenden Urteils im OMT-Verfahren6 per se interessant,
1
Im Internet abrufbar unter
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entsc
heidungen/DE/2015/12/rs20151215_2bvr273514.html
(18.3.2016).
2
Vgl. BVerfGE 89, 155 (Maastricht) = NJW 1993, 3047
(3049 f.); Huber, in: FS für Daniel Thürer, 2015, S. 305
(320). In Frankreich wird insofern auch von einem „dialogue
des juges“ gesprochen, vgl. Stirn, Gazette du Palais v.
14.2.2009, S. 3; Schorkopf (EuZW 2009, 718 [724]) rekurriert auf das Bild des grenzüberschreitenden Gesprächs. Der
EuGH (Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14 [OMT-Urteil] = NJW
2015, 2013 [2014 Rn. 15]) spricht lediglich von einem unmittelbaren Zusammenwirken, um das Verfahren nach Art. 267
AEUV zu charakterisieren.
3
Zumindest als Drohkulisse spricht Mayer (NJW 2015, 1999
[2003]) von einem „Krieg der Gerichte“ und „Krise des
Rechts“.
4
Zu der Position des BVerfG vgl. BVerfGE 37, 271 (Solange I); 73, 339 (Solange II), 89, 155 (Maastricht); 102, 147
(Bananenmarktordnung); 123, 267 (Lissabon), 126, 286 (Honeywell). Darstellend insofern Geiger, in: Geiger/Kahn/
Kotzur, Kommentar zum EUV, AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 4
Rn. 28 ff.; Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, Rn. 210 ff.
(„Anwendungsvorrang kraft verfassungsrechtlicher Rechtfertigung“).
5
Zu derjenigen des EuGH vgl. etwa EuGH, Urt. v. 15.7.1964
– 6/64 (Costa/E.N.E.L.) = Slg. 1964, 1253; EuGH, Urt. v.
17.12.1970 – 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft) =
Slg. 16, 1125. Diese „rein europarechtliche Lösung“ darstellend Streinz (Fn. 4), Rn. 206, auch mit Verweis auf die diesem Ansatz rechtstheoretisch zugrunde liegende Gesamtaktstheorie, vgl. H. P. Ipsen, in: Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 97 (290).
6
Vgl. der Vorlage-Beschluss des BVerfG v. 7.2.2014 – 2
BvR 2728-2731/13, 2 BvR 13/13 = WM 2014, 404 und so-
besonders aber dann, wenn sich die bisherige Position des
Gerichts konkretisiert. Der Beschluss des BVerfG vom
15.12.20157 gehört zu einer solchen besonders interessanten
Positionierung des BVerfG: Die Identitätskontrolle, so wird
klargestellt, eröffnet die Möglichkeit eines einzelfallbezogenen, menschenwürderadizierten Grundrechtsschutzes.
Um sich dieser Kernaussage zu nähern, werden in einem
ersten Schritt der Sachverhalt und der Verfahrensgang des
Beschlusses rekapituliert (II.). Sodann wird die bisherige Position des BVerfG zur Integrationskontrolle dargestellt, da
diese grundsätzlich beibehalten und bekräftigt wird (III.). Mit
Blick auf die Ausführungen zur Beziehung zwischen zu gewährleistendem Grundrechtsschutz und Identitätskontrolle ist
die Kontinuität der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung allerdings genauer zu untersuchen – insofern wird
in einem dritten Schritt eine Einordnung des neuen Beschlusses des BVerfG in den zuvor dargestellten Rahmen angestrebt (IV.). Die Ausführungen enden schließlich mit einer
kurzen Schlussbemerkung (V.).
II. Sachverhalt und Verfahrensgang
Im Jahre 1992 verurteilte die Corte di Appello von Florenz
einen US-amerikanischen Staatsbürger in Abwesenheit
rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren. Im Jahre
2014 wurde der verurteilte US-Bürger in Deutschland auf der
Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen.
Das zuständige Oberlandesgericht hielt die Auslieferung nach
Italien für zulässig, obwohl nicht sicher gewährleistet war,
dass der Beschwerdeführer im Berufungsverfahren eine erneute Beweisaufnahme erwirken könnte. Gegen eben jenen
Beschluss des OLG Düsseldorf vom 7.11.2014 erhob der USBürger Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a
GG, §§ 13 Nr. 8a, 90-95a BVerfGG, wobei er (auch in der
Hauptsache) mit Erfolg eine Verletzung des in Art. 1 Abs. 1
und Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Schuldgrundsatzes rügte.
Vor diesem Hintergrund hatte sich das BVerfG bei seiner
Entscheidung mit zwei Problemkomplexen auseinanderzusetzen: Zum einen ging es um die Frage, ob das in Art. 1 Abs. 1
und Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Schuldprinzip tatsächlich
verletzt ist. Da eine schuldangemessene Bestrafung eine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten verlangt, die grundsätzlich nur bei seiner Anwesenheit erfolgen
kann, ist eine Verletzung des Schuldprinzips zumindest dann
zu bejahen, wenn ihm nach Kenntniserlangung von seiner
Verurteilung die Möglichkeit einer wirksamen Verteidigung
fehlt.8 Da das OLG Düsseldorf das italienische Prozessrecht
nicht hinreichend auf derartige Garantien untersucht hatte,
konnte die Verletzung des Schuldprinzips bejaht werden.
Zum anderen – und das ist hier von Interesse – musste
geklärt werden, inwiefern angesichts des unionsrechtlichen
Hintergrunds überhaupt eine Kontrolle anhand der Art. 1
Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG erfolgen konnte. Durch den Sachdann die Antwort des EuGH durch Urt. v.16.6.2015 – C62/14 (OMT-Urteil) = NJW 2015, 2013.
7
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14.
8
Dazu insb. BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR
2735/14, Rn. 58.
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verhalt veranlasst waren diese das Urteil dominierenden
Überlegungen zum Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht allerdings nicht. Vielmehr wird vom BVerfG unter
Berufung auf die acte-claire-Doktrin9 festgestellt, dass es
einer Begrenzung des dem Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl zukommenden Anwendungsvorrangs im
Zusammenhang des zu entscheidenden Falles gar nicht bedürfe, weil bereits das Unionsrecht selbst über Art. 4a Abs. 1
lit. d (i) des Rahmenbeschlusses die Möglichkeit einer Berücksichtigung des Schuldprinzips erlaube.10 Umso interessanter ist es deshalb, gerade dieses überdimensionale obiter
dictum näher zu untersuchen.11
wirksam werden, nämlich als Ultra-vires-Kontrolle (a.), als
Identitätskontrolle (b.) und als Solange-Vorbehalt (c.).14
III. Kontinuität bezüglich der europarechtsfreundlich
ausgeübten Integrationskontrolle
Das BVerfG schreibt zunächst sein grundsätzliches Verständnis vom Verhältnis von Unionsrecht und nationalem
Recht und damit seine Opposition zum EuGH fort.12 Anders
als dieser leitet es den Anwendungsvorrang nicht aus der
Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung, sondern aus der
Zurücknahme des Herrschaftsanspruchs der deutschen
Rechtsordnung durch Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. dem entsprechenden Zustimmungsgesetz ab und eröffnet sich so die
Möglichkeit, den europäischen Integrationsprozess kontrollierend zu begleiten13: Nur dann kann das Unionsrecht seinen
uneingeschränkten Anwendungsvorrang beanspruchen, wenn
es vom deutschen Rechtsanwendungsbefehl gedeckt ist, der
sich seinerseits an den verfassungsmäßig vorgegebenen Rahmen halten muss (1.). Die Europarechtsfreundlichkeit des
GG, die insbesondere in der Präambel und Art. 23 GG zum
Ausdruck kommt und ihr unionsrechtliches Pendant im
Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, Art. 4 Abs. 3 EUV,
findet, führt hingegen zu gewissen Rücksichtnahmen und
Einschränkungen (2.).
b) Die Identitätskontrolle
Weiter folgt aus der Ableitung der Geltung des Unionsrechts
aus einem deutschen Hoheitsübertragungsakt aber auch, dass
dem Kompetenzen übertragenden Gesetzgeber selbst gewisse
Grenzen gesetzt sind, worauf die über Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG
subjektivierte18 – hier wurde dieser Subjektivierungsansatz
entwickelt – Identitätskontrolle rekurriert. Zu dem Kontrollmaßstab der Identität zählen neben der Eigenstaatlichkeitsgarantie19 die tragenden Konstitutionsprinzipien der Bundesrepublik, also der Schutz der Menschenwürde, Art. 1 GG, sowie die Wahrung der Staatsstrukturprinzipien des Art. 20
GG.20 Dies entspricht dem, was der gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3
GG auch auf Hoheitsübertragungsakte anwendbare Art. 79
Abs. 3 GG der Dispositionsbefugnis der verfassten Staatsgewalt entzieht und dem pouvoir constituant vorbehält.21 Da aus
1. Die drei Ausprägungen der Integrationskontrolle
Die Notwendigkeit eines deutschen Rechtsanwendungsbefehls lässt die Integrationskontrolle in drei Ausprägungen
9
Vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1982 – C-283/81 (C.I.L.F.I.T.) =
Slg. 1982, 3415 Rn. 16 ff., zitiert in BVerfG, Beschl. v.
15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 125.
10
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 84.
Von einer tatsächlichen „Aktivierung der Identitätskontrolle“,
so Schorkopf, legal tribune online v. 29.1.2016, kann deshalb
eigentlich nicht gesprochen werden.
11
Letztendlich betrifft dieses BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015
– 2 BvR 2735/14, Rn. 36-50.
12
Dazu bereits Fn. 4.
13
So ausdrücklich BVerfG NJW 1974, 1697 f. Rn. 25 (Solange I); BVerfGE 58, 1 (30 f.). Plakativ ist insofern auch die
Redeweise von den Mitgliedstaaten als den „Herren der Verträge“, vgl. BVerfG NJW 2009, 2267 (2271 ff. Rn. 231, 235,
271, 298, 334, Lissabon); Cremer, in: Callies/Ruffert, Kommentar zum EUV, AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 48 EUV Rn. 19
ff., bzw. die Redeweise von der „Öffnung deutscher Staatlichkeit“, BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14,
Rn. 40.
a) Die Ultra-vires-Kontrolle
Die Ultra-vires-Kontrolle betrifft die Einhaltung der Grenzen
des Übertragenen, effektuiert mithin das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, indem ausbrechende Rechtsakte
bundesverfassungsgerichtlich sanktioniert werden.15 Sie ist
nunmehr ebenfalls – wie die sogleich darzustellende Identitätskontrolle – über Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG subjektiviert16,
spielt aber in dem Beschluss vom 15.12.2015 nur eine untergeordnete Rolle. 17
14
Dazu vor dem Hintergrund des Lissabon-Urteils auch
Dittert, R.A.E. – L.E.A. 2009, 847 (848 ff.).
15
Etwa BVerfGE 89, 155 (210 Rn. 106, Maastricht). Die
Rede ist insofern auch von „ausbrechenden Rechtsakten“.
Grundlegend BVerfG NJW 2010, 3422 (3523 f. Rn. 54 ff.,
Honeywell). Nuanciert hierzu Schorkopf, EuZW 2009, 718
(721 f.). Zu der in Handlungs- und Unterlassungspflichten
deutscher Staatsorgane liegenden Rechtsfolge siehe BVerfG
NJW 2014, 907 (909 f. Rn. 44 ff., OMT-Beschluss).
16
Vgl. BVerfG NJW 2014, 907 (910 Rn. 53, OMT-Beschluss); kritisch hierzu die abweichenden Meinungen von
Lübbe-Wolff, NJW 2014, 916 (917 f. Rn 16 ff.) und Gerhardt, NJW 2014, 918 Rn. 5 ff. Allgemein zum OMTBeschluss Hermann, EuZW 2014, 161; Classen, EuR 2015,
477.
17
Es erfolgt insofern lediglich eine Nennung, vgl. BVerfG,
Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 43. Grundlegend
hingegen BVerfG NJW 2009, 2267 (2272 f. Rn. 241, Lissabon).
18
Hierzu BVerfG NJW 1993, 3047 (3048 Rn. 60 ff., Maastricht).
19
Vgl. Streinz (Fn. 4), Rn. 237.
20
So auch BVerfG NJW 2005, 2289 (2290 Rn. 70, Darkanzanli) in der ersten den Haftbefehl betreffenden Entscheidung.
21
Vgl. etwa Herdegen, in Maunz/Dürig, Kommentar zum
GG, 75. EL September 2015, Art. 79 Rn. 9. Insoweit, als
Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG inhaltlich über Art. 79 Abs. 3 GG
hinausgeht, also insbesondere mit Blick auf das nur schwer
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BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14
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der Sicht des BVerfG die Geltung des Unionsrechts in der
deutschen Rechtsordnung Folge des deutschen Rechtsanwendungsbefehls ist, bedarf es eigentlich keiner unionsrechtlichen Begründung dieser Ausnahme. Dennoch wird auf Art. 4
Abs. 2 S. 1 EUV als unionsrechtlichen22 Anknüpfungspunkt
rekurriert23 und die Verfassungspraxis anderer Mitgliedstaaten angeführt24 – wohl um dem EuGH einen Weg aufzuzeigen, sich der Linie des BVerfG ohne Gesichtsverlust anschließen zu können25 und sich seiner Verbündeten im verfassungsgerichtlichen Dialog zu vergewissern.26
c) Der Solange-Vorbehalt
Als dritter Kontrollansatz ist der Solange-Vorbehalt27 zu
nennen, der trotz aller Gemeinsamkeiten28 und etwaigen
Überschneidungen29 einen eigenständigen Platz verdient30,
justiziable Subsidiaritätsprinzip, vgl. dazu Scholz, in: Maunz/
Dürig, Kommentar zum GG, 75. EL September 2015, Art. 23
Rn. 71, führt er auch zu einer über Art. 79 Abs. 3 GG hinausgehenden Aufladung der integrationsfesten Verfassungsidentität.
22
In der Tat ist auch der unionsrechtliche Begriff der nationalen Identität nicht mit der verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle identisch, vgl. dazu auch Obwexer, in: v. der
Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl.
2015, Art. 4 EUV Rn. 27 ff.
23
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 44;
vgl. auch BVerfG NJW 2009, 2267 (2272 f. Rn. 240, Lissabon). Der zitierten EuGH-Rspr., etwa EuGH, Urt. v.
14.10.2004 – C-36/02 (Omega Spielhallen) = Slg. 2004, I9609 Rn. 31 ff., lässt sich der Ansatz allerdings nicht entnehmen, dem Unionsrecht könne mit Blick auf Art. 4 Abs. 2
S. 1 EUV die Geltung versagt werden. Vielmehr geht es um
Rechtfertigungsgründe innerhalb der Unionsrechtsordnung.
24
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 47.
Von Gewohnheitsrecht kann hier angesichts der abweichenden Ansicht des EuGH mangels opinio iuris allerdings nicht
gesprochen werden. Die bloße Nichtbefolgung unionsrechtlicher Grundsätze führt hingegen nicht zu ihrer Derogierung,
vgl. insofern zum Sein-Sollens-Fehlschluss Hume, A Treatise
of Human Nature, Being an Attempt to Introduce the Experimental Method of Reasoning into Moral Subjects, 1888.
25
Zu diesem „Brücken-Ansatz“ mit Blick auf den EGMR
siehe auch Huber (Fn. 2), S. 318.
26
In der Tat dürfte die breite Bezugnahme auf die Rspr. anderer Verfassungsgerichte und auch die des EGMR (vgl. etwa
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 99 ff.)
insbesondere der Solidarisierung dienen. Vgl. auch die positive Hervorhebung des Verhältnisses von Karlsruhe und
Straßburg bei Huber (Fn. 2), S. 320.
27
BVerfGE 37, 271 (Solange I); 73, 339 (Solange II); 102,
147 (Bananenmarktordnung); vgl. auch BVerfG, Beschl. v.
15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 43.
28
Diese hebt Klatt (Die praktische Konkordanz von Kompetenzen, Entwickelt anhand der Jurisdiktionskonflikte im europäischen Grundrechtsschutz, 2014, S. 120 m.w.N.) hervor.
29
Näher zum Verhältnis von Identitätskontrolle und SolangeVorbehalt unten (IV.).
weil er den Grundrechtsschutz betrifft, der gerade nicht vollständig zum unveränderlichen Verfassungskern gehört und
mit den Urteilen Solange I und II und der BananenmarktEntscheidung eine Sonderbehandlung erfahren hat. Die gewissermaßen einfachverfassungsrechtliche Solange-Garantie
ergibt sich nunmehr unmittelbar aus Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG
a.E., der die Rechtsprechung des BVerfG hierzu kodifiziert
hat31: Die Relativierung grundgesetzlicher Gewährleistungen
ohne die Sicherung des Art. 79 Abs. 1 GG32 durch die Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 S. 1, 2 GG wird hier
mit Blick auf die Grundrechte unter Vorbehalt gestellt.
2. Die aus der Europarechtsfreundlichkeit fließenden Einschränkungen der Integrationskontrolle
Um die Nuancierungen des vorliegenden Beschlusses im
grundrechtlichen Bereich der Identitätskontrolle nachzuvollziehen, ist es wichtig, auch einen Blick auf die aus der Europarechtsfreundlichkeit fließenden Einschränkungen zu werfen, denen die Integrationskontrolle unterliegt.
a) Das Entscheidungsmonopol des BVerfG
Zunächst führt der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit
unter Zugrundelegung des Rechtsgedankens des Art. 100
Abs. 1 und Abs. 2 GG zu einer Monopolstellung des BVerfG,
was die Kontrolle des Integrationsprozesses anbelangt.33
b) Die Möglichkeit des EuGH zur Stellungnahme im Vorabentscheidungsverfahren
Sodann kann als allgemeine Einschränkung im Dienste einer
europäisch-richterlichen Kooperation die Notwendigkeit angesehen werden, vor dem Ausspruch der Geltungsverweigerung innerhalb der deutschen Rechtsordnung dem EuGH im
Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267
AEUV die Möglichkeit zu geben, Stellung zu nehmen und
das Problem auf der Ebene des Unionsrechts zu lösen.34
c) Die Zurückhaltung bei Ultra-vires-Kontrolle und SolangeVorbehalt
Schließlich unterliegen Ultra-vires-Kontrolle und SolangeVorbehalt weitreichenden zusätzlichen Einschränkungen. Mit
Blick auf die Ultra-vires-Kontrolle verlangt das BVerfG in
30
So auch die Darstellung des BVerfG, vgl. nur BVerfG,
Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 43; siehe auch
Streinz (Fn. 4), Rn. 236; Zuleeg/Kadelbach, Europarecht,
2. Aufl. 2010, § 8 Rn. 60.
31
Scholz (Fn. 21), Art. 23 Rn. 80.
32
Zu dieser Garantie der „Urkundlichkeit und Einsichtbarkeit
jeder Verfassungsänderung“ vgl. BVerfGE 334, 336;
Herdegen (Fn. 21), Art. 79 Rn. 20 ff.
33
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 43.
34
Für die Identitätskontrolle vgl. BVerfG, Beschl. v.
15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 46; zuletzt so auch BVerfGE 134, 366 (385 Rn. 27, OMT-Beschluss). Für die Ultravires-Kontrolle vgl. BVerfG NJW 2010, 3422 (3524 f.
Rn. 58 ff., Honeywell). Gleiches muss auch für den SolangeVorbehalt gelten.
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seinem Honeywell-Beschluss einen ersichtlichen bzw. offensichtlichen, d.h. hinreichend qualifizierten Verstoß35 und gestattet dem EuGH einen Anspruch auf Fehlertoleranz.36 Auch
der Solange-Vorbehalt – und das ist für das Verständnis der
ausdrücklichen Inbezugnahme auf den menschenwürderadizierten Grundrechtsschutz im Rahmen der Identitätskontrolle
besonders wichtig – hat mit der Entscheidung zur Bananenmarktordnung37 erhebliche Einschränkungen erfahren. Für
die Zulässigkeit der Rüge der Grundrechtswidrigkeit eines
Unionsrechtsaktes oder unionsrechtlich determinierten nationalen Rechtsaktes ist das generelle Absinken des unionalen
Grundrechtsschutzes unter den Standard aus Solange II erforderlich, diese Fallgruppe als effektive Integrationsschranke
damit ausgehebelt und gerade mit Blick auf Art. 6 Abs. 1
EUV i.V.m. GRCh nur noch theoretischer Natur.38
Wenn das BVerfG nunmehr Grundrechtsschutz im Rahmen der Identitätskontrolle gewähren will, so scheint dieses
mittlerweile klassische Kontrollkonzept ins Wanken zu geraten. Welche Rolle also genau die Grundrechtskontrolle im
Rahmen der Identitätskontrolle spielt, soll daher unter IV.
untersucht werden.
IV. Konkretisierung statt Kehrtwende bezüglich der
Identitätskontrolle
Die Aussagen zur Identitätskontrolle erscheinen deshalb
einordnungsbedürftig, weil sie über das hinauszugehen scheinen, was sie eigentlich sagen wollen. Ausgangspunkt ist dabei der folgende Urteilssatz: „Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar
gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.“39 Dieser findet sich in etwas verkürzter Form in der
Überschrift der Pressemitteilung als „Gewährleistung einzelfallbezogenen Grundrechtsschutzes im Rahmen der Identitätskontrolle“40 wieder. Zunächst wird der Urteilssatz als
Konkretisierung der Identitätskontrolle und nicht als konfrontative Fortentwicklung des Solange-Vorbehalts eingeordnet
(1.), sodann untersucht, worin genau die Konkretisierungsleistung des Beschlusses liegt (2.).
1. Der Beschluss zwischen Solange-Vorbehalt und Identitätskontrolle
a) Die abzulehnende Einordnung als konfrontative Relativierung des Solange-Vorbehalts
Die Proklamation einer einzelfallbezogenen Grundrechtsprüfung im Rahmen der Identitätskontrolle scheint die am generellen Grundrechtsschutzniveau orientierte Rücknahme der
Kontrolldichte des Bananenmarkt-Beschlusses zu konterkarieren und selbst hinter Solange II zurückzukehren, da der
Anspruch einer einzelfallbezogenen Grundrechtskontrolle unabhängig vom unionalen Grundrechtsschutz erhoben wird.
Bei dieser Interpretation wäre der Beschluss des BVerfG als
Ankündigung eines konfrontativen Kurses und als Wiederbelebung des alten Solange I-Vorbehalts zu verstehen. Für diese
Sicht auf die Dinge mag aus rechtspraktischer Sicht auch
sprechen, dass insbesondere harsche Kurskorrekturen der
Rechtsprechung aus Gründen des Vertrauensschutzes in obiter dicta angekündigt zu werden pflegen.41
b) Die vorzugswürdige Einordnung als Konkretisierung der
Identitätskontrolle
Die besseren Gründe sprechen indes für eine weniger weitreichende Interpretation. Nur jener Grundrechtsschutz, der
unabdingbar ist, wird im Rahmen der Identitätskontrolle
gewährleistet. Unabdingbar aber ist nur jener Grundrechtsschutz, der Ausfluss der Menschenwürdegarantie des Art. 1
Abs. 1 GG ist. Dies wird insbesondere im unmittelbar folgenden Erwägungsgrund sichtbar, indem es zu den erhöhten
Zulässigkeitsanforderungen heißt: „Es muss im Einzelnen
substantiiert dargelegt werden, inwieweit im konkreten Fall
die durch Art. 1 GG geschützte Garantie der Menschenwürde
verletzt ist.“42 Die substantiierte Verletzung irgendeiner
Grundrechtsposition reicht demnach ausdrücklich nicht.
Macht man sich klar, dass es also letztendlich nur um die
Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG und nicht um alle
Grundrechte des Grundgesetzes geht43, so verliert der Bezug
auf die Grundrechtsprüfung im Rahmen der Identitätskontrolle viel an Sprengkraft. Denn dass die Menschenwürdegarantie zur deutschen Verfassungsidentität gehört, dürfte mit
Blick auf die Integrationskontrolle wenig erstaunen. Auch die
rechtspraktischen obiter dictum-Erwägungen, die dem mehr
unterstellen wollten, verfangen schon deshalb nicht, weil
schutzwürdige Vertrauensschutzpositionen der Bürger mit
35
Wie genau das Kriterium des hinreichend qualifizierten
Verstoßes auszufüllen ist, wird unterschiedlich beantwortet.
Zum Teil wird auf die Offensichtlichkeit und die spezifische
Verletzung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung
abgestellt, vgl. etwa Kokott, AöR 1994, 207 (220). Streinz
([Fn. 4], Rn. 250; ders., in: Streinz, Kommentar zum EUV/
AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn. 10) spricht griffig von
Systemrelevanz. Das BVerfG stellt auf strukturell bedeutsame Verschiebungen ab, BVerfG NJW 2014, 907 (908 Rn. 37,
OMT-Beschluss).
36
BVerfG NJW 2010, 3422 (3424 f. Rn. 58 ff., Honeywell).
37
BVerfGE 102, 147 (Bananenmarktordnung).
38
Vgl. Streinz (Fn. 4), Rn. 249.
39
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 49.
40
Pressemitteilung Nr. 4/2016 v. 26. 1.2016.
41
Für die Anwendbarkeit des Vertrauensschutzgrundsatzes
auf Richterrecht vgl. BVerfG NZA 1987, 347 Rn. 64; BverfG
NJW 1983, 103 (107 Rn. 81), und die Minderung des Vertrauensschutzes bei Vorhersehbarkeit vgl. BVerfG ZIP 2012,
911 (916).
42
BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14, Rn. 50.
43
Der Bezug zwischen menschenwürderadiziertem Grundrechtsschutz und Identitätskontrolle klingt bereits an in
BVerfG NJW 2010, 833 (839 f. Rn. 218, Vorratsdatenspeicherung) und wurde von Klatt ([Fn. 28], S. 120) völlig zutreffend erkannt. In diese Richtung auch Kroll-Ludwigs, Die
Rolle der Parteiautonomie im europäischen Kollisionsrecht,
2013, S. 200 f.
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BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14
Bender
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sodann aber auch und gerade oberstes objektiv-rechtliches Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes48 und damit Teil der nationalen Identität;
über den in anderen Grundrechten unterschiedlich stark
enthaltenen Menschenwürdegehalt49 erlaubt sie schließlich aus dieser Doppelstellung heraus die subjektivrechtliche Gewährleistung eines gewissen Grundrechtsstandards
im Rahmen der Identitätskontrolle.
Blick auf die Nichtkontrolle durch das BVerfG nicht ersichtlich sind. Vor diesem Hintergrund sollte nicht von „Solange
III“44 gesprochen werden: Der Solange-Vorbehalt ist bereits
mit den in der Bananenmarkt-Entscheidung gestellten Anforderungen hinfällig geworden (vgl. III. 2. c) und wird gerade
nicht mehr fortentwickelt. Vielmehr ist es der schon immer in
der Identitätskontrolle angelegte Solange-Vorbehalt „light“,
der nun als einzelfallbezogener, menschenwürderadizierter
Grundrechtsschutz konkretisiert und expliziert wird.
2. Die Konkretisierungsleistung: Einzelfallbezogener, menschenwürderadizierter Grundrechtsschutz im Rahmen der
Identitätskontrolle
Sowohl die Einzelfallbezogenheit (a) als auch die Menschenwürderadizierung (b) des Grundrechtsschutzes im Rahmen
der Identitätskontrolle verdienen dabei eine nähere Betrachtung.
a) Die Einzelfallbezogenheit des Grundrechtsschutzes
Der Grundrechtsschutz im Rahmen der Identitätskontrolle ist
zunächst – anders als der über den Solange-Vorbehalt gewährte Grundrechtsschutz in der Ausprägung, die er durch
die Bananenmarkt-Entscheidung erfahren hat – einzelfallbezogen. Diese Einzelfallbezogenheit lässt eine Angleichung an
die Position des EGMR erkennen, der ebenfalls einzelfallbezogen den gebotenen Grundrechtsschutz gewährleistet.45
b) Die Menschenwürderadizierung des Grundrechtsschutzes
Der Grundrechtsschutz ist außerdem – anders als der vollständige Grundrechtsschutz des Solange-Vorbehalts – nur
insofern gewährleistet, als die Verletzung der Grundrechtsposition auch die Verfassungsidentität betrifft, was dann der
Fall ist, wenn der Menschenwürdegehalt der Grundrechte auf
dem Spiel steht.46 Die Menschenwürdegarantie wird bei dieser Konkretisierungsleistung also in einem dreifachen Sinne
operationalisiert:
Sie ist zunächst selbst rügefähiges Grundrecht, das dem
Beschwerdeführer als subjektiv-rechtliche Rechtsposition
zum Erfolg verhilft47,
44
So allerdings etwa Schorkopf, legal tribune online v.
29.1.2016; Oehmichen, FD-StrafR 2016, 375738.
45
Vgl. EGMR, Urt. v. 6.12.2012 – 12323/11 (Michaud/
Frankreich), Rn. 103; EGMR, Urt. v. 30.6.2005 – 45036/98
(Bosphorus Hava Yollart Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi/
Irland), Rn. 155; dazu auch Kokott/Sobotta, Yearbook of
European Law 34 (2015), 60 (68); Vondung, EuR 2013, 688.
46
Hierzu Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Rn. 26.
47
So auch Schorkopf, legal tribune online v. 29.1.2016. Kritisch zur subjektiv-rechtlichen Dimension der Menschenwürde Dreier, in: Dreier, Kommentar zum GG, 3. Aufl. 2013,
Art. 1 Rn. 121 ff.; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 127; Böckenförde, JZ 2003, 809;
Isensee, AöR 131 (2006), 173 (210 ff.). Zu den verschiedenen (z.T. kritischen) Ansätzen siehe Baldus, AöR 136 (2011),
529.
Diese Menschenwürderadizierung lässt eine Parallelisierung
zu den aus der Europarechtsfreundlichkeit fließenden Einschränkungen bei der Ultra-vires-Kontrolle erkennen und tritt
gewissermaßen an die Stelle des dort praktizierten Offensichtlichkeits-Kriteriums.
V. Schlussbemerkung
Einzelfallbezogenheit und Menschenwürderadizierung eröffnen dem BVerfG damit eine flexible Reaktionsmöglichkeit
auf neue Dynamiken des europäischen Integrationsprozesses.50 Dies immerhin – aber auch nicht mehr – wollte das
BVerfG mit dem überdimensionalen obiter dictum erreichen.
Dass die damit einhergehenden Konkretisierungen gerade
jetzt, in dem Beschluss vom 15.12.2015, erfolgten, dürfte
seinen Grund in dem noch anhängigen OMT-Verfahren51
haben: Das BVerfG antwortet hier auf das OMT-Urteil des
EuGH52 im Dialog der Richter nicht ohne einen warnenden
Unterton.53 Ob die Menschenwürde und der in ihr radizierte
48
Als solches mag die Menschenwürdegarantie auch zur
Konkretisierung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung im derzeit anhängigen NPD-Verbotsverfahren herangezogen werden, das mit dem Beschl. v. 2.12.2015 – 2 BvB
1/13 bereits die Hürde des § 45 BVerfGG genommen hat.
49
Vgl. Herdegen (Fn. 21), Art. 1 Rn. 26.
50
Der Beschluss leistet insofern die von Schorkopf (EuZW
2009, 718 [722]) erwartete Auslegungsleistung der Verfassungsidentität und nähert sich indirekt der von Streinz
([Fn. 4], Rn. 249) verlangten Gewährleistung einzelfallbezogenen Grundrechtsschutzes durch negative Evidenzkontrolle
im menschenwürderelevanten Bereich an.
51
Vgl. BVerfG NJW 2014, 907 (OMT-Beschluss) und sodann EuGH, Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14 (OMT-Urteil) =
NJW 2015, 2013.
52
EuGH, Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14 (OMT-Urteil) = NJW
2015, 2013.
53
So, wie das Entgegenkommen des EuGH in EuGH, Urt. v.
12.11.1969 – 29/69 (Stauder) = Slg. 1969, 419 (426) auf
BVerfGE 37, 271 (Solange I) mit BVerfGE 73, 339 (Solange
II) und BVerfGE 102, 147 (Bananenmarktordnung) belohnt
wurde, reagiert durch die hier vorgenommene Konkretisierung das BVerfG auf EuGH, Urt. v. 16.6.2015 – C-62/14
(OMT-Urteil) = NJW 2015, 2013 und die fortdauernden
Unstimmigkeiten zum Anwendungsbereich der unionalen
Grundrechte, vgl. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – C-617/10
(Åkerberg Fransson), Rn. 19 ff.; EuGH, Urt. v. 30.4.2014 –
C-390/12 (Pfleger), Rn. 30 ff. einerseits und BVerfG NJW
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BVerfG, Beschl. v. 15.12.2015 – 2 BvR 2735/14
Bender
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Grundrechtsschutz im Rahmen der Identitätskontrolle nun
ebenfalls im OMT-Verfahren – und dann nicht nur in einem
obiter dictum – mobilisiert werden, bleibt abzuwarten54 – ist
aber vielleicht nunmehr, da die eigene Position bereits klar
artikuliert wurde, gar nicht mehr nötig.
Wiss. Mitarbeiter Philip Bender, Maître en droit
(München/Paris)
2013, 1499 (1501 Rn. 91, Antiterrordatei) andererseits. Dazu
auch Huber (Fn. 2), S. 307 ff.
54
Zu den weiteren betroffenen Elementen gehört auch das
Budgetrecht, vgl. dazu Streinz (Fn. 4), Rn. 247. Ob die vom
BVerfG gewünschte Einhegung der Machtfülle der EZB
durch die weitgehend theoretisch gebliebene Kontrollankündigung des EuGH mit Blick auf die EZB, vgl. EuGH, Urt. v.
16.6.2015 – C-62/14 (OMT-Urteil) = NJW 2015, 2013 (2016,
2018 f. Rn. 41, 69 ff.), erfüllt wurde, dem BVerfG also hinreichend die Hand gereicht wurde, vgl. optimistisch Mayer,
NJW 2015, 1999 (2003), oder es sich den Zwängen der Umstände beugt, vgl. in diese Richtung Classen, EuR 2015, 477
(485 f.), ist zumindest fraglich.
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Kilian/Wendt, Europäisches Wirtschaftsrecht
Staudinger
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B uc hre ze ns io n
Wolfgang Kilian/Domenik Henning Wendt, Europäisches
Wirtschaftsrecht, 5. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2016, 495 S., € 26,-.
Im Jahr 2016 ist in 5. Auflage das Lehrbuch Europäisches
Wirtschaftsrecht erschienen. Seit dieser Auflage wirkt neben
Prof. Kilian nunmehr auch Prof. Wendt mit. Beiden Autoren
gelingt es vorzüglich, die Fülle an Rechtsquellen und die
Vielzahl von Entscheidungen didaktisch geschickt für den
Adressatenkreis aufzubereiten. Dazu tragen nicht nur wertvolle Hinweise auf Arbeitsmaterialien bei. Vielmehr vermag
der Studierende anhand von Wiederholungsfragen am Ende
der einzelnen Kapitel selbst zu erkennen, ob er das Lernziel
erreicht hat. Neben der klaren und leicht verständlichen Sprache helfen ferner Schaubilder und Grafiken, der Informationsfülle Herr zu werden. Das Europäische Wirtschaftsrecht
in all seinen Facetten auf komprimierten 500 Seiten darzustellen, erfordert zwangsläufig, das für die Studierenden
relevante Wissen pointiert darzustellen. Positiv hervorzuheben ist dabei die gelungene Schwerpunktsetzung in den einzelnen Abschnitten sowie das hohe Maß an Aktualität, wie es
sich etwa im Privatversicherungsrecht an den dort in Bezug
genommenen Richtlinien ablesen lässt. Als ungemein hilfreich erweist sich überdies, dass die beiden Autoren nicht nur
das Primär- und Sekundärrecht bzw. völkervertragsrechtliche
Regelungen aufzeigen, sondern auch „Leitentscheidungen“ in
den einzelnen Abschnitten auflisten. In der Gesamtschau
wird damit dem Studierenden ermöglicht, sich das Europäische Wirtschaftsrecht nicht nur anhand von Verordnungen
und Richtlinie zu erschließen. Der Leser erhält überdies einen
profunden Überblick zum Case Law auf supranationaler
Ebene. Dies verdient deshalb besonderer Erwähnung, da
immer mehr die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dazu führt, den Acquis Communautaire dynamisch auszubauen. Weiterhin ist es den Autoren methodisch gelungen,
Bezüge zum deutschen Recht herzustellen. Dies hilft den Studierenden, gerade in Bezug auf Richtlinien ungemein, deren
Ausstrahlung im nationalen Recht zu erkennen. Ihnen wird so
eindrucksvoll vor Augen geführt, wie viele Ausschnitte etwa
des Zivilrechtes unmittelbar bzw. mittelbar richtliniengeprägt
sind. Vielleicht sollte dem Europäischen Kollisionsrecht ein
eigener Abschnitt gewidmet, zumindest die Titelüberschrift
G. XI. erweitert werden. Für eine 6. Auflage mag man ferner
eine Verzahnung bestimmter Kapitel andenken. So zeigen
sich beispielsweise beim Recht der elektronischen Verträge
Querverbindungen zum Fernabsatz, so dass womöglich vom
Aufbau her das Informations- und Kommunikationstechnologierecht mit dem allgemeinen Privatrecht verbunden werden
könnte. Losgelöst von diesen Anregungen ist jedem Studierenden, der sich das Europäische Wirtschaftsrecht in handlicher Form mithilfe eines einzigen Lehrbuches erschließen
möchte, der Erwerb der aktuellen Auflage dringend angeraten.
Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Bielefeld
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ZJS 2/2016
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Barton, Einführung in die Strafverteidigung
Wessing
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B uc hre ze ns io n
Stephan Barton, Einführung in die Strafverteidigung,
2. Aufl., Verlag C.H. Beck, München 2013, 340 S., € 29,80.
Ein Studienbuch? Sicher. Aber weitaus mehr als das. Barton
hat sich vorgenommen, die neue anwaltsorientierte Perspektive der Juristenausbildungsreform für das Studium fruchtbar
zu machen. Dies ist ihm zweifelsfrei gelungen. Und darüber
hinaus noch sehr viel mehr, zumindest für mich. Auch nach
mehr als drei Jahrzehnten in der Strafverteidigung habe ich
das Buch mit großem Gewinn gelesen und viele Anregungen
daraus mitgenommen. Nicht zuletzt hat es geholfen, vieles,
was in der Praxis langer Jahre Verteidigung zu Automatismus
geworden ist und daher sicherlich auch etwas verschliffen
war, wieder bewusst zu machen. Wenn der Autor formuliert,
dass man eine Vielzahl an Literatur zu prozessualen Fragen
hat, dass die dogmatische Prozessrechtswissenschaft aber
nicht behandelt, wie man Rechte wirksam, zweckgerichtet
und effektiv wahrnimmt, so ist damit sicherlich das Programm angesprochen, dieses Manko auszugleichen. Das Ziel
ist also, abstrakte und leider oft blutleere dogmatische Überlegungen soweit an die Realität heranzuführen, dass sie mit
Leben erfüllt werden und plötzlich Faszination entwickeln.
Das in vier Abschnitte (Hinführung, Recht, Methodik und
Schlüsselqualifikationen) gegliederte Buch ist im ersten Teil
betitelt „Hinführung zur Strafverteidigung“. Diesem Ziel
wird es gerecht. Dabei wird von Anfang an deutlich, dass hier
nicht Dogmatismus vermittelt wird, sondern Verständnis. Das
soll nicht bedeuten, dass nicht jede erforderliche dogmatische
Grundlage angesprochen ist und transparent gemacht wird.
Zusätzlich werden diese, nicht nur für den Studenten manchmal trockenen, Überlegungen eingebettet in ein Umfeld aus
realistischen Schilderungen, Erfahrungsberichten und Fallberichten. Immer wieder zitiert der Autor auch Zeitzeugen und
Sachzeugen, die das theoretisch Vermittelte lebendig erscheinen lassen. Damit werden die Einbettung der Verteidigung in
unserer Gesellschaft, ihre soziale Notwendigkeit und ihre
Ausstrahlung über den Einzelfall hinaus plastisch vermittelt.
Dabei nimmt sich der Autor der Rolle des Verteidigers mit
erkennbarer Sympathie an, ohne dabei kritiklos zu sein – im
Gegenteil: Wo es angebracht ist – und Barton trifft exakt die
empfindlichen Stellen – liest er Missständen der Verteidigung
mit der gleichen Intensität die Leviten, wie er habituelle Irrungen der anderen Prozessbeteiligten transparent macht.
Für den Studenten, und wohl nicht nur für diesen, ist es
sicher eine große Hilfe, dass er an vielen Stellen Übersichten
und Tabellen findet, die in komprimierter Form den Gedankengang des jeweiligen Kapitels zusammenfassen. Auch sind
an den Anfang der Kapitel Fragen gestellt, die nach der Behandlung im Text zum Schluss kurz und prägnant beantwortet werden. Diese Technik macht den Leser zum Mitarbeiter
an der Entwicklung der Gedanken und Prozesse, die geschildert werden und vertieft dadurch den Lernerfolg.
Alle Facetten der Verteidigung sind abgehandelt, einiges
verdient hervorgehoben zu werden: Jeder Verteidiger weiß,
dass in dem Moment, in dem er seinen Beruf offenbart, die
Frage gestellt wird „wie man denn solche Menschen – Ver-
gewaltiger, Kinderschänder, Terroristen, Rauschgiftdealer,
die Liste ist endlos fortzusetzen – verteidigen kann“. Als
Verteidigerin wird man dann gerne besonders verständnislos
angesehen. Barton nimmt sich dieses Themas ebenso an wie
der Gewichtsverschiebung innerhalb der Verteidigertätigkeit
in Richtung Anzeigeerstattung, Nebenklage, aber auch Unternehmensstrafrecht, wobei er für alle Verteidigertätigkeit
als gemeinsame Grundkomponente die Schutz- und Beistandsaufgabe sieht und ein ethisches Verteidigerleitbild
neben die gesetzlichen Anforderungen setzt. Barton plädiert
für eine Philosophie der Verteidigung, die sich „am Bild des
kompetenten, wissenschaftlich ausgebildeten und professionellen Verteidigers, der gewissenhaft mit den Mitteln des
Gesetzes kämpft und damit gleichermaßen seinem Mandanten wie dem Recht dient“ (S. 58) orientiert. Die Rolle des
Verteidigers wird nicht monokausal gesehen, sondern eingebettet in das Umfeld der anderen im Strafprozess agierenden
Personen: Richter und Staatsanwälte, Nebenkläger, Zeugen
und Gutachter, nicht zuletzt Mandanten. Damit werden die
zweidimensionalen und abstrakten gesetzlichen Anforderungen an die Verteidigung in die dritte Dimension realer Verteidigungstätigkeit gehoben und damit deutlich besser fassbar
und erlernbar.
Der Autor arbeitet heraus, dass die Verteidigung im Moment im Umbruch begriffen ist und dem Strafrecht auf dessen
verstärkten Gang in die Prävention folgen muss. Rechtsgestaltung, präventive Tätigkeit, Compliance werden ebenso
behandelt wie das wachsende Feld interner Ermittlungen, in
dem sich die Tätigkeit deutscher Strafrechtler amerikanischem Gedankengut nähert. Bei der Beschreibung von
Schlüsselqualifikationen für den Strafverteidiger findet sich
ein eigenes Kapitel für Kommunikationstheorie. Ergänzt wird
dies durch Ausführungen zur Vernehmung, Lehre und Rhetorik. Barton vermittelt an Studenten, was jeder erfahrene
Strafverteidiger als Axiom verinnerlicht hat: Beste Kenntnisse im materiellen Strafrecht und Strafprozessrecht sind wirkungslos ohne ein psychologisches Fundament, mit dem
diese Kenntnisse vermittelt und an die Frau oder den Mann
gebracht werden. Wer sich als Student der Strafverteidigung
jenseits der dogmatischen Oberfläche nähern will oder sich
als Verteidiger rückbesinnen will auf die Grundlagen und
Facetten seiner Tätigkeit, ist mit diesem Buch bestens bedient.
Prof. Dr. Jürgen Wessing, Düsseldorf
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Ostendorf, Jugendstrafrecht
Papathanasiou
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B uc hre ze ns io n
Heribert Ostendorf, Jugendstrafrecht, 8. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2015, 332 S., € 26,-.
Nach § 2 Abs. 1 JGG soll die Anwendung des Jugendstrafrechts „vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder
Heranwachsenden entgegenwirken. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.“ Die komprimierte Erläuterung dieses Desiderats hat Ostendorf zum Gegenstand seines
Lehrbuchs gemacht, welches letztes Jahr in der 8. völlig
überarbeiteten und um europarechtliche Vorgaben ergänzten
Auflage erschienen ist.
Adressiert ist das Werk „Jugendstrafrecht“ grundsätzlich
an Jura-Studenten, die den Schwerpunktbereich Kriminologie
gewählt haben und/oder möglicherweise an einer praktischen
Studienzeit in einem Amtsgericht interessiert sind. Jugendstrafrecht hat Jugendkriminalität zum Gegenstand (S. 17) und
ist somit Teil des Strafrechtssystems (S. 41). Jugendstrafrecht
entfaltet aber zugleich eine darüberhinausgehende breite interdisziplinäre Spannweite. So gesehen ist das Lehrbuch von
Ostendorf auch für Studierende der wissenschaftlichen Disziplinen Pädagogik, Sozialpädagogik, Soziologie und Psychologie sehr gut geeignet. Besonders bekannt sind nämlich
die sog. sozialen Trainingskurse, eine auf Grundlage des § 10
Abs. 1 Nr. 6 JGG gerichtlich häufig angeordnete Weisung im
Interventionsprogramm des Jugendstrafrechts; dabei werden
vor allem Sozialtrainer und pädagogische Fachkräfte gebraucht.
Eine dank mehrerer Abbildungen sehr anschauliche Einleitung (S. 17-32) führt auch einen Nichtjuristen sofort in die
Thematik ein. Dass die Schrift des Verf. natürlich und klar ist,
bringt die Erwähnung der Bildergeschichte „Max und Moritz“ des deutschen humoristischen Dichters und Zeichners
Wilhelm Busch (S. 30 f.) besonders zum Ausdruck. Das
Lehrbuch gliedert sich dann in neun gut nebeneinander gesetzten Teilen: Der erste Teil (S. 33-40) gibt einen Gesamtüberblick über die geschichtliche Entwicklung des Jugendstrafrechts in Deutschland anhand der Entwicklung der Jugendgerichtsgesetze. Der zweite Teil (S. 41-70) beschäftigt
sich mit den Grundlagen des Jugendstrafrechts. Der Verf.
erläutert in diesem Teil neben dem Begriff (S. 41) und dem
Anwendungsbereich des Jugendstrafrechts (S. 41-44) die
verschiedenen Voraussetzungen einer jugendstrafrechtlichen
Ahndung (S. 44-54), wie etwa die nach § 3 JGG Verantwortlichkeit, die Zielsetzung des Jugendstrafrechts (S. 54-60) wie
auch die Prinzipien, die das Jugendstrafrecht kennzeichnen
(S. 60-70): namentlich das Prinzip der Individualisierung, das
Prinzip der (Sanktions-, Verfahrens- und Vollstreckungs-)
Flexibilität, das Prinzip der Subsidiarität, das Prinzip der
Nichtschlechterstellung sowie das bereits in Art. 6 Abs. 1
S. 1 MRK verankerte Prinzip der Beschleunigung. Im dritten
Teil (S. 71-91) lernt der Leser die Verfahrensbeteiligten kennen: Das sind im Einzelnen die Polizei (S. 71), die in § 36
JGG speziell vorgesehene Jugendstaatsanwaltschaft (S. 7172), die in §§ 33-35 JGG geregelten Jugendgerichte (S. 72-
78), wobei ggf. auch Jugendschöffen in Betracht kommen,
der Strafverteidiger (S. 78-79), die begrifflich eher umstrittene Jugendgerichtshilfe (S. 79-88), Erziehungsberechtigte und
gesetzliche Vertreter (S. 88-90), der verfahrensrechtlich unterstützende Beistand (S. 90), Sachverständige (S. 91) und
schließlich mögliche Nebenkläger (S. 91). Im vierten Teil
(S. 92-136) geht der Verf. auf die Besonderheiten des Jugendstrafrechts ein, wobei die auf das Opportunitätsprinzip zurückzuführende sog. Diversion (S. 92-104) und die das Strafverfahren sichernde Untersuchungshaft (S. 104-114) zu Recht
den größten Teil der Ausführungen nehmen. Abbildungen
und statistische Angaben tragen zur bildhaften Vermittlung
des Stoffs besonders hilfreich ein. Der umfangreichere fünfte
Teil (S. 137-226) wird mit 90 Seiten den jugendstrafrechtlichen Sanktionen gewidmet. Grundsätzlich ist hier die Rede
von dreierlei: den Erziehungsmaßregeln (S. 140-153), den in
§ 13 Abs. 2 JGG abschließend aufgelisteten Zuchtmitteln
(S. 153-170) und der Jugendstrafe. Letztere ist wiederum in
Bewährung vor der Jugendstrafe (S. 170-175), unbedingte
Jugendstrafe (S. 175-193) sowie Jugendstrafe zur Bewährung
(S. 193-209) untergegliedert. Der Verf. analysiert im Anschluss daran die „zweite Sanktionsspur“1, nämlich die in § 7
JGG vorgesehenen und an die Gefährlichkeit anknüpfenden
Maßregeln der Besserung und Sicherung (S. 209-226). Das
sind namentlich die Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht sowie die Entziehung der Fahrerlaubnis. Der sechste
Teil (S. 227-239) befasst sich mit der strafrechtlichen Behandlung sog. Heranwachsender, d.h. Personen, die zum Tatzeitpunkt 18, aber noch nicht 21 Jahre alt waren (§ 1 Abs. 2
JGG). Die Ausführungen lassen sich durch brisante kriminalpolitische Forderungen abschließen, ob nämlich Heranwachsende eventuell doch als Erwachsene zu behandeln sind; wie
der Verf. selbst zu Recht feststellt, wird dieser „fälschlich
eingeschlagene Weg“ trotz aller Kritik „weiter verfolgt“
(S. 239). Im siebten Teil (S. 240-249) behandelt der Verf. die
Besonderheiten der jugendstrafrechtlichen Sanktionierung.
Dazu zählen
die Möglichkeit einer Verbindung von Sanktionen nach
§ 8 JGG,
die in § 31 vorgesehene sog. „Einheitsstrafe“,
die nach § 32 ggf. i.V.m. § 105 JGG zu beurteilenden
Fallkonstellationen hinsichtlich Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen,
die Anrechnung der U-Haft nach §§ 52, 52a JGG,
die Abweichungen bzgl. Kosten und Auslagen nach § 74
JGG und schließlich
die eventuelle Korrektur der Sanktionierung sowie der
sog. „Ungehorsamsarrest“ (der „Rattenschwanz der ambulanten Maßnahmen“; S. 246) nach §§ 11 Abs. 2, 3, 15
Abs. 3 JGG.
1
Altenhain/Laue, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener
Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6, 2. Aufl. 2013, § 7
JGG Rn. 1).
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Ostendorf, Jugendstrafrecht
Papathanasiou
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Im achten Teil (S. 250-253) handelt es sich um die Vollstreckung. Kurz angesprochen werden hier insb. Zuständigkeiten,
Ziel und Durchführung der Vollstreckung. Im neunten und
letzten Teil (S. 254-268) wird der Vollzug der Jugendstrafe
erläutert, wobei die verfassungsrechtlichen Vorgaben
(S. 256 f.) besonders zu beachten sind. Im Rahmen der
Rechtsmittel (S. 267 f.) merkt der Verf. zu Recht kritisch an,
dass unter den Ländern nur Saarland ein Schlichtungsverfahren geregelt hat (siehe § 87 Abs. 4 Saar-JStVollzG).
Bei einer Gesamtbetrachtung und unter Berücksichtigung
der Zielgruppe hat der Verf. die ganze Materie des Lehrbuchs
sehr gut strukturiert und verständlich vermittelt. Auch die am
Ende hinzugefügten Anhänge erfreuen definitiv die Zielgruppe: Dabei geht es um elf Definitionen der wichtigsten Begriffe (S. 269-720), einen prüfungsorientierten Katalog mit einhundertzwei Test-Fragen (S. 271-275) und eine bereits als
Aufsatz veröffentlichte, praxisorientierte und hilfreiche Tipps
gebende Anleitung für Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung vor dem Jugendgericht
(S. 276-292). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 293328) und ein die Suche konkreter Beiträge und Stellen ermöglichende Stichwortverzeichnis (S. 329-332) runden das
Lehrbuch ab. Im Hinblick auf die Zielgruppe liegt der Preis
des „Jugendstrafrechts“ wohl an der oberen Grenze der akzeptablen Preisspanne. Die klare Struktur und Lesbarkeit des
Lehrbuchs von Ostendorf lohnen sich allerdings den Preis
von etwa drei Kinokarten, weswegen auch die Rezensentin es
hiermit zur Lektüre empfehlen möchte.
Akad. Mitarbeiterin Dr. Konstantina Papathanasiou,
LL.M., Heidelberg
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Mit der Arbeitsgruppe zum Prädikat
Von Ref. iur. Robert Klose, Wiss. Mitarbeiter Stefan Küster, Wiss. Mitarbeiter Leon Radde, Greifswald
Der Beitrag stellt die Examensvorbereitung in einer privaten
Arbeitsgemeinschaft als empfehlenswerte Alternative zum
traditionellen Repetitorium dar. Basierend auf eigenen Erfahrungen, zeigen die Autoren Vor- und Nachteile der AG auf
und bieten Hilfestellungen, um das Vorhaben „Examen ohne
Repetitorium“ zu realisieren.1
I. Einleitung
Viel zu oft geht es dem Studenten der Rechtswissenschaft nur
darum, schnellstmöglich „scheinfrei“ zu werden. Zwar lässt
sich durch zielgerichtetes, selektives Lernen des vermeintlich
prüfungsrelevanten Stoffs so mancher Schein erschlagen. Ein
vertieftes Verständnis der Systematik und fächerübergreifender Zusammenhänge bleibt dabei jedoch nicht selten auf der
Strecke. Dann, am Beginn der eigentlichen Examensvorbereitung, sehen sich viele Studenten einer kaum zu bewältigenden Stofffülle gegenüber, die es im Examen sicher zu beherrschen gilt. Noch immer entscheidet sich die überwiegende
Mehrheit der Examenskandidaten für den Besuch des außeruniversitären Repetitoriums. Vor- und Nachteile dieser Praxis
sind schon hinlänglich besprochen worden.2 Für diejenigen,
die noch zweifeln oder sich bereits gegen das „Rep“ entschieden haben, soll ein anderer Weg, abseits der ausgetretenen Pfade des klassischen kommerziellen Repetitoriums,
aufgezeigt werden. Der Beitrag legt den Schwerpunkt auf die
Examensvorbereitung in einer eigenen Arbeitsgruppe. Dabei
sollen insbesondere Schritte zur Gründung, der Erstellung
eines Lernplans und der Arbeitsweise im Vordergrund stehen.
II. Die Arbeitsgruppe
Aufgrund eigener und fremder Erfahrungen hat sich besonders das Arbeiten in einer kleineren Gruppe als besonders
erfolgversprechend herausgestellt. Nichtsdestotrotz ist die
AG mehr als ein loser Verbund einiger Studenten, die sich
„zum Lernen treffen“. Im Folgenden soll daher auf die wesentlichen Eckpunkte des Vorhabens „Arbeitsgruppe“ eingegangen werden, die es zu bedenken gilt.
1. Die Zielsetzung
Ziel der studentischen Arbeitsgruppe ist Dreierlei: Im Mittelpunkt steht zunächst eine effektive, selbstbestimmte Examensvorbereitung, unabhängig von einem kommerziellen Repetitorium. Resultat ist idealerweise ein persönlich zufriedenstellendes Ergebnis. Zweitens soll das arbeitsteilige Zusammenwirken das Abarbeiten des Stoffes erleichtern und ein
1
Die Autoren schlossen ihr Examen im Freiversuch allesamt
mit der Note „gut“ ab. Angemerkt sei, dass die Lerngruppe
aus fünf Personen bestand, wobei auch die übrigen Mitglieder
ein oberes „befriedigend“ erreichten.
2
Müller, Jura 1986, 166; Inés, JuS 2001, 622 (623);
Deppner/Lehnert/Rusche/Wapler, Examen ohne Repetitor,
3. Aufl. 2011, S. 28 ff.
systematisches Vorgehen fördern. Nicht zuletzt soll drittens
eine „Streitgenossenschaft“ begründet werden, die es dem
Einzelnen ermöglicht, die kräftezehrende Zeit der Examensvorbereitung zu meistern. Diese stellt zuweilen eine Durststrecke mit Motivationsmängeln und Niederlagen dar, die
sich zwar nicht immer vermeiden, gemeinsam aber sicher
leichter überwinden lassen. Freilich kann die Gruppenstruktur
auch Konflikte aufwerfen. Ineffektive Nutzung der Arbeitszeit oder Ungleichgewichte bei der Arbeitsverteilung können
kontraproduktive Auseinandersetzungen fördern. Mangelnde
Zuverlässigkeit der Mitglieder führt schlimmstenfalls zur
vorzeitigen Auflösung der Gruppe, ohne einen wesentlichen
Wissensgewinn geschaffen zu haben, der die vertane Zeit
rechtfertigt. Zeit ist hierbei aber das Stichwort, denn sie ist in
der Examensvorbereitung mitunter knapp bemessen. Vielfach
stehen nur ein bis eineinhalb Jahre für den gesamten Stoff zur
Verfügung. Das Problem verschärft sich, wenn die Regelstudienzeit eingehalten und der Freiversuch wahrgenommen
werden soll. Ein planvolles Vorgehen ist daher angeraten, um
Rückschlägen von Beginn an vorzubeugen.
Wer also beschließt, eine Arbeitsgruppe zu gründen, sollte Folgendes beachten: Die Arbeitsgruppe hat nur Erfolg,
wenn ihre Mitglieder die gleiche Motivation, Zuverlässigkeit
und Leistungsbereitschaft mitbringen. Dies ist Grundvoraussetzung, um einen reibungslosen Ablauf innerhalb der Gruppe auf Dauer zu sichern und eine effektive Examensvorbereitung zu gewährleisten. Schließlich soll der gesamte Stoff
gemeinsam erarbeitet und auf Examensniveau vertieft werden. Dazu sind geeignete Mitglieder erforderlich. Hat man im
bisherigen Verlauf des Studiums vornehmlich allein gelernt,
gilt es solche zu finden. Bei der Suche sollte, neben zwischenmenschlichen Sympathien, insbesondere ein vergleichbares Leistungsniveau sowie die Zuverlässigkeit und Motivation der künftigen Mitstreiter im Fokus stehen. Freundschaftliche Beziehungen sind nicht zwingend hinderlich, soweit im
Rahmen der Arbeitsgruppe alle Vereinbarungen eingehalten
werden und die Veranstaltung nicht zum „Kaffeeklatsch“ zu
werden droht.3 Schließlich kann auch eine Anzeige am
schwarzen Brett der Fakultät erfolgversprechend sein. Für die
Anzahl der Mitglieder gilt grundsätzlich, dass die Arbeit in
einer kleineren Gruppe effektiver ist und ihr Nutzen für den
Einzelnen mit steigender Mitgliederzahl abnimmt. Regelmäßig wird daher empfohlen, sich im Rahmen von drei bis vier
Personen zu halten.4 So wird die Beteiligung der einzelnen
Mitglieder stärker gefordert und das individuelle Leistungspensum gesteigert. Aber auch größere Arbeitsgruppen kön3
Zur sog. „Kaffeekränzchenfalle“ auch Deppner/Lehnert/
Rusche/Wapler (Fn. 2), S. 48; Lemmerz/Bienert, Jura 2011,
335 (337).
4
Deppner/Lehnert/Rusche/Wapler (Fn. 2), S. 46; Lemmerz/
Bienert, Jura 2011, 335 (337); zwischen drei und fünf Personen bei ter Haar/Lutz/Wiedenfels, Prädikatsexamen, 3. Aufl.
2012, Rn. 55.
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Mit der Arbeitsgruppe zum Prädikat
nen durchaus effektiv arbeiten, wenn die vorstehenden Voraussetzungen eingehalten werden.5
Hat man sich schließlich zusammengefunden, folgt der
entscheidende Schritt, bevor die eigentliche Arbeit beginnt:
Die Zielsetzung innerhalb der Gruppe. Erforderlich ist eine
verbindliche Einigung darüber, was die Mitglieder in der
kommenden Vorbereitungsphase voneinander erwarten, vergleichbar mit einem Gesellschaftsvertrag.6 Dieses zunächst
pathetisch anmutende Gleichnis soll am Beispiel der Gesellschaft bürgerlichen Rechts verdeutlicht werden. Voraussetzung für die Entstehung einer GbR ist der Abschluss eines
Gesellschaftsvertrags im Sinne von §705 BGB, d.h. die vertragliche Verpflichtung mehrerer Gesellschafter, die Erreichung eines gemeinsamen Zwecks durch Beitragsleistung zu
fördern. Aus dem persönlichen Charakter dieses Zusammenschlusses ergibt sich eine Treuepflicht der Gesellschafter.7
Die Arbeitsgruppe sollte ähnlich verstanden werden. Es handelt sich bei ihr ebenfalls um einen verbindlichen, persönlichen Zusammenschluss mehrerer Studenten, die gemeinsam
das Ziel der bestandenen ersten juristischen Prüfung bspw.
mit „Prädikat“ anvisieren. Hierbei müssen sie sich für den
vereinbarten Zeitraum aufeinander verlassen können. Ähnlich
der GbR muss jeder bereit sein, seinen Beitrag zu leisten.
Andernfalls ist die Zielerreichung gefährdet. Es sollten also
rechtzeitig die gegenseitigen Erwartungen formuliert und
verbindlich festgesetzt werden. Hier stellen sich insbes. folgende Fragen: Für welchen Zeitraum beabsichtigt die Gruppe
zusammenzuarbeiten? Wie oft, wie lange und zu welchen
Zeiten sollen die wöchentlichen Sitzungen stattfinden und ist
jeder bereit, die Termine auch konsequent einzuhalten? Soll
der Stoff abstrakt oder eher klausurorientiert aufgearbeitet
werden? Sollen universitäre Veranstaltungen (z.B. Examenskurse) nebenher besucht werden oder konzentriert sich die
Gruppe ausschließlich auf sich selbst? Wie ist zu verfahren,
wenn der Zeitplan nicht gewahrt werden kann? Wie viele
Freizeiten müssen für Urlaube eingeplant werden, um die
„Work-Life-Balance“ aufrecht zu erhalten? Diese und andere
Fragen sollen im Anschluss noch erörtert werden. Letztendlich geht es auch darum, das künftige Leistungspensum zu
bestimmen und sich die Verbindlichkeit der Arbeitsgruppe zu
vergegenwärtigen. Es wird deutlich, dass die wesentlichen
Rahmenbedingungen geklärt werden müssen, bevor die eigentliche Arbeit beginnen kann. Dabei sollte die Bedeutung
dieser Zielsetzung nicht unterschätzt werden. Sie ist Grundlage der persönlichen Zusammenarbeit während eines entscheidenden Zeitraumes des Studiums – der Examensvorbereitung.
5
Die Arbeitsgruppe der Autoren zählte fünf Mitglieder. Eine
höhere Anzahl sollte aber eigener Erfahrung nach vermieden
werden, um passivem Verhalten des Einzelnen in der Gruppe
vorzubeugen.
6
Für die Bezeichnung „AG-Vertrag“ ter Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 4), Rn. 57.
7
Bitter, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 2013, S. 170.
ALLGEMEINES
2. Der Lernplan
Am Anfang der Arbeit in einer privaten Arbeitsgemeinschaft
muss die Erstellung eines gemeinsamen Lernplans stehen.8
Dabei verschafft man sich am besten zunächst durch die
einschlägige Prüfungsordnung des Bundeslandes, in dem
man studiert, einen Überblick über den gesamten Pflichtstoff.9 Ein Lernplan bietet die Möglichkeit die kaum überschaubare Stoffmenge in gut verdauliche „Häppchen“ aufzuteilen und den in der Lerngruppe zu behandelnden Stoff einzugrenzen.10 Außerdem können ganz individuelle Schwerpunkte gesetzt werden. Dabei sollte der Wissensstand der
Mitstreiter ebenso berücksichtigt werden, wie die Hinweise
in den Prüfungsordnungen, nach denen Kenntnisse oft nur „in
Grundzügen“ oder „im Überblick“ erwartet werden. Natürlich muss dem Lernplan eine gewisse Verbindlichkeit zukommen, wenn das Projekt private Arbeitsgemeinschaft
Erfolg haben soll. Andererseits darf der Lernplan aber auch
nicht in dem Sinne sakrosankt sein, dass von ihm unter keinen Umständen abgewichen werden dürfte. Denn oftmals
wird die Bearbeitung eines Themenkomplexes doch mehr
Zeit in Anspruch nehmen, als ursprünglich geplant oder es
kommt durch Krankheit zu Verzögerungen im Ablauf. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang auch „Puffertermine“ im Lernplan, um das permanente Gefühl zu vermeiden, den selbst gesteckten Zielen hinterherzulaufen.11 Ob
man die gemeinsame Arbeit bis kurz vor dem Examenstermin
fortsetzen oder ca. zwei bis drei Monate zuvor einstellen
sollte, ist an sich Geschmackssache. Für Letzteres spricht
allerdings, dass jeder Einzelne so in die Lage versetzt wird,
den noch nicht gänzlich verstandenen Stoff im Selbststudium
zu wiederholen und individuelle Wissenslücken zu schließen.
Die Häufigkeit der wöchentlichen Treffen hängt natürlich
von der Gesamtdauer der geplanten Zusammenarbeit ab. Bei
einer Dauer von 12 Monaten sollten aber nicht weniger als 2
bis 3 Termine in der Woche stattfinden.12 Unabhängig davon,
ob in der Arbeitsgruppe Fälle besprochen oder Vorträge gehalten werden sollen, sollte die Vorbereitung der einzelnen
Termine unter den Mitgliedern der Lerngruppe – entweder
für die gesamte Zeit oder immer am Anfang des Monats –
aufgeteilt werden.13 Dadurch, dass es so immer einen „Exper8
Besonders ausführlich zur Erstellung eines Lernplans ter
Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 4), Rn. 60 ff; Musterlernpläne bei
Deppner/Lehnert/Rusche/Wapler (Fn. 2), S. 167 ff. und ter
Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 4), Rn. 213 ff.
9
Z.B. § 11 JAPO-MV, § 3 JAO-Berlin, § 11 JAG-NRW.
10
Deppner/Lehnert/Rusche/Wapler (Fn. 2), S. 51.
11
Für solche „Leersitzungen“ auch Deppner/Lehnert/Rusche/
Wapler (Fn. 2), S. 54.
12
So wie hier Burian/Schultze/Waldorf (JA 1997, 822 [823]);
für vier Termine in der Woche Lange (Jurastudium erfolgreich, Planung, Lernstrategie, Zeitmanagement, 2011,
S. 278); Gar nur eine wöchentliche Sitzung mit anschließendem gemeinsamen Bier rät Rollmann (JuS 1988, 206 [211]).
13
Zur Rolle des „AG-Leiters“ Lange (Fn. 12), S. 277, sowie
hilfreiche Regeln für die Leitung einer AG auf S. 281 f.;
speziell zur Rolle des „AG-Leiters“ bei Falllösungs-AGs
siehe auch ter Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 4), Rn. 82 ff.
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VARIA
Robert Klose/Stefan Küster/Leon Radde
ten“ für das jeweilige Thema gibt, der den Vortrag hält oder
durch die Lösung des Falles leitet, kann verhindert werden,
dass sich die Lerngruppe in der Erörterung von Nebensächlichem verliert.14 Bei der Aufteilung der Themen sollte darauf
geachtet werden, dass man sich bewusst solche Themen zuteilen lässt, bei denen man sich unsicher fühlt oder große
eigene Wissenslücken vermutet. Denn wer sich einen Themenkomplex zunächst selbst erarbeitet, dann für die Arbeitsgruppe vorbereitet und schließlich anderen vermittelt, lernt
um ein Vielfaches mehr, als derjenige, der den derart vorbereiteten Stoff lediglich konsumiert.15
3. Die Arbeitsweise
Ist der Lernplan erstellt, geht es an die eigentliche Arbeit in
der Gruppe. Der Stoff kann hierbei in den einzelnen Terminen (z.B. ergänzend zum Selbststudium) eher praktisch anhand der Besprechung von Falllösungen oder (z.B. ergänzend
zu den universitären Examenskursen) eher theoretisch durch
Vorträge vermittelt werden.16 Natürlich kann man auch beides kombinieren.17 Ein Vortrag lässt sich leicht durch mehrere kurze Beispielsfälle anschaulicher gestalten. Bei einer
Falllösung können Exkurse gemacht werden, um den Blick
auch auf solche Probleme eines Themenkomplexes zu lenken, die in dem Besprechungsfall nicht angelegt sind. Auch
eine visuelle Unterstützung ist möglich. Ganz gleich, ob
Fallbesprechung oder Vortrag, unerlässlich ist, dass sich alle
Teilnehmer auf die einzelnen Termine der privaten Arbeitsgemeinschaft im Selbststudium vorbereiten. Die aktive, selbständige Erarbeitung des Stoffes kann einem niemand abnehmen – weder ein kommerzieller Repetitor, noch ein Mitglied der Lerngruppe. Auf der anderen Seite sollte derjenige,
der eine Lerngruppensitzung leitet, die Anderen aufrufen und
fordern. Dabei merken die Teilnehmer der Arbeitsgruppe, wo
noch Wissenslücken bestehen und werden motiviert, diese zu
schließen. Insgesamt sollte in der Lerngruppe auf die Verwendung von sachlicher Sprache und juristisch korrekter
Terminologie geachtet werden.18 So kann die private Arbeitsgemeinschaft auch eine gute Vorbereitung auf die mündliche Prüfung darstellen. Wer in der Lerngruppe schon einmal
keine Antwort parat hatte und improvisieren musste, wird
auch in einer ähnlichen Situation in der mündlichen Prüfung
nicht sofort „den Kopf verlieren“, sondern sich tastend einer
Lösung des Problems nähern. Konstruktive und sachliche (!)
Kritik von anderen Mitgliedern der Lerngruppe sollte beherzigt und nicht persönlich genommen werden. Bei unergiebigen Diskussionen ist es zudem hilfreich, sich darauf zu verständigen, den Punkt zunächst auf sich beruhen zu lassen und
14
Lange (Fn. 12), S. 277.
M.w.N Lammers, JuS 2015, 289 (290).
16
Zu den unterschiedlichen Arbeitstechniken Ehlert/Niehues/
Bleckmann, JuS 1995, L 35 f.; dezidiert für ein reines Falltraining in der AG ter Haar/Lutz/Wiedenfels (Fn. 4), Rn. 47.
17
Dafür auch Lange (Fn. 12), S. 275.
18
Beispielsweise sollten etwa Eigentum und Besitz oder
sofortige Vollziehung und sofortiger Vollzug auseinandergehalten werden.
15
zu Beginn des nächsten Lerngruppentermins, nach weiterer
Lektüre in der Bibliothek, zu klären („Faktencheck“).
4. Der Umgang mit Rückschlägen und Verzögerungen
Bereits bei der Erstellung des Lernplanes gilt es persönliche
Rückschläge und Unterbrechungen zu berücksichtigen, die
der oft langwierigen Examensvorbereitung immanent sind.
Leistungseinbrüche, Motivationsmängel sowie längere Erkrankungen können unvermittelt auftreten und die Kontinuität des Lernprozesses stören. Gruppendynamische Effekte
(z.B. Streit und Ablenkung) gefährden das Vorankommen der
Arbeitsgruppe. Nicht zuletzt muss der verdiente Urlaub im
Auge behalten werden.
a) Motivation und plötzliche Leistungseinbrüche
Jura ist ein grundsätzlich undankbares Studium, weil es Fleiß,
Disziplin und Entbehrung nur mühsam zu honorieren weiß.
Je nachdem, wie ernsthaft die Klausuren in den Scheinen angegangen wurden, kann es trotz ausgefeilter Lern- und Zeiteinteilung mehrere Monate dauern, bis sich all die Mühen
auch in den Ergebnissen niederschlagen. Diese Durststrecke
gilt es zunächst zu überwinden. Motivation kann darin gefunden werden, dass auch die eigenen Mitstreiter meist dieselben
Schwierigkeiten haben. Insbesondere plötzliche Leistungseinbrüche können tiefe Panik hervorrufen und sind nicht
selten bei sonst starken Kandidaten zu beobachten. Dies ist
freilich nicht immer ein schlechtes Zeichen: Hat man eine
Materie entsprechend tief „durchgraben“, erschließen sich
vielfach neue Probleme und Zusammenhänge. Nicht immer
lassen sich diese Erkenntnisse sogleich mit der eigenen
Gutachtentechnik korrekt umsetzen und erfordern bisweilen
ein Abweichen von herkömmlichen Schemata. Mag dies auch
zu Beginn eher schlecht gelingen, zahlen sich Frustrationstoleranz und Hartnäckigkeit doch zumeist aus. Gerade jetzt
heißt es also: Dran bleiben und weiter machen!
b) Unterbrechungen während der Lernphasen
Es gibt Zwischenfälle wie Krankheiten, die sich nicht verhindern lassen. Daher sollten Puffertermine im Kalender stehen,
die den Zeitverlust durch solche Begebenheiten abfedern.
Sollte man doch ohne Krankheit durch die Vorbereitung
gehen, kann man sich über zusätzliche Arbeitszeit freuen.
Durch Puffertermine ebenfalls zu berücksichtigen sind sonstige universitäre Prüfungsleistungen. Zeitintensiv ist insbesondere die Vorbereitung auf den universitären Teil des
Examens. So können Seminararbeiten, mündliche Prüfungen
oder Schwerpunktklausuren in den Zeitrahmen der Vorbereitung fallen. Auch hier ist im Vorfeld großzügig bei der Zeiteinteilung zu verfahren, um später nicht in Zeitnot zu geraten.
Innerhalb der Arbeitsgruppe ist nun darauf zu achten, die
jeweiligen Aufgaben dergestalt zu verteilen, dass derjenige,
der sich nebenbei auf Leistungen im Schwerpunkt konzentriert, entlastet wird. Ein völliges „Aussteigen“ ist freilich
nicht zu empfehlen, da es die Gefahr begründet, den An-
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Mit der Arbeitsgruppe zum Prädikat
schluss zu verlieren.19 Es stellt bspw. bereits eine deutliche
Entlastung dar, keine Vorträge vorbereiten zu müssen. Allein
das Zuhören, Dabeisein und Mitdiskutieren stellt bereits
einen Lerneffekt dar, auf welchen (trotz zu erbringender
Schwerpunktleistungen) nicht verzichtet werden sollte.
c) Urlaub
Urlaub ist genauso wichtig wie Pausen. Das Gehirn braucht
Zeit, um Inhalte zu speichern und zu transferieren. Auch
dient es der Motivation, wenn man um gewisse Durchbrechungen des Lerntrotts weiß. Im Urlaub sollte daher auf jede
Tätigkeit, die sich auch nur im Entferntesten mit Jura beschäftigt, verzichtet werden. Hinsichtlich der Dauer kommt
es auf die individuellen Bedürfnisse an. Nicht unter einer
Woche und nicht mehr als vier Wochen kann hierbei als
grobe Richtung vorgegeben werden. Wichtig für den eigenen
Seelen- und Urlaubsfrieden ist dabei, dass der bis zum Urlaubsbeginn geplante Stoff auch tatsächlich durchgenommen
wurde.
d) Ablenkung und Streit
Dass Ablenkungen (gleich welcher Form) in der Examensvorbereitung kontraproduktiv sind, sollte jedem bewusst sein
– einer aufkommenden Nachlässigkeit ist konsequent entgegenzutreten. So kann sich zum Beispiel für wiederholende
Verspätungen eine Strafkasse bewähren. Die eleganteste und
einfachste Lösung bleibt es, sich seiner Verpflichtung gegenüber der Lerngruppe bewusst zu werden, und mahnend einzugreifen, wenn das Lerngespräch in weniger juristische
Gefilde abzurutschen droht. Schlimmer und unter Umständen
unumkehrbar sind Streitigkeiten innerhalb der Gruppe.
Grundsätzlich lässt sich Streit niemals ausschließen. Vielfach
hilft es jedoch, Themen direkt und zeitnah anzusprechen. Ist
eine Besserung nicht in Sicht, muss eruiert werden, ob das
Projekt noch gewinnbringend fortgeführt werden kann oder
besser (im Interesse aller Beteiligten) aufzulösen ist.
III. Klausurtraining
Unabhängig davon, ob man sich alleine oder in der Gruppe
auf das Examen vorbereitet, sollte das Klausurschreiben nicht
vernachlässigt werden. Schließlich stellt die schriftliche Falllösung auch den Schwerpunkt der ersten juristischen Prüfung
dar. Wer regelmäßig Fälle löst, lernt gleich in vielerlei Hinsicht. Zum einen entwickelt sich eine gewisse Routine im
Umgang mit unbekannten Fällen. Diese ist nötig, um in der
Klausursituation einen kühlen Kopf zu bewahren. Das erste
Zurechtfinden im Fall, die Erstellung der Lösungsskizze und
die anschließende Reinschrift erfordern ein striktes Zeitmanagement. Dieses lässt sich nur durch ständige Übung entwickeln. Wer bei Übungsklausuren gleich drauf los schreibt und
sich ein planvolles Vorgehen für den Ernstfall im Examen
19
Auch stellt es keine Lösung dar, den sich aufstauenden
Stoff „nach hinten“ zu verlagern. Vielmehr wird dadurch die
Gefahr begründet, dass aus Bequemlichkeit Themenbereiche
nicht mehr nachgeholt und vernachlässigt werden oder keine
Zeit für Wiederholungen bleibt.
ALLGEMEINES
vorbehält, wird möglicherweise ein böses Erwachen erleben.
Wer hingegen bereits von Beginn an ein strukturiertes Vorgehen einübt, kann sich im Examen auf den Fall konzentrieren, ohne in Zeitnot zu geraten. Zum anderen festigt ein regelmäßiges Klausurtraining nicht nur den eigenen Schreibstil
und den Umgang mit der Terminologie. Es prägen sich überdies auch häufig vorkommende Definitionen und Obersätze
(z.B. zur Begründetheit der verwaltungsgerichtlichen Klagen)
automatisch ein und lassen sich im Examen ohne geistige
Anstrengung „abspulen“. Dies bringt nicht zu unterschätzende Sicherheit in der Klausursituation und hält einem den
Blick für die wirklichen Schwerpunkte des Falls frei. Nicht
zuletzt muss das abstrakte Wissen im konkreten Fall auch
angewandt werden. Auf diesem Weg lässt sich eine wirksame
Selbstkontrolle dahingehend erzielen, ob der Stoff auch richtig verstanden wurde und wo noch Nachholbedarf besteht.
Eine Mindestanzahl an geschriebenen Klausuren, die einem
ein bestimmtes Examensergebnis garantieren würde, gibt es
zwar nicht. Jüngere Untersuchungen deuten jedoch deutlich
auf einen Zusammenhang zwischen der Anzahl absolvierter
Übungsklausuren und dem Examensergebnis hin.20 Es spricht
also vieles dafür, sich ausreichend Zeit für das Klausurtraining einzuplanen.
Grundsätzlich gibt es mehrere Wege, das Klausurschreiben zu trainieren. Ein denkbarer Weg ist es, ein Fallbuch
systematisch durchzuarbeiten und Fall für Fall schriftlich zu
lösen. Hierfür steht ein nahezu unüberschaubares Arsenal an
Literatur zur Verfügung.21 Die Arbeit mit Fallbüchern hat den
Nachteil, dass zur Überprüfung der eigenen Lösung nur die
vorgegebene Lösungsskizze zur Verfügung steht. Abweichende Ansätze können im Zweifel nicht auf ihren Wertgehalt überprüft werden, mögen sie auch durchaus brauchbar
sein. Daher scheint eine andere Methode (ergänzungsweise)
vorzugswürdig: Bietet die Universität einen Examensklausurenkurs oder ein Probeexamen an, sollten diese Veranstaltungen unbedingt regelmäßig wahrgenommen werden. Sie
bieten die Möglichkeit, Examensklausuren unter Originalbedingungen zu schreiben. Gleichzeitig erfolgt eine individuelle
Korrektur, die eigene Ansätze berücksichtigt und persönliche
Schwachstellen aufzeigt. Hierbei ist wichtig, dass nur auf
zugelassene Hilfsmittel zurückgegriffen wird, um die Examenssituation hinreichend zu simulieren.22
Wer mit dem Klausurenkurs beginnt, wird die gewünschten Ergebnisse in aller Regel nicht sofort erzielen. Besonders
zu Beginn mag sich Ernüchterung ausbreiten, können die
erhofften Punkte oft nicht gleich erreicht werden. Nicht selten
muss zunächst eine Reihe an Klausuren durchlaufen werden,
bis sich erste Erfolge zeigen. Anmerkungen des Korrektors
mögen mitunter kränkend wirken und an den eigenen Fähigkeiten zweifeln lassen. Dem sollte man mit einer gesunden
20
Zur Benotung in der Examensvorbereitung und im ersten
Examen Towfigh/Traxler/Glöckner, ZDRW 2014, 8 (12).
21
Als Beispiel für ein geeignetes Werk unter vielen Preis/
Prütting/Sachs/Weigend, Die Examensklausur, 5. Aufl. 2013.
Hier bietet sich die Möglichkeit anhand von Originalfällen zu
üben.
22
So auch Lemmerz/Bienert, Jura 2011, 335 (340).
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Robert Klose/Stefan Küster/Leon Radde
Distanz begegnen und sich nicht kleinkriegen lassen. Letztlich ist der persönliche Erkenntniswert aus einer schlechten
Klausur bisweilen höher, als aus einer guten. Am Ende gewinnt der eigene Erfahrungsschatz mit jeder geschriebenen
Klausur dazu, unabhängig davon, was im Einzelnen an Punkten erreicht wurde.
IV. Der Lernurlaub
Es gibt Themenbereiche, die auch bei fortgeschrittenen Studenten unbeliebt sind und sich nicht immer problemlos in den
allgemeinen Lernstoff integrieren lassen. Je nach Interesslage
sind hierbei vor allem das Arbeits-, Handels-, Gesellschafts-,
Familien-, Erb- und Europarecht zu nennen. Um diese
Rechtsgebiete im Block zu besprechen, bietet sich ein Lernurlaub an. Denn erfahrungsgemäß sind es gerade die Nebenfächer, die gerne nach hinten verschoben werden, um anschließend dem Mut zur Lücke zum Opfer zu fallen. Empfehlenswert ist ein ruhiger Ort, am besten in der Natur. Dies
sorgt für Abwechslung und schweißt darüber hinaus die
Gruppe zusammen. Nach den Autorenerfahrungen war ein
solcher Urlaub äußerst fruchtbringend und ruft immer noch
schöne Erinnerungen hervor. Hinsichtlich der Lerninhalte
bietet es sich an, vormittags den materiellen Stoff durch eine
Person vorstellen zu lassen und nach der Mittagspause anhand von vorbereiteten Fällen zu vertiefen. Am nächsten Tag
können im Vorfeld des nächsten Themenblocks die wichtigsten Definitionen und Probleme gemeinsam wiederholt werden. Wichtig für einen gelungenen Lernurlaub sind insbesondere zwei Aspekte: Zum einen steht immer noch das Lernen
und nicht der Urlaub im Vordergrund. Zum anderen muss
jeder das ihm zugewiesene Thema aufbereitet und auch verstanden haben. Nur so wird gewährleistet, dass alle Mitstreiter mit einem Wissenszuwachs aus dem Lernurlaub gehen.23
V. Fazit
Es hat sich gezeigt, dass mit der notwendigen Selbstdisziplin,
dem richtigen Plan und einer strukturierten Arbeitsweise in
der Gruppe, ein erfolgreiches Abschneiden im Examen möglich ist. Das Geld für ein kommerzielles Repetitorium kann
daher getrost für die schönen Dinge des Lebens verwendet
werden. Die Autoren hoffen, dass dieser Aufsatz Mut macht,
selbst den skizzierten Weg einzuschlagen und wünschen
hierfür das nötige Durchhaltevermögen und viel Erfolg. Oder
um es mit den Worten des britischen Staatsmannes Benjamin
Disraeli zu sagen: „Das Geheimnis des Erfolges ist die Ausdauer in Bezug auf ein Ziel.“
23
Zur weiteren Vertiefung Deppner/Lehnert/Rusche/Wapler
(Fn. 2), S. 62.
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