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8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 227
sche Außenminister Jules Favre wandte sich an die europäischen
Mächte, in der Hoffnung, daß diese einen Friedensschluß ohne Gebietsabtretungen vermitteln würden, aber er mußte feststellen, daß
England, Rußland, Italien und Österreich eigentlich Gründe hatten,
mit Frankreichs Niederlage ganz zufrieden zu sein. In der Zwischenzeit setzten sich im Landesinnern die militärischen Niederlagen fort,
obwohl der neue Innenminister Léon Gambetta (1838 bis 1882)
600.000 Mann bewaffnete. Paris fiel und wurde besetzt, am 18. Januar 1871 wurde im Versailler Spiegelsaal der preußische König zum
deutschen Kaiser proklamiert.
8
Die Dritte Republik von der Entstehung bis zum Ende des
Ersten Weltkriegs
Nach 1870 setzte auf allen Gebieten (Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur) eine neue Institutionalisierungswelle ein,
die jene der Französischen Revolution übertraf; hier bildete sich jener
Nationalkörper aus, der auch uns als Zeitgenossen noch vertraut ist.
8.1 Der Weg in die Dritte Republik (1870 – 1879)
Die Ausrufung der Republik
Am 4. September 1870, drei Tage nach der Niederlage von Sedan,
wurde vom Pariser Hôtel de Ville aus die Republik ausgerufen, was
der tatsächlichen Stimmung im Land weit vorausgriff. Zugleich
wurde in Paris eine „Vorläufige Regierung der nationalen Verteidigung“ zusammengesetzt, bestehend u. a. aus Louis Jules Trochu (ein
General, von Napoleon III. als Gouverneur von Paris eingesetzt; Ministerpräsident), Jules Favre (Außenminister) und Léon Gambetta (Innenminister), der den militärischen Widerstand organisierte. Während diese drei anfangs in Paris amtierten, bezog der Rest der Regierung Quartier in Tours, später in Bordeaux. Nachdem Paris gefallen
war, wurde gemäß dem Waffenstillstandsabkommen vom 28./29.
Januar in Frankreich am 8. Februar 1871 eine Nationalversammlung
(assemblée nationale constituante) unter Anwendung des Wahlgesetzes
vom März 1849 gewählt, die in Bordeaux zusammentrat. Die Monarchisten, nicht die Republikanhänger, verfügten über eine überwältigende Mehrheit. Die Versammlung wählte Jules Grévy zu ihrem
Präsidenten (Rücktritt am 1. April 1873) und Adolphe Thiers zum
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„Chef der Exekutive der Französischen Republik“, der sich im Sommer 1870 gegen den Krieg ausgesprochen hatte und geeignet erschien, das in der gegebenen Situation Bestmögliche für Frankreich
auszuhandeln. Thiers mußte die Friedensverhandlungen führen. Bismarck forderte das Elsaß und Teile Lothringens sowie die Städte Metz
und Belfort, außerdem 6 Mrd. FF Kriegsentschädigung. Bismarck
blieb damit bewußt hinter den abstrusen Forderungen zurück, die
z. T. in Deutschland erhoben wurden, da ihm an einem schnellen
Frieden lag, bevor sich andere Mächte doch auf seiten Frankreichs
einmischten. Manche Städte und Privatpersonen wollten die Gelegenheit nutzen und Schulden aus der Zeit Napoleons I. eintreiben
lassen; Inhaber von Revolutionsassignaten, die sie nicht mehr losgeworden waren, wollten entschädigt werden; schließlich wurde über
die Rückgabe von Kunstwerken und Manuskripten gesprochen, die
französische Soldaten im Dreißigjährigen Krieg, in den Revolutionskriegen oder in der napoleonischen Zeit mitgenommen hatten. Man
sieht, daß geistig noch keineswegs ein wirklicher Bruch mit der
Frühen Neuzeit geschweige denn mit der Revolutionszeit vollzogen
war.
Die Zukunft belasten: Deutsch-französische Beziehungen
Am 1. März 1871 marschierten die deutschen Truppen in Paris ein;
ursprünglich hatte Bismarck einen solchen Schritt nicht angestrebt,
es war dies ein Ergebnis der in den Verhandlungen modifizierten
Kriegsforderungen. Am 18. März 1871 brach in Paris ein Bürgerkrieg
aus, der unter dem Namen des Kommune-Aufstands bekannt ist. Der
Aufstand stellte die französische Regierung vor erhebliche Probleme
und zwang Bismarck, einer militärischen Aufrüstung Frankreichs
entgegen den Waffenstillstandsbedingungen zuzustimmen. Die deutsche Besatzungsmacht verhielt sich offiziell neutral, prinzipiell wurde
mit der französischen Regierung zusammengearbeitet. Auch Thiers
suchte die Zusammenarbeit mit den Deutschen, was psychologisch
freilich den Franzosen schwer zu vermitteln war. Am 10. Mai 1871
wurde zwischen den beiden Ländern der Friedensvertrag von Frankfurt geschlossen, der auch einen Plan für die Abfolge der Reparationszahlungen und des Truppenabzugs enthielt. Die Zukunft der Beziehungen beider Länder war aufs Schwerste belastet: die Elsaß-Lothringen-Frage, die Milliarden-Reparationen, die Deutschland den Vorwurf einbrachten, seine moderne Industrie im Kaiserreich mit den
französischen Milliarden finanziert zu haben, schließlich die Besat-
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zungszeit, die sich in vieler Hinsicht zum Alptraum entwickelte. Die
schleppende Umsetzung der Abkommen, Attentate sowie eine ausgesprochene Besatzermentalität der Truppen schaukelten sich gegenseitig hoch und gruben sich tief als preußischer Terror in das nationale Bewußtsein Frankreichs ein. Gerade deshalb gehört es zu den
erstaunlichsten Eigenschaften der Epoche seit 1871, daß Deutschland
in vieler Hinsicht bewußt als Modell begriffen wurde und sich, solange Bismarck die deutsche Außenpolitik lenkte, sogar freundschaftliche Beziehungen entwickelten, von denen vorwiegend die
französische Kolonialpolitik profitierte.
Der Kommune-Aufstand in Paris
Am 10. März waren die Regierung und die Nationalversammlung
von Bordeaux nach Versailles übergesiedelt. Dieser Schritt bekräftigte
die monarchistische Gesinnung der Versammlung einerseits, und den
Pariser radikalen Republikanismus andererseits. Beide knüpften damit an die spannungsvolle Bipolarität der beiden historisch bedeutsamen Gedächtnisorte Versailles contra Paris an. Das „Zentralkomitee“
der Pariser Republikaner erklärte das Département Seine zur autonomen Republik. Der Versuch der Regierung, die Macht der Nationalgardisten in Paris zu brechen, führte zum eigentlichen Aufstand der
Kommunarden. Thiers zog alle loyalen Truppen aus der Stadt ab und
ließ diese regelrecht belagern. Der am 26. März gewählte und extremistisch dominierte Conseil général des Département sowie das
erwähnte Zentralkomitee übernahmen die Macht in Stadt und Département und gaben diesem politischen Gebilde den Namen Commune de Paris. Symbolisch wurde die Kommune an die radikale erste
Republik angelehnt, angefangen bei einem Wohlfahrtsausschuß als
Exekutivgewalt. Die Pariser Kommune machte in einigen Großstädten wie Lyon und Marseille sowie anderen Schule. Ziel war ein
lockerer Verband autonomer Kommunen sozialrevolutionärer Prägung. Die Regierung schickte Marschall Mac-Mahon an die Front um
Paris. Ihm und anderen gelang die Einnahme der Stadt. Die Woche
vom 21. bis 28. Mai 1871 war eine der blutigsten, die Paris je erlebt
hatte. Auf seiten der Kommunarden fielen etwa 17.000 Menschen,
viele in Paris verbliebene Gegner der Kommune wurden von den
Kommunarden exekutiert.
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Drei Verfassungsgesetze retten die Republik (1875)
Solange Adolphe Thiers im Amt blieb, war die am 4. September 1870
ausgerufene Republik nicht ernsthaft gefährdet. Seit August 1871
war Thiers auch Präsident der Republik. Obwohl er selber eher den
gemäßigten Monarchisten zuzurechnen war, hatte er die Lage richtig
eingeschätzt, wenn er in einer konservativen Republik ein in Frankreich konsensfähiges Modell erblickte. Dennoch zerstritt sich die
Nationalversammlung über diese Frage und stürzte Thiers im Mai
1873 durch ein Mißtrauensvotum. An seine Stelle trat der Marschall
Mac-Mahon als Präsident (1873 bis 1879), von dem die Restauration
des Königtums erwartet wurde. Die Bonapartisten mit Prinz Louis
Napoleon hatten keine Aussicht auf Erfolg; Graf Heinrich von Chambord, Haupt der Bourbonen, war kinderlos geblieben; die besten
Aussichten besaß folglich Louis Philippe von Orléans (Graf von Paris).
Auch wenn die Nationalversammlung monarchistisch gesinnt war,
so stand für die meisten der Abgeordneten außer Frage, daß es sich
nur um eine konstitutionelle Monarchie handeln könne. Da Heinrich
von Chambord als potentieller König Heinrich V. jedoch die Wiedereinführung des Lilienbanners anstelle der Trikolore forderte, schien
die Gefahr einer Restauration des Ancien Régime am Horizont aufzutauchen. Die Aussicht auf einen neuen Bürgerkrieg, denn nichts
anderes wäre zu erwarten gewesen, rettete das Provisorium Republik. Am 30. Januar (Septennat des Präsidenten), 24./25. Februar
(Organisation der Exekutive) und 16. Juli 1875 erließ die Nationalversammlung drei Verfassungsgesetze, an deren Vorbereitung drei sehr
gegensätzliche Politiker maßgeblich beteiligt gewesen waren: Thiers,
Gambetta und der konservative Herzog von Broglie. Die Chambre des
députés sollte alle vier Jahre in allgemeinen (nur Männer), gleichen
und direkten Wahlen bestimmt werden; die zweite Kammer, der
Senat, sollte sich aus Vertretern der Départements und Gemeinden
zusammensetzen; die Amtszeit dauerte neun Jahre, alle drei Jahre
wurde ein Drittel der Senatoren ersetzt. An der Spitze des Staates
stand der Präsident mit einer Amtszeit von sieben Jahren, es galt das
Prinzip der Ministerverantwortlichkeit. Wenn die Regierung keine
Mehrheit im Abgeordnetenhaus fand, mußte sie laut Gesetz zurücktreten. Die Dritte Republik erlebte deshalb mehrere Dutzend Kabinette, trotzdem wurde sie eine starke Republik. Den ersten drei Verfassungsgesetzen folgten weitere: vier zur Verfassungsgerichtsbarkeit
unter der Ägide von Jules Grévy (1807 bis 1891); fünf, die das Republikanische Programm unter Jules Ferry (1849 bis 1914) in Gesetzes-
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form brachten. 1889 war die Verfassungsgesetzgebung abgeschlossen.
Im 6. Kapitel war darauf hingewiesen worden, daß es sich bei den
Generalständen bzw. der Nationalversammlung von 1789 um das
größte und bis dahin demokratischste Experiment in der europäischen Geschichte gehandelt hatte. Um 1870/75 kannten nur die deutsche Reichsverfassung, die USA und die Schweiz das in den Gesetzen
von 1875 festgeschriebene Wahlrecht, England zog erst 1885 mit
einer Wahlrechtsreform nach.
Die Festigung der Republik (1877)
Die Nationalversammlung hatte ihren Dienst getan, 1876 wurden
Neuwahlen durchgeführt. Die Spannungen zwischen Republikanern
und Monarchisten, die immer auch Spannungen zwischen den Prinzipien des Laizismus und Katholizismus bedeuteten, veranlaßten
Mac-Mahon, das Parlament aufzulösen und im Oktober 1877 neu
wählen zu lassen. Wollte der Präsident nun den Weg zur Monarchie
freiwählen lassen? Es kam anders, die Republikaner erhielten eine
satte Mehrheit im neuen Parlament. Dies bestätigte einen mehrjährigen Trend, denn die meisten Nachwahlen, die seit 1871 stattgefunden hatten, waren zugunsten der Republikaner ausgegangen.
Schon vor 1875 hatte die Versammlung mehrere Gesetze erlassen, die
dem Verfassungsrecht zuzurechnen sind und mit denen die Republik
als Staatsform gefestigt wurde. Auch in den Départements kippten
die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Republikaner, so daß sie seit
1879 im Senat die Mehrheit stellten. Mac-Mahon trat zurück. Der
Erfolg der Republikaner war ein Erfolg der gemäßigten Kräfte um
Jules Ferry und Jules Grévy, der 1879 zum dritten Präsidenten der
Republik gewählt wurde. Selbst Gambetta, der seit November 1871
das scharfzüngige Blatt „La République française“ herausgab, zeigte
sich betont zurückhaltend, so daß ihm 1881 bis zu seinem Tod 1882
das Amt des Ministerpräsidenten übertragen wurde.
Zuvor ernannte Grévy jedoch einen Protestanten, Waddington,
zum Regierungschef. Die Protestanten kämpften nach wie vor um
eine Anerkennung als konstitutive politische Kraft. Symptomatisch
war das Engagement protestantischer Geisteswissenschaftler für die
Erforschung der Geschichte der Grund- und Menschenrechte unter
besonderer Berücksichtigung protestantisch-hugenottischer Leistungen seit der Reformation.
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8.2 Nationalkörper: Dritte Republik und der Centenaire der
Französischen Revolution
Republik, Sport, Nation
Nachdem die Republik schrittweise Verfassungswirklichkeit geworden war und die republikanischen Kräfte eine mehrheitliche Unterstützung der Bevölkerung gewonnen hatten, wollte sich so etwas wie
eine planmäßige Gestaltung der Republik einstellen. Die wichtigsten
Impulse wurden aus der Revolution von 1789, 1792, und 1794 bis
1799 gewonnen. Noch 1879 verlegten die Kammern ihren Tagungsort nach Paris, wurden die Marseillaise zur Nationalhymne, die Trikolore zur Nationalflagge und der 14. Juli als Tag des Bastillesturms zum
Nationalfeiertag erklärt. Seit der Revolution 1789 ff. bedurfte der Versuch eines umfassenden Neuanfangs, als der der Beginn der Dritten
Republik zu werten ist, offenbar auch der Schöpfung eines ,neuen
Menschen’, zumindest eines neuen Typs von republikanischem
Mann. Hebel hierzu war der Sport, der als Schulfach „Gymnastik“ mit
Gesetz vom 27. Januar 1880 in den Pflichtlehrplan der Schulen eingebaut wurde. „Die Vermittlung der republikanischen Ideologie hat (. . .)
zu einer Verinnerlichung von Werten und Einstellungen, von Verhaltens- und Sprachformen geführt. Hierzu bedurfte es insbesondere
in der Anfangszeit der Dritten Republik einer politischen Pädagogik,
die den Worten und Diskursen durch adäquate Bewegungsformen
Ausdruck verleihen sowie Verstand und Gefühl, Worte und Handlungen in Einklang bringen konnte. Die jungen Franzosen mußten
ihren Körper neu erfahren; die Gymnastik sollte auf den Habitus des
einzelnen in ähnlicher Weise wirken wie die französische Normsprache auf die verschiedenen Dialekte. Ähnlich wie die Sprachpolitik gehörten die Bestrebungen, in die Körperpraxis der Franzosen
einzugreifen, zu den Aspekten der kulturellen ,Nationalisierung der
Massen’, welche die ,einige und unteilbare Republik’ als Verkörperung der nationalen Gemeinschaft zementieren sollten.“ (Pierre Arnaud/André Gounot) Die Gymnastik wurde als Vorstufe weiterer militärisch-patriotischer Ausbildung der Jungen und jungen Männer
verstanden. In den ersten Jahren wurden gymnastische Darbietungen auch bei öffentlichen Zeremonien in das Festprogramm eingebaut. Dies erwies sich nicht auf Dauer als erfolgreich, bereitete aber
dem Massensport den Boden. Die entstehenden Sportvereine, die
vom ursprünglichen Gymnastik (Turn-)Konzept Abstand genommen
hatten, prägten das französische Vereinswesen maßgeblich.
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Die Republik zwischen Laizismus und Kirche
Die erste Hälfte der 1880er Jahre wurde nachhaltig von Jules Ferry
als zweimaligem Regierungschef und langjährigem Minister für das
Schul- und Bildungswesen geprägt. Mit seinem Namen und dem
Schulgesetz von 1882 ist die französische Volksschule verbunden –
eine Volksschule laizistischer, republikanischer Ausrichtung. Der
Schulbesuch wurde Pflicht, die Wirkungsmöglichkeiten der kirchlichen Schulen allmählich zurückgeschnitten. Weitere Maßnahmen
bereiteten die erst 1905 endgültig vollzogene Trennung von Staat und
Kirche und institutionalisierter Gesellschaft und Kirche vor: Wiedereinführung der Ehescheidung, in öffentlichen Gebäuden durften
keine Kruzifixe mehr aufgehängt werden, das Parlament verzichtete
künftighin auf das Eröffnungsgebet. Weitere Maßnahmen folgten,
bei denen sachliche Gründe und symbolische Absichten zusammengingen und die von historischen Vorausleistungen der Gesellschaft
profitierten. Seit dem 18. Jh. ließ sich beobachten, daß ländliche Gemeinden Wert auf den Bau von Gemeindehäusern legten, in denen
zumeist auch die Schule untergebracht wurde, und daß dies nicht
selten auf Kosten von Aufwendungen für Kirchenbauten bzw. -reparaturen geschah. Das Munizipalgesetz von 1884 machte den Bau von
Rathäusern zur Pflicht. Der republikanische und nationale Charakter
(national im Gegensatz zu lokal oder regional) der Bauten wurde
durch die Figur der Marianne, die Nationalsymbole der Republik und
Inschriften („Liberté – Égalité – Fraternité“) herausgestrichen. Aufgrund der „Union von Thron und Altar“ unter Napoleon III. waren
seit 1850 zahllose Kirchen neu gebaut worden, die Republik hatte
baulich einiges nachzuholen, wenn sie in der öffentlichen Architektur stärker wahrgenommen werden wollte. Deutlicher als im 18. Jh.
bestimmte damit das Rathaus als der republikanische Profanbau neben der Kirche die Architektur des öffentlichen politischen Raumes
in den Kommunen, aber aus den Glaubens- und Wallfahrtsbewegungen der Zeit entstanden gleichfalls architektonische Monumente,
unter denen in Paris die sehr umstrittene Basilika Sacré-Cœur im
byzantinischen Stil (1875 bis 1910 gebaut) oder die Wallfahrtskirche
von Lourdes besonders zu nennen sind. Sacré-Cœur war u. a. der
Sühne für die Kommune geweiht. . .
Der Centenaire der Revolution
1889 jährte sich die Französische Revolution zum einhundertsten
Mal. Es traf sich gut, daß der amtierende Präsident Sadi Carnot einen
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berühmten Vorfahren aus der Revolutionszeit, Lazare Carnot (1753
bis 1823), den Organisator der levée en masse, vorweisen konnte. Das
Jubiläum wurde genutzt, um die Republik visuell und geistig in die
politische Vorstellungswelt der Bevölkerung einzuprägen, es wurde
mit einer Weltausstellung gefeiert, die mehr als 33 Millionen Besucher anzog. Unter anderem wurde die Bastille rekonstruiert. 34.000
französischen Ausstellern standen lediglich 6.000 nicht-französische
gegenüber; dies belegt gut, wie sich Frankreich selber feierte. Der
ausdrückliche Bezug auf 1789 veranlaßte Deutschland und Montenegro zum Boykott der Ausstellung, andere Länder wie ÖsterreichUngarn, Großbritannien, Belgien und die Niederlande nahmen nicht
offiziell teil. Die Zurschaustellung bestimmter „moderner“ Werte wie
„Perfektionierung“ als Ziel der französischen Nation am Beispiel des
Eiffelturms erinnern nicht nur an die Zeit des revolutionären Direktoriums und Napoleons I., sondern auch an die Ziele und Werte der
ersten Phase der Alleinherrschaft Ludwigs XIV. in den 1660er bis
1680er Jahren.
Die absolute Republik
Die hundert Jahre, die seit der Revolution von 1789 vergangen waren, hatten immer wieder das Problem der Legitimität auf die Tagesordnung gesetzt. Die Revolution war damals von der Überzeugung
ausgegangen, daß ein Staatswesen auf der Grundlage einer vernunftgemäßen geschriebenen Verfassung aufgebaut werden könne und
dann auch funktioniere. Die Verfassung war als Ersatzgott zelebriert
worden. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Erfahrung gemacht, daß die historische Legitimation einer Monarchie, die sich
selber eine ungebrochene Kontinuität seit den Kapetingern, ja seit
Chlodwig, nachgesagt hatte, nicht durch eine Verfassung neuen Typs
einfach aus der Welt und dem politischen Unterbewußtsein zu schaffen war. Die ersten zwei Jahrzehnte der Dritten Republik leiteten in
dieser Beziehung die Wende ein. Das Parlament war in gewissem
Sinn absolut. Mac-Mahon war der erste und letzte und einzige Präsident in der Dritten Republik, der das Parlament auflöste, der glaubte,
den Sturz der Regierung durch den „Sturz“ des Parlaments verhindern zu können. Danach stürzten die Regierungen über das Parlament, und das Parlament blieb. Im historischen Gedächtnis der Republik wurde Mac-Mahons „Staatsstreich“ vom 16. Mai 1877 in eine
Reihe mit den Staatsstreichen vom 18. Brumaire des Jahres VIII und
dem 2. Dezember 1851 gestellt. Stetig baute das Parlament an der
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Rechtsgrundlage der Republik, bei aller politischer Gegensätzlichkeit
der Abgeordneten. Es war dieser Beharrlichkeit zu verdanken, daß
die Inszenierungen von 1889, die mit der Französischen Revolution
versöhnen wollten, tatsächlich integrierende Effekte erzielten: Das
Problem der historischen Legitimität war zwischen 1871 und 1889
prinzipiell gelöst worden. An die Stelle der historischen Legitimität
der Monarchie war die nunmehr historische Legitimität der Republik
getreten. (Odile Rudelle)
Folgt man der Interpretation von Odile Rudelle, so lag das Geheimnis dieses Erfolgs darin, daß das Parlament vom Verständnis einer
„République une et indivisible“ ausging, ebenso wie der Monarch in
Frankreich „un et souverain“ gewesen sei. Dies spielt darauf an, daß
das Parlament letztlich die Regierung auf eine bestimmte Linie
zwang und keinen umfassenden politischen Pluralismus zuließ. In
dieser Verhaltensweise sieht Rudelle im übrigen eine der Ursachen
für die Skandale und Affären der Dritten Republik, die gewissermaßen das Ventil für die politisch Ausgegrenzten bildeten. Für Rudelle
war es eine „République absolue“ – in Anspielung auf die „Monarchie
absolue“.
8.3 Krisen und Affären
Der Boulangismus
1889 war nicht nur ein Jubiläumsjahr, sondern auch das Jahr des
Boulangismus. Die Bezeichnung leitet sich vom General Georges
Boulanger her, der das Land an den Rand eines exzessiven Nationalismus brachte. Die Ursachen reichten tiefer: Als Bismarck 1882 den
Dreibundvertrag gegen Frankreich schmiedete, litt das Land unter
einer Wirtschaftsdepression. Die Gründung einer Ligue des Patriotes
1882 unter der Schirmherrschaft u. a. von Waldeck-Rousseau durch
den „Revanchisten“ Paul Déroulède half, die nationalen Frustrationsgefühle zu katalysieren. Ferry wurde 1885 von Georges Clemenceau
(1841 bis 1929) gestürzt. Während Ferry die Kolonialpolitik vehement vorantrieb, stand Clemenceau eher für den Revanche-Gedanken und räumte der Politik gegenüber dem Deutschen Reich Priorität
ein. Die Einführung des Listenwahlrechts stärkte bei den Urnengängen 1885 die extremen rechten und linken Ränder, so daß es
schwierig wurde, stabile Regierungskabinette zu bilden. Eine Affäre
um den Schwiegersohn des Staatspräsidenten Grévy ließ in der
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Presse den Eindruck entstehen, als werde das Präsidentenamt mißbraucht. Grévy trat zurück. In diesen Jahren stieg der brillante republikanische General Georges Boulanger (1837 bis 1891) zum Kriegsminister (1886/87) auf. Zum einen reformierte er die Truppe, zum
anderen war er ein glühender Anhänger des republikanischen Nationalismus, der nicht zuletzt von Revanche-Gedanken zehrte. Einen
Spionagefall in den Vogesen (Affäre Schnäbele) hätte Boulanger am
liebsten zur Teilmobilmachung gegen das Reich genutzt. Im Kabinett
fand er dafür keine Unterstützung, aber er zog die Nationalisten von
rechts bis links an sich. In der Zwischenzeit als Minister entamtet und
als General in den Ruhestand versetzt, präsentierte er sich erfolgreich
bei fünf Nachwahlen 1888 auf den Wahllisten. Seine sechste Kandidatur fand in Paris statt, wo er am 27. Januar 1889 ebenfalls als Sieger
aus den Wahlen hervorging. Trotz aller Erfolge blieb er dem Republikanismus insoweit treu, als er einen Staatsstreich ablehnte und auf
die für Herbst 1889 angesetzten Wahlen baute. Der Innenminister
Constans nutzte die Verschnaufpause, um die Patriotische Liga aufzulösen und den General a. D. vor dem Senat anzuklagen. Das Wahlrecht wurde dahingehend geändert, daß Mehrfachkandidaturen unterbunden und die Listenwahl wieder abgeschafft wurde. Boulanger
entzog sich der drohenden Verurteilung durch Flucht.
Der Erfolg des Boulangismus selbst war eher oberflächlich; bei den
Herbstwahlen 1889 zogen nur 38 boulangistische Abgeordnete in das
Parlament (530 Abgeordnete) ein. Im Grunde war die Bewegung
Ausdruck eines tiefergehenden Transformationsprozesses. Zwar
blieb die Republik in ihrem Selbstverständnis Ausdruck der französischen Nation, aber der eigentliche Nationalismus, der sich auch in
Frankreich mit dem Antisemitismus anreicherte, wurde zur Domäne
der Rechten und all derer, die mit Liberalismus und Parlamentarismus auf dem Kriegsfuß standen. Boulanger hingegen hatte die
Versöhnung zwischen Republikanismus und Nationalismus verkörpert. Seine Wähler fanden sich im Osten, im Midi und in der Hauptstadt, konservative Wählerschichten, die dennoch beständige Republikanhänger waren.
Panama-Skandal und Antisemitismus
Bevor der französische Antisemitismus in der Dreyfus-Affäre für alle
Welt offensichtlich wurde, spielte er bereits im Hintergrund der Panama-Affäre eine Rolle, die 1888 ihren Anfang nahm. Nach dem
erfolgreichen Suez-Kanal-Projekt (s. Kap. 10) hatte Ferdinand de Les-
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seps (1805 bis 1893) die Panama-Gesellschaft gegründet, in der Hoffnung, einen ähnlichen Erfolg wiederholen zu können. 1888 wurde
eine hohe Lotterieanleihe begeben, die illegal war, aber durch bestochene Parlamentarier gedeckt wurde. Selbst Clemenceau war in
den Skandal verwickelt. Trotz der Anleihe ging die Gesellschaft bankrott, besonders die vielen kleinen Anleger litten darunter. Das Vertrauen in Industrie- und Handelswerte wurde beschädigt, statt dessen
flüchteten sich „die“ Franzosen in sicher geglaubte Staatsanleihen,
eine Haltung, die so schnell nicht mehr aufgegeben wurde. Boulangismus und Weltausstellung erleichterten es, zunächst den Deckel auf
der Sache zu halten. 1892 veröffentlichte Edouard Drumont, Autor
von La France juive (1886), in dem antisemitischen Blatt La Libre Parole
einen Artikel, in dem er neben den Namen von 104 bestochenen
Abgeordneten auch die dreier jüdischer Bankiers nannte. Dies war
Wasser auf die Mühlen des Antisemitismus. Obwohl die Politiker und
Abgeordneten die Affäre strafrechtlich überwiegend ungeschoren
überstanden – Lesseps hingegen wurde der Prozeß gemacht –, traten
viele zunächst in den Hintergrund und machten neuen Köpfen Platz,
die wie Raymond Poincaré (1860 bis 1934) in Zukunft die Politik
Frankreichs bestimmen sollten.
Anarchisten
Die an Attentaten keineswegs arme Geschichte Frankreichs erlebte
in dieser Beziehung in den 1890er Jahren (wie viele andere Länder)
einen neuen krisenhaften Höhepunkt. Im Dezember 1893 ließ ein
gewisser Auguste Vaillant im Abgeordnetenhaus eine Bombe hochgehen; die Folge war die Verschärfung der Pressegesetze: Aufforderung zum Mord, zur Brandstiftung und zum Diebstahl wurde mit fünf
Jahren Haft unter Strafe gestellt. Anarchisten wurden Straftätern
gleichgestellt und mit Zwangsarbeit bedroht. Am 24. Juni 1894
wurde der Präsident Carnot Opfer eines Anarchisten (namens Caserio), nachdem er sich geweigert hatte, Vaillant zu begnadigen. Sein
Nachfolger wurde der Orleanist Jean Paul Pierre Casimir-Périer, dessen Wahl die Drift der Republik nach rechts und in die Repression
bestätigte. Pressedelikte wurden per Gesetz vom 27. Juli 1894 der
Strafgerichtsbarkeit zugewiesen. Die Sozialisten bezeichneten die Gesetze als „verbrecherische Gesetze“ und brachten damit den tiefer
gewordenen Graben zwischen den politischen Richtungen zum Ausdruck. Eine weitere Affäre, in der sich die beschriebenen Krisensymptome akkumulierten, führte zur Vertiefung der Gräben.
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Dreyfus-Affäre, Antisemitismus und Entkirchlichung
Im Herbst 1894 mußte sich der Kriegsminister General Mercier mit
einer Spionageaffäre befassen. Offensichtlich waren technische Details der französischen Artillerie verraten worden. Es war wieder La
Libre Parole, in der am 1. November 1894 der jüdische Hauptmann
Alfred Dreyfus (1859 bis 1935) als der gesuchte Spion „entlarvt“
wurde. Dreyfus war Generalstabsoffizier, er entstammte einer reichen jüdischen Familie aus dem Elsaß, die sich 1871 im übrigen für
die Zugehörigkeit zu Frankreich und nicht zu Deutschland entschieden hatte. Das erwähnte Blatt schürte die Kampagne gegen Dreyfus,
machte aus einem Spionagefall eine politische Affäre und trug mit
Schuld daran, daß Dreyfus am 22. Dezember 1894 vor einem Militärgericht unter Ausschluß der Öffentlichkeit in einem widerrechtlichen
Verfahren unschuldig verurteilt wurde. Der Bruder (Mathieu Dreyfus)
des Verurteilten betrieb die Revision des Prozesses und konnte sich
der Unterstützung der republikanischen Presse sowie namhafter Persönlichkeiten wie Clemenceau versichern. Der Journalist Bernard
Lazare, der Mathieu von Anfang an unterstützte, publizierte Ende
1896 in Brüssel die Schrift „Une erreur judiciaire: la vérité sur l’affaire
Dreyfus“, die in der Tat ein erhebliches Stück Aufklärungsarbeit leistete. Der Senator Scheurer-Kestner verlangte daraufhin die Wiederaufnahme des Verfahrens. Am 13. Januar 1898 ließ der Schriftsteller
Emile Zola in L’Aurore, der von Clemenceau gegründeten Zeitschrift,
jenen berühmt gewordenen Brief an den Staatspräsidenten Felix
Faure unter dem Titel „J’accuse“ abdrucken, der ihm selber ein Strafverfahren und Entehrungen einbrachte, jedoch die Wende in der
Affäre mit herbeiführte. Dreyfus wurde in der Folge rehabilitiert (erst
1906!), aber die Affäre war über sein persönliches Schicksal längst
hinausgewachsen. Auf der einen Seite führte sie zur Stärkung des
Menschenrechtsgedankens und u. a. zur Gründung der Ligue pour la
défense des droits de l’homme et du citoyen durch das Senatsmitglied
Jacques Trarieux (1840 bis 1904; erster Präsident der Liga 1898 bis
1904), sie stärkte die Anhänger des Antimilitarismus. Auf der anderen Seite organisierte sich die Rechte um Schriftsteller wie Maurice
Barrès, die 1895 von Déroulède erneuerte Ligue des Patriotes, die „Antisemitische Liga“ von J. Guérin, die Ligue de la Patrie Française (seit
1898), und die Blätter La Libre Parole sowie La Croix. Im Februar 1899
spitzte sich die Krise zu, als Déroulède während der Beerdigung des
Präsidenten F. Faure den Elysée-Palast besetzen wollte. Die republikanischen Kräfte rückten wieder enger zusammen – die Soziali-
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sten hatten sich lange Zeit von der Dreyfus-Affäre nicht betroffen
gefühlt – und bildeten den „Republikanischen Block“, der die republikanischen Institutionen nicht nur verteidigte, sondern eine neue
Phase der Republikanisierung Frankreichs einleitete. Der Antisemitismus der katholischen Kirche begünstigte die folgende Entkirchlichung des Staats, die mit der Trennung von Staat und Kirche 1905
abgeschlossen war. Die Entkirchlichung betraf alle Konfessionen, die
Entkirchlichung als Kulturkampf in erster Linie die katholische Kirche.
8.4 Die radikale Republik (1899 – 1914)
Charles Maurras und Ludwig XIV.
Im Juli 1900 stellte Charles Maurras in der royalistischen Zeitschrift
La Gazette de France den Lesern folgende Frage: „Oui ou non, l’institution d’une monarchie traditionelle, héréditaire, antiparlementaire et
décentralisée est-elle de salut public“? Aus der Auswertung der Antworten entstand die Schrift „Enquête sur la monarchie“. Maurras
geißelte die Revolution als atomistisch, die Machtkonzentration unter Napoleon als exzessiv; die Neigung der Romantiker zum hl. Ludwig teilte er nicht, vielmehr fand er in Ludwig XIV. ein Vorbild, das
seiner rationalistischen Konzeption der Monarchie am ehesten entsprach. Wenn auf der einen Seite um 1900 die Monarchie als Staatsform noch konzeptionell weiterentwickelt wurde, intellektuell also
keineswegs tot war und mehr als eine romantische Reminiszenz
ausmachte, gewann auf der anderen Seite der Sozialismus die radikalen Republikaner und erhob diese zur stärksten politischen
Kraft.
Politische Lagerbildung
Um 1900 tritt die Teilung Frankreichs trotz aller Differenziertheit in
zwei große politische Lager deutlich zutage. Das sozialistische Lager
stand für Republik, Antimilitarismus, Anti-Antisemitismus und Entkirchlichung des Staats, das rechte Lager stand für integralen Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus, Rassismus und zunehmend
auch für Antiparlamentarismus. Parteien im engeren Wortsinn wurden bei den Wahlen von 1902 bei der politischen Linken und Mitte
erkennbar: der Parti radical et radical socialiste, die Alliance républicaine et
démocratique, die Fédération républicaine. Organisatorischer Katalysator
der Rechten war die Action Française. 1905 wurde die SFIO (Parti
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socialiste unifié, section française de l’Internationale ouvrière) gegründet, die
auf marxistischer Grundlage die Arbeiterbewegung zu bündeln
hoffte. 1914 hatte die SFIO 91.000 Mitglieder und erhielt die Stimmen
von 1,4 Mill. Wählern, was ihr 103 Sitze im Parlament verschaffte.
Damit war sie zweitstärkste Kraft nach den Radikalsozialisten mit 1,5
Mill. Stimmen und 140 Parlamentssitzen. Gewerkschaften als organisatorischer Ausdruck der Arbeiterbewegung stützten sich 1891 auf
ca. 300.000 Mitglieder, 1907 auf rd. 1 Mill. 1895 wurde unter dem
Namen Confédération générale du travail (CGT) eine erste nationale
übergreifende Organisation aus der Taufe gehoben. 1906 verabschiedete die CGT die Charte d’Amiens, in der der Generalstreik als Kampfmittel verankert wurde. Passiver Widerstand, Boykott und Sabotage
zählten zu den Kampfmitteln. Georges Sorel, der später allerdings
zum Umfeld der Action française stieß, lieferte 1908 in „Réflexions sur
la violence“ die Theorie des Generalstreiks. Der französische Syndikalismus war eine eigenständige Erscheinung, kein verlängerter Arm
der (sozialistischen) Parteien.
Die Parteienbildung hing mit dem Strukturwandel der Gesellschaft
und der politischen Mandatsträger zusammen. Anfang des 20. Jh.
stellten zwar Adel und Großbürgertum noch rund die Hälfte der
Abgeordneten oder, aus anderer Sicht, nurmehr die Hälfte, während
neue Schichten wie Anwälte, Lehrer, Professoren und Ärzte die Parlamente eroberten. Diese verfügten nicht über das notwendige Privatvermögen, um Wahlkampagnen zu finanzieren, sie stützten sich auf
lokale Komitees; im Parlament duzten sie sich, selbst wenn sie unterschiedlichen Richtungen angehörten. 1906 hoben sie die Abgeordnetendiäten von 9.000 auf 15.000 FF an, um den Vermögensmangel
auszugleichen. Die Parlamentsausschüsse erhielten eine festere Organisationsstruktur, ihre Zusammensetzung folgte proportional den
politischen Richtungen. Die Parteienbildung war desweiteren mit der
ansteigenden Politisierung der Bevölkerung verbunden, an der die
Zeitungs-Presse großen Anteil besaß. Allein in Paris erschienen 1914
48 Tageszeitungen, darunter auflagenstarke Blätter wie Le Petit Parisien (Auflage 1914: 1,5 Mill.), Le Petit Journal (900.000), Le Matin
(800.000). L’Écho de Paris war ein Organ der katholischen Bourgeoisie,
La Petite République ein Organ der Sozialisten. In der Provinz hatte die
Presse inzwischen nachgezogen (Le Petit Marseillais – gemäßigt republikanisch, Marseille; La Dépêche – radikalsozialistisch, Toulouse; Le
Petit Méridional – radikal, Montpellier; L’Ouest Éclair – christdemokratisch, Rennes). Die Presse trug die nationale Politik in die Dörfer,
8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 241
wo im übrigen, etwa im Weinbau, langanhaltende Produktions- und
Absatzschwierigkeiten zur Radikalisierung der Bauern beitrugen und
den Sozialisten neue Wählerschichten erschlossen.
Frankreich wandelte sein Gesicht, aber ebenso wie der Monarchismus virulent blieb, überdauerte der Habitus aufständischen Widerstands die Zeiten: 1899 belagerte die Antisemitische Liga von
Guérin 38 Tage lang die Polizei im „Fort Chabrol“, die Umsetzung des
Gesetzes zur Trennung von Staat und Kirche führte 1905 zu blutigen
Auseinandersetzungen, soziale Unruhen mündeten in Paris 1906 in
eine Massenpanik. Im gleichen Jahr revoltierten die Weinbauern im
Midi. Daneben erlebte Frankreich eine Vielzahl heftiger Streiks, deren Ziel überwiegend in Lohnerhöhungen bestand.
Zentrale Fragen der Zeit
Die zentralen Fragen der Zeit waren die Trennung von Staat und
Kirche, die Sozialgesetzgebung, die Verbesserung der gesellschaftlichen Chancengleichheit und Gerechtigkeit, das Heerwesen sowie
die – im zweiten Teil des Buches zu behandelnde – Kolonial- und
europäische Außenpolitik.
Staat und Kirche: 1880 war der Sonntag als regulärer Ruhetag gefallen, er wurde 1906 durch einen weltlichen Ruhetag ersetzt. Seit
1900 ergriff die Regierung unter Pierre Marie René Waldeck-Rousseau (1846 bis 1904) konkrete Maßnahmen, um die im Lauf des
19. Jh. mächtig gewordenen Kongregationen zu schwächen. Sie beherrschten das Bildungswesen, verfügten über ansehnliche Vermögen und finanzierten gelegentlich regierungsfeindliche Zeitschriften.
1901 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das die Existenz von
Kongregationen von einer gesetzlichen Zulassung abhängig machte.
Dies bedeutete einen Hebel zur Auflösung von kirchlichen Gemeinschaften. Darüber kam es zum Bruch mit dem Vatikan und zum
Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche 1905. Im Oktober
1904 hatte der Kriegsminister die religiösen Überzeugungen der Armeeoffiziere ausforschen lassen und die Informationen an die Freimaurerloge Grand Orient weitergegeben. Dafür wurde er im Abgeordnetenhaus von einem erbosten Abgeordneten geohrfeigt und
zum Rücktritt genötigt.
Sozial- und Arbeitsgesetzgebung: Da die Industrialisierung in Frankreich langsamer als in England voranschritt, traditionelle Familienstrukturen und -netze erhalten blieben, außerdem die Bevölkerung
nur gemächlich wuchs, stellte sich die „soziale Frage“ weniger radikal
242 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
als in anderen Ländern. Der Verlauf der Pariser Kommune hatte das
Thema einer Sozialgesetzgebung diskreditiert. Andererseits ermutigte der Erfolg der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, einen ähnlichen Weg zu verfolgen. Seit 1884 herrschte Koalitionsfreiheit. 1890
wurde ein Recht auf Schadenersatz erlassen, wenn die Entlassung
eines Arbeiters offensichtlich grundlos war. 1892 wurde die Kinderund Frauenarbeit einer gesetzlichen Regelung unterworfen, Gesetze
von 1893 und 1912 waren dem Gesundheitsschutz der Arbeiter gewidmet, 1895 wurde die Möglichkeit, den Arbeitslohn zu pfänden,
eingeschränkt, 1900 wurden die Betriebs- und Arbeitsbedingungen
in je derselben Produktionsbranche angeglichen. 1893 gelangten bedürftige kranke Personen in den Genuß einer kostenlosen Krankenversorgung zu Lasten der Gemeinden. 1906 wurde erstmals ein Arbeitsministerium eingerichtet. Weitere Schwerpunkte waren die gesetzliche Krankenversicherung bis zu einem gewissen Jahreseinkommen (1910) und die Unfallversicherung, die schon vor der
Jahrhundertwende durch freiwillige Beitragsentrichtung generalisiert worden war. Die gesamte Sozial- und Arbeitsgesetzgebung
wurde schließlich bis 1912 zum Code du travail vereinigt.
Chancengleichheit und Gerechtigkeit: Hier handelte es sich nicht zuletzt um das alte Thema der Steuergerechtigkeit, das mit der Einführung einer progressiven Einkommensteuer nach fast zwanzigjähriger Debatte 1914 gelöst werden konnte. Ab 5.000 FF Nettoeinkommen waren 2% Einkommenssteuer zu zahlen, für Eheleute und
Familien gab es Abschläge. Tatsächlich erhoben wurde die neue
Steuer erst ab 1916. Chancenungleichheit bestand nach wie vor beim
Militär hinsichtlich der Dienstpflicht (Ausnahmeprivilegien) und der
Offiziersstellen.
Heerwesen: 1904 bewerkstelligte der Marineminister Camille Pelletan eine kleine Demokratisierung der Marine und fuhr im übrigen
das Bauprogramm aus Kostengründen zurück. Der Kriegsminister
und General André entstaubte das Eherecht für Offiziere: bis dahin
mußten die zukünftigen Offiziersfrauen obligatorisch eine Mitgift
einbringen. Für Unteroffiziere wurden Aufstiegsmöglichkeiten geschaffen. 1905 wurde die Dienstzeit auf zwei Jahre herabgesetzt.
Diese Maßnahmen stießen in der Armee auf wenig Zustimmung und
heizten die öffentliche Debatte um Militarismus und Antimilitarismus an. Unter dem Kabinett Poincaré traten die Gegensätze deutlich
zutage. Während Jean Jaurès 1911 in der Studie L’Armée nouvelle für
einen sehr kurzen Miliz-Wehrdienst plädierte, versuchte der Kriegs-
8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 243
minister Millerand durch Militäraufmärsche, Militärkapellen und
Pressearbeit die öffentliche Meinung für das Militär zu gewinnen.
Poincaré, seit 1913 Staatspräsident, setzte sich angesichts der deutschen Aufrüstung energisch für eine Stärkung der Armee ein. Am 19.
Juli 1913 („loi Barthou“) wurde der Wehrdienst wieder auf drei Jahre
erhöht, die Wehrpflicht begann mit 20 Jahren, so daß die Jahrgänge
1892 und 1893 gleichzeitig eingezogen werden konnten und das
Heer auf eine Friedensstärke von 850.000 Mann angehoben wurde
(am 3. Juli 1913 war im deutschen Reichstag die Friedensstärke von
623.000 auf 820.000 Mann, 1914 zu erreichen, angehoben worden).
1913 betrug der Anteil der Militärausgaben am Budget immerhin
36%. Die Sozialisten und die Radikalsozialisten hatten gegen das
Gesetz gestimmt und machten es 1914 zum Wahlkampfthema. Die
Wahlen gewannen sie mit deutlicher Mehrheit. Die Abschaffung des
Gesetzes wurde durch einen Tauschhandel verhindert: der Senat
stimmte endlich der Einführung der Einkommenssteuer zu, dafür
verzichtete der neue Regierungschef Viviani auf die Aufhebung des
umstrittenen Gesetzes.
8.5 Wirtschaft und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg
Industrie und Banken
Die Verwendung von Erdöl und elektrischer Energie sowie der Fortschritt der chemischen Forschung leiteten einen neuen Industrialisierungsschub ein. Mechanisierung und Rationalisierung der Arbeit
schritten damit einher ebenso wie die Erhöhung der Produktivität
und des Gewinns. Frankreich erlebte unmittelbar nach dem Ende des
Kriegs 1871 einen bis 1882 anhaltenden Konjunkturaufschwung.
Auf die relative Stagnation zwischen 1882 und 1896 folgte ein Aufschwung, der im Zuge eines weltweiten Wirtschaftsaufschwungs bis
zum Ersten Weltkrieg anhielt – von einzelnen Einbrüchen abgesehen. Zwischen 1898 und 1913 stieg die Industrieproduktion um
64%. In der gleichen Zeit differenzierte sich das Bankwesen. Eine
Vielzahl neuer Geschäftsbanken entstand, die bis heute bestehen
(z. B. Crédit Lyonnais; Société Générale). Sehr viele Banken engagierten sich in den Kolonien, aber auch in Osteuropa, besonders in
Rußland und Serbien sowie in Deutschland und Österreich-Ungarn.
Der bedeutende Kapitalexport ließ die Frage aufkommen, ob der
französischen Wirtschaft damit benötigtes Kapital entzogen werde
und ob die wirtschaftlichen Außenbeziehungen nicht der Politik
244 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
untergeordnet werden müßten. Poincaré vertrat die Ansicht, daß an
politisch feindliche Länder keine Bankkredite vergeben werden sollten. An diesem Punkt zeigt sich die in jüngerer Zeit wieder deutlicher
herausgestellte Existenz eines in der Tat europäischen Wirtschaftsraums, der mit den politisch-mentalen Grenzziehungen nicht wegargumentiert werden kann.
Landwirtschaft
Den Bauern und der Landwirtschaft galt die besondere Aufmerksamkeit der Politik, Gambetta errichtete 1881 erstmals ein eigenes Landwirtschaftsministerium. Sehr widersprüchliche Entwicklungen prägten das Bild. Bessere, in größeren Mengen verteilte Düngemittel kamen vor allem dem Getreideanbau zugute, aber seit 1868 wurde die
Anbaufläche nicht mehr erweitert. Bis zum Krieg lag der Jahresertrag
bei ca. 9 Mill. Tonnen Weizen. Davon wurde kaum etwas exportiert,
importiert wurden rd. 2 Mill. Tonnen aus Osteuropa, Amerika, Australien und Kanada. Der importierte Weizen war zumeist billiger als
der heimische. Da sich die Ernährungsgewohnheiten änderten,
schlug sich der Bevölkerungszuwachs nur unterproportional auf den
Getreideverbrauch nieder; Fleisch, Gemüse und Obst waren stärker
gefragt. Fleisch konnte allerdings mittlerweile in Kühlschiffen auch
aus Übersee importiert werden, so daß die heimischen Bauern nur
bedingt von den neuen Ansprüchen profitierten. Die Zahl der Rinder
stieg seit 1900 nicht mehr, die Zahl der Schafe, Lämmer und Hammel
sank um 20%. Andere billigere Überseeprodukte wie japanische
Seide verdrängten die inländische Produktion vom Markt, chemische
Produkte wie Textilfarben verdrängten die traditionellen Kulturen
für die Gewinnung pflanzlicher Farbstoffe. Der Weinbau litt unter
Reblausbefall, der 1865 im Gard auftrat und bis 1889 die meisten
Weinanbaugebiete betraf. Nachdem zwischen 1860 und 1870
200.000 Hektar zusätzlicher Fläche für den Weinbau kultiviert worden waren und aufgrund der revolutionierten Transportsysteme der
Wein problemlos in alle französischen Gegenden transportiert werden konnte, hatte der Wein einen festen Platz bei den Trinkgewohnheiten aller Franzosen überall in Frankreich erhalten. Die Reblauskatastrophe drückte den Ertrag von 60 bis 70 Mill. Hektoliter um 1870
auf 23 Mill. im Jahr 1889, so daß Wein importiert werden mußte, um
die Nachfrage zu sozial verträglichen Preisen zu stillen. Südafrikanische, kalifornische, australische und algerische Weine erhielten so
Zugang zum französischen Markt, die Rekultivierung ebener Wein-
8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 245
lagen erfolgte mit amerikanischen Rebsorten, die mehr Ertrag, aber
weniger Qualität abwarfen. Kleine Weinbauern gaben zugunsten der
großen kapitalstarken Weingutbesitzer auf.
Schritt für Schritt entstand im Agrarsektor eine Infrastruktur von
Kreditinstituten und Hilfsvereinen, deren Tragweite vorerst begrenzt
blieb. Die 1899 geschaffenen Regionalkassen zur Vergabe von landwirtschaftlichen Krediten teilten 1913 (105 Regionalkassen) lediglich
113 Mill. FF zu. Sie hatten 151.000 Mitglieder. Im Weinbau bildeten
sich Produktionsgenossenschaften, die eine gesetzliche Grundlage
erhielten, gefolgt von Tierzuchtregionen wie der Charente und dem
Jura. 1914 wurden die Kooperativen von rd. 1 Mill. Mitgliedern
getragen.
Die guten nationalen Transportnetze kamen regionalen Spezialitäten zugute, die im Sinne eines Qualitätslabels z. T. erst im späten
19. Jh. entstanden: Butter aus der Charente und der Normandie,
Fleisch aus dem Charolais (noch heute sehr geschätzt!), Frühgemüse
aus dem Vaucluse oder Roussillon usf. Die Entstehung eines nationalen Agrarmarktes beförderte die Entstehung regionaler Identitäten,
zu denen Agrarprodukte zählten. Da Frankreich wegen des zügig
ausgebauten Eisenbahn-, Straßen- und Wasserwegenetzes enger zusammenrückte – alle drei Verkehrswegearten wurden auch nach
1870 mit staatlicher Hilfe gefördert –, lohnte sich die Schärfung regionaler Profile. Damit konnten die Städter angezogen werden. Eine
andere Folge war die landesweite Nivellierung der Preise, die Verbilligung der Transportkosten für Waren und Personen: Sie fielen zwischen 1869 und 1913 von 6,17 auf 4,12 Centimes pro Tonnenkilometer bzw. von 5,43 auf 3,39 Centimes pro Personenkilometer. 1880
tauchte erstmals ein als „bicyclette“ bezeichnetes Produkt auf, von
dem 1901 eine Million und 1914 3,5 Mill. Stück hergestellt worden
waren. 1890 wurde der erste Peugeot gebaut, Renault entstand 1899.
Mit 45.000 produzierten Einheiten im Jahr 1913 hatte sich Frankreich zum größten europäischen Automobilhersteller entwickelt.
Schwerindustrie
Auf das größer werdende Gewicht des schwerindustriellen Sektors
war im Zusammenhang mit dem Zweiten Kaiserreich hingewiesen
worden. Angesichts des Syndikalismus und seines Organisationsgrades bildeten die Schwerindustriellen Arbeitgebervereinigungen,
vor allem im Bereich Kohle, Eisen und Stahl, während in anderen
Branchen wie der Glas- oder Aluminiumherstellung ausgesprochene
246 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
Kartelle entstanden, die Preise und Verkaufszonen festlegten. Der
Verlust von Elsaß und Teilen Lothringens hatte zu einer Verlagerung
der Schwerindustrie geführt. Im Pas-de-Calais wurden 1913 über 50%
der heimischen Kohle gefördert, während es 1875 ca. 20% gewesen
waren. Neue Verfahren in der Eisen- und Stahlindustrie kurbelten die
Produktion an, Frankreich importierte allerdings weiterhin Kohle
und Eisen- bzw. Stahlprodukte. In der Stahlindustrie waren 1913 erst
118.000 Arbeiter beschäftigt, die 4,7 Mill. Tonnen Stahl produzierten,
während die Vergleichszahl für Deutschland 17 Mill. Tonnen betrug.
In der Montanindustrie bestanden viele Verflechtungen mit Deutschland, von französischen Kapitalinvestitionen bis zum Import deutscher Erzeugnisse. Insgesamt verdoppelte sich die Industrieproduktion zwischen 1872 und 1910, während der Zuwachs im Agrarsektor
bei nur 50% lag.
Nationalprodukt und Volksvermögen
Gemessen an Produktion und Ausstoß lag Frankreich hinter England
und Deutschland zurück. Das französische Nationalprodukt wuchs
jährlich um ca. 1,1%, das deutsche hingegen um 3%. Die französische
Wirtschaft und Bevölkerung war anders strukturiert, so daß der
quantitative Rückstand nicht mit „rückständig“ übersetzt werden
kann. Frankreich war ein besonders kapitalreiches Land, überall in
der Welt wurde französisches Kapital investiert. Allein der Ertrag aus
investiertem Kapital reichte 1913 aus, um die negative Handelsbilanz
(minus 1.540 Mill. FF) mehr als auszugleichen (Kapitalerträge: plus
1.775 Mill. FF). In der Tourismusbranche wurde schon damals ein
hoher Überschuß erwirtschaftet (plus 750 Mill. FF), im internationalen Versicherungswesen fielen weitere 340 Mill. FF an. Insgesamt
wies die Zahlungsbilanz am Vorabend des Krieges ein Plus von 1.296
Mill. FF aus. Die Privatvermögen beliefen sich auf 300 Mrd. FF, das
war das Zweieinhalb- bis Vierfache der unter dem Zweiten Kaiserreich erreichten Summe. Während der Grundbesitz nach einer
Hausse bis 1881 wegen der Krisen im Agrarsektor im Jahr 1912
wieder auf den Stand von 1860 zurückgefallen war, trug die Wertsteigerung der Immobilien (Verdoppelung der Mieten) zum Vermögensgewinn besonders bei. Die größte Steigerung wurde beim Geldvermögen erzielt, es machte 1913 125 Mrd. FF aus. Daß die Verteilung
der Vermögen höchst ungleich ausfiel, versteht sich fast von selbst:
60% des privaten Vermögens gehörte weniger als 1 Mill. Personen.
8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 247
Demographie
Die genannten Zahlen entfalten ihre volle Bedeutung erst, wenn die
demographische Entwicklung berücksichtigt wird. Seit dem 18. Jh.
wies die französische Bevölkerungsentwicklung Besonderheiten gegenüber anderen Ländern auf. Ab 1901 lag die jährliche Steigerung
nur noch bei 0,13%, während in Deutschland 1,1%, im Vereinigten
Königreich 0,9% und in Italien 0,7% erreicht wurden. In mehreren
einzelnen Jahren lag die Sterblichkeitsrate über der Geburtenrate.
Dagegen wuchs die Lebenserwartung; im Zweiten Kaiserreich hatte
sie für Männer bzw. Frauen bei 39 bzw. 40,6 Jahren gelegen, 1913
lauteten die Vergleichsziffern 48,49 bzw. 52,41 Jahre. 13% der Bevölkerung waren älter als 60 Jahre, während 25% unter 15 waren.
Die Kindersterblichkeit lag mit 11,2% immer noch sehr hoch, was vor
allem auf Alkoholismus und mangelnde Hygiene zurückgeführt
wird. Neue Gründe (im Vergleich zum 18. Jh.) für die zurückhaltende
Bevölkerungsentwicklung sind kaum zu nennen. Die Kenntnis kontrazeptiver Methoden reichte weit zurück, der Wunsch bei vielen
Bevölkerungsgruppen, einen erreichten Standard zu halten und
durch die Söhne zu erhöhen, war ebenfalls kein neues Faktum. Mehr
als zwei bis drei Kinder fand man noch bei Bauernfamilien, im
Arbeitermilieu, solange die Kinderarbeit unter 13 nicht verboten war,
und beim gehobenen Bürgertum. Im katholischen Milieu wurde das
demographische Verhalten als Gefahr gesehen, aber dessen gesellschaftlicher Einfluß war gering. Mit einer sehr pessimistischen Sicht
versuchte Adolphe Bertillon („Démographie figurée de la France“,
1874) den Staat wachzurütteln, seinem Sohn gelang die erhoffte
Einflußnahme. Dieser gründete eine nationale Allianz (Alliance nationale contre la dépopulation; 1896), die zusammen mit anderen die
Einführung von Familienzulagen zum Thema machte. Einzelne Unternehmer hatten seit den 1880er Jahren Kindergeld oder Geburtsprämien eingeführt. Nach und nach kamen einzelne Berufsgruppen
wie Soldaten und Postbeamte in den Genuß von Familienzulagen.
1913 begründete ein Gesetz für kinderreiche Familien (ab vier Kindern) den Anspruch auf Zulagen. All dies beeinflußte das demographische Verhalten nicht nachdrücklich, belud die Politik aber mit
einer neuen Aufgabe, der Familienpolitik.
Im Vergleich zu Nachbarländern wie England, Deutschland und
Italien erwies sich die französische Bevölkerung als bodenständig.
Nur wenige Franzosen wanderten aus (die zeitweise oder endgültige
Übersiedlung in die Kolonien wird nicht als Auswanderung gerech-
248 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
net), bis 1884 waren es jährlich nur 5.000 Personen, zwischen 1884
und 1891 im Zusammenhang mit der Krise im Weinbau jedoch
vorübergehend bis zu über 30.000. Umgekehrt wurden sehr viel
mehr Ausländer eingebürgert; ein Gesetz von 1889 erleichterte diesen Schritt, die in Frankreich geborenen Kinder von Einwanderern
erhielten automatisch die französische Staatsbürgerschaft. 1911 stellten Ausländer einen Bevölkerungsanteil von 3%, davon wiederum
entfielen 20% auf Paris und Umland, 21% auf den Südosten. 80% der
Ausländer stammten aus angrenzenden europäischen Ländern (Italiener: 37%; Belgier: 25%; Spanier: 9%; Deutsche: 9%). Innerhalb
Frankreichs beschleunigte sich der Exodus vom Land in die Stadt;
1876 lebten 76% der Bevölkerung auf dem Land (Gemeinden unter
2.000 Einwohner), 1911 waren es noch 55,8% – in absoluten Zahlen:
22,1 Mill. von 39,6 Mill. Nur 15 Städte lagen jenseits der 100.000
Einwohner-Schwelle (in Deutschland waren es 45, in England 43; in
England entfielen auf die Landbevölkerung 23%).
Wirtschafts- und demographische Daten spiegeln sich in der Struktur der aktiven Bevölkerung. 1911 arbeiteten 13,2 Mill. Männer und
7,7 Mill. Frauen. 4,6 Mill. Männer und 3,9 Mill. Frauen wurden dabei
als „selbständig“ bezeichnet. Bei den Männern handelte es sich überwiegend um Bauern. 52% der berufstätigen Männer arbeiteten 1876
in der Landwirtschaft, 26% in der Industrie und 22% in Handel und
Dienstleistung. Zumeist handelte es sich um Klein- und Kleinstunternehmer. 1906 hatte sich das Bild ein wenig gewandelt, die Vergleichszahlen lauten in derselben Reihenfolge: 44%, 30,5% und 25,5%. Die
relative Überalterung der Bevölkerung machte sich in der Industrie
bemerkbar, da sich die vielen älteren Arbeiter nur unter Schwierigkeiten an die neuen Techniken anpaßten. Hier macht sich ein strukturelles Problem, das sich heute vielleicht noch schärfer stellt, deutlich bemerkbar: Erworbenes Wissen und erlernte Fähigkeiten gelten
nicht einmal mehr für die Dauer einer Generation, sondern überleben sich noch während der aktiven Berufszeit.
8.6 Frankreich und der Erste Weltkrieg
„Union sacrée“
Die Zeit nach 1870 brachte eine Auffächerung der literarischen und
künstlerischen Stile, Stile von großer Gegensätzlichkeit. Während die
Politik Staat und Kirche trennte, fanden vor allem Katholizismus und
Protestantismus zu neuen Höhepunkten, sie behaupteten sich als
8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 249
gesellschaftliche prägende Kräfte. Von einer intellektuellen Einheit
bzw. Gleichförmigkeit kann in Frankreich am Vorabend des Ersten
Weltkrieges nicht gesprochen werden. Im Sommer 1914 gab es bei
Gewerkschaftern und Sozialisten erhebliche Widerstände gegen eine
Beteiligung am Krieg. Der Versuch, auf europäischer Ebene eine
pazifistische Gegenbewegung auszulösen, blieb erfolglos. Dieser
nicht zuletzt durch Zensur und Verhaftungen repressiv beantwortete
Widerstand verlor sich im Lauf des Spätsommers 1914. Die weitgehende Vereinigung der politischen Kräfte firmierte unter dem Schlagwort der Union sacrée.
Eine brüchige politische Architektur und der Kriegsbeginn
Hinter der Fassade der Einigkeit verbarg sich dennoch eine brüchige
politische Architektur. Obwohl der berüchtigte Schlieffenplan dem
französischen Generalstab in Umrissen bekannt gewesen war und
niemand daran zweifelte, daß er umgesetzt werden würde, wurden
sowohl die Möglichkeiten belgischen Widerstands überschätzt wie
die materielle Ausrüstung des deutschen Heeres unterschätzt. Die
Folgen zu Beginn des Krieges sind bekannt. Von außen gesehen bot
Frankreich im Krieg ein seltsam widersprüchliches Bild: Die Regierungskabinette waren wie vorher kurzlebig, Arbeiter streikten, wichtige schwerindustrielle Regionen waren vom Feind besetzt und fielen
für die Produktion von Kriegsmaterial aus. Das Land war materiell,
logistisch und strukturell nicht auf einen Krieg vorbereitet. Einerseits
folglich ein Bild, das einen baldigen Zusammenbruch befürchten
ließ. Andererseits gelang es, die feindlichen Armeen zu stoppen und
innerhalb kürzester Zeit die Wirtschaft auf Kriegswirtschaft umzustellen, neue Schwerindustriezentren aufzubauen, neue Kampfgeräte
wie Panzer und Flugzeuge zu produzieren, mit alliierter Hilfe das
Blatt zu wenden und den Krieg mit der bestausgerüsteten und größten Armee Europas zu beenden.
Veränderungen in Frankreich durch den Krieg
Clemenceau, der am 17. November 1917 die Regierung übernahm,
brachte es auf den Punkt, wenn er sagte, daß Außen- und Innenpolitik dasselbe seien, nämlich Krieg. Während die Mehrheit der
Franzosen den deutsch-französischen Krieg 1870/71 nicht direkt,
sondern über die Zeitungen erlebt hatte (was eine mentale und emotionale Betroffenheit selbstverständlich nicht ausschließt), war
1914/18 die Gesamtbevölkerung, auch in den nicht-besetzten Ge-
250 Die Politische Zivilisation des Absolutismus
bieten, existentiell betroffen. Es gab keine Friedenswirtschaft mehr,
sondern nur noch Kriegswirtschaft, ein bisher nicht erlebtes Phänomen. Wer nicht kämpfte, leistete Sonderschichten in den Fabriken,
die Mobilisierung von Millionen Männern zwang viele Frauen in
Arbeitsverhältnisse und Tätigkeiten, die als frauenuntypisch galten.
Inflation, Kaufkraftschwund, Kriegsanleihen und anderes griffen tief
in das tägliche Leben ein. Die sozialen und geistigen Gegensätze
wurden zeitweise überdeckt, z. T. nachhaltig abgebaut. So virulent die
Frage von Religiosität, Staat und Kirche vor dem Krieg gewesen war,
so gering war ihr Konfliktpotential nach dem Krieg. Von 25.000
Priestern und Ordensleuten, die zum Kriegsdienst eingezogen worden waren, waren 4.600 gefallen. Die Kameradschaft in den Schützengräben verfehlte ihre Wirkung nicht. Daß der Waffenstillstand am
11. November (1918), dem Namenstag des hl. Martin, „Apostel Galliens“, unterzeichnet wurde, hatte für viele die Bedeutung eines göttlichen Zeichens. Die diplomatischen Beziehungen zum Vatikan wurden bald wieder aufgenommen.
Die nachhaltigste Veränderung war sicherlich im Bereich der Geschlechterverhältnisse zu verzeichnen. Der Krieg hatte den Frauen
neue Rollen zugewiesen, die im Absolutismus einsetzende Vermännlichung der politisch-öffentlichen Sphäre war aufgehalten und faktisch infrage gestellt worden. 370.000 Kriegswitwen, die die Funktion
des Haushaltsvorstands übernommen hatten, stellten ein erhebliches
gesellschaftliches Gewicht dar; Frauenarbeit wurde auch in bürgerlichen Kreisen wieder denkbar. Immer mehr junge Frauen ergriffen
ein Studium: 1914 waren es 10% der Studierenden gewesen, 1920
waren es 15%. Die Zahl der Gymnasiastinnen verfünffachte sich von
23.000 vor dem Krieg auf 125.000 bald nach dem Krieg. Die politische
Konsequenz aus diesen Veränderungen, das Frauenwahlrecht,
schien kurz nach dem Krieg zum Greifen nahe, doch zweimal scheiterten entsprechende Gesetzesvorlagen am Senat. Die VolksfrontRegierung vom Juni 1936 unter Léon Blum war die erste, die drei
Frauen in hohe politische Ämter (Unterstaatssekretärinnen) berief.
Die Siegermacht
Frankreich beendete den Krieg als die stärkste Macht auf dem europäischen Kontinent. Elsaß-Lothringen war durch die Versailler Verträge an das Land zurückgefallen, das Rheinland war von deutschen
Truppen geräumt und einer alliierten Rheinlandkommission unterstellt, Frankreich besaß zumindest vorläufig uneingeschränkten Zu-
8 Die Dritte Republik (1870 – 1918) 251
gang zum Rhein und alle Rechte an der Nutzung des Flusses, die
Kohlegruben des Saarlandes wurden Frankreich unterstellt vorbehaltlich eines erst später realisierbaren deutschen Rückkaufsrechts;
der Status des Saarlands wurde bis zu einem 15 Jahre später durchzuführenden Volksentscheid offen gehalten. Durch die Völkerbundmandate über Teile des deutschen Kolonialreiches, über den Libanon
und über Syrien erreichte das Land auch als Kolonialmacht seinen
Höhepunkt. Frankreich konnte schließlich in den neu gebildeten
Nationalstaaten Ost- und Südosteuropas politisch und wirtschaftlich
Fuß fassen, eine Vereinigung des neu formierten Staates Österreich
mit dem Deutschen Reich hatten die Friedensverträge untersagt.

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