00803_HOBB_Die Stunde_001

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Robin Hobb
Die Stunde
des Abtrünnigen
Nevare 3
Aus dem Amerikanischen
von Joachim Pente
Klett-Cotta
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20.07.2009 16:06:33 Uhr
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
»Renegade’s Magic«
im Verlag EOS, An Imprint of HarperCollins Publishers, New York
Copyright © 2008 by Robin Hobb
Für die deutsche Ausgabe
© J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659,
Stuttgart 2009
Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlags
Printed in Germany
Schutzumschlag: Klett-Cotta Design
unter Verwendung einer Illustration von John Howe
Gesetzt aus der Minion Pro von r&p digitale medien, Leinfelden-Echterdingen
Auf säure- und holzfreiem Werkdruckpapier gedruckt und gebunden
von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-93814-2
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1. Nicht länger Soldat
or dem Kriegsgericht ergriff ich nicht ein einziges Mal Partei für
mich.
Ich stand in der Anklagebank, in die sie mich geschleift hatten, und versuchte, nicht auf die mörderischen Schmerzen zu achten, die von den
Fußeisen herrührten, welche sie mir um die Waden gelegt hatten. Sie
waren viel zu klein für einen Mann von meiner Körperfülle, und das
kalte Eisen schnitt mir tief ins Fleisch. Meine Waden brannten wie Feuer
und fühlten sich zugleich völlig taub an. In dem Augenblick machten mir
die Schmerzen mehr aus als der Ausgang der Verhandlung, den ich ohnehin schon kannte.
Es sind vor allem diese furchtbaren Schmerzen, an die ich mich entsinne, wenn ich an die Verhandlung zurückdenke. Sie liegen wie ein roter
Schleier über meiner Erinnerung. Eine ganze Anzahl von Zeugen sagte
gegen mich aus. Ihre redlichen Stimmen, mit denen sie vor dem versammelten Publikum den Richtern ausführlich meine Missetaten schilderten, klingen mir noch jetzt in den Ohren. Vergewaltigung. Mord.
Leichenschändung. Entweihung eines Friedhofs. Meine Entrüstung und
mein Entsetzen darüber, dass man mich solch schrecklicher Schandtaten
bezichtigte, waren vor der schieren Hoffnungslosigkeit meiner Lage in
den Hintergrund getreten. Zeuge um Zeuge sagte gegen mich aus. Fetzen
von Gerüchten, vom Hörensagen aufgeschnapptes Gerede von den Lippen eines Toten, Verdächtigungen und zweifelhafte Indizien wurden zu
einem Strick gedreht, der kräftig genug war, um mich damit zu hängen.
Ich glaube jetzt zu wissen, warum Spink darauf verzichtete, mir direkte Fragen zu stellen. Leutnant Spinrek, mein Freund aus gemeinsamen Zeiten an der Kavallaakademie, war zu meinem Verteidiger bestellt
worden. Ich hatte ihm gesagt, ich wolle mich einfach schuldig bekennen
und es hinter mich bringen. Das hatte ihn wütend gemacht. Vielleicht
war das der Grund, warum er mich nicht aufforderte, für mich selbst
auszusagen. Er misstraute mir. Er befürchtete, dass ich nicht die Wahrheit sagen und alle Vorwürfe bestreiten, sondern mich selbst noch belasten würde. Dass ich den leichtesten Ausweg wählen würde.
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Seine Bedenken waren gerechtfertigt.
Ich fürchtete mich nicht vor dem Galgen. Es wäre das schnelle Ende
eines Lebens gewesen, das von einer fremdartigen Magie vergiftet war.
Die Treppe hinaufsteigen, den Kopf in die Schlinge legen und den letzten, entscheidenden Schritt ins Dunkel tun, und schon wäre es vollbracht
gewesen. Wahrscheinlich hätte mir das Gewicht meines fallenden Körpers den Kopf abgerissen. Ein qualvolles Ersticken wäre mir erspart geblieben. Das schnelle Ende einer Existenz, die zu verstrickt und zu verschandelt war, als dass eine Wende zum Guten noch möglich gewesen
wäre.
Was auch immer ich zu meinen Gunsten hätte vorbringen können,
am Ausgang des Verfahrens hätte es ohnehin nichts geändert. Furchtbare
Dinge waren geschehen, hässliche, üble Dinge, und die Bürger von Gettys
waren fest entschlossen, irgendjemanden dafür büßen zu lassen. Gettys
war ein raues Pflaster, halb militärischer Außenposten, halb Strafkolonie
an der äußersten Ostgrenze des Königreichs Gernien. Weder Vergewaltigung noch Mord waren seinen Bewohnern fremd. Die Verbrechen aber,
die mir angelastet wurden, gingen weit über das gewohnte Spektrum von
Begierde, Leidenschaft und Gewalt hinaus – in Sphären von Düsternis,
die selbst für Gettys nicht mehr zu ertragen waren. Irgendjemand musste
die schwarze Kutte des Schurken tragen und den Zoll für diese Untaten
bezahlen, und wer eignete sich da besser als dieser abgeschieden lebende
Dickwanst, der auf dem Friedhof hauste und angeblich mit den Fleck
verkehrte ?
Und so wurde ich denn verurteilt. Die Kavallaoffiziere, die über mich
zu richten hatten, verurteilten mich zum Tod durch den Strang, und
ich nahm ihr Urteil hin. Ich hatte Schande über mein Regiment gebracht.
Zu jenem Zeitpunkt erschien mir meine Hinrichtung als der einfachste
Ausweg aus einem Leben, das zum Gegenstück aller Träume geworden
war, die ich je gehabt hatte. Ich würde sterben – und mit mir meine Enttäuschung und mein Scheitern. Als ich mein Urteil vernahm, fühlte ich
beinahe Erleichterung.
Aber die Magie, die mein Leben vergiftet hatte, wollte mich nicht so
leicht aus ihren Klauen entlassen.
Mich einfach nur zu töten reichte meinen Anklägern nicht. In ihrer
glühenden Rachsucht wollten sie meine Schandtaten so grausam bestraft
wissen, wie es nur vorstellbar war. Düsternis sollte mit Düsternis vergol-
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ten werden. Als der zweite Teil meines Urteils verkündet wurde, erstarrte
ich vor Schreck. Bevor ich auf den Richtblock steigen würde, um jenen
letzten Schritt ins Nichts zu tun, würde ich tausend Peitschenhiebe verabreicht bekommen.
Jenen entsetzlichen Augenblick werde ich für immer in Erinnerung
behalten. Das Urteil ging über meine Exekution, über meine Bestrafung
hinaus. Ich sollte nicht einfach nur zu Tode befördert werden, ich sollte
vollkommen vernichtet werden. Zusammen mit meiner Haut, die eine
Peitschenschnur mir in Fetzen vom Leibe reißen würde, wollten sie mir
auch alle Würde herausreißen. Kein Mensch, und war er noch so tapfer,
konnte tausend Peitschenhiebe überstehen, ohne einen Laut von sich zu
geben. Sie würden mich verhöhnen und verspotten, während ich vor
Schmerzen schrie und sie anflehte, dass sie aufhörten. Voller Hass, Hass
auf sie und auf mich, würde ich in den Tod gehen.
Ich war zum Soldaten geboren. Als zweiter Sohn eines Edelmannes
war ich vom gütigen Gott dazu bestimmt worden, Soldat zu werden.
Trotz all dem, was mir widerfahren war, trotz der fremden Magie, die
mich infiziert und vergiftet hatte, trotz meiner Entlassung aus der Kavallaakademie des Königs, trotz der erlittenen Enterbung und Verstoßung durch meinen Vater und der höhnischen Verachtung seitens meiner Zeitgenossen hatte ich alles in meinen Kräften Stehende getan, um
meinem König als Soldat zu dienen. Und eingebracht hatte es mir das
hier. Ich würde schreien und weinen und um Gnade winseln – vor Menschen, die in mir nichts als ein Ungeheuer sahen. Die Peitsche würde mir
die Kleider und die Haut in Fetzen vom Leib reißen und die wabbeligen
Fleischmassen bloßlegen, die ihr erster Vorwand gewesen waren, mich
zu hassen. Ich würde ohnmächtig werden, und sie würden mir Essig auf
den Rücken spritzen, um mich wieder ins Bewusstsein zurückzuholen,
damit sie mich weiter quälen konnten. Ich würde mich vollpissen und
hilflos in meinen Handfesseln hängen. Ich würde tot sein, lange bevor sie
meine sterblichen Überreste aufhängen würden. Sie wussten das, und ich
wusste es auch.
Selbst mein verderbtes und verkrüppeltes Leben schien mir da noch
eine bessere Wahl zu sein als solch ein Tod. Die Magie hatte versucht,
mich meinem eigenen Volk wegzunehmen und mich als Werkzeug gegen
die Gernier zu benutzen. Ich hatte dagegen angekämpft. Aber in jener
letzten Nacht in meinem Verlies wusste ich, dass die Magie des Fleckvol-
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kes meine einzige Möglichkeit war, mich zu retten. Als die Magie die
Wände meines Verlieses niederriss, ergriff ich die Gelegenheit beim
Schopf und flüchtete.
Doch weder die Magie noch die braven Bürger von Gettys waren mit
mir fertig. Ich glaube, die Magie wusste, dass meine Unterwerfung unter
sie lediglich ein Lippenbekenntnis gewesen war. Aber sie verlangte alles
von mir, mein ganzes Leben. Sie wollte, dass keine Bande zwischen mir
und dieser Stadt und diesem Volk zurückblieben, und was ich ihr nie
freiwillig gegeben hätte, das holte sie sich jetzt von mir.
Auf meiner Flucht aus der Festung lief ich einem Trupp zurückkehrender Kavallasoldaten in die Arme. Ich wusste, es war kein unglücklicher Zufall, dass der Anführer des Trupps ausgerechnet Hauptmann
Thayer war. Die Magie war es, die mich in die Hände jenes Mannes fallen
ließ, dessen tote Frau ich offenbar geschändet hatte. Das Ende war vorhersehbar. Die müde, enttäuschte Truppe, die er anführte, entartete rasch
zu einem zügellosen Mob. Sie töteten mich auf offener Straße. Seine Soldaten hielten mich fest, und er prügelte mich tot. In den dunklen Stunden vor dem Morgengrauen wurde dort, auf jener staubigen Straße,
der Gerechtigkeit und der Rachsucht Genüge getan. Als ihr Rachedurst
gestillt war, zerstreuten sich die Männer und ritten nach Hause. Sie sprachen nicht miteinander über das, was sie getan hatten.
Und als der Morgen über Gettys graute, ritt ein toter Mann aus der
Stadt.
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2. Flucht
ie kräftigen Hufe meines stämmigen Pferdes trommelten in schwerfälligem, stetem Rhythmus. Als wir die letzten Bauernhöfe an den
sich zerfransenden Rändern der Stadt hinter uns ließen, die die Festung
des Königs in Gettys umgab, warf ich einen Blick über die Schulter. Die
Stadt lag still und stumm da. Die Flammen des brennenden Gefängnisses
waren nur mehr kleine Zungen, wenngleich immer noch dunkler Rauch,
den langsam grau werdenden Himmel verschmutzte. Die Männer, die
die ganze Nacht lang das von Epiny gelegte Feuer bekämpft hatten, würden jetzt nach Hause stapfen, in ihre Betten. Ich heftete den Blick wieder
auf die vor mir liegende Straße und ritt grimmig weiter. Gettys war niemals mein Zuhause gewesen, aber es fiel mir trotzdem schwer, es hinter
mir zu lassen.
Vor mir schimmerte das erste Licht des anbrechenden Tages hinter
den Berggipfeln hervor. Bald würde die Sonne aufgehen. Ich musste den
Schutz des Waldes erreichen, bevor das Leben in der Stadt sich zu regen
begann. Heute würden einige sehr früh aus den Federn steigen, um sich
einen guten Platz zu sichern, von dem aus sie meiner Auspeitschung und
meiner Hinrichtung zusehen konnten. Mein Mund verzog sich zu einem
leichten Grinsen, als ich mir ihre enttäuschten Gesichter vorstellte, wenn
sie von meinem Tod erfuhren.
Die Straße des Königs, jenes ehrgeizige Unternehmen König Trovens
von Gernien, erstreckte sich vor mir, staubig, zerfurcht, von Schlaglöchern übersät, aber gerade wie ein Pfeil. Ich folgte ihr. Sie führte nach
Osten, immer weiter nach Osten. In der ruhmsüchtigen Vision des Königs führte sie über das Barrierengebirge hinweg und erreichte schließlich das ferne Meer. In den Träumen meines Königs würde die Straße
eine Lebensader für das im Westen vom Meer abgeschnittene Gernien
darstellen. In der Wirklichkeit aber endete die Straße schon ein paar
Meilen hinter Gettys. Die Bauarbeiten waren am Rande des Tales stecken
geblieben, in dem die Ahnenbäume der Fleck standen. Seit Jahren setzten die Ureinwohner der Region ihre Magie dazu ein, Angst und Trostlosigkeit unter den Straßenbauarbeitern zu säen und so den Weiterbau
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der Straße zu verhindern. Der Bann, den die Fleck über die Baustelle
gelegt hatten, äußerte sich mal als panisches Entsetzen, das die Männer
in winselnde Angsthasen verwandelte, und dann wieder als eine tiefe,
lähmende Verzweiflung, die ihnen jede Energie raubte, jeden Arbeitseifer. Hinter dem Ende der Straße erwartete mich der Wald.
Plötzlich sah ich vor mir auf der Straße das, wovor ich mich gefürchtet
hatte. Ein Reiter kam mir in müdem Trott entgegen. Daran, dass er aufrecht im Sattel saß, und an dem unverkennbaren Grün seines Rockes
identifizierte ich ihn als einen Kavallasoldaten. Ich fragte mich, woher er
kommen mochte, warum er allein ritt und ob ich ihn würde töten müssen. Als ich näher kam, erkannte ich an der neckischen Art, wie er seinen
Hut trug, und an dem leuchtend gelben Schal, den er sich um den Hals
gewunden hatte, dass er einer unserer Kundschafter war. Ich atmete ein
wenig auf. Es war gut möglich, dass er nichts von den Anschuldigungen
und dem Kriegsgerichtsverfahren gegen mich wusste. Die Kundschafter
waren manchmal mehrere Wochen an einem Stück unterwegs. Er zeigte
kein Interesse an mir, als unsere Pferde aufeinander zukamen, und als
wir aneinander vorbeiritten, hob er nicht einmal die Hand zum Gruß.
Ich spürte angesichts der Begegnung einen Stich des Bedauerns in der
Brust. Wäre die Magie mit ihrem zerstörerischen Einfluss nicht gewesen,
hätte ich dieser Kundschafter sein können. Bei dem Mann handelte es
sich um Leutnant Tiber von der Kavallaakademie, doch er erkannte mich
nicht wieder. Die Magie hatte aus dem schlanken, durchtrainierten Kadetten, der ich einst gewesen war, einen fetten, ungepflegt wirkenden
gemeinen Soldaten gemacht. So, wie ich aussah, noch dazu auf meinem
stämmigen Gaul dahertrottend, war es unter der Würde eines schneidigen jungen Leutnants, mich auch nur wahrzunehmen. Wenn er in diesem gemächlichen Tempo weiterritt, würde er noch Stunden brauchen,
bis er die Stadt erreichte und erfuhr, dass die Meute mich auf der Straße
totgeprügelt hatte. Ob er dann wohl glauben würde, er hätte einen Geist
gesehen ?
Clove kanterte schwerfällig dahin. Die stämmige Kreuzung aus Zugund Reitpferd entsprach so gar nicht den gängigen Vorstellungen von
einem feurigen Hengst, der gleichermaßen über Schnelligkeit wie über
Ausdauer verfügte, aber er war groß und kräftig und für einen Mann von
meiner Statur und meiner Körperfülle genau richtig. Mir kam plötzlich
der Gedanke, dass ich ihn heute zum letzten Mal reiten würde. In den
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