Die Geschichte Sierra Leones: Ein Überblick

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Die Geschichte Sierra Leones: Ein Überblick
UNIVERSITÄT LEIPZIG
Institut für Afrikanistik/Historisches Seminar
Die Geschichte Sierra Leones:
Ein Überblick
Ausgearbeitet für den Forikolo e.V. von:
Mathis Krause
S. 1
Inhalt:
1.
Einleitung ..................................................................................................... 4
2.
Sierra Leone in der vorkolonialen Zeit ........................................................... 5
2.1
Vorkoloniale Gesellschaftsstrukturen ..................................................... 5
2.2
Die Mane-Invasion ................................................................................. 6
2.3
Die ersten europäischen Einflüsse in Sierra Leone ................................. 7
3.
Sierra Leone während der Kolonialzeit .......................................................... 9
3.1
Die Gründung von Freetown und die Etablierung einer Kronkolonie ...... 10
3.2
Die Entstehung der Krio-Gesellschaft während der Kolonialzeit ............ 13
3.3
Die Schaffung des britischen Protektorats ............................................ 14
3.4
Die Wirtschaftliche Entwicklung Sierra Leones in der Kolonialzeit ......... 16
4.
Der Weg in die Unabhängigkeit .................................................................. 18
4.1
Die Sierra Leone People’s Party und die Unabhängigkeit von 1961 ...... 21
4.2
Politik im Rahmen regionaler und ethnischer Identität: Sierra Leones
Nord-Süd-Gefälle ........................................................................................... 23
5.
Siaka Stevens und das Schicksal Sierra Leones ......................................... 27
5.1
Das Stevens-Regime: Sierra Leone als Einparteienstaat ...................... 28
5.2
Das Stevens-System: Sierra Leone als „Shadow-State“ ....................... 29
5.3
Das
Vermächtnis
von
Siaka
Stevens:
Sierra
Leone
vor
dem
Zusammenbruch ............................................................................................ 31
5.3.1
6.
Joseph Momoh und der Weg in den Bürgerkrieg ........................... 32
Sierra Leone im Bürgerkrieg ....................................................................... 35
6.1
Der Ursprung der Revolutionary United Front ....................................... 37
6.2
Der NPRC und die Ausweitung des Bürgerkrieges ............................... 40
6.3
Rückkehr
zu
einer
Zivilregierung:
Ein
Hoffnungsschimmer?
Die
Ereignisse bis zum Friedensabkommen von Lomé ......................................... 42
6.3.1
Der AFRC-Coup von 1997............................................................. 43
6.3.2
Die RUF-AFRC-Attacke auf Freetown aus dem Jahr 1999: eine
humanitäre Katastrophe ............................................................................. 44
6.4
7.
S. 2
Von Lomé bis zum Ende des Bürgerkrieges: ein steiniger Weg ............ 45
6.4.1
Die United Nations Mission in Sierra Leone ................................... 47
6.4.2
Der RUF-Niedergang und die letzten Jahre des Bürgerkrieges ...... 48
Sierra Leone nach dem Bürgerkrieg............................................................ 49
7.1
Präsident Kabbah und die erste Phase des Wiederaufbaus .................. 50
7.2
Die Wahlen des Jahres 2007: Der Weg in eine bessere Zukunft? ......... 53
8.
Abschließende Bemerkungen ..................................................................... 56
9.
Literaturverzeichnis .................................................................................... 58
S. 3
1. Einleitung
Sierra Leone ist ein vergleichsweise kleines Land an der Westküste Afrikas mit einem
Gesamtumfang von 71.740 km² und einer Bevölkerung von etwa 5,4 Millionen Menschen.
Seine Atlantikküste erstreckt sich vom Nordwesten bis an den Süden des Landes. Im
Norden teilt sich das Land eine Grenze mit der Republik Guinea und im Osten und
Südosten grenzt es an die Republik Liberia. Das Territorium des Landes ist nahezu
kreisförmig, was sich in der gleichmäßigen Nord-Süd- (stärkste Ausdehnung ca. 332 km)
und Ost-West-Ausdehnung (stärkste Ausdehnung ca. 328 km) widerspiegelt. Es kann in
drei geographische Ebenen unterteilt werden – das Gebirge der Freetown-Halbinsel, das
Flachland des Westens und Südwestens, sowie das Hochland des Ostens und
Nordostens des Landes. Sierra Leone verfügt über sieben große Flusssysteme, welche
vom Nord-Osten in den Süd-Westen des Landes fließen und schließlich in den Atlantik
münden. Das Klima wird von zwei Hauptjahreszeiten bestimmt, einer Trocken- und einer
Regenzeit. Die Trockenzeit beginnt gegen Mitte November und dauert bis zum April an.
Sie wird vom kühlen, trockenen Harmattan1 dominiert. In dieser Jahreszeit können die
Temperaturen eine Höhe von über 32°C erreichen. Die Regenzeit beginnt gegen Ende
April mit plötzlichen Regenschauern, die vom Hochland westwärts über das Land ziehen.
Diese, häufig von Blitzgewittern begleiteten, Regenfälle verstärken sich bis zum Juni, von
wo an sich das Klima allmählich durch die kühlen Westwinde beruhigt und das Land
durch die nun stetigen, jedoch weniger stürmischen, Regenfälle abkühlt. Die Intensität
und Menge des Niederschlags in den Küstengebieten ist deutlich höher als im Rest des
Landes, weshalb die Vegetation in diesen Gebieten von dichten Wäldern und
Sumpfgebieten geprägt ist. Auch der Großteil des übrigen Landes ist mit einer
durchgängig grünen Landschaft gesegnet, welche sich für den Anbau verschiedenster
landwirtschaftlicher Produkte, zur Forstwirtschaft oder für die Viehwirtschaft eignet.2
Seinen Namen verdankt Sierra Leone den Bergen der Halbinsel, auf der sich Freetown
befindet. Pedro da Cintra, ein portugiesischer Seefahrer, nannte diese Gebirgskette 1462
Serra Lyoa (Löwen-Gebirge/Löwen-Berge), weil sie ihn an einen kauernden Löwen
erinnerte. Im Laufe der Zeit wandelte sich die Bezeichnung des Landes schließlich in den
heute bekannten Namen Sierra Leone.3 Dieser bezog sich zunächst nur auf die bereits
erwähnte Halbinsel, da Sierra Leone in seiner heutigen territorialen Form erst im Zuge
der Kolonialisierung durch die Briten entstanden ist. Im Folgenden soll die Geschichte
Sierra Leones prägnant zusammengefasst werden, um dem Leser eine Vorstellung von
den wichtigsten historischen Ereignissen und Entwicklungen des Landes zu vermitteln.
1
2
3
Der Harmattan ist ein starker Wind, der von der Sahara her über das Land zieht.
Landwirtschaftliche Erzeugnisse sind unter anderem Erdnüsse, Gummi, Reis, Mais und Palmöl.
Fyfe, Christopher H., A History of Sierra Leone, London 1962, S. 1.
S. 4
2. Sierra Leone in der vorkolonialen Zeit
Gesicherte Angaben über die erstmalige Besiedlung der verschiedenen Regionen Sierra
Leones sind bis heute eher spärlich vorhanden. Die wenigen Zeugnisse legen jedoch
nahe, dass das Gebiet bereits 2400 v.Chr. besiedelt war. Die damaligen Bewohner dieser
Gegend lebten in weitgehend voneinander isolierten Gruppen und nutzten zunächst
Stein- und Holzwerkzeuge, bis sie etwa im 6. Jahrhundert v.Chr. den Umgang mit Eisen
erlernten und ihre Bevölkerungszahlen durch die Verbesserung des Ackerbaus
beträchtlich steigern konnten.4
Als portugiesische Seefahrer im 15. Jahrhundert erstmals die Küste Sierra Leones
erreichten, berichteten sie von mindestens 17 verschiedenen ethnischen Gruppen, die
sich in dem Gebiet etabliert hatten, welches heute als Sierra Leone bekannt ist. Unter
diesen Gruppen befanden sich die Mende der südlichen und östlichen Regionen, die,
gefolgt von den Temne und Limba des Nordens, als die größte der ethnischen Gruppen
angesehen wurde. Weitere bedeutende Gruppen waren die Kono der östlichen Regionen,
die Koranko aus dem Norden, sowie die Mandingo, Loko, Soso, Fula und Yalunka. Einige
kleinere Gruppen lebten in den Küstengegenden, unter ihnen die Bullom, Sherbro, Vai,
Gola und Krim. Der Großteil dieser ethnischen Gruppen gelangte nach langen
Migrationsphasen in die Gebiete, die sie überwiegend auch heute noch bewohnen.5
2.1 Vorkoloniale Gesellschaftsstrukturen
Im Mittelpunkt der vorkolonialen Gesellschaft Sierra Leones stand die erweiterte Familie,
deren stetiges Wachstum durch ein polygenes Heiratssystem gefördert wurde. Die
Ernährung der Familie wurde zum überwiegenden Teil durch Subsistenzwirtschaft
gewährleistet, wobei die Landwirtschaft eine zentrale Rolle spielte. Teile des
Grundbesitzes einer Kommune wurden jeweils an die verschiedenen Familien zur
Bearbeitung und Ernte vergeben, und gingen wieder in den Besitz der Kommune über,
wenn eine Familie keinen Nutzen mehr für ein Grundstück fand. Ergänzend zum Anbau
von Reis, Maniok, Süßkartoffeln und Hirse wurde im Inland Viehzucht betrieben. Eines
der wichtigsten Bestandteile der Ernährung in Sierra Leone war das Salz, welches nur in
den Küstengebieten produziert werden konnte. Deshalb konzentrierten sich die
Menschen dort auf den Fischfang und die Herstellung von Salz, das sie dann gegen
landwirtschaftliche Produkte eintauschten. In den Handwerksbereichen stellte die
Familie, ebenso wie in der Landwirtschaft, das Hauptproduktionszentrum dar. Hier
wurden diverse Töpferwaren, Kleidungsstücke, sowie Ölprodukte hergestellt, die den
4
Conteh-Morgan, Earl/Dixon-Fyle, Mac, Sierra Leone at the End of the Twentieth Century.
History, Politics and Society, New York 1999, S. 12; Alie, Joe A.D., A New History of Sierra
Leone, New York 1990, S. 6.
5
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 11.
S. 5
Familien zusätzliche Einnahmen erbrachten.6 Neben der Subsistenzwirtschaft und der
Produktion von Handelswaren spielte die Ausübung von Religion schon in den frühen
Gesellschaften Sierra Leones eine wesentliche Rolle. Praktiziert wurde vorrangig eine Art
Monotheismus,
bei
dem
sich
die
Menschen
unterschiedlicher
Symbole7
als
Vermittlerinstanzen zwischen ihnen und einem übergeordneten Wesen bedienten. In
enger
Verbindung
mit
diesen
religiösen
Praktiken
standen
die
sogenannten
Geheimbunde, welche als polito-religiöse Institutionen erstrebenswertes Wissen an ihre
Mitglieder weitergaben. Für gewöhnlich wurden alle pubertären Mitglieder einer
Gesellschaft nach Absolvierung bestimmter Initiationsriten in einen dieser Geheimbunde
aufgenommen. Die bedeutendsten Geheimbunde waren der Poro- oder WondeGeheimbund für Jungen und der Bondo- oder Sande-Geheimbund für Mädchen. Sie
bereiteten ihre Mitglieder auf das Erwachsenenleben vor, indem sie etwa werdende
Männer in der Kriegskunst und angehende Ehefrauen in ihren kommenden Aufgaben und
Pflichten als Mütter unterrichteten. Außerdem übernahmen die Geheimbunde in vielen
Gesellschaften politische Funktionen, wie die Organisation und Durchführung von
Königskrönungen
und
–begräbnissen
oder
die
Vermittlung
bei
größeren
8
gesellschaftlichen Disputen. Im Zuge der vorkolonialen Zeit etablierten sich bereits in
nahezu
allen
Gesellschaften
Sierra
Leones
verschiedene
Grade
politischer
Zentralisierung. Könige übten, gestützt auf ihre „subchiefs“9 und „big men“10, sowohl
politische als auch gerichtliche Macht aus. Die Könige und „chiefs“ wurden zudem bei der
Ausübung ihrer Befehlsgewalten von Ältestenräten entlastet, welche gleichzeitig die
Rechtmäßigkeit ihrer Vorgehensweise kontrollierten. Diese frühen Gesellschaften Sierra
Leones waren bestimmt von einem System der Konsultation und des Konsens.11
2.2 Die Mane-Invasion
Um die Siedlungsgeschichte der ethnischen Gruppen in Sierra Leone besser zu erfassen,
ist es notwendig auf ein Ereignis zu verweisen, welches großen Einfluss auf die
Entwicklung in diesem Gebiet hatte. Es wird davon ausgegangen, dass die Invasion der
Mane – eine Volksgruppe aus dem Mali-Königreich des 16. Jahrhunderts – zur Schaffung
mehrerer großer politisch-zentralisierter Territorien auf dem heute als Sierra Leone
bekannten Gebiet geführt hat.12 Als die Mandingo-Königin Masarico aus dem Mali6
Alie, Joe A.D., 1990, S. 20-26.
So zum Beispiel Berge, Bäume oder selbst hergestellte Figuren.
8
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 13-14.
9
Den Königen untergeordnete Verwaltungsangestellte mit Funktionen ähnlich denen der
europäischen Fürsten des Mittelalters und der frühen Neuzeit.
10
Der Begriff „big men“ bezeichnet hier politische Amtsträger, Militärs und andere Männer von
Rang und Namen in der Gesellschaft.
11
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 18-19.
12
Alie, Joe A.D., 1990, S. 40.
7
S. 6
Königreich verbannt wurde, zog sie zusammen mit einer großen Zahl ihrer Anhänger
südwärts, in Richtung der westafrikanischen Küste, und ließ sich etwa 1540 in Cape
Mount, süd-östlich von Sierra Leone, nieder. Von dort aus organisierte sie Kriegszüge in
das Sierra Leonische Gebiet und etablierte nach und nach tributpflichtige Staaten. Um
1560 herum hatte sie das gesamte Küstengebiet Sierra Leones unter ihre Kontrolle
gebracht.13 Im Zuge dieser Eroberungen kam es nicht nur zur Aufspaltung und
Reorganisation der Küstenkommunen und von Teilen der Kommunen des Hinterlandes,
es entstanden überdies völlig neue ethnische Gruppen. So formte beispielsweise ein
Vizekönig der Mane, Sherabola, Ende des 16. Jahrhunderts im südlichen Teil des
Gebietes, welches ursprünglich durch die Bullom bewohnt war, eine Kommune, die sich
fortan als Sherbro bezeichnete. Die für Sierra Leone historisch bedeutendste ethnische
Gruppe, welche den Eroberungszügen der Mane entsprang, war jedoch die der Mende.
Es wird angenommen, dass diese Volksgruppe aus der Vereinigung der Gola und Kissi
mit den Mane entstanden ist. Ursprünglich stammten die Mende aus der Gegend um
Cape Mount im heutigen Liberia, wo der Einfluss der Mane am stärksten wirkte.14 Wie
noch zu sehen sein wird, sollten sie in der jüngeren Geschichte Sierra Leones eine
entscheidende Rolle einnehmen.
Neben den ethnographischen Umgestaltungen sorgte die Mane-Invasion für weitere
einschneidende Veränderungen in Sierra Leone. So führte sie unter anderem zu einem
Bruch im kulturellen Bereich. Waren einige Volksgruppen Sierra Leones, vor allem die
Küstenbewohner, im frühen 16. Jahrhundert angesehen für ihre Elfenbeinkunst, so lässt
sich dieses Kunsthandwerk für die Zeit unmittelbar nach der Mane-Invasion nicht mehr
belegen. Die feine Kunst, sowie der Handel wurden in dieser von Kriegen dominierten
Zeit
stark
vernachlässigt.
Dennoch
brachte
die
Mane-Invasion
auch
positive
Veränderungen mit sich, wie unter anderem die Weiterentwicklung der Eisenverarbeitung
und die eigenständige Produktion von Kleidungsstücken in den Küstengebieten, wo man
zuvor Kleidung aus dem Norden importiert hatte.15 Ihren signifikantesten Beitrag zur
Geschichte Sierra Leones leisteten die Mane jedoch zweifelsohne mit der politischen
Zentralisierung der Kommunen in den Küstengebieten und im Südwesten des Landes.
Die ethnographische Struktur, welche sich aus den Eroberungszügen der Mane ergab,
sollte die Geschichte Sierra Leones weithin prägen.
2.3 Die ersten europäischen Einflüsse in Sierra Leone
Die Portugiesen waren die ersten Europäer, die nach Sierra Leone gelangten. Sie
wurden zu den Pionieren des Handels zwischen Westafrika und Europa. Während ihrer
13
14
15
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 14.
Alie, Joe A.D., 1990, S. 40-41.
Ebd., 38-42.
S. 7
Handelsreisen nach Indien nutzten sie die Küste Sierra Leones als Rastplatz und zur
Auffrischung ihrer Ressourcen. Im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts ließen sie sich
entlang der gesamten Küste Sierra Leones nieder. Port Loko wurde zu einem ihrer
wichtigsten Handelszentren. Dort tauschten die Portugiesen europäische Waren, wie
Waffen, Haushaltsgegenstände und europäische Kleidung, gegen Gold und Kunstwerke
aus Elfenbein ein.16 Die Entdeckung Amerikas und die damit einhergehende Schaffung
und Kultivierung riesiger Plantagen in den neuen europäischen Kolonien rückte jedoch
Mitte des 16. Jahrhunderts den Sklavenhandel in den Vordergrund der wirtschaftlichen
Beziehungen zwischen Europa und Westafrika. Seit etwa 1560 zeigten auch britische,
französische und niederländische Händler großes Interesse an der Westküste Afrikas.
Sie wurden von den Herrschern der Küstengebiete Sierra Leones, ebenso wie einst die
Portugiesen, mit offenen Armen empfangen. Die einheimischen Herrscher hofften, vom
Handel mit den Europäern profitieren zu können, und sicherten diesen daher ihren
Schutz zu. Sie regten sogar aktiv interkulturelle Ehen an.17 Zur Sicherung des
Handelsmonopols mit den Europäern verboten die als Zwischenhändler agierenden
Herrscher der Küstengebiete den europäischen Händlern das Vordringen in das
Landesinnere, wo die bereits bestehenden Handelsnetzwerke18 mit Waren aus Europa
versorgt wurden.19 Mit Hilfe moderner europäischer Waffen waren einige „chiefs“ dazu in
der Lage, ihre Machtpositionen zu erweitern. Im Zuge dieser Konsolidierung von Macht
kam es häufig zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen
ethnischen Gruppen. Bittere Kämpfe zwischen den Temne, Bullom und Loko auf der
einen und den Soso und Fula auf der anderen Seite schufen stetig steigende Zahlen
Kriegsgefangener, die zumeist an europäische Sklavenhändler verkauft wurden.20 Vor
allem die britische Krone machte sich die rege Beteiligung der herrschenden Klassen
Westafrikas am Sklavenhandel zu Nutze, indem sie angeheuerte Handelskompanien
damit beauftragte, Stützpunkte auf diversen Inseln vor der Küste Sierra Leones zu
errichten.21 Spätestens ab dem 18. Jahrhundert dominierten britische Handelskompanien
den
Sklavenhandel
an
der
westafrikanischen
Küste.
In
dieser
Hochzeit
des
Sklavenhandels wurden jährlich 4000-6000 Menschen als Sklaven von der Küste Sierra
Leones in die „Neue Welt“ verschleppt.22 Über seine ungeheure Unmenschlichkeit hinaus
stellte der Transatlantische Sklavenhandel den vorläufigen Höhepunkt ungleichen
Tauschhandels zwischen Europäern und Afrikanern dar, verloren doch die Afrikanischen
16
Alie, Joe A.D., 1990, S. 31-32.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 22.
18
Shaw, Rosalind, Memories of the Slave Trade. Ritual and the Historical Imagination in Sierra
Leone, Chicago 2002, S. 26-27.
19
Alie, Joe A.D., 1990, S. 35.
20
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 22.
21
Alie, Joe A.D., 1990, S. 34-35.
22
Shaw, Rosalind, 2002, S. 29.
17
S. 8
Reiche durch ihn wertvolle Arbeitskräfte, die zumeist nur mit preisgünstig hergestellter
Massenware aus den Manufakturen Europas vergütet wurden. Ferner trug der
Transatlantische Sklavenhandel laut Earl Conteh-Morgan und Mac Dixon-Fyle zur
Ausbreitung des einheimischen Sklavenhandels innerhalb Sierra Leones bei, welcher
selbst die Abschaffung des Transatlantischen Sklavenhandles überdauern sollte.23
Abgesehen von den verheerenden Folgen des Sklavenhandels hatte der Kontakt mit den
Europäern noch weiteren Einfluss auf die Gesellschaften Sierra Leones. So veränderten
die aus
Europa eingeführten Waren den Lebensstil vieler
Menschen in den
Küstengebieten. Diese begannen, sich im europäischen Stil zu kleiden, europäische
Speisen
zu
sich
Haushaltsutensilien
zu
zu
nehmen
und
benutzen.
in
Die
Europa
Flut
produzierte
europäischer
Werkzeuge,
sowie
Massenwaren
hatte
katastrophale Folgen für das einheimische Gewerbe, das mehr und mehr an den Rand
der wirtschaftlichen Aktivitäten gedrängt wurde.24 An die Stelle der einheimischen
Industrie trat eine Klasse von Händlern, deren Angehörige ausgezeichnete Kontakte mit
den Europäern pflegten und oft den christlichen Glauben angenommen hatten. Nicht
selten waren diese Händler Nachkommen europäischer Kaufleute, die in einheimische
afrikanische Familien eingeheiratet hatten. Diese, aus interkulturellen Ehen stammenden,
Kaufleute stellten die erste Generation Sierra Leonier dar, die ihre Wurzeln sowohl auf
die christlich-abendländische Kultur Europas als auch auf die afrikanische Kultur ihrer
jeweiligen Ethnie zurückführten.25 Die Ambivalenz zwischen eben jenen beiden Kulturen,
die sich in dem gespaltenen Selbstverständnis dieser ersten Generation widerspiegelte,
zeigt sich noch heute in der Gesellschaft Sierra Leones.
3. Sierra Leone während der Kolonialzeit
Der Staat, welcher heute als Sierra Leone bekannt ist, entwickelte sich aus einer
Siedlung für ehemalige Sklaven, eine Siedlung, die als Antwort auf die sogenannte
„Mansfield Deklaration“ des Jahres 1772 gegründet wurde.26 Im Laufe des 18.
Jahrhunderts, und zweifellos „im Lichte“ der Aufklärung, setzte sich in Europa
schrittweise die Forderung nach der Beendigung des unmenschlichen Sklavenhandels
durch. Maßgeblichen Anteil an den immer lauterwerdenden Rufen nach der Abschaffung
des Sklavenhandels hatte auch die weitverbreitete Ansicht, dass er nachteilig für die
Entwicklung der kapitalistischen Märkte gewesen sei. Innerhalb Europas entfaltete sich
ein ernsthafter Diskurs über die Abolition des Transatlantischen Sklavenhandels, in dem
23
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 23.
Alie, Joe A.D., 1990, S. 37.
25
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 23; Alie, Joe A.D., 1990, S. 35.
26
Kargbo, Michael S., British Foreign Policy and the Conflict in Sierra Leone, 1991-2001, Oxford
[u.a.] 2006, S. 36.
24
S. 9
Großbritannien eine führende Rolle übernahm. Angeführt wurden die britischen
Verfechter der Abolition von Thomas Clarkson und Granville Sharp.27 Letzterer führte die
grundlegende
Entscheidung
des
Richters
Lord
Mansfield
zu
Gunsten
eines
Abolitionismus mit herbei, indem er 1772 das Gerichtsverfahren eines ehemaligen
Sklaven namens James Sommersett gegen dessen früheren Herren unterstützte. In
diesem Verfahren entschied Lord Mansfield „[…] that it was not possible under English
law for a master to forcibly remove his slave from England for the purpose of sending him
back to the New World to be sold.”28 Obwohl dieses Urteil die Sklaverei in Großbritannien
nicht per se abschaffte, stellte es doch sicher, dass ehemalige Sklaven, die nach
England zurückgekehrt waren, nicht erneut versklavt werden konnten. Als Folge des
prominenten Urteils sahen ehemalige Sklaven, die während des amerikanischen
Unabhängigkeitskrieges auf der Seite der Briten gekämpft hatten, in Großbritannien ihre
Chance auf ein Leben in Freiheit. Besonders in London führte der enorme Zustrom
ehemaliger Sklaven in Reaktion auf das Mansfield-Urteil, sowie die zunehmende
Arbeitslosigkeit unter der schwarzen Bevölkerung nach Ende des Unabhängigkeitskrieges, zur Entstehung einer verarmten Schicht, die von den Londonern als „Black Poor“
bezeichnet wurde. Um dieser Lage Herr zu werden und der Gefahr von Unruhen unter
den „Black Poor“ aus dem Weg zu gehen, unterstützte die britische Krone das Vorhaben
Granville Sharps und seiner Anhänger, an der Westküste Afrikas eine Siedlung für die
ehemaligen Sklaven zu gründen.29 Dieses Unternehmen sollte den Grundstein für die
Entstehung Sierra Leones in seiner heutigen Form legen.
3.1 Die Gründung von Freetown und die Etablierung einer
Kronkolonie
Der Standort, welcher für die neue Siedlung ausgesucht wurde, befand sich auf der
Halbinsel, der Sierra Leone seinen Namen zu verdanken hat. Im Mai 1787 erreichten
etwa 400 Siedler die Küste Sierra Leones. Nachdem sie sich vom König der Temne die
Erlaubnis für die Etablierung ihrer Siedlung eingeholt hatten, gründeten sie im Norden
der Halbinsel, nahe der Küste, im heutigen Fourah Bay, Granville Town, benannt nach
Granville Sharp.30 Sharp und seine Anhänger verstanden die Siedlung als eine „Province
of Freedom“, die ihre Prinzipien aus den Werten der Aufklärung und der christlichen
Moral beziehen sollte und in der die Sklaverei von Beginn der Gründung an verboten
27
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 24.
Peterson, John, Province of Freedom. A History of Sierra Leone 1787-1870, London 1969,
S.19.
29
Peterson, 1969, S. 20; Kargbo, Michael S., 2006, S. 37; Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999,
S.24.
30
Peterson, 1969, S. 25-26.
28
S. 10
war.31 Schon in den ersten Jahren zeigte sich jedoch, dass es für die kleine Gruppe von
Siedlern beinahe unmöglich war, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die schweren
Regenfälle und die ungewohnten Bodenverhältnisse Sierra Leones führten dazu, dass
ein Großteil der Siedler erkrankte und starb. Hinzu kamen häufige Angriffe von
europäischen Sklavenhändlern, die immer wieder Teile der Siedlung zerstörten. 1789
wurde Granville Town letztlich durch König Jimmy, den amtierenden Temne König,
vollends zerstört.32 Nachdem Sharp erkennen musste, dass er sein Unternehmen ohne
größere Unterstützung nicht zum Erfolg führen konnte, wandte er sich an wohlhabende
Briten, die wie er als Gegner des Sklavenhandels auftraten. Diejenigen, welche, nicht
zuletzt auf Grund ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen in Westafrika, dazu bereit
waren, Sharp behilflich zu sein, fanden sich 1791 in der Sierra Leone Company (SLC)33
zusammen. Noch im selben Jahr gründete Alexander Falconbridge im Namen der Sierra
Leone Company ein zweites Granville Town unweit von der alten Siedlung. In diese Zeit
fiel auch die aktive Suche nach neuen Siedlern seitens der SLC, um den Standort der
Siedlung festigen und ausbauen zu können.34 Besonderes Engagement zeigte man für
eine Gruppe ehemaliger Sklaven, die nach dem verlorenen Unabhängigkeitskrieg gegen
die USA zusammen mit den verbliebenen Anhängern der Briten nach Nova Scotia ins
kanadische Exil verbannt worden war. Diese Ex-Sklaven folgten der Verheißung auf ein
Leben in Freiheit und sahen die Möglichkeit, sich an der Westküste Afrikas eine eigene
Existenz aufbauen zu können. 1792 trafen etwa 1200 von ihnen in Sierra Leone ein und
gründeten in der Nähe von Granville Town ihre eigene Siedlung. Diese Siedlung bildete
die historische Basis für die heutige Hauptstadt Sierra Leones und trägt seit ihrer
Gründung den Namen Freetown.35 Nach einiger Zeit der Eingewöhnung gelang es den
sogenannten „Nova Scotians“, sich in ihrer neuen Umgebung zu etablieren. Sie
bevorzugten es, sich in den Handel zu integrieren oder über die Kompanie in der
Landwirtschaft beschäftigt zu werden. Trotz der gut voranschreitenden Entwicklung in
Freetown gab es immer wieder Spannungen zwischen der SLC-Führung und den „Nova
Scotians“. Diese Probleme, ausgelöst durch das Beharren auf einer steuerpflichtigen
Verpachtung von Land seitens der Kompanie, führten im September 1800 zu einem
Aufstand der „Nova Scotians“ unter der Führung von Isaac Anderson und Nathaniel
Wansey.36 Unterdrückt wurde der Aufstand letztlich mit Hilfe von 550 sogenannten
„Maroons“, ehemaligen jamaikanischen Sklaven, die im Zuge einer Erhebung auf
Jamaika nach Nova Scotia verbannt worden waren. Sie hatten im Jahr 1800 unter der
31
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 25.
Peterson, 1969, S. 26-27; Elias, Taslim O., Ghana and Sierra Leone. The Development of their
Laws and Constitutions, London 1962, S. 220.
33
Im Folgenden auch „Kompanie“ genannt.
34
Peterson, 1969, S. 27-28.
35
Elias, 1962, S. 221; Peterson, 1969, S. 27-29.
36
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 26.
32
S. 11
Führung James Montagues die britische Regierung um Rückführung nach Afrika
gebeten.37 Nach ihrer Ankunft halfen die „Maroons“ nicht nur den Aufstand der „Nova
Scotians“ zu unterdrücken, sondern waren auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass
die seit 1801 andauernden kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Temne zu
Gunsten der Siedler entschieden wurden.38 1807 gaben die Temne die Kontrolle über
Teile ihres Gebietes auf und unterzeichneten ein Abkommen, durch welches sie den
Freetown-Siedlern die Hoheit über das gesamte Gebiet der Halbinsel überließen.39
Obwohl zu diesem Zeitpunkt die größten inneren und äußeren Gefahren für die Siedlung
gebannt waren, sah sich die Kompanie in einer prekären Situation. Die andauernden
Angriffe auf Freetown, sowohl durch die Temne als auch durch konkurrierende
Handelsmächte,
hatten
die
wirtschaftliche
Profitabilität
der
Siedlung
so
stark
beeinträchtigt, dass die SLC kurz vor dem finanziellen Ruin stand. Da die britische Krone
auf Grund dieser Situation ohnehin immer stärker in die finanzielle Verantwortung
gedrängt worden war, sah sich Henry Thornton, Vorsitzender der Kompanie, 1806
gezwungen, das britische Parlament um die ganzheitliche Übernahme der Verantwortung
für
die
Siedlung
Großbritanniens.
zu
bitten.
Im
Jahr
1808
wurde
Sierra
Leone
Kronkolonie
40
Nachdem der Sklavenhandel 1807 mit Verabschiedung des Abolition of the Slave Trade
Act in Grobritannien offiziell verboten worden war, setzte sich die britische Krone aktiv für
die Unterbindung des Sklavenhandels ein. Sierra Leone wurde zu einem Zentrum dieser
Bemühungen. So wurden in Freetown Gerichtsverhandlungen über Straftaten im
Zusammenhang mit dem Slave Trade Act abgehalten. Ferner wurden Sklaven, die mit
Hilfe der britischen Marine frei gekommen waren, in der Umgebung von Freetown
angesiedelt.
Diese
„Liberated
Africans“41
oder
„recaptives“42
waren
von
sehr
unterschiedlicher ethnischer Abstammung. Sie kamen oft aus weit voneinander
entfernten Gebieten Afrikas. So reichten die Herkunftsgebiete der Neuankömmlinge von
der Sene-Gambia-Region über das Kongobecken bis hin nach Ostafrika. Binnen
kürzester Zeit, Freetowns Bevölkerung stieg von etwa 2500 Menschen im Jahre 1808 auf
circa 6000 Menschen im Jahr 1816 an, stellten sie die Bevölkerungsmehrheit auf der
Sierra Leonischen Halbinsel dar. Zusammen mit den „Nova Scotians“ und den „Maroons“
bildeten sie im Laufe des 19. Jahrhunderts die Bevölkerungsschicht der sogenannten
Krio.
37
Elias, 1962, S. 222-223.
Peterson, 1969, S. 34-35.
39
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 26.
40
Peterson, 1969, S. 35-36.
41
Hier = befreite Afrikaner.
42
Bezieht sich auf die zweite „Gefangennahme“ der für den Sklavenhandel vorgesehenen
Afrikaner, wenn sie von der britischen Marine an Bord genommen, also befreit, wurden.
38
S. 12
3.2 Die
Entstehung
der
Krio-Gesellschaft
während
der
Kolonialzeit
Zu der Zeit, als die ersten „Liberated Africans“ in Sierra Leone eintrafen, gab es dort
bereits eine christlich-europäische Kultur, die von den britischen Siedlern und den „Nova
Scotians“ gepflegt wurde. Obgleich die Regierung der Kronkolonie eine Assimilation der
neuen Siedler in diese bereits vorhandene europäische Kultur antizipierte, waren die
Neuankömmlinge nicht gewillt, ihre afrikanischen Wurzeln ganz und gar aufzugeben.
Vielmehr wählten sie aus den christlich-europäischen Werten und Symbolen gezielt aus,
um im Zusammenspiel mit diesen und den eigenen Werten eine neue Hybrid-Kultur zu
schaffen. Diese Kultur, die erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu ihrer vollen Entfaltung
kam, sollte als Gesellschaft der Krio bekannt werden. Das Alltagsleben der KrioKommunen bestand aus einer Verquickung von westeuropäischen und afrikanischen
Traditionen. Es war gang und gäbe, dass vermögende Krio-Familien sowohl an GalaDînes
im
Stile
des
europäischen
Großbürgertums
als
auch
an
traditionellen
Initiationsriten afrikanischer Kultgesellschaften teilnahmen. Afrikanische Kleidung war
ebenso gefragt wie der europäische Kleidungsstil. So wurde zum Beispiel die traditionelle
Robe der Yoruba (agbada) von vielen Männern der Krio getragen.43 Die Sprache, welche
sich innerhalb der Krio-Gesellschaft entwickelte basiert zwar zum größten Teil auf dem
Englischen, enthält aber nach wie vor viele Elemente aus afrikanischen Sprachen.44 Auch
die Namen der Krio spiegeln häufig die Verschmelzung afrikanischer und europäischer
Kulturen wider, setzen sie sich doch zumeist aus englischen und afrikanischen Namen
zusammen (z.B. James Omodele Williams).45 Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
hatte sich die Krio-Gesellschaft so fest in Sierra Leone etabliert, dass ihre Kaufleute
beträchtliche Profite im Einzelhandel erzielen konnten. Vielen von ihnen gelang es, sich
von kleinen Verkäufern zu führenden Großhändlern aufzuschwingen. Einige dieser
Kaufleute
waren
sogar
so
erfolgreich,
dass
sie
es
mit
ihren
europäischen
Handelspartnern aufnehmen konnten. Gegen 1860 kristallisierten sich durch die
zunehmende Anhäufung von Reichtum und die gezielte Nutzung höherer Bildung in
bestimmten Kreisen der Krio bereits Anfänge einer geistigen und wirtschaftlichen Elite
heraus. Spätestens ab den 1880er Jahren hatte die Krio-Gesellschaft in Sierra Leone
eine hochgradig differenzierte Form angenommen. An der Spitze der Gesellschaft
standen die erfolgreichen Handels- und Geschäftsleute, gefolgt von den weniger
wohlhabenden Kunsthandwerkern, Lieferanten und Ladenbesitzern, die den Mittelstand
bildeten. Am unteren Ende der Krio-Gesellschaft befanden sich die gewöhnlichen
43
Kommunen mit Yoruba-Wurzeln (eine Bevölkerungsgruppe aus dem Gebiet des heutigen
Nigeria und Niger) waren und sind eine der größten Gruppen unter den „Liberated Africans“/Krio.
44
U.a. Yoruba, Mandingo, Mende, Temne und Limba.
45
Alie, Joe A.D., 1990, S. 78-80.
S. 13
Handwerker und das Lumpenproletariat.46 Im Laufe der Zeit hatte sich zusätzlich zu der
Etablierung einer Klassengesellschaft eine Teilung der Krio in Anhänger der christlichen
und Anhänger der muslimischen Religion ergeben. Die muslimischen Elemente waren
sowohl durch die „Liberated Africans“ als auch durch die, während des Futa Jallon
Jihads47 bekehrten, einheimischen ethnischen Gruppen des Hinterlandes Sierra Leones
in die Krio-Gesellschaft hineingetragen worden. Noch stärker als untereinander grenzten
sich die Krio jedoch bewusst von der einheimischen Bevölkerung des Hinterlandes Sierra
Leones ab. Die Migranten aus dem Hinterland wurden vor allem von den dominanten
Krio-Familien Freetowns als minderwertig angesehen und konnten lediglich über die
„Adoption“ durch eine Krio-Familie in ihrem gesellschaftlichen Ansehen steigen. Der
Großteil der Immigranten aus dem Hinterland fügte sich in eine der Krio-Gesellschaft
untergeordnete Rolle, in welcher die Immigranten über den längsten Zeitraum der
Kolonialzeit verharren sollten.48
Trotz ihrer wirtschaftlich und gesellschaftlich starken Position war es den Krio lange
verwehrt, direkten Einfluss auf die politische Verwaltung der Kolonie zu nehmen. Daran
änderte
auch
die
Einführung
Exekutiver
und
Legislativer
Räte
seitens
der
Kolonialregierung im Jahre 1863 nichts, da die Interessen der Krio in diesen Räten nur
von wenigen inoffiziellen Repräsentanten49 vertreten werden durften.50 Selbst im Zuge
der Dekolonisation Mitte des 20. Jahrhunderts sollte es der Krio-Elite nicht möglich
werden, die politischen Geschicke Sierra Leones entscheidend mitzubestimmen, da die
Politik zu diesem Zeitpunkt bereits stark von einer ethnischen Polarisation geprägt war,
die sich vorteilhaft auf die Eliten der zahlenmäßig größten Ethnien des Landes
auswirkte.51 Die politische Marginalisierung der Krio stellt auch heute noch ein
signifikantes Problem bei der Konsolidierung der Machtverhältnisse in Sierra Leone dar.
3.3 Die Schaffung des britischen Protektorats
Die ersten informellen Kontakte zwischen den Siedlern und den Bewohnern des
Hinterlandes entstanden bereits in den 1780er und 1790er Jahren. Angewiesen auf
Agrarprodukte aus dem Landesinneren knüpften die Menschen der Siedlung frühzeitig
Handelsverbindungen mit den Einheimischen. Als Folge der raschen Entwicklung
Freetowns war sehr bald eine größere Zahl an ungelernten Arbeitskräften gefragt, die
sich zu einem guten Teil aus einheimischen Immigranten rekrutierte. Die 1808 in
46
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 31-32.
Zum Futa Jallon Jihad: Alie, Joe A.D., 1990, S. 43-44.
48
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 33-34.
49
Als inoffizielle Mitglieder wurden alle Mitglieder des Rats bezeichnet, die nicht europäischen
Ursprungs waren und nicht die britische Staatsbürgerschaft besaßen (sowohl Krio und
Protektoratsangehörige als auch alle anderen Nicht-Europäer).
50
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 35.
51
Ebd., S. 53-62.
47
S. 14
Freetown
etablierte
Kolonialregierung
konnte
ihre
Wirtschaftsinteressen
dementsprechend über ein existierendes Handelsnetzwerk verfolgen. Erweiterung und
Ausbeutung dieses Handelsnetzwerkes stellten zu Beginn des 19. Jahrhunderts das
Hauptaugenmerk der Kolonialregierung dar. Um ihren Einfluss im Landesinneren Sierra
Leones zu vergrößern, sandten die Briten regelmäßig Handelsdelegationen zu den
verschiedenen Königen und Unterkönigen des Hinterlandes. Begleitet wurden diese
Expeditionen häufig von christlichen Missionaren.
Konzentrierte sich die Kolonialregierung Mitte des 19. Jahrhunderts noch weitestgehend
auf die Erweiterung des Handelsnetzwerkes mit dem Hinterland, so änderte sie diese
Vorgehensweise zum Ende des 19. Jahrhunderts. Nach und nach intervenierten
Kolonialbeamte in politischen Angelegenheiten der afrikanischen Reiche.52 Ab 1888
begann die Kolonialregierung, Stück für Stück einzelne Gebiete des Landesinneren unter
seine Kontrolle zu bringen. Zunächst wurde diese Politik auf diplomatischem Wege
vorangetrieben, indem man vermeintliche Friedensverträge benutzte, um scheinlegale
Hoheitsansprüche auf die verschiedenen Gebiete der afrikanischen Vertragspartner zu
erwirken.
Zur
Durchsetzung und Festigung dieser Territorialansprüche rief
die
Kolonialregierung dann im Jahre 1890 eine spezielle Grenzschutztruppe ins Leben.
Diese Grenzschutztruppe ging mit äußerster Härte gegen alle vor, die sich dem Willen
der britischen Krone widersetzten. Ihre Beamten manipulierten gezielt die politischen
Geschehnisse
in
den
Kommunen
des
Landesinneren,
indem
sie
Thronfolger
durchsetzten, die mit der Kolonialregierung sympathisierten, oder indem sie indirekten
Einfluss
auf
die
politischen
Verbindungen
der
verschiedenen
Herrscherhäuser
untereinander nahmen. Als Frederick Cardew 1894 das Gouverneursamt der Kronkolonie
übernahm, hatte sich die Vorstellung, man müsse das Landesinnere Sierra Leones zum
britischen Protektorat erklären, um die Interessen Großbritanniens waren zu können,
unter den Verantwortlichen der Kolonialregierung bereits festgesetzt. 1895 einigten sich
britische
und
französische
Vertreter
auf
eine
konkrete
Aufteilung
ihrer
aneinandergrenzenden Kolonialgebiete in Westafrika und legten dabei auch die
zukünftigen Grenzen des britischen Protektorats fest. Ohne Einbeziehung der Könige
Sierra Leones und ihrer Gefolgsleute erklärte die britische Kolonialregierung die Teile des
Hinterlandes, in denen sie ohnehin schon indirekten Einfluss besaß am 31. August 1896
zum
britischen
Protektorat.53
Das
neue
Protektorat
wurde
daraufhin
in
fünf
Verwaltungsbezirke eingeteilt: Karene, Koinadugu, Panguma, Ronietta und Bandajuma.
Jeder
Bezirk
wurde
einem
Bezirksleiter
unterstellt
und
von
Abteilungen
der
Grenzschutztruppen kontrolliert.54 In diesen Gebieten übte die Kolonialregierung eine
52
53
54
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 38.
Ebd., S. 40-41.
Elias, 1962, S. 225.
S. 15
„indirekte Herrschaft“55 aus. Die afrikanischen Herrscher wurden in den britischen
Verwaltungsapparat integriert und mussten sich von nun an von der Kolonialregierung
legitimieren lassen. Einige dieser sogenannten „paramount chiefs“ kollaborierten offen
mit den Briten, um ihre Macht über die Vergabe von Land mit Hilfe der militärischen
Überlegenheit des Kolonialregimes zu festigen. Sie gingen oft so weit, dass sie ihre
Untertanen zu Gunsten der eigenen Familien erbarmungslos ausbeuteten. Doch gab es
auch heftigen Widerstand gegen die Fremdherrschaft der Briten. Als schließlich 1898 die
sogenannte „Hüttensteuer“ eingeführt wurde, welche die Bewohner des Protektorats dazu
zwang, unabhängig von ihrer Wirtschaftskraft eine Abgabe in festgelegter Höhe an die
Kolonialregierung zu zahlen, entlud sich die allgemeine Empörung über das respektlose
Vorgehen der Briten in Form von gewalttätigen Auseinandersetzungen. Mehrere
Herrscher, allen voran der Temne-Kriegsherr Bai Bureh aus der Gegend um Port Loko,
erhoben sich und attackierten Grenzschutztruppen der Kolonialregierung, sowie einige
der mit den Briten sympathisierenden „paramount chiefs“. Bis Ende November 1898
zerschlugen die Briten aber auch diese vorerst letzten Unabhängigkeitsbestrebungen der
einheimischen Bevölkerung. Die großen Bezirke des Protektorats wurden in Folge der
Ereignisse des „Hüttensteuer-Krieges“ in kleinere, besser zu verwaltende Gebiete
eingeteilt und mit loyalen „chiefs“ besetzt.56 Die Kolonie und das Protektorat blieben bis in
das Jahr 1951 separate Verwaltungseinheiten.57 Erst weitere zehn Jahre später sollte
das geeinte Sierra Leone in den Genuss seiner politischen Unabhängigkeit gelangen.
3.4 Die
Wirtschaftliche
Entwicklung
Sierra
Leones
in
der
Kolonialzeit
Die wirtschaftliche Ausrichtung der Industrie in Sierra Leone während der Kolonialzeit
war bestimmt von dem Verlangen der Kolonialherren, auf günstigem Wege Rohstoffe für
die verarbeitende Industrie in Großbritannien zu gewinnen. Gleichzeitig versuchte man,
in Sierra Leone Konsummärkte zu schaffen, auf denen man die in Großbritannien
hergestellten Waren absetzen konnte. Bevor das Kolonialregime die „indirekte
Herrschaft“ über das Landesinnere übernahm, lebten die Menschen dort weitestgehend
von Subsistenzwirtschaft. Doch mit der Etablierung des Protektorats wurde auch die
Landwirtschaft in diesem Gebiet immer stärker auf den Export ausgerichtet.58 Das
britische Kolonialregime formte Sierra Leone Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem
kostengünstigen Rohstofflieferanten, dessen Bevölkerung die dafür benötigten billigen
55
Zum System der „indirekten Herrschaft“: Crowder, Michael, Indirect Rule – French and British
Style, in: Africa: Journal of the International African Institute, Vol. 34, No. 3 (1964), S. 197-205.
56
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 42-44.
57
Elias, 1962, S. 225-226.
58
Alie, Joe A.D., 1990, S. 187.
S. 16
Arbeitskräfte bereitstellen musste. Mobilisiert wurden diese Arbeitskräfte zumeist von
einheimischen „chiefs“, die sich im Zuge der Zusammenarbeit mit dem Kolonialregime
bereichern konnten.59 Obwohl die Kolonialregierung auf Grund des Rohstoffreichtums
des Landes und seiner florierenden Landwirtschaft hohe Gewinne im Export erzielte,
drückte sich dies kaum in einer Verbesserung der Lebensumstände der breiten Masse
der Bevölkerung aus. Da die Exportwirtschaft Sierra Leones von britischen Firmen
dominiert wurde ging der überwiegende Teil der erzeugten Gewinne in die britischen
Märkte ein. Auch wenn es der vergleichsweise kleinen Schicht der Facharbeiter gelang,
ihr Gehaltsniveau zwischen 1906 und 1914 um etwa 35 bis 50 Prozent zu steigern,
blieben die Arbeits- und Lohnverhältnisse der breiten Masse der Bevölkerung
unverändert schlecht. Der Ärger über die unverhohlene Ausbeutung der ungelernten
Arbeiter äußerte sich 1919 in, hauptsächlich gegen libanesische Kaufleute gerichteten,
Ausschreitungen. Zu einer Zeit, da die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges die Lage
der ärmeren Bevölkerung dramatisch verschlechterte, griffen die Aufstände, die in
Freetown ihren Anfang nahmen, auf weitere Gebiete über, wurden aber schnell wieder
zur Räson gebracht. Trotz dieser ersten Anzeichen von sozialen Unruhen änderte die
Kolonialregierung nach dem Ersten Weltkrieg nichts an ihrer exportorientierten
Ausrichtung der Wirtschaft Sierra Leones. 1927 erzielte man Rekordeinnahmen in Höhe
von 1,6 Millionen Pfund und wurde somit darin bestätigt, den eingeschlagenen Kurs
fortzusetzen.60 Die Bemühungen seitens des Kolonialregimes, die einheimische Industrie
zu fördern, waren sehr begrenzt. Tatsächlich sorgten die Briten sogar bewusst für den
Rückgang der einheimischen Industrie, indem sie Steuern auf Importprodukte, die auch
im Inland hergestellt wurden, aussetzten oder gezielt führende einheimische Produzenten
aus dem Wettbewerb drängten.61 Der Ausbau des Bergbausektors in den 1930er Jahren
sollte diese einseitige Entwicklung noch verstärken. Bestand der gesamte Export Sierra
Leones vor 1929 aus landwirtschaftlichen Produkten, so machten Mineralien 1933 bereits
21,5 Prozent desselben aus. Im Jahr 1940 hatte sich der Anteil der Bergbauprodukte am
Gesamtexport auf stolze 70 Prozent gesteigert. Die Landwirtschaft, mit ihrem Potential,
nicht nur die Exportmärkte, sondern auch die einheimische Bevölkerung zu versorgen,
wurde nun zu Gunsten des profitableren Bergbaus vernachlässigt.62 Erst In der Phase
der Dekolonisation wurden überhaupt Schritte unternommen, um in Sierra Leone eine
verarbeitende Industrie aufzubauen. 1947 wurde zu diesem Zweck das Development of
Industries Board ins Leben gerufen, welches bis zur Unabhängigkeit im Jahr 1961 einige
Industrieprojekte finanzierte. Dennoch änderte dies nichts daran, dass Sierra Leone zum
59
Zur problematischen Rolle der „chiefs“ in Sierra Leone während der Kolonialzeit: Keen, David,
Conflict & Collusion in Sierra Leone, Oxford – New York 2005, S. 9-12.
60
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 46-48.
61
Alie, Joe A.D., 1990, S. 199.
62
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 49.
S. 17
Zeitpunkt seiner Unabhängigkeit primär ein rohstoffproduzierendes Land war, welches
Fertigprodukte aus Europa importieren musste. Der Vertrieb der Fertigwaren aus Europa,
sowie die Vermarktung der Agrarprodukte einheimischer Bauern, befanden sich nach wie
vor in den Händen großer europäischer Firmen.63 Das von der britischen Fremdregierung
installierte und über die Kolonialzeit stetig fortgeführte System der Ausbeutung, welches
Sierra Leone seiner wertvollen Ressourcen beraubte und seine Menschen in eine
Abhängigkeit von externen Märkten drängte, legte folglich den Grundstein für die
mannigfaltigen Probleme, die nach der Unabhängigkeit auf das Land und seine
Bevölkerung zukommen sollten.
4. Der Weg in die Unabhängigkeit
Die konstitutionelle Trennung zwischen Kolonie und Protektorat stellte für Sierra Leone
zweifelsfrei das größte Hindernis auf dem Weg zur Erlangung der Unabhängigkeit dar.
Wie bereits in Kapitel drei erwähnt, wurde das Protektorat über die sogenannte „indirekte
Herrschaft“ als eine Art separates Territorium verwaltet, während die Kolonie der
Halbinsel über Legislative und Exekutive Räte direkt regiert wurde. Der Legislativrat der
Kolonie
verabschiedete
Gesetze
für
das
Protektorat,
obwohl
in
diesem
Gesetzgebungsapparat keine Vertreter des Protektorats vorhanden waren. Einher mit der
formalen Trennung der Verwaltung ging auch eine klare Abgrenzung der aus der Kolonie
stammenden Krio-Elite gegenüber der Bevölkerung des Protektorats. Die Krio sahen sich
auf Grund ihrer europäischen Werte, ihrer westlichen Bildung und ihrer Angehörigkeit zur
britischen Kronkolonie als den Bewohnern des Landesinneren Sierra Leones überlegen
an.64 Obwohl sich prominente Vertreter und Organisationen der Krio etwa seit Beginn des
20. Jahrhunderts intensiv für ein Mehr an politischen Rechten und eine gewisse
Unabhängigkeit einsetzten, zielten ihre Bemühungen vornehmlich auf eine Verbesserung
der Lage ihrer eigenen Klasse, namentlich der bessergestellten Krio-Elite. Vor diesem
Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass das Verhältnis zwischen der im Laufe des
frühen 20. Jahrhunderts entstandenen geistigen Elite des Protektorats und den
führenden Vertretern der Krio bis in die heutige Zeit von starken Spannungen geprägt ist.
Um ihre Interessen gegenüber der Kolonialregierung eigenständig vertreten zu können,
gründeten 1922 Angehörige der Protektorats-Elite das Comittee of Educated Aborigines
(CEA). Das Komitee setzte sich dafür ein, dass die Bevölkerung des Protektorats endlich
auch im Legislativrat repräsentiert sein würde und forderte im Allgemeinen größere
Mitbestimmungsrechte über die Ressourcen und die politischen Geschehnisse im
63
64
Alie, Joe A.D., 1990, S. 200.
Kargbo, Michael S., 2006, S. 38-39.
S. 18
Protektorat.65 Die britische Kolonialregierung, darauf bedacht ihre Herrschaft mittels
schrittweiser politischer Konzessionen aufrecht zu erhalten, reagierte 1924 auf die
Forderungen des CEA mit dem Entwurf einer neuen Verfassung. Diese Verfassung sah
zum ersten Mal drei Vertreter des Protektorats als Mitglieder im Legislativrat der Kolonie
vor. Obwohl jene Vertreter von der Kolonialregierung nominiert und aus der Gruppe der
„paramount chiefs“ ausgewählt wurden, und sich somit nicht direkt aus der geistigen Elite
des Protektorats rekrutierten, stellte diese Neuerung den ersten Schritt einer
Machtverschiebung zu Gunsten der Protektorats-Elite dar. Die Elite des Protektorats war
sich bewusst, dass ihr Territorium die überwältigende Bevölkerungsmehrheit des
Gesamtgebietes von Sierra Leone beherbergte und über den Großteil der nutzbaren
Ressourcen verfügte. Auf dieser Grundlage drängte sie auf die Einführung des
politischen Wahlrechts, welches ihr unweigerlich einen Großteil der politischen Macht in
Sierra Leone übertragen würde.66 Die Krio-Elite, die sich durch diese Vorgänge in ihrer
politischen Rolle bedroht sehen musste, suchte händeringend nach Vorwänden, um die
politische Partizipation des Protektorats zu verhindern. So strengte man als Antwort auf
die Verfassung von 1924 sogar ein Gerichtsverfahren an, welches die Legitimität von
Protektoratsangehörigen
in
einem
Legislativrat
der
Kronkolonie
anfocht.67
Alle
Bemühungen der Krio, ihre politische Marginalisierung zu verhindern, sollten sich jedoch
als fruchtlos erweisen. Während des Zweiten Weltkrieges, in welchem viele Bürger Sierra
Leones, sowohl Krio als auch Protektoratsangehörige, auf der Seite der Alliierten
kämpften,68 sah sich die Kolonialregierung scheinbar
dazu veranlasst,
weitere
Konzessionen an die afrikanische Bevölkerung zu machen. 1943 wurden erstmals zwei
Vertreter des Protektorats in den Exekutivrat der Kolonie aufgenommen. In den
darauffolgenden Jahren wurden die ersten ernsthafteren Schritte zur aktiven Einbindung
der Protektoratsbevölkerung in die Verwaltung ihres eigenen Territoriums unternommen.
1946 kam es zur Etablierung von Bezirksräten für die lokale Verwaltung, und noch im
selben Jahr wurde eine Protektoratsversammlung eingeführt, in der „paramount chiefs“,
Vertreter der geistigen Elite und Kolonialbeamte über die politischen und sozialen
Defizite des Protektorats beraten sollten. In dieser Protektoratsversammlung stellten die
traditionellen Vertreter der afrikanischen Bevölkerung, die „paramount chiefs“, die
Mehrheit der Repräsentanten. Sie hatten mit 26 der 42 vorgesehenen Sitze ein enormes
Übergewicht
an
Entscheidungsgewalt,
wohingegen
der
Einfluss
der
geistigen
Protektorats-Elite mit nur zwei festen Sitzen sehr gering ausfiel. Nichtsdestotrotz ging der
formale
65
Prozess
der
Dekolonisation
ein Jahr
später
mit
der
Publikation
der
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 52-56.
Kargbo, Michael S., 2006, S. 40-41.
67
Kandeh, Jimmy D., Politicization of Ethnic Identities in Sierra Leone, in: African Studies Review,
Vol. 35, No.1 (1992), S. 88-89.
68
Vor allem in Birma.
66
S. 19
Verfassungsvorschläge des Gouverneurs Hubert Stevenson weiter. Sein Vorschlag für
eine neue Verfassung sah erstmals eine Mehrheit inoffizieller Mitglieder im Legislativrat
vor. Die neue Legislative sollte 16 inoffizielle und acht offizielle Mitglieder beinhalten.
Eine weitere bemerkenswerte Neuerung war zudem, dass die Mehrheit der inoffiziellen
Mitglieder zum ersten Mal in der Kolonialgeschichte Sierra Leones aus afrikanischen,
respektive Protektoratsmitgliedern, bestehen sollte. Dem Protektorat sollten insgesamt
zehn Sitze des 24-köpfigen Legislativrats zugesprochen werden.69 Wenngleich diese
verfassungsrechtlichen Vorschläge richtungsweisend waren für den Weg Sierra Leones
in die Unabhängigkeit, so brachen sie im Wesentlichen doch nicht mit den
althergebrachten Strukturen der indirekten Herrschaft. Dadurch, dass die überwiegende
Mehrheit der inoffiziellen Mitglieder des Legislativrats aus dem Protektorat in der von den
Chiefs
dominierten
Protektoratsversammlung
gewählt
wurde,
führte
der
neue
Verfassungsentwurf eher zur Konsolidierung der Macht in den Händen der traditionellen
Autoritäten.70 Dessen ungeachtet sah die Krio-Elite ihre Ängste, von den Führern des
Protektorats
in
die
politische
Bedeutungslosigkeit
abgedrängt
zu
werden,
im
Verfassungsentwurf von 1947 bestätigt. Folglich setzten die Krio eine Welle des Protests
in Bewegung, die in einer Petition an König George VI gipfelte. In dieser Petition
forderten einige Krio, dass die Lese- und Schreibfähigkeit zur Bedingung für den Zugang
zum Legislativrat der Kolonie gemacht werden solle.71 Nicht wenige Angehörige der
geistigen Elite des Protektorats stimmten in dieser Forderung mit der Krio-Elite überein,
da sie sich durch die Übermacht der Chiefs in der Protektoratsversammlung benachteiligt
fühlten. Als sich aber der Protest der Krio gegen den neuen Verfassungsentwurf so sehr
intensivierte, dass die Umsetzung des Entwurfs, und damit die politische Vorrangstellung
des Protektorats gegenüber der Kolonie insgesamt, in Gefahr geriet, fanden sich die
geistigen Führer des Protektorats mit den Chiefs in der Sierra Leone People’s Party
(SLPP) zusammen, um gemeinsam die Durchsetzung der neuen Verfassung zu
forcieren.72 Diese Allianz besiegelte endgültig das Schicksal der Krio, die in den
kommenden Jahrzehnten zwar weiterhin führende Positionen in der Wirtschaft Sierra
Leones innehaben würden, deren politische Bedeutung auf nationaler Ebene jedoch in
den Schatten der geistigen Elite aus den Gebieten des ehemaligen Protektorats trat.
69
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 59-60; Kargbo, Michael S., 2006, S. 44.
Kargbo, Michael S., 2006, S. 45.
71
Jene Forderung richtete sich vor allem gegen „paramount chiefs“, die zu diesem Zeitpunkt noch
sehr selten über europäische Bildung verfügten.
72
Alie, Joe A.D., 1990, S. 210.
70
S. 20
4.1 Die Sierra Leone People’s Party und die Unabhängigkeit von
1961
Im September 1951 endete die vierjährige Debatte über die Stevenson-Verfassung. Der
neue Gouverneur, George Beresford-Stooke, sorgte für die Durchsetzung einer
überarbeiteten Version des Verfassungspapiers. Diese sah einen Legislativrat mit sieben
offiziellen Mitgliedern, sieben gewählten Mitgliedern aus der Kolonie, 14 indirekt
gewählten Mitgliedern aus dem Protektorat und zwei zu nominierenden Mitgliedern vor.
Direkt nach der Implementierung der neuen Verfassung wurden landesweit Wahlen
abgehalten.73 Diese Wahlen richteten sich nach dem indirekten Wahlprinzip und sind
nicht mit freien demokratischen Wahlen zu verwechseln. Die SLPP ging als Sieger dieser
Wahlen hervor und erreichte eine absolute Mehrheit. Sie war die größte Partei Sierra
Leones zu dieser Zeit.74 Gegründet wurde sie ursprünglich als Antwort auf den National
Council of Sierra Leone (NCSL), einer von den Krio dominierten Partei, deren Zweck es
war, die Interessen der Krio-Elite gegenüber dem Protektorat zu verteidigen. Die SLPP
sollte dementsprechend die Interessen der Protektoratsbevölkerung vertreten und
fördern. Obwohl sie offiziell den Anspruch hegte, die gesamte Bevölkerung des
Protektorats zu vertreten, war die SLPP in Wirklichkeit eine auf Patronage angewiesene
Partei. Sie war nicht dazu in der Lage, die Masse der Protektoratsbevölkerung zu
mobilisieren und stützte sich eher auf die Macht der „paramount-„ und „sub-chiefs“ in den
Bezirksräten und in der Protektoratsversammlung. Viele ihrer Mitglieder stammten selbst
aus jenen Herrscherfamilien, die darauf angewiesen waren, dass ihre Privilegien auch
weiterhin durch die althergebrachten Dynamiken der Kolonialzeit sanktioniert wurden.75
Aufgrund des indirekten Wahlsystems, welches von lokalen und überregionalen Gremien
und Räten gelenkt wurde, konnte sich die SLPP in der frühen Phase der
Unabhängigkeitsbewegung, trotz fehlender Massenbasis, als führende Partei Sierra
Leones durchsetzen. Nach dem Wahlsieg 1951 wurde der Vorsitzende der SLPP, Dr.
Milton Margai, zum Ministerpräsidenten Sierra Leones ernannt. Die von ihm verfolgte
Politik kann zu Recht als sehr moderater Nationalismus bezeichnet werden. Angesichts
der Abhängigkeit seiner Partei von den Chiefs einerseits und von den, noch größtenteils
aus der Kolonialzeit stammenden Institutionen mit indirektem Wahlrecht andererseits,
zeigte Margai wenig Interesse an tiefgreifenden Reformen. Auch wenn seine Partei 1957
die zweiten landesweiten Wahlen mit einer erneuten absoluten Mehrheit gewann, machte
sich im radikalen Lager der SLPP bereits Unmut über die langsam voranschreitenden
Reformen unter der Margai-Regierung bemerkbar. Als Albert Margai, der Bruder des
73
Alie, Joe A.D., 1990, S. 210.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 63.
75
Allen, Christopher, Sierra Leone Politics since Independence, in: Affrican Affairs, Vol. 67, No.
269 (1968), S. 307-308.
74
S. 21
Ministerpräsidenten, auch nach dem zweiten Wahlsieg seiner Partei nicht für ein
Ministeramt berücksichtigt wurde, trat er zusammen mit Siaka Stevens aus der SLPP
aus und gründete 1958 die People’s National Party (PNP).76 Gemeinsam machten sich
Margai und Stevens daran, in ihrer neugegründeten Partei die Strukturen zu etablieren,
die der SLPP seit jeher abgingen. Sie wendeten sich an Berufstätige, Studenten und
Arbeitslose, um eine möglichst breite Masse an Anhängern zu mobilisieren. Sie sprachen
sich für die schnelle „Afrikanisierung“ der gesamten Regierung aus und forderten die
sofortige Unabhängigkeit Sierra Leones.77 Die britische Kolonialregierung war jedoch
darauf
aus, die ihr positiv gesinnte, moderate SLPP-Regierung
während des
Unabhängigkeitsprozesses an der Macht zu halten, um so Bedingungen aushandeln zu
können, die das Fortbestehen britischer Einflussnahme in Sierra Leone sichern würden.
Alle Bemühungen der PNP und anderer kleinerer Parteien, vor der Erklärung der
Unabhängigkeit Sierra Leones Wahlen nach dem direkten Wahlprinzip herbeizuführen,
wurden daher vom Kolonialministerium ausgebremst. Die Briten wollten der Gefahr aus
dem Weg gehen, die Unabhängigkeit mit einer radikalen Partei verhandeln zu müssen.
1960 nahm die britische Regierung dementsprechend geheime Verhandlungen mit der
SLPP-Regierung Dr. Margais über die Bedingungen und den Zeitpunkt einer offiziellen
Unabhängigkeit Sierra Leones auf. Im Anschluss an diese Verhandlungen wurden alle
Parteien zur Besprechung der erarbeiteten Vorschläge an einen Tisch gerufen. Im
Rahmen der Gespräche einigten sich alle Teilnehmer darauf, eine gemeinsame
Verfassung
auszuarbeiten
und
die
politische
Unabhängigkeit
Sierra
Leones
vorzubereiten. Am 25. März 1960 wurde eine alle Parteien umschließende Koalition
namens United National Front (UNF) gebildet. Nach anfänglichen Uneinigkeiten über
einen Verteidigungspakt zwischen Sierra Leone und Großbritannien, der letztendlich auf
Druck von anderen afrikanischen Regierungen nicht zustande kam, konnten die
Verhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, sodass Sierra Leone am 27. April
1961 seine Unabhängigkeit erhielt.78 Die 1961 verabschiedete Verfassung verwandelte
Sierra Leones Staatsform in eine konstitutionelle Monarchie mit der britischen Krone als
offiziellem Staatsoberhaupt. Symbolisch vertreten wurde Großbritannien durch einen
Generalgouverneur,
dem
jedoch
nur
noch
zeremonielle
Aufgaben
zukamen.
Nichtsdestotrotz benötigten alle Gesetzesvorlagen die Zustimmung der britischen Krone.
Auch mussten alle Diplomaten Sierra Leones weiterhin durch Großbritannien anerkannt
werden.79
76
77
78
79
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 68-70.
Kargbo, Michael S., 2006, S. 54-55.
Ebd., S. 56-62.
Ebd., S. 70.
S. 22
4.2 Politik im Rahmen regionaler und ethnischer Identität: Sierra
Leones Nord-Süd-Gefälle
Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an bis zur Unabhängigkeit Sierra Leones standen sich
im größten ethno-regionalen Konflikt des Landes die Vertreter der Krio-Elite und Vertreter
der Elite des Protektorats gegenüber. Trotz des relativ großen Gebietes des Protektorats,
welches eine Vielfalt an unterschiedlichen ethnischen Gruppen beherbergte, sorgte die
Opposition gegen die Krio-Dominanz für einen starken Zusammenhalt bei der Artikulation
gemeinsamer Ziele seitens der Protektorats-Elite. Mit dem Erreichen der Unabhängigkeit
und der einhergehenden politischen Marginalisierung der Krio fand jedoch keine
Beruhigung der ethno-regionalen Konflikte statt. Vielmehr rückte ein neuer regionaler
Konflikt in den Mittelpunkt des politischen Geschehens. Es handelte sich dabei um die
Auseinandersetzung zwischen Vertretern der nördlichen und der südlichen Provinzen des
ehemaligen Protektorats. Diese Gebiete, in denen zwei der größten ethnischen
Gruppierungen Sierra Leones leben,80 hatten während der Kolonialzeit unterschiedliche
Entwicklungen genommen. Nachdem die britische Kolonialregierung begonnen hatte ihre
Aktivitäten auf das Hinterland Sierra Leones auszuweiten, lag die Konzentration der
britischen Bemühungen um Missionarsarbeit und Handel vornehmlich auf den von den
Sherbro und Mende dominierten südlichen und östlichen Gebieten des Landes. So kam
es, dass die Entwicklung der wirtschaftlichen Infrastruktur im Süden des Protektorats
stärker vorangetrieben wurde, als dies im Norden der Fall war. Eisenbahnstrecken und
geteerte Straßen waren fast ausschließlich in den südlichen Bereichen des Protektorats
aufzufinden. Auch die, im Zuge der Missionarsarbeit etablierten, europäischen Schulen
konzentrierten sich in den südlichen Provinzen. Hauptgrund dafür scheint die weite
Verbreitung des Islam im Norden Sierra Leones gewesen zu sein, die es den Missionaren
immens erschwerte, dort Anhänger für ihre Religion zu gewinnen. Die Ungleichheit der
Verteilung westlicher Bildungseinrichtungen zwischen Nord und Süd – 1938 befanden
sich circa 80% aller Schulen des Protektorats in den südlichen Provinzen der Mende –
sorgte dafür, dass es während der Zeit der Dekolonisation zwischen den beiden Gebieten
ein enormes Gefälle bezüglich der Zahl gut ausgebildeter Intellektueller gab.81 Dennoch
scheint sich bis in die späten 1950er Jahre keine explizit südlich beziehungsweise
nördlich verankerte Identität in den Köpfen der Menschen beider Regionen ausgebildet
zu haben.82 Erst als sich die Eliten des Protektorats fest in der nationalen Politik Sierra
Leones etabliert hatten und den Wettstreit um die prestigeträchtigen Positionen der
80
Die Temne des Nordens und die Mende des Südens machen jeweils etwa ein Drittel der
Gesamtbevölkerung Sierra Leones aus.
81
Cartwright, John R., Political Leadership in Sierra Leone, London 1978, S. 41-42.;
Kandeh, Jimmy D., 1992, S. 86.
82
Cartwright, John R. 1978, S. 175.
S. 23
Regierung unter sich austrugen, kam es zur allmählichen Entwicklung eines regionalen
und ethnischen Bewusstseins in der politischen Sphäre.83 Befördert wurde dieses
Bewusstsein nicht zuletzt durch die Dominanz einer bestimmten ethnischen Gruppe
innerhalb
der
größten
Partei
Sierra
Leones
zur
Zeit
des
voranschreitenden
Unabhängigkeitsprozesses. Die SLPP, die wie bereits dargestellt, die ersten offiziellen
Wahlen in Sierra Leone für sich entschied und Sierra Leone unter Milton Margai in die
Unabhängigkeit führte, setzte sich zum großen Teil aus Mitgliedern der ethnischen
Gruppe der Mende zusammen. Obgleich dieser Umstand viel eher dem größeren Pool an
gut ausgebildeten Akademikern im Süden des Landes geschuldet war, als einer
bewussten Bevorzugung der Mende, rief er ein gewisses Gefühl der Benachteiligung bei
der geistigen Elite des Nordens hervor.84 Etwa zu dieser Zeit verbreitete sich auch unter
der allgemeinen Bevölkerung des Nordens ein Gefühl der Vernachlässigung. Gegen
Ende der 1950er Jahre kehrten viele Wanderarbeiter aus dem Süden zurück und
berichteten ihren Angehörigen von den Unterschieden in der Entwicklung zwischen ihrer
Heimat und den Gebieten, in denen sie die letzten Jahre verbracht hatten. Die
entscheidenden Faktoren, welche derlei aufkommende Unterlegenheitsempfindungen der
Bevölkerung des Nordens in eine aktive politische Bewegung transformieren sollten,
waren der Mangel an Sensibilität, den die Führungsriege der SLPP jenen Ängsten
entgegenbrachte, und der Opportunismus einiger junger Politiker, die in einer
großangelegten Opposition die Chance sahen, ihre persönlichen Ambitionen zu
verwirklichen. Nachdem die Mehrzahl an Mitgliedern der Oppositionsparteien im Jahre
1960 davon überzeugt werden konnte, sich in eine Einheitsregierung unter Führung der
SLPP integrieren zu lassen, kam es zur Gründung der Partei, hinter der sich die
politische Bewegung des lange vernachlässigten Nordens Sierra Leones formieren sollte.
Siaka
Stevens,
Mitbegründer
der
People‘s
National
Party,
rief
nach
deren
Zusammenbruch, zunächst im Juli 1960 das Election Before Independence Movement ins
Leben und baute dieses mit Hilfe von einigen Anhängern zum All People’s Congress
(APC) aus.85 Stevens und viele seiner Anhänger verfügten zu dieser Zeit nicht über den
gleichen gesellschaftlichen Status wie die meisten Führungspersonen in der SLPP. Sie
stammten aus dem weniger begüterten Kleinbürgertum und verstanden Politik als
Zugang zu höherem Prestige und größerem materiellen Reichtum. Aus diesem Grund
sahen sie den APC frühzeitig als ein Instrument zur Förderung ihrer persönlichen
Interessen an.86 Nichtsdestotrotz distanzierten sie sich umgehend vom Elitismus der
SLPP und suchten mit Hilfe populistischer Slogans die Unterstützung der breiten
83
84
85
86
Keen, David, 2005, S. 15.
Cartwright, John R., 1978, S. 188.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 68.
Kandeh, Jimmy D., 1992, S. 91.
S. 24
Bevölkerungsmasse zu erlangen. Hierin unterschied sich der APC signifikant von der
SLPP. Stevens nutzte seine hervorragenden organisatorischen Fähigkeiten, welche er
sich als früheres Mitglied von verschiedenen Gewerkschaften und als Parlamentsmitglied
in der SLPP angeeignet hatte, um die Ideen, die er schon als Mitbegründer der PNP
verfolgte, nun im APC umzusetzen. Er warb mit seinem APC unter den Angestellten,
Facharbeitern und Intellektuellen des Mittelstandes, sowie unter den Kleinbauern und
auch beim Lumpenproletariat um Anhänger. Schnell wuchs der APC zu einer
ernstzunehmenden Oppositionspartei heran, die all denen eine Alternative bot, die sich
durch die elitäre SLPP und ihre enge Bindung an die vielerorts unbeliebten Chiefs nicht
repräsentiert fühlten.87 Dennoch blieb die Mehrheit der Anhänger des APC im Norden
Sierra Leones konzentriert, da die Führungspersonen der Partei fast ausschließlich aus
diesem Gebiet stammten. Um eine reale Chance zu erlangen in landesweiten Wahlen mit
der SLPP konkurrieren zu können, versuchten die Führer des APC, ihre Anhängerschaft
im Norden so stark zu erweitern, dass diese ein gleichwertiges Gegengewicht zur SLPPDominanz in den von den Chiefs kontrollierten Institutionen darstellen würde. Zu diesem
Zweck nutzten sie das aufkommende Gefühl der Benachteiligung in der nördlichen
Bevölkerung, um die SLPP als eine Partei zu denunzieren, die, angeführt von den
Mende, die Vorherrschaft des Südens über den Norden Sierra Leones herbeiführen
wolle.88 Während die Vorgehensweise der SLPP-Regierung unter Dr. Milton Margai
relativ wenige Anhaltspunkte lieferte, um eine solche Propaganda zu rechtfertigen,
spielte die fehlende Sensibilität seines Nachfolgers gegenüber der wachsenden
Empörung innerhalb der nördlichen Gebiete den APC-Propagandisten direkt in die
Hände. Albert Margai übernahm 1964, nach dem Tode seines Bruders, die Führung der
SLPP-Spitze
und
wurde
noch
im
selben
Jahr
vom
Generalgouverneur
zum
Premierminister Sierra Leones ernannt. Schon seine Ernennung rief Empörung im
Norden hervor, da viele Menschen davon ausgegangen waren, dass auf Milton Margai
ein Premier folgen würde, der nicht der ethnischen Gruppe der Mende angehörte.89 Als
Albert Margai kurz nach seiner Ernennung dann vier, ihm gegenüber kritische, Minister
aus dem Kabinett entfernte, von denen zwei angesehene Politiker aus den nördlichen
Provinzen waren, gab er sich ganz und gar der Propaganda des APC preis. Seine
weitere Vorgehensweise sollte diesen Trend nur verstärken. Die Besetzung wichtiger
Posten im öffentlichen Dienst, sowie in der Armee, mit Angehörigen der Mende, steigerte
den Argwohn der nördlichen Bevölkerung zunehmend.90 Auch Margais Versuch, den
87
Sesay, Amadu [u.a.], Post-War Regimes and State Reconstruction in Liberia and Sierra Leone,
Dakar 2009, S. 30; Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 69; Kargbo, Michael S., 2006, S.61-62.
88
Cartwright, John R., 1978, S. 176-177.
89
Alie, Joe A.D., 1990, S. 227.
90
Während der Amtszeit von Albert Margai steigerte sich der Anteil an Mende-Offizieren in der
Armee von etwa 26% auf 52%, siehe: Keen, David, 2005, S. 14.
S. 25
wachsenden Einfluss des APC mit Hilfe der Chiefs einzudämmen, wirkte sich negativ auf
die Wahrnehmung seiner Partei aus. Immer mehr Menschen aus dem Norden sahen den
APC als „ihre“ Partei an. Sie verstanden den APC als eine Partei, die ihre, spezifisch auf
den Norden Sierra Leones ausgerichteten, Interessen gegen die bedrohlichen Vorhaben
der Mende aus dem Süden verteidigen würde.91 Begünstigt durch die unsensible Politik
Albert Margais gelang es Siaka Stevens und seinen Mitstreitern so, den APC Mitte der
1960er Jahre von einer Oppositionspartei in einen gefährlichen Gegner für die SLPP im
Kampf um die Führung der Regierung zu verwandeln. Wie unvorteilhaft sich die Politik
Margais auf die Stellung der SLPP tatsächlich ausgewirkt hatte, sollten die, nach dem
direkten Wahlprinzip durchgeführten, Parlamentswahlen des Jahres 1967 zeigen. In der
Zeit des Wahlkampfes bediente sich der APC intensiv des Instruments der Presse, um
die in der SLPP-Regierung vorherrschende Korruption hervorzuheben und um neben
dem bewährten Element der regionalen Propaganda noch ein weiteres auf nationaler
Ebene wirksames Mittel der Wählermobilisierung auszunutzen. Das Engagement des gut
organisierten APC zahlte sich aus. Trotz vielseitiger Versuche seitens der SLPPFührungsriege, die Wahlen vom 17. März 1967 zu ihren Gunsten zu manipulieren, setzte
sich der APC klar mit 32 gewonnenen Parlamentssitzen gegenüber den 22 gewonnenen
Sitzen der SLPP durch, und erreichte mit diesem Ergebnis eine absolute Mehrheit im
Parlament.92 Wie von Christopher Allen eindrucksvoll dargelegt, kam der Wahlsieg des
APC auf Grund seiner überwältigenden Dominanz in der Nord- und Westprovinz (die
Westprovinz bezeichnet hier Freetown und die Umgebung der Halbinsel) zustande.93 Die
Vertreter des APC hatten es geschafft, die Bevölkerung des Nordens, sowie die Mittelund Unterschicht Freetowns, auf der Basis eines propagierten Regionalismus und mit
Hilfe des Appells an die Werte sozialer Gerechtigkeit, auf ihre Seite zu ziehen und so die,
von der SLPP ausgeübte Dominanz, zu brechen. Am 21. März 1967 wurde Siaka
Stevens zum Premierminister von Sierra Leone ernannt. Wie gefährlich die ethnoregionale Polarisierung, die der APC so vehement gefördert hatte, für die Stabilität einer
Regierung sein konnte, zeigte sich bereits zu Beginn der Amtszeit des neuen Premiers.
Kurz nach seiner Ernennung zum Premierminister wurde Stevens durch einen
Militärputsch wieder abgesetzt. Einige hochrangige Offiziere der Sierra Leonischen
Armee (SLA) empfanden die Machtübernahme des APC als eine Gefahr für ihre Stellung
innerhalb des Militärapparates. Die Mende waren zur Zeit der SLPP-Regierung auch in
der Armee die am stärksten repräsentierte Ethnie des Landes. Viele Mende-Offiziere
fürchteten, dass sich die im Norden des Landes verankerte APC-Führung in der Armee
vorrangig auf Gefolgsleute aus dem Norden Sierra Leones stützen würde. Eine Gruppe
91
92
93
Cartwright, John R., 1978, S. 193.
Allen, Christopher, 1968, S. 314-315.
Ebd., S. 319-321.
S. 26
um Brigadier David Lansana führte dementsprechend noch im März 1967 einen MilitärCoup durch, dessen Folge die Gründung des National Reformation Council (NRC) war.
Diese Militärregierung, deren Führung letztlich Oberstleutnant Andrew Juxon-Smith
übernahm, konnte sich jedoch nicht lange an der Macht halten. Im April 1968 kam es zu
einem weiteren Putsch, diesmal ausgeführt von einer Gruppe Unteroffiziere. Deren Motiv
schien, unabhängig von ethnischen oder regionalen Loyalitäten, die Verbesserung ihrer
finanziellen Situation gewesen zu sein. Jene Soldaten erhofften sich bessere Bezahlung
und zusätzliche Privilegien von einer Zivilregierung, die mit ihrer Hilfe an die Macht
gelangt sein würde. Nach der Gründung des National Interim Council (NIC) übergab die
neue Militärregierung die Führung des Landes wieder an Siaka Stevens. Am 26. April
1968 wurde er erneut zum Premierminister ernannt.94 Die Regierungszeit Siaka Stevens
sollte das Schicksal Sierra Leones in einer derart radikalen Weise prägen, wie es keine
zweite Amtszeit nach ihr vermochte. Dass es sich bei der Betonung breitangelegter,
sozialgerechter Projekte des APC nur um scheinheilige Rhetorik handelte, stellte sich
schon in den ersten Jahren der APC-Herrschaft heraus.
5. Siaka Stevens und das Schicksal Sierra Leones
Das Regime des Siaka Stevens basierte auf einer Herrschaftsform, die in der
Wissenschaft heute allgemein als Neopatrimonialismus95 bekannt ist. Stevens sicherte
seine Machtposition im Staat damit, dass er kleinen Gruppen wechselnder Klienten, die
großen Einfluss in Politik und Wirtschaft besaßen, Zugang zu bedeutenden Positionen in
seiner Regierung, sowie Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen verschaffte. Er
zeichnete sich als geschickter Manipulator politischer Geschehnisse aus und nutzte die
Schwächen seiner Widersacher, um seine Macht zu erweitern. Besondere Privilegien ließ
Stevens der Armee und deren Führungspersonal zukommen, hatte er doch am eigenen
Leib erfahren müssen, wie gefährlich Unzufriedenheit in den Reihen des Militärs für ihn
sein konnte. Außerdem billigte er einen hohen Grad an Korruption in seiner Regierung
und
unterstützte
im
Allgemeinen
jegliche
Vorgehensweise
von
Offiziellen
und
Privatpersonen, die zu seiner persönlichen Bereicherung beitrug.96 In den 17 Jahren
seiner Regierungszeit entwickelte sich Sierra Leone von einem der hoffnungsvollsten
Staaten Westafrikas zu einem der ärmsten Länder des gesamten afrikanischen
Kontinents. Obwohl sich der ökonomische Abwärtstrend schon in den letzten Jahren der
SLPP-Regierung angedeutet hatte, sollte er unter Siaka Stevens einen vorläufigen
94
Allen, Christopher, 1968, S. 316-329.
Zur Bedeutung des Begriffs Neopatrimonialismus in der Wissenschaft: Ulf Engel,
Neopatrimonialismus, in: Rolf Hofmeier/Andreas Mehler [Hrsg.], Kleines Afrika-Lexikon, München
2004, S. 212-214.
96
Alie, Joe A.D., 1990, S. 248-250.
95
S. 27
Höhepunkt
erreichen.
Lebensumständen,
die
Es
ist
davon
die
breite
auszugehen,
Masse
der
dass
Bevölkerung
in
den
desolaten
während
Stevens‘
Regierungszeit erdulden musste, erste Ursachen für den späteren Ausbruch des
Bürgerkrieges der 1990er Jahre zu suchen sind.
5.1 Das Stevens-Regime: Sierra Leone als Einparteienstaat
In Sierra Leone war die Ausübung von Macht eng mit der Ausübung von Gewalt
verbunden. Die Armee diente in diesem Zusammenhang schon seit der Kolonialzeit dazu,
Unruhen in der Bevölkerung zu unterdrücken und politische Gegner einzuschüchtern.
Selbst in verschiedene Fraktionen gespalten, hatten Teile der Armee in den späten
1960er Jahren für mehrere Putschversuche gesorgt. Einige dieser Versuche, darunter
auch der Putsch gegen Stevens‘ APC, waren von Erfolg gekrönt. Um einer solchen
Gefahr aus dem Weg zu gehen, versuchte Stevens, frühzeitig das Militär auf eine
vornehmlich zeremonielle Rolle zu beschränken. 1973 rief er als Gegengewicht zur
bestehenden Armee die sogenannte Special Security Division (SSD) ins Leben. Diese
private Sicherheitstruppe sollte nicht nur die Sierra Leonische Armee in Schach halten,
sondern gleichzeitig die Einschüchterung der politischen Gegner des APC übernehmen.
Sie rekrutierte ihre Mitglieder größtenteils aus Gebieten, die als APC-Hochburgen
bekannt waren, und begann bald sowohl Wähler als auch Politiker einzuschüchtern. Des
Weiteren zog die APC-Regierung unabhängige Gewerkschaften aus dem Verkehr und
verbot Streiks generell. Die freie Presse wurde zensiert und Studentenproteste wurden
vielerorts blutig niedergeschlagen. Diese Einschüchterungsversuche brachten die
Führungsriege der SLPP dazu, ihre Partei von den Wahlen des Jahres 1973
zurückzuziehen. Obwohl die SLPP zu den Wahlen des Jahres 1977 wieder antrat,
verliefen diese auf Grund der erneuten Einschüchterungen durch die SSD und APCAnhänger ähnlich einseitig wie die vorherigen Wahlen.97 Da die SLPP die einzige
ernstzunehmende Opposition im Lande war, wurde Sierra Leone so de facto zu einem
Einparteienstaat. 1978 gelang es Stevens schließlich Sierra Leone mit Hilfe einer
Verfassungsänderung formell in einen Einparteienstaat zu verwandeln.98
Die Weise, auf welche Stevens seine Position im Staat gefestigt hatte, schuf ein Klima in
Sierra Leone, in dem Gewalt als ein legitimes Mittel zur Erlangung von Macht angesehen
wurde. Besonders die während des Wahlkampfes ausgeführten Gewaltakte seitens der
SSD und der APC-Anhänger konnten extreme Formen annehmen und lieferten den
Menschen, die sie miterleben mussten, einen Vorgeschmack auf die Gräueltaten, die
sich im Bürgerkrieg der Jahre kurz nach Siaka Stevens‘ Regierungszeit stetig
97
98
Keen, 2005, S. 16-17.
Sesay, Amadu [u.a.], 2009, S. 31-32.; Alie, Joe A.D., 1990, S. 244.
S. 28
wiederholen sollten. Diese Art der Idealisierung von Gewalt durch Stevens und andere
Politiker sorgte dafür, dass eine ganze Generation junger Sierra Leoner die Überzeugung
entwickelte, Gewalttätigkeit würde sich auszahlen und stelle den kürzesten Weg zu Erfolg
und Wohlstand dar.99 Zweifelsohne wurde hier der Grundstein für die extremen Formen
der Gewalt gelegt, die während der Zeit des Bürgerkrieges in Sierra Leone zwischen
1991 und 2002 nahezu im ganzen Land auftraten.
5.2 Das Stevens-System: Sierra Leone als „Shadow-State“
Siaka Stevens zeichnete sich während seiner Regierungszeit dadurch aus, dass er es
verstand, seine diplomatischen Fähigkeiten geschickt zu seinem Vorteil zu nutzen. Als er
in Sierra Leone an die Macht kam, befand er sich in einer Situation, in der er diese
Fähigkeiten mit großer Umsicht zur Anwendung bringen musste. Sierra Leone war nach
wie vor ein Land, dessen wirtschaftliche Lage vom Export seiner Rohstoffe abhing. Daher
war es Stevens‘ primäre Aufgabe, die Kontrolle über diese Rohstoffe zu erlangen, um so
neben seiner Kontrolle über die Vergabe politischer Ämter eine weitere Quelle für die
Versorgung seines Patronagesystems zu etablieren. Gerade die Erlangung der Kontrolle
über die wichtigste Ressource Sierra Leones, Rohdiamanten, jedoch stellte für Stevens
ein enormes Problem dar. Der Export von Rohdiamanten erbrachte spätestens seit der
Unabhängigkeit Sierra Leones die mit Abstand größten wirtschaftlichen Einnahmen des
Landes. Allerdings wurden illegale Förderung und illegaler Handel der Diamanten im
großen Stil betrieben und waren nur schwer einzudämmen. Dieser Umstand ergab sich
aus der Art der Diamantenvorkommnisse in Sierra Leone. Dort waren die Diamanten
überwiegend an Flussbetten zu finden und konnten ohne schweres Gerät aus dem
schlammigen
Boden
entnommen
werden.
Die
dadurch
vielerorts
gegebenen
Möglichkeiten, Diamanten illegal zu fördern und zu verkaufen, hinderten den Staat nicht
nur daran, wichtige wirtschaftliche Einnahmen zu verzeichnen, sondern riefen außerdem
starke Eigeninteressen bei lokalen Politikern hervor, die sich von der Kontrolle der
Diamantenfelder ihrer Herkunftsgebiete politische und finanzielle Aufstiegschancen
versprachen. Stevens musste daher ständig darauf achten, dass er lokale Politiker, die
über entsprechende Zugänge zu Diamanten verfügten, entweder in sein System
integrieren oder ausschalten konnte. Er griff dabei auf Strategien zurück, die den
formellen Staat schwächten und ihn im Laufe der Zeit unterliefen.100 Hinter der Fassade
des Staates operierend, etablierte Stevens ein System, das William Reno in seiner Arbeit
99
Keen, 2005, S. 18.
Clapham, Christopher, Sierra Leone: The Political Economy of Internal Conflict, Netherlands
Institute of International Relations „Clingendael“: Working Paper 20, Den Haag 2003, S. 11-13.
100
S. 29
zu Sierra Leone als „shadow state“ bezeichnet.101 Dieses System diente einerseits dazu,
Stevens‘ persönlichen Reichtum zu vermehren, andererseits war es darauf ausgerichtet,
die Machtposition von Stevens aufrecht zu erhalten. So wurden nicht nur Spitzenpolitiker
und hohe Militärs mit politischen Ämtern versehen, sondern auch Journalisten und
Lehrerverbände durch Bestechung oder Einschüchterung in das patrimoniale System
eingebettet. Stevens war darauf bedacht, vor allem hochrangige Funktionäre mit
großzügigen Privilegien zu versehen. So durften hohe Staatsbeamte oder Militärs illegal
Häuser auf Ländereien aus Staatsbesitz bauen und diese anschließend an ausländische
Firmen verleihen. Ein weiteres Mittel, das Stevens zur Konsolidierung seines
patrimonialen Systems anwendete, war die stetige Neubesetzung wichtiger Posten in der
Regierung und im öffentlichen Dienst. Auf diese Weise verhinderte er, dass diejenigen,
die ihre Positionen nutzten, um sich zu bereichern, durch lange Amtsperioden zusätzlich
dazu in die Lage versetzt wurden, politische Macht aufzubauen. Dies wiederum trug dazu
bei, die ohnehin schon vorhandene Korruption noch zu verschärfen, da die meisten
Amtsträger von vornherein darauf eingestellt waren, nur für kurze Zeit auf ihrer jeweiligen
Position verweilen zu können. So herbeigeführte Machtkämpfe lokaler Politiker
untereinander halfen dabei, konzertierten Angriffen auf die Machtposition Stevens‘
entgegenzuwirken. Auch das von Stevens durchgesetzte Rechtssystem wirkte sich in
erster Linie negativ auf die ärmere Bevölkerung des Landes aus, da es ebenso wie die
Politik und die Wirtschaft von Korruption geprägt war. Wer genügend Einfluss oder
finanzielle Mittel besaß, konnte sich relativ problemlos einer Strafverfolgung entziehen,
wohingegen Menschen aus armen Verhältnissen oftmals fälschlicherweise verurteilt
wurden. Schon nach wenigen Jahren der Herrschaft Siaka Stevens‘ in Sierra Leone
waren Korruption und Machtmissbrauch zur Norm geworden. Selbst dort, wo Stevens
aktiv versuchte, Korruption einzudämmen, führte das Fehlen tatsächlich ausgeübter
staatlicher Kontrolle zu Veruntreuung und Amtsmissbrauch. Als Stevens beispielsweise
zu Beginn seiner Amtszeit Polizei und Armee einsetzte, um den Diamantenschmuggel
Sierra Leones zu bekämpfen, führte dies letztendlich dazu, dass sich große Teile der
Armee und der Polizei am illegalen Vertrieb der wertvollen Edelsteine beteiligten.102
Siaka Stevens hatte ein System errichtet, dass sich des Staatsapparates lediglich zur
offiziellen Legitimierung der eigenen Herrschaft bediente. Während er und einige wenige
einflussreiche Personen massiv von diesem „shadow state“ profitierten, versank der
formelle Staat im wirtschaftlichen Ruin. In den 1980er Jahren entwickelte sich in Sierra
101
Reno, Williams, Corruption and State Politics in Sierra Leone, Cambridge 1995: Reno liefert in
seinem Buch eine ausführliche Beschreibung des sogenannten “shadow sate” unter Siaka
Stevens und erklärt präzise die essentielle Rolle, welche die Diamantenindustrie in Stevens‘
System gespielt hat.
102
Keen, 2005, S. 19-22.
S. 30
Leone eine Wirtschaftskrise, die den alternden Siaka Stevens zum Rücktritt zwingen und
das Schicksal seines Nachfolgers vorzeitig besiegeln sollte.
5.3 Das Vermächtnis von Siaka Stevens: Sierra Leone vor dem
Zusammenbruch
Zu Beginn der 1980er Jahre fand sich Sierra Leone in einer strukturellen Krise wieder,
die alle Bereiche des öffentlichen Lebens betraf. Angesichts einer wachsenden und
zunehmend städtischen Bevölkerung fiel die Pro-Kopf-Produktion von Nahrungsmitteln im
Lande um mehr als zehn Prozent. Sierra Leone, dass einst genügend Nahrungsmittel
produzierte, um seine eigene Bevölkerung zu versorgen, war mittlerweile auf Reisimporte
angewiesen. Zu den sinkenden Weltmarktpreisen für Bodenschätze aus Sierra Leone
kam ein stetig sinkendes Exportvolumen hinzu. Die Importpreise für Erdöl und Reis
stiegen hingegen an, sodass allein diese beiden Importprodukte gegen 1985 mehr als die
Hälfte
der
Exporteinnahmen
des
Staates
vertilgten.
Auf
Grund
der
prekären
wirtschaftlichen Lage stieg die Auslandsverschuldung der Regierung enorm an. Eine
wesentliche Umstrukturierung der Wirtschaft wäre nötig gewesen, hätte man die
vorherrschende Krise erfolgreich abwenden wollen. Da Stevens und seine Anhänger den
formellen Staat jedoch in seiner ursprünglichen Funktion längst verworfen hatten, waren
sie wenig daran interessiert, Maßnahmen wie Investitionen in die öffentliche Infrastruktur,
eine breitangelegte Bildung oder den Landwirtschaftssektor durchzuführen. Vielmehr
reagierte Stevens erst durch Druck von außen auf die Krisenerscheinungen in seinem
Land. Die vom Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank geforderten
Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise in Sierra Leone entsprachen eher den
Vorstellungen der Führungsriege um Stevens. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie
zunächst keine direkten Auswirkungen auf die korrupte Elite des Staates hatten. Der IWF
forderte massive Einsparungen im Staatshaushalt und die Abwertung der Sierra
Leonischen Währung. Da Stevens und die meisten anderen Regierungsvertreter, sowie
deren Geschäftspartner, ihre Haupteinnahmen weder vom Staatsapparat noch in
einheimischer Währung erhielten, sondern auf dem Wege illegaler Privatgeschäfte mit
dem Ausland erzielten, konnten sie die Umsetzung dieser Vorgaben nutzen, um sich die
Bereitschaft zur aktiven Krisenbekämpfung bescheinigen zu lassen. Tatsächlich führten
diese Maßnahmen aber zu einer Verschärfung der Krise. Die Abwertung des Leone103
sorgte für eine rasante Inflation im Lande und erhöhte den Druck auf die Bevölkerung.
Vor allem die Mittelschicht Sierra Leones wurde hart getroffen. Die Inflation machte ihre
verhältnismäßig guten Löhne beinahe wertlos, sodass sich viele gut situierte Familien in
Armut wiederfanden. Ähnlich hart traf es eine Vielzahl an Bauern, die auf Grund der
103
Name der Sierra Leonischen Währung.
S. 31
exorbitant angestiegenen Produktions- und Transportkosten kaum dazu in der Lage
waren, von den durch die Maßnahmen anvisierten, höheren Verkaufspreisen ihrer
Produkte auf den Märkten zu profitieren. Kurzum, diejenigen, welche nicht Teil des
Patronagesystems Siaka Stevens‘ waren, wurden mit voller Wucht von der Inflation und
den Einsparungen der Regierung in wichtigen, ohnehin schon lange vernachlässigten,
Bereichen des öffentlichen Lebens getroffen.104 Im Rahmen dieser anhaltend negativen,
ja sich zuspitzenden, Entwicklungen unter Siaka Stevens ist es kaum verwunderlich,
dass seine Akzeptanz Mitte der 1980er Jahre einen Tiefpunkt erreichte. Angesichts der
andauernden Krise, sowie des wachsenden Drangs nach politischen Veränderungen
durch die Bevölkerung, und nicht zuletzt auch auf Grund seines fortgeschrittenen Alters –
Stevens hatte das 80. Lebensjahr bereits überschritten – kündigte er 1985 seinen
Rücktritt an. Er bestimmte Generalmajor Joseph Momoh, seinerseits Oberhaupt der SLA,
zu seinem Nachfolger. Diese Entscheidung wurde kurze Zeit später auf der
Abgeordnetenversammlung des APC angenommen, sodass Momoh im November 1985,
nach gewohnt einseitigen Wahlen, die Präsidentschaft Sierra Leones übernahm.105
Stevens hatte ihm Sierra Leone in einer solch katastrophalen Verfassung übergeben,
dass es Momoh trotz einigen guten Willens nie gelingen sollte, das Land aus der
bestehenden Krise herauszuführen.
5.3.1 Joseph Momoh und der Weg in den Bürgerkrieg
Kurz nach seinem Amtsantritt verkündete Momoh, er wolle eine neue Ordnung einführen,
wirtschaftliche Reformen auf den Weg bringen und der Korruption den Kampf ansagen.
Er präsentierte sich als Vertreter eines Bruchs mit der Vergangenheit des APC. Zu
Beginn seiner Amtszeit deutete vieles darauf hin, dass Momoh durchaus die Umsetzung
einer neuen Ordnung anstrebte. Sein Hauptziel stimmte mit dem der internationalen
Finanzinstitute
überein,
da
Momoh
ebenso
wie
diese
die
Kapazität
des
Staatseinkommens steigern wollte, um so unter anderem die Schulden des Staates
ausgleichen zu können. Momoh, dem wohl bewusst war, dass seine politische Kariere
von seiner Fähigkeit abhing, die Zustände im Land zu stabilisieren, versuchte, den
Staatsapparat als Instrumentarium für die Aufspaltung des, unter Stevens etablierten,
Patronagesystems zu benutzen. Während der ersten Jahre seiner Präsidentschaft schien
ihm dieses Vorhaben denn auch zu gelingen. So steigerte sich das Reserveguthaben der
Nationalbank Sierra Leones von 196.000 U.S. Dollar im Jahr 1985 auf 7,6 Millionen U.S.
Dollar zum Ende des Jahres 1986. Auch schien Momoh die staatliche Kontrolle über die
Diamantenindustrie zurückzugewinnen, erhöhten sich doch die offiziellen Exportzahlen
von Diamanten zwischen 1985 und 1987 um etwa 280 Prozent. Angetrieben von diesen
104
105
Keen, 2005, S. 24-26.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 121.
S. 32
frühen Erfolgen setzte der ehemalige Militärführer zum entscheidenden Schlag an. 1987
ließ er mit den Public Economic Emergency Regulations (PEER) den wirtschaftlichen
Ausnahmezustand erklären und sanktionierte im Zuge dieser Verordnungen schärfste
Maßnahmen gegen den informellen Wirtschaftssektor. Ziel dieser Maßnahmen war es,
die staatliche Kontrolle über Handels- und Steuereinnahmen weiter zu festigen.106 Mit der
Umsetzung seiner Verordnungen betraute Momoh die Armee, welche er in die ländlichen
Gebiete Sierra Leones sandte, wo sie Schmuggel und andere illegale Aktivitäten
unterbinden sollte. Dies erwies sich indes langfristig gesehen als kontraproduktiv für die
Stabilität seiner Regierung, da ein Teil der Armee die Gelegenheit nutzte, um sich aktiv
am illegalen Handel zu beteiligen. Entgegensetzt der eigentlichen Intention des
Programms zur Bekämpfung von Korruption wurde die Teilnahme an den PEERMaßnahmen in den Grenzgebieten zu einer lukrativen Einnahmequelle für das Militär. In
dieser Phase der aktiven Verwicklung des Militärs in den illegalen Handel entwickelte
sich, vor allem innerhalb der militärischen Führung, ein erstes Verständnis dafür, wie
sehr man von den desaströsen, ungeordneten Verhältnissen in Sierra Leone profitieren
konnte. Mit der neuen Rolle der Armee in der informellen Wirtschaft wuchs deren
Verlangen nach Macht, sowie nach Unabhängigkeit von der Regierung.107 Zusätzlich
dazu empfanden einige der in Schmuggel und anderen illegalen Metiers etablierten
Geschäftsleute und Politiker die Reformen Momohs und das einhergehende Eingreifen
der Armee in ihre Angelegenheiten als eine Bedrohung. Ihre Antwort auf die Maßnahmen
des PEER-Programms ließ nicht lange auf sich warten. 1987 kam es zu einem
Putschversuch, der durch treue Anhänger Momohs gerade noch vereitelt werden konnte.
Ausgegangen war der Versuch, den Präsidenten zu stürzen, von einflussreichen
Personen aus dem engen Netzwerk des ehemaligen Stevens-Regimes. Dieser elitäre
Kreis stellte mit der Organisation des Putsches klar, dass er nicht nur in direkter
Opposition zu Momohs Reformen stand, sondern auch dazu bereit war, alles in seiner
Macht stehende zu unternehmen, um die eigenen Privilegien zu verteidigen. Nach dem
abgewendeten Coup änderte sich die Vorgehensweise Momohs. Die Bekämpfung der
Korruption in Sierra Leone trat in den Hintergrund seiner Reformbemühungen und das
Ausmaß der staatlichen Kontrolle über die Wirtschaft kehrte größtenteils zum status quo
ante der letzten Jahre des Stevens-Regimes zurück.108 Die wirtschaftliche Lage des
Landes verschlechterte sich dementsprechend in den folgenden Jahren dramatisch. Als
Reaktion auf die sich ausweitende Krise setzte Momoh, im Einklang mit den
Vorstellungen des IWF und der Weltbank, heftige Sparmaßnahmen durch, die vor allem
die Subventionen von Lebensmitteln und Treibstoff betrafen. Derartige Sparmaßnahmen
106
107
108
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 122-125.
Keen, 2005, S. 31-33.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 124-125.
S. 33
hatte Siaka Stevens während seiner Amtszeit stets tunlichst vermieden, da er wusste,
welch desaströse Folgen die Einstellung dieser Subventionen für sein Patronagesystem
mit sich gebracht hätten. Momoh, dessen Regierung auf die Unterstützung durch den
IWF und andere internationale Geldgeber angewiesen war, führte die Maßnahmen
dennoch
durch,
um
der
internationalen Gebergemeinde seine
Reformbereitschaft aufzuzeigen.
109
außerordentliche
Entgegen den Vermutungen der internationalen
Finanzinstitute führten die Sparmaßnahmen zu einer weiteren Verschlechterung der
Situation. Bis Ende 1987 stieg die Inflation auf 170 Prozent an und im Jahre 1989 war die
gesamte formelle Wirtschaftsleistung Sierra Leones um etwa fünf Prozent geschrumpft.
Auf Grund der stetig sinkenden Staatseinnahmen konnte Momohs Regierung ihre
jährlichen Schuldzahlungen kaum noch ableisten, sodass IWF und Weltbank schließlich
1990 weitere Kreditaufnahmen seitens der Regierung blockierten. Nichtsdestotrotz hielt
Momoh an den, vom IWF geforderten, Sparmaßnahmen fest, weil er hoffte, auf diese
Weise die finanzielle Unterstützung zu bekommen, die er so dringend benötigte, um
seine Regierung aufrecht zu erhalten. In mitten all dieser Reformversuche entstand eine
immer größer werdende Kluft zwischen der Masse der Bevölkerung, die direkt von den
Einsparungen der Regierung betroffen war und der Machtelite, die sich auf illegalem
Wege von den Auswirkungen der Krise abschirmen konnte. In vielen ländlichen
Gegenden wurde der Staat allmählich als eine lästige Bürde angesehen, da er zwar
Abgaben fordern, aber keine Leistungen mehr erbringen konnte. Gleichzeitig stieg die
öffentliche Artikulation der Unzufriedenheit unter den gebildeten Stadtbewohnern.
Rechtsanwälte,
Lehrer,
Studenten
und
andere
Angehörige
der
schwindenden
Mittelschicht setzten sich an die Spitze des Protests gegen den Einparteienstaat und
forderten die Rückkehr in eine Mehrparteiendemokratie. Auch im Militär machte sich
langsam Unmut breit, da die gewöhnlichen Soldaten meist vergeblich auf ihren Lohn
warteten und, anders als hochrangige Offiziere, keine Möglichkeiten hatten, sich im
informellen Sektor zu bereichern. Gelähmt durch die Finanzkrise gelang es Joseph
Momoh und seiner Regierung folglich immer weniger, die Loyalität der Bevölkerung,
sowie der Beamten gegenüber dem Staat zu sichern. Die abnehmende Finanz- und
Fürsorgekraft des Staates erzeugte wachsenden Missmut, sorgte aber gleichzeitig dafür,
dass die Mittel fehlten, um diesen Missmut zu besänftigen.110 Sierra Leone befand sich
Anfang der 1990er Jahre in einem Ausnahmezustand sondergleichen. Der Staat übte
kaum noch Einfluss auf das öffentliche Leben aus und ein Großteil der Land- und
Stadtbevölkerung hatte jegliches Vertrauen in die Regierung verloren. Die Kontrolle über
Wirtschaft und Militär konzentrierte sich in den Händen weniger mächtiger Personen, die
einen funktionierenden Rechtsstaat eher als Bedrohung für ihre Interessen, denn als
109
110
Keen, 2005, S. 26.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 125-126; Keen, 2005, S. 31-32.
S. 34
Voraussetzung für ihre Prosperität ansahen. Sie waren Personen, die die Fassade des
ausgehöhlten Staatsgebildes als Deckmantel für ihre illegalen Machenschaften nutzten.
Es sind diese Voraussetzungen unter denen das Ausmaß der Ereignisse zu verstehen
ist, die sich in Sierra Leone zwischen 1991 und 2002 abspielen sollten. Als im März des
Jahres 1991 eine Gruppe Rebellen aus dem benachbarten Liberia in das Territorium
Sierra Leones eindrang und die Momoh-Regierung mit einer militärischen Bedrohung
konfrontierte, offenbarte sich die Nichtexistenz der staatlichen Ordnungsmacht in einer
Art und Weise, die tragischer nicht hätte sein können.111
6. Sierra Leone im Bürgerkrieg
Bis Ende Februar 1991 war die Generierung von Staatseinnahmen das Hauptproblem
Joseph Momohs bei der Stabilisierung seiner Regierungsgewalt. Dieses Problem wurde
jedoch im März desselben Jahres schlagartig in die Zweitrangigkeit verwiesen, als eine
Gruppe von Rebellen in das Gebiet Sierra Leones eindrang. Die Rebellen überquerten
von Liberia aus die Grenze und attackierten Städte innerhalb des Kailahunbezirks im
Südosten Sierra Leones. Ausgeführt wurden die Angriffe von Kämpfern der National
Patriotic Front of Liberia (NPFL) und der Revolutionary United Front (RUF).112 Kurz nach
den Angriffen berief Präsident Momoh eine Notstandssitzung seines Kabinetts ein, auf
der er Charles Taylor, den Anführer der NPFL, für die Attacken verantwortlich machte. In
seiner Stellungnahme zu den Vorfällen ignorierte Momoh das Sierra Leonische Moment
der Angriffe, namentlich die RUF unter der Führung von Foday Sankoh, gänzlich. Jenes
Vorgehen sollte sich als äußerst unbesonnen herausstellen. Die RUF-Rebellen, welche
sich als Friedenskämpfer für die Befreiung Sierra Leones von der Knechtschaft des APC
proklamiert hatten113, eröffneten in kürzester Zeit eine weitere Front im südlichen
Pujehundistrikt. Da die gerade einmal 3000 Mann starke Armee Sierra Leones auf Grund
der wirtschaftlichen Krise und der Veruntreuung von Staatsgeldern massiv unterfinanziert
war, sah sie sich einer Aufgabe gegenüber, die sie nur schwerlich meistern konnte.114 Die
RUF
schien
zunächst
keine Probleme
zu
haben,
sich gegen
die mut-
und
motivationslosen Truppen durchzusetzen, die Momoh gegen sie ins Feld schickte.
Bezeichnenderweise richteten sich die Angriffe der vermeintlichen Friedenskämpfer der
RUF jedoch hauptsächlich gegen Zivilisten. Sowohl die RUF als auch die SLA suchten
offenbar bewusst, eine militärische Konfrontation zu vermeiden. Es war daher einer
dritten Kraft zu verdanken, dass die RUF-Rebellen in dieser Frühphase der
111
Clapham, Christopher, S. 13-14.
Conteh-Morgan/Dixon-Fyle, 1999, S. 126-127.
113
Ebd. S. 126.
114
Gberie, Lansana, A Dirty War in West Africa. The RUF and the Destruction of Sierra Leone,
Bloomington 2007, S. 60.
112
S. 35
Auseinandersetzung vorerst zurückgedrängt werden konnten. Das United Liberation
Movement of Liberia (Ulimo) kam den Streitkräften Sierra Leones zur Hilfe und sorgte
innerhalb von zwei Monaten dafür, dass sich die RUF vollständig aus dem Pujehunbezirk
zurückzog. Ulimo war eine Bewegung, die aus Anhängern Samuel Doe’s, des
ehemaligen liberianischen Präsidenten, bestand. Diese Gruppe hochmotivierter und gut
ausgebildeter Kämpfer, die sich in den Grenzgebieten Sierra Leones organisiert hatte,
strebte nach Rache an Charles Taylor und seiner NPFL für den Sturz ihres Militärregimes
und die Ermordung Samuel Doe’s.115 Einzig und allein darauf fokussiert, Taylors NPFL
niederzuringen, zog Ulimo Ende des Jahres 1991 über die Sierra Leonische Grenze nach
Liberia und trat in den dort stattfindenden Bürgerkrieg ein. An der östlichen Front in
Sierra Leone hielten guineische Truppen die RUF-Rebellen gemeinsam mit der SLA
davon ab, weiter in das Landesinnere vorzudringen, waren aber nicht dazu in der Lage,
die Rebellen entscheidend zu schlagen. Erstaunlicherweise genügte diese Pattsituation,
um das öffentliche Interesse in Sierra Leone wieder auf die Politik zu lenken. Die
allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der APC-Regierung veranlasste Momoh
dazu, ein Referendum über den Einparteienstaat in Gang zu bringen. Nachdem neunzig
Prozent der Wähler für eine Abschaffung des Systems votiert hatten, unterzeichnete der
unter Druck stehende Präsident im September 1991 eine Verfassung, die das
Mehrparteiensystem wieder als Basis des Sierra Leonischen Staates festsetzte.
Scheinbar erhoffte sich Momoh durch diese Maßnahme eine gewisse Besserung seiner
Akzeptanz unter der Zivilbevölkerung. Dass er gerade im Angesicht einer militärischen
Bedrohung sein Hauptaugenmerk auf die Verbesserung seiner politischen Lage legte,
sollte ihm allerdings zum Verhängnis werden. Obwohl Momoh behauptete, monatlich 250
Millionen Leone für die Versorgung des Heeres bereitzustellen, hatten die Truppen an
der Front im Laufe der andauernden Kampfhandlungen schon lange keinen Lohn mehr
erhalten. Im April des Jahres 1992 kam es schließlich dazu, dass sich eine Gruppe
unzufriedener Soldaten von ihrer Position an der Front löste und auf Freetown
zumarschierte. Am 29. April nahm sie innerhalb kürzester Zeit das Parlamentsgebäude
ein und verkündete die Formierung einer Militärjunta unter dem Namen National
Provisional Ruling Council (NPRC). Momoh, der sich in das benachbarte Guinea flüchten
konnte, wurde von Hauptmann Valentine Strasser an der Spitze des Staates abgelöst.
Strasser teilte nach dem erfolgreichen Coup mit, dass es das Ziel des NPRC sei, den
Bürgerkrieg schnellstmöglich zu beenden und anschließend zu einer Zivilregierung
zurückzukehren. Zu dem Zeitpunkt, als der NPRC die Regierung Sierra Leones
übernahm, tobte der Krieg bereits seit über einem Jahr und die Zerstörung in den
betroffenen Gebieten hatte einen beträchtlichen Umfang angenommen. In den südlichen
115
Gberie, Lansana, 2007, S. 64-65.
S. 36
und östlichen Provinzen waren ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht worden und
allein die Zahl der Menschen, die von Sierra Leone nach Guinea flüchtete, hatte einen
Stand von über 120.000 erreicht. Selbst die Menschen, welche die Rebellen anfangs mit
offenen Armen empfangen hatten, weil sie sich von ihnen eine wahrhaftige Revolution
versprachen, mussten mittlerweile erkennen, dass es sich bei der RUF eher um einen,
teils schwer bewaffneten, Schlägertrupp ohne klar formulierte politische Ziele handelte.116
Wie es zur Entstehung dieser, auf so dramatische Weise für die Geschichte Sierra
Leones bedeutenden, militanten Gruppierung kam, soll im nächsten Kapitel kurz
dargelegt werden.
6.1 Der Ursprung der Revolutionary United Front
Die ausführlichen Untersuchungen Ibrahim Abdullahs117 über die Revolutionary United
Front führen deren Wurzeln auf die radikale Studentenbewegung zur Zeit der
Regentschaft Siaka Stevens‘ zurück. Abdullah beschreibt diese Studentenbewegung als
eine informelle Opposition zur APC-Diktatur der 1970er und 1980er Jahre. Laut Abdullah
solidarisierten sich die Studenten, allen voran radikale Elemente des Fourah Bay College
(FBC), in den 1970er Jahren mit ihren weniger gut situierten Altersgenossen aus den
Ghettos der Großstädte, um deren Sorgen und Nöten ein Forum zu bieten. Die Studenten
integrierten sich in die, von Drogen und Kriminalität dominierte, Jugendkultur des
Lumpenproletariats und formten so ein Gefühl der Zusammengehörigkeit unter den
Jugendlichen aller Klassen. Sie nutzten die Exklusivität der sogenannten „potes“118 zum
Gedankenaustausch und zur Organisation ihres Protests gegen das repressive
Einparteiensystem des APC. So kam es 1977 in Freetown zu einer studentischen
Großdemonstration, die das Stevens-Regime dazu veranlasste, kurze Zeit später
Neuwahlen anzusetzen, um den Anschein der Möglichkeit politischer Veränderungen zu
erwecken. Dieser nicht zu verachtende Erfolg, gekoppelt mit den sich verschlechternden
sozialen Verhältnissen im Lande, ermutigte die Studentenschaft dazu, in offene
Opposition zum APC zu treten. Die Führungsriege des APC, die, ähnlich wie ihre
Vorgänger, eine Tendenz hatte, die Vorstellungen und Ambitionen der jungen Generation
in Sierra Leone zu missachten, versuchte zunächst, die geistigen Führer der
Studentenbewegung zu kooptieren. Als sich schnell herausstellte, dass es den
jugendlichen Intellektuellen mit ihrer ideologischen Rhetorik ernst war, wurde zu
disziplinarischen
Maßnahmen
übergegangen.
Unter
anderem
ernannte
der
Verwaltungsrat des FBC im Jahr 1985 einen ehemaligen Polizeichef, Jenkin Smith, zum
116
Gberie, Lansana, 2007, S. 67-72, S. 152-154.
Abdullah, Ibrahim, Bush Path to Destruction: The Origin and Character of the Revolutionary
United Front/Sierra Leone, in: The Journal of Modern African Studies, Vol. 36, No. 2 (1998), S.
203-235.
118
Gegenden, in die sich städtische Jugendliche zurückzogen, um unter sich sein zu können.
117
S. 37
Aufseher der Studenten. Im Zusammenhang mit den Versuchen, die Studenten zu
maßregeln, kam es zur Gründung einer radikalen Studentenvereinigung namens Mass
Awareness and Participation (MAP) unter der Führung Alie Kabbas. Dieser radikale Kreis
um Kabba sympathisierte offen mit den „revolutionären“ Ideen des libyschen Präsidenten
Muammar al-Gaddafi.119 Den entscheidenden Anstoß für die Etablierung einer aktiven
Verbindung zwischen den radikalen Studenten und dem libyschen Regime gab die
zweimonatige Inhaftierung und anschließende Exmatrikulation Kabbas in Folge einer
gewalttätigen Studentendemonstration im Jahr 1985.120 Nach ihrem Ausschluss begaben
sich Kabba und drei weitere ehemalige Studenten auf Geheiß von Gaddafi nach Ghana,
wo sie in die Universität von Legon aufgenommen wurden. Dort bekamen sie finanzielle
Unterstützung aus Libyen, um ihre Zahl zu erweitern und sich auf ihre „revolutionären
Aufgaben“ konzentrieren zu können. Laut Abdullah handelte es sich zu diesem Zeitpunkt
um eine kleine Gruppe von Aussätzigen, die sich weder auf ein bestimmtes politisches
Programm berief, noch eine eigenständige politische Organisation oder Struktur etabliert
hatte. Sie blieb während ihres gesamten Aufenthalts in Ghana eine informelle politische
Gruppierung, deren Zusammenhalt auf der gemeinsamen Erfahrung von Ausschluss und
der Verpflichtung gegenüber radikalen Prämissen basierte.121 Als Gaddafi diese
Studenten 1987 zur Rekrutierung von Freiwilligen aus Sierra Leone für die militärische
Ausbildung in Benghazi aufrief, gab es demnach keine ideologische Plattform, auf deren
Basis diese Rekrutierung hätte stattfinden können. In der Zeit zwischen April 1985 und
August 1987 hatte sich überdies eine Veränderung in der Zusammensetzung vieler
radikaler Gruppen in Freetown vollzogen. Die Gründung von Studentenvereinigungen am
FBC war nach den Vorfällen von 1985 verboten worden, sodass nun „revolutionäre“
Gruppierungen,
allen voran
PANAFU122,
die führende Rolle
im
Streben
nach
gesellschaftlicher Veränderung übernahmen. PANAFU lehnte jedoch die Rekrutierung
durch das libysche Regime offiziell ab. Die weitgehende Ablehnung der militanten
Vorstellungen einiger äußerst radikaler Aussätziger, die ihr Heil in der „revolutionären“
Ideologie Muammar al-Gaddafis sahen, selbst durch äußerst radikale Organisationen
innerhalb Sierra Leones, bedeutete, dass die militante Bewegung ihre Anhänger nun
vornehmlich aus dem hoffnungslosen, unpolitischen Lumpenproletariat rekrutieren
musste. Jener Umstand sollte sich später in der Zusammensetzung der RUF
widerspiegeln. Dennoch stieß der Aufruf zur Bewaffnung gegen das korrupte APCRegime keinesfalls überall auf taube Ohren. Selbst innerhalb PANAFU’s gab es einige
119
Abdullah, Ibrahim, 1998, S. 207-212; zum Verständnis der „revolutionären“ Ideologie Gaddafis:
Qaddafi, Mu‘ammar al-, Das grüne Buch. Die Dritte Universaltheorie, Koblenz 1990.
120
Gberie, Lansana, 2007, S. 49-50.
121
Abdullah, Ibrahim, 1998, S. 215.
122
PANAFU war/ist eine politische Gruppierung, die die ideologischen Vorstellungen des PanAfrikanismus repräsentiert/e; zum Pan-Afrikanismus: Esedebe, P. Olisanwuche, Pan-Africanism.
The Idea and Movement, 1776 – 1963, Washington, D. C. 1982.
S. 38
Mitglieder, die einen Waffengang im Namen der Revolution befürworteten. Diese, sich in
der Minderheit befindlichen, Mitglieder wurden nach einigen heftigen Debatten aus der
Union ausgeschlossen und folgten kurz darauf dem Ruf aus Libyen. Unter ihnen
befanden sich Abu Kanu und Rashid Mansaray, die, zusammen mit dem im August 1987
rekrutierten ehemaligen Unteroffizier der SLA, Foday Sankoh, später die erste
Führungsebene der RUF bilden sollten. Während der Zeit der militärischen Ausbildung in
Libyen gab es kein konkretes Programm für die Vorgehensweise nach Beendigung des
Aufenthaltes. Den etwa 35, in verschiedenen Armeelagern Benghazis verstreuten,
Rekruten gelang es nicht, eine zentrale Organisationstruktur für ihre revolutionären
Bestrebungen aufzubauen. Im Gegenteil, sie wehrten sich sogar aktiv gegen die
Versuche Alie Kabbas ein „revolutionäres“ Oberkommando zu installieren und verließen
Libyen letztlich gespalten und frustriert, ohne weitere konkrete Ziele in Angriff zu
nehmen.123 Erst 1988, zurück in Sierra Leone, fanden sich einige der in Libyen
ausgebildeten Rekruten zusammen, um die angestrebte „Revolution“ in Gang zu setzen.
Hier formten Mansaray, Kanu und Sankoh schließlich eine engverknüpfte Gruppe, die
sich regelmäßig traf, um ihre Vorgehensweise zu besprechen und neue Mitstreiter zu
werben. Sie begannen das Hinterland Sierra Leones intensiv zu bereisen und kamen
wahrscheinlich auf diese Weise mit Vertretern der NPFL in Kontakt. Im Zuge dieses
Kontaktes lernten sie den Anführer der NPFL, Charles Taylor, kennen, der etwa zu dieser
Zeit aus der burkinischen Gefangenschaft entlassen worden und nach Freetown gereist
war. Mitte des Jahres 1989 einigte sich die Gruppe der drei Sierra Leonischen
„Revolutionäre“ mit Charles Taylor auf ein Bündnis, das darauf abzielte, die
umstürzlerischen Vorhaben beider Seiten zu verwirklichen. Demnach sollten Sankoh und
seine Mitstreiter der NPFL dabei behilflich sein Liberia „zu befreien“, wofür sie im
Gegenzug von Taylor eine Basis zur Ausführung ihres bewaffneten Kampfes gegen den
APC erhalten würden. Nach Schmiedung dieser informellen Allianz wurde ein bereits
vorhandenes Dokument mit dem Titel The Basic Document of the Revolutionary United
Front of Sierra Leone(RUF/SL), welches ursprünglich während der ersten Jahre der
Ausbildung von Alie Kabbas Studentengruppe in Ghana entstanden war, in modifizierter
Form als das Manifest der RUF angenommen. Dieses Dokument sollte gleichsam
namengebend sein für die militante Gruppierung, die sich um Sankoh, Mansaray und
Kanu formierte. Anfangs teilten sich die drei Initiatoren die Führung der relativ lose
organisierten RUF, wobei Foday Sankoh, mit dem Einverständnis seiner beiden
Mitstreiter, die Funktion des Sprechers der Organisation übernahm. Als die RUF im März
des Jahres 1991 mit Hilfe der NPFL ihre ersten Angriffe auf den Kailahunbezirk
durchführte, hatte sich Sankoh an der Spitze der Bewegung durchgesetzt. Die
123
Abdullah, Ibrahim, 1998, S. 216-19.
S. 39
ursprüngliche Kampftruppe der RUF-Rebellen setzte sich aus drei Gruppen zusammen:
aus denjenigen, die in Libyen militärisch ausgebildet worden waren; aus einer zweiten
Gruppe Sierra Leoner, die in Liberia ansässig war; und aus einer dritten Gruppe,
bestehend aus hartgesottenen NPFL-Kämpfern, die die RUF-Rebellen unterstützen
sollten. Der überwiegende Teil der Sierra Leonischen Kombattanten gehörte der Schicht
des Lumpenproletariats an und hatte sich der RUF aus Gründen angeschlossen, die
jeglicher
politischer
Zusammensetzung
oder
der
ideologischer
RUF,
sowie
die
Orientierung
fehlende
fern
lagen.
politische
Die
soziale
Motivation
ihrer
Protagonisten, war von höchster Bedeutung für den Charakter des Bürgerkrieges, den
diese militante Bewegung in Sierra Leone entfachen würde.124
6.2 Der NPRC und die Ausweitung des Bürgerkrieges
Nachdem die Militärjunta des NPRC die Regierungsgewalt in Sierra Leone an sich
gerissen hatte, versprach Valentin Strasser der Öffentlichkeit eine rasche Beendigung
des Bürgerkrieges und die baldige Rückkehr zu einer Zivilregierung. Seine Worte sollten
sich jedoch als leere Versprechungen erweisen. Die Kampfhandlungen, welche kurz nach
der NPRC-Übernahme ausbrachen, offenbarten die Schwäche der SLA. Im Juni 1992
eroberte die RUF Gandorhun, eine Stadt, von der aus die Rebellen Vorstöße nach Koidu,
dem Hautdiamantenzentrum Sierra Leones im Konobezirk, planen konnte. Als sie im
Oktober 1992 in Koidu einbrachen, waren die Soldaten der SLA offenbar damit
beschäftigt, Diamanten abzubauen, sodass sie von dem Angriff völlig überrascht wurden
und gemeinsam mit der Zivilbevölkerung die Flucht ergriffen. Die Eroberung der
bedeutendsten
Stadt
in
Sierra
Leones
wichtigstem
Rohstoffgebiet
und
das
einhergehende Blutbad wurden als nationale Katastrophe angesehen und führten der
gesamten Bevölkerung die Ausmaße des herrschenden Bürgerkrieges vor Augen. Der
Bürgerkrieg, der bis dahin als eine rein regionale Angelegenheit gesehen wurde, nahm
nun den Stellenwert einer nationalen Bedrohung ein. Wenngleich eine konzentrierte
Militäroperation der SLA die Rebellen für kurze Zeit aus Kono zu vertreiben vermochte,
gelang es der Armee nicht, ihre Stellung über einen längeren Zeitraum zu halten. Schon
zu Beginn des Jahres 1993 eroberten die Rebellen Koidu erneut, während die Soldaten
der SLA abermals mit dem Abbau von Diamanten beschäftigt waren. Der Krieg
verwandelte sich allmählich in ein Tauziehen zwischen den Rebellen und der Armee, bei
dem die Zivilbevölkerung die mit Abstand größten Verluste hinzunehmen hatte. Selbst
dann, wenn die Armee die Oberhand zu gewinnen schien, gelang es den Rebellen immer
wieder, den Regierungstruppen entscheidende Gebiete abzuringen. So hatte die SLA
Ende 1993 mit Hilfe von irregulären Truppen Kailahun, Koidu und sogar Pendembu,
124
Abdullah, Ibrahim, 1998, S. 220-222.
S. 40
welches als Hauptquartier der Rebellen fungierte, zurückgewonnen. Die NPRCRegierung war auf Grund ihrer Erfolge gar so siegessicher, dass Strasser im Dezember
1993 einen Waffenstillstand ausrief und die verbleibenden Rebellen aufforderte, sich zu
ergeben. Lediglich einen Monat später eskalierte der Bürgerkrieg indes in einer Art, die
sich der NPRC nicht hätte träumen lassen. Die Rebellen eroberten zum wiederholten
Male Koidu, rückten weiter vor, um den gesamten Konobezirk unter ihre Kontrolle zu
bringen und standen nun vor Bo, dem Gebiet mit den zweitgrößten Rohstoffvorkommen
in Sierra Leone. Auf ihrem Streifzug durch die Bezirke des Landes führte die RUF
Überfälle an wichtigen Versorgungsstrecken durch, brannte wahllos Dörfer und Städte
nieder und nahm massenhaft Geiseln, nicht zuletzt viele Jugendliche, die auf zwanghafte
Weise in ihre Truppen integriert wurden. Im Oktober 1994 beschrieb die Zeitung The
Unity Now den Bürgerkrieg als nacktes Räuberwesen, welches beiderseits von
undisziplinierten Soldaten und unpatriotischen Rebellen betrieben würde.125 Der Druck
auf den NPRC mit der RUF in Verhandlungen zu treten, stieg von allen Seiten. Erstmals
erklang der Ruf nach Verhandlungen im November des Jahres 1994. Der katholische
Erzbischof von Freetown und Bo, Joseph Ganda, forderte Valentin Strasser dazu auf, der
sinnlosen Gewalt gegenüber hilflosen Zivilisten ein diplomatisches Ende zu setzen. Kurz
darauf stimmte auch der Generalsekretär der Organisation of African Unity (OAU)126,
Ahmed Salim, in die Forderung nach einer diplomatischen Lösung für den Bürgerkrieg
ein. Der NPRC reagierte mit der Errichtung eines Nationalen Sicherheitsrates (NSR), in
welchem Repräsentanten der Regierung, der Armee, der Polizei, der Nationalen
Anwaltskammer,
der
Sierra
Leonischen
Journalistenvereinigung,
sowie
des
Arbeiterkongresses und der Universität von Sierra Leone vertreten waren. Am 25.
November gab der NSR eine Erklärung ab, in der er an die RUF-Führung appellierte,
einen Waffenstillstand zu akzeptieren, alle Geiseln freizulassen und sich in Form einer
politischen Partei zu organisieren, um so an einem Übergangsprozess in eine
Zivilregierung teilhaben zu können. In der Reaktion auf dieses Angebot zeigte sich
unmissverständlich das Desinteresse der RUF an einer politischen Partizipation. Sankoh
erklärte umgehend, dass solche Forderungen inakzeptabel seien, da sie die Legitimität
seiner Bewegung in Frage stellen würden. Die RUF hielt dementsprechend an ihrer
destruktiven Vorgehensweise fest und Sierra Leone stürzte immer tiefer ins Chaos.
Anfang 1995 hatte das Land einen Zustand erreicht, der mit Anarchie gleichzusetzen ist.
Die Rebellen belagerten die Hauptstadt, sodass jeglicher Kontakt mit den Provinzen
unmöglich geworden war. Abtrünnige Soldaten liefen Amok und führten eigenständige
Attacken auf die Zivilbevölkerung aus, um sich durch Plünderungen zu bereichern.
125
Gberie, Lansana, 2007, S. 77-82.
Die OAU wurde 2002 von der AU (Afrikanische Union) abgelöst. Sie entspricht einer
überregionalen Organisation für Afrika, die mit der Europäischen Union vergleichbar ist.
126
S. 41
Strasser selbst beschrieb die Situation als ein Durcheinander aus Verstümmelungen,
Plünderungen, Vergewaltigungen und Banditentum.127 Sierra Leone war vollends im
Chaos des Bürgerkrieges versunken.
6.3 Rückkehr zu einer Zivilregierung: Ein Hoffnungsschimmer?
Die Ereignisse bis zum Friedensabkommen von Lomé
Die Dimension des sich ausbreitenden Chaos war von den inländischen Streitkräften
nicht mehr zu beherrschen. Im Mai 1995 entschied sich Hauptmann Strasser dazu, eine
südafrikanische Sicherheitsfirma zu engagieren. Er war von einem britisch-geführten
Energieunternehmen dazu animiert worden, die Firma namens Executive Outcomes (EO)
zu kontaktieren. EO sorgte binnen weniger Monate, unterstützt von guineischen und
nigerianischen Truppen, dafür, dass die kritische Situation in Sierra Leone etwas
eingedämmt werden konnte. Zum Ende des Jahres 1995 hatten die vereinten Streitkräfte
auf Seiten der Regierung das Chaos einigermaßen unter Kontrolle gebracht. Diese
deutlich entspannte Lage nutzte der NPRC prompt, um Wahlen vorzubereiten, welche
darauf abzielten, Sierra Leone schnellstmöglich in eine Zivilregierung zu überführen.128
Während der Vorbereitung auf die Wahlen kam es jedoch im Januar 1996 zu einem Coup
innerhalb des NPRC. Brigadegeneral Julius Maada Bio übernahm die Führung der
Militärjunta, nachdem Strasser, durch den Versuch sich selbst als neuen Präsidenten
Sierra Leones zu installieren, den Unmut seiner Kammerraden auf sich gezogen hatte.
Obwohl Bio eingangs nicht viel daran lag, die Militärregierung aufzulösen, wurde er durch
Druck von außen dazu veranlasst, im Februar 1996 Wahlen ansetzen zu lassen. Einen
Monat später schließlich wurde Ahmed Tejan Kabbah, ein ehemaliger Amtsträger bei den
United Nations (UN) und Mitglied der SLPP, zum Präsidenten gewählt. Trotz vielfältiger
Probleme auf Seiten der neuen Regierung gelang es der, durch die südafrikanischen
Söldner stabilisierten, Militärkoalition von SLA und Kamajors129 bis Oktober 1996 die RUF
in äußerste Bedrängnis zu bringen. Ende des Jahres erklärte sich die RUF-Führung dazu
bereit, über ein Friedensabkommen zu verhandeln, und am 30. November kam es zur
Unterzeichnung eines selbigen durch Präsident Kabbah und Foday Sankoh in Abidjan,
Côte d’Ivoire. Das Abkommen von Abidjan sah die Etablierung eines Neutralen
Kontrollorgans zur Entwaffnung und Demobilisierung der Fraktionen, die Rückführung
aller ausländischen Truppen, sowie den Abzug von Executive Outcomes vor. Unter Druck
127
Gberie, Lansana, 2007, S. 89-91.
Ebd., S. 92-94.
129
Die Kamajors waren irreguläre Kombattanten, die sich etwa 1992 als Antwort auf die RUFGräueltaten im Gebiet der Mende zu einer Gruppe zusammenschlossen. Diese äußerst motivierte
und, spätestens seit 1996, gut ausgebildete Zivilmiliz hatte entscheidenden Anteil an der
Beendigung des Bürgerkrieges; ausführliche Informationen zu Entstehung und Hintergrund der
Kamajors: Gberie, Lansana, 2007, S. 82-86.
128
S. 42
des IWF verwies Kabbah EO im Januar 1997 des Landes. Etwa zur gleichen Zeit
übernahmen nigerianische Truppen die Rolle des Schutzpatrons der Regierung. Beinahe
900 nigerianische Soldaten waren mittlerweile in Sierra Leone stationiert. Zu Beginn des
Jahres 1997 schien es, als sei das Land am Ende des Bürgerkrieges angelangt.130 Nur
wenige Monate später sollte es zu einer erneuten Kehrtwendung kommen.
6.3.1 Der AFRC-Coup von 1997
Wenngleich der Übergang in eine Zivilregierung im Jahr 1996 relativ reibungslos
verlaufen zu sein schien, so war es doch bezeichnend, dass die dafür notwendigen
Voraussetzungen nur mit Hilfe ausländischer, sowie irregulärer Truppen geschaffen
werden konnten. Eben jene zunehmende Fokussierung auf ausländische Truppen, sowie
auf die zuverlässigen Zivilmilizen sorgte für große Unruhe innerhalb der SLA. Einige
Militärs empfanden die Gefahr, von ihrer Konkurrenz in die Bedeutungslosigkeit
abgedrängt werden zu können, als so gegenwärtig, dass sie sich am 25. Mai 1997 des
Mittels eines Putsches bedienten. Dieses Mal handelte es sich um ein Element der SLA,
das tief in die illegalen Machenschaften des Diamantenhandels verwickelt war. Die
Putschisten befreiten einen gewissen Major Johnny Paul Koroma, der bereits 1996 an
einem Putschversuch gegen das Kabbah-Regime beteiligt war, aus dem Gefängnis in
Pademba und ernannten ihn zum Anführer ihres Armed Forces Ruling Council (AFRC).
Die Gruppe um Koroma, welche in den Jahren des Bürgerkrieges enorm von den
chaotischen Zuständen profitiert hatte, verkündete bald darauf, dass die RUF-Rebellen
zu
ihrer
Bewegung
gehörten.
Der
RUF-Führer
Foday
Sankoh
wurde
zum
stellvertretenden Vorsitzenden des AFRC ernannt und konnte diese Rolle nur deshalb
nicht wahrnehmen, weil er einige Monate zuvor, während der Aushandlung eines
Waffengeschäfts, in Nigeria verhaftet worden war.131 Laut Lansana Gberie markierte der
AFRC-Coup die letzte Stufe des Sierra Leonischen Staatszerfalls, da die Koalition
zwischen ehemaligen Regierungstruppen und der RUF unmissverständlich deutlich
machte, dass es im anhaltenden Bürgerkrieg nicht um die Durchsetzung politischer Ziele,
sondern einzig und allein um organisierte Kriminalität ging.132 Es ist nigerianischen
Truppen der Economic Community of West African States Monitoring Group (ECOMOG)
zu verdanken, dass sich der AFRC nur vorrübergehend an der Macht halten konnte.
Diese Truppen begannen, in Reaktion auf den Putsch, Luftangriffe auf Stellungen der
Rebellen zu fliegen. Am 6. Februar 1998 kam es zum Aufeinandertreffen der ECOMOGStreitkräfte mit den Soldaten der AFRC und der Rebellen. Unter Verwendung von
130
Adebajo, Adekeye, Building Peace in West Africa. Liberia, Sierra Leone, and Guinea-Bissau,
Boulder/Colorado [u.a.] 2002, S. 84-86.
131
Adebajo, Adekeye, 2002, S. 87.; Gberie, Lansana, 2007, S. 95-96.
132
Gberie, Lansana, 2007, S. 96.
S. 43
schwerem Geschütz gelang es dem nigerianischen Militär, die AFRC-RUF-Koalition aus
Freetown zu vertreiben. Am 10. März 1998 konnte Ahmed Kabbah erneut als Präsident
von Sierra Leone eingesetzt werden.133 Trotz des klaren militärischen Erfolges der
Nigerianer gaben sich die Rebellen indes nicht geschlagen. Sie hatten während der
Kämpfe mit den ECOMOG-Truppen erstaunlich wenige Verluste hinnehmen müssen und
zogen sich nun in das Hinterland zurück, um ihre Kräfte zu bündeln und den
Gegenschlag vorzubereiten. In Zusammenarbeit mit Charles Taylor organisierte die RUF
eine militärische Ausbildung ihrer Truppen durch südafrikanische Söldner, die sich
anschließend sogar an Attacken auf Städte im Kailahunbezirk beteiligten.134 Die Rebellen
gewannen zusehends Selbstvertrauen in ihre neuerlangte Stärke, sodass Sam Bockarie,
der nach der Inhaftierung Sankohs in Nigeria, die Führung der Rebellen übernommen
hatte, im weiteren Verlauf des Jahres 1998 mehrfach damit drohte, die RUF würde ganz
Sierra Leone in Schutt und Asche legen. Seine Drohungen wurden jedoch weder von der
Regierung Ahmed Kabbahs noch von den nigerianischen Truppen für voll genommen.
Vor allem die Nigerianer waren sich nach ihrem Erfolg in Freetown sicher, dass sie auf
Grund ihrer überlegenen Ausrüstung keine Gefahr von den Rebellen zu erwarten
hatten.135 Die Ereignisse im Januar des Jahres 1999 bereiteten dieser Vorstellung ein
jähes Ende.
6.3.2 Die RUF-AFRC-Attacke auf Freetown aus dem Jahr 1999: eine
humanitäre Katastrophe
Nachdem die ECOMOG-Streitkräfte für die Wiederherstellung der Zivilregierung in
Freetown gesorgt hatten, verbreiteten sie ein Klima der Sicherheit in der Hauptstadt,
welches über den tatsächlichen Stand der Sicherheitslage hinwegtäuschte. Dieses
trügerische Gefühl, man habe die Situation unter Kontrolle gebracht, nutzten die
Rebellen,
um
am
6.
Januar
1999
einen
Überraschungsangriff
auf
Freetown
durchzuführen, der alle bisherigen Ereignisse des Bürgerkrieges in den Schatten stellen
sollte. Bei jenem Angriff wandten die Rebellen eine Taktik an, die sich bereits zuvor in
anderen großen Städten bewährt hatte. Eine kleinere Zahl von Rebellen infiltrierte die
Hauptstadt schon Tage vor dem Angriff, getarnt als Zivilisten, um die Sicherheitskräfte
durch einen innerstädtischen Aufruhr am Tag des Angriffes von den anrückenden
Rebellen abzulenken, welche Freetown schließlich überrennen würden. Die bewährte
Taktik verfehlte ihr Ziel auch in diesem Falle nicht. Innerhalb weniger Stunden nahmen
die Kämpfer der RUF-AFRC-Koalition die Hauptstadt ein und entfachten ein Feuer der
Zerstörung, wie es mit Worten kaum zu beschreiben ist. Die Gräueltaten, welche sich in
133
134
135
Adebajo, Adekeye, 2002, S. 87-88.
Gberie, Lansana, 2007, S. 122-124.
Ebd., S. 120-121.
S. 44
den knapp sechs Wochen der Besetzung Freetowns abspielten, stellten den grausamen
Höhepunkt des Bürgerkrieges dar.136 Die Gegenoffensive der Nigerianer verlief nach
demselben Muster wie ihre Offensive von 1998. Sie basierte vorwiegend auf schwerem
Geschütz,
darunter
auch
Militärflugzeuge,
die
rücksichtslos
Teile
Freetowns
bombardierten. Mit jener rigorosen Vorgehensweise trug das nigerianische Militär dazu
bei, die stetig steigende Zahl an zivilen Opfern weiter zu erhöhen. Erst nach
wochenlangen verlustreichen Auseinandersetzungen gelang es den ECOMOG-Truppen
und Sierra Leonischen Zivilmilizen die Rebellen aus Freetown zu vertreiben. Die
Besetzung der Hauptstadt durch die RUF-AFRC-Koalition und die anschließende
Gegenoffensive der ECOMOG-Truppen kosteten zwischen 3000 und 6000137 Zivilisten
das Leben und hinterließen große Teile Freetowns in Schutt und Asche.138
Das horrende Ausmaß der Katastrophe rief nun endlich auch große internationale
Akteure auf den Plan. So schalteten sich die USA und Großbritannien erstmals aktiv in
die Lösung des Konfliktes ein, indem sie die liberianische Regierung öffentlich
beschuldigten, die Rebellen in Sierra Leone zu unterstützen. Mit ihrer Forderung nach
Sanktionen gegenüber Charles Taylors Regierung setzten sie den Hauptfinanzier der
RUF unter Druck, um dadurch Verhandlungen zwischen den Rebellen und der KabbahRegierung zu ermöglichen. Gleichzeitig erhöhten sie den Druck auf Präsident Kabbah,
mit den Rebellen in Verhandlung zu treten.139 Diese Strategie schien aufzugehen. Am 18.
Mai 1999 kam es zunächst zu einem Waffenstillstand zwischen der Sierra Leonischen
Regierung und der RUF. Nach der Unterzeichnung dieses Abkommens einigte man sich
darauf, im togolesischen Lomé in umfassende Friedensverhandlungen einzutreten.
6.4 Von Lomé bis zum Ende des Bürgerkrieges: ein steiniger Weg
Das Friedensabkommen von Lomé wurde am 7. Juli 1999, nach sechswöchigen
Verhandlungen, im Beisein von Vertretern Togos, der UN, der OAU und des
Commonwealth durch die Kabbah-Regierung und die RUF-AFRC-Koalition unterzeichnet.
Im Zuge des Abkommens wurde die Todesstrafe, welche in Nigeria über Foday Sankoh
erhoben worden war, zurückgenommen. Die RUF sollte in eine politische Partei
umgewandelt und ihren höheren Mitgliedern sollten Posten in einer Regierung der
nationalen Einheit angediehen werden, wobei für Sankoh das Amt des Vizepräsidenten
vorgesehen war. Ähnlich wie der Abidjan-Vertrag beinhaltete das Lomé-Abkommen einen
kontroversen Straferlass für Kriegsverbrechen. Zur Überwachung der Entwaffnung und
136
Gberie, Lansana, 2007, S. 125-130: Gberie gibt eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse
und geht an einigen Textstellen detailliert auf die Gewalt ein, welche sich in Freetown abgespielt
hat.
137
In den Quellen finden sich hierzu unterschiedliche Angaben.
138
Adebajo, Adekeye, 2002, S. 95; Gberie, Lansana, 2007, S. 131-132.
139
Keen, 2005, S. 248-251.
S. 45
Demobilisierung aller Fraktionen, die sich am Bürgerkrieg beteiligt hatten, wurden
zusätzlich UN-Truppen abgestellt. Außerdem bildete sich ein Gemeinschaftsausschuss
zur Realisierung des Abkommens, der sich aus Mitgliedern der Economic Community of
West African States (ECOWAS) und der UN zusammensetzte, und der alle drei Monate
über die Fortschritte bei der Umsetzung des Friedensvertrages berichten sollte.140
Der Erfolg beziehungsweise das Scheitern des Friedensabkommens von Lomé waren
wesentlich verknüpft mit der Haltung Charles Taylors und dessen Willen, sich nach
seinem Versprechen zu richten, die Unterstützung seiner Regierung für die RUF
einzustellen. Taylor jedoch hielt sich keineswegs an sein Wort, denn auch nach der
Schließung des Abkommens von Lomé lieferte Liberia weiterhin Waffen an die Rebellen
im Austausch für Diamanten aus Sierra Leone.141 Ein anderer Faktor, der die Umsetzung
des Friedensvertrages gefährdete, war die Situation, in der sich Foday Sankoh befand.
Solange er die militärische Stärke der RUF hinter sich wusste, war er in der Lage auf der
Basis der von ihr ausgehenden Bedrohung Forderungen zu stellen, die seinen Status
formell aufwerten konnten. Er musste befürchten, dass die erfolgreiche Demobilisierung
der RUF-Truppen eine immense Schwächung seiner Verhandlungsposition bewirken
würde. Da sich nicht nur Sankoh, sondern auch weitere RUF-Kommandeure durch den
Demobilisierungsprozess bedroht sahen, ist es kaum überraschend, dass sie das
Disarmament, Demobilsation and Reintegration Programme (DDR-Programm) der
Regierung aktiv behinderten. Ihre Bemühungen gingen oft soweit, dass sie Kombattanten
der RUF und des AFRC gezielt davon abhielten, in das DDR-Programm einzutreten.142
Die Chancen auf eine erfolgreiche Umsetzung des Friedensvertrags verschlechterten
sich
außerdem
dadurch,
dass
die
internationale
Gemeinschaft
dem
Demobilisierungsprogramm nur mangelhafte Unterstützung zukommen ließ. Ursprünglich
dazu gedacht, die Ex-Kombattanten auf ein Leben in der Zivilgesellschaft vorzubereiten,
verfehlte das DDR-Programm dieses Ziel auf Grund seiner geringen finanziellen Mittel.
Von den etwa 15.000 RUF-Kämpfern, die zur Zeit der Unterzeichnung des LoméAbkommens aktiv waren, konnten bis zum 1. März des Jahres 2000 gerade einmal 4051
demobilisiert werden. Die schwache Unterstützung für das Programm reduzierte
zunehmend die Möglichkeiten, kriegsmüde Anhänger der RUF-AFRC aus dem Bannkreis
ihrer Kommandeure zu lösen, und sorgte für das vermehrte Wiederaufleben von Angriffen
auf Zivilisten.143 Schon gegen Ende des Jahres 1999 war deutlich zu spüren, dass der
Friedensvertrag zu bröckeln begann. Verschärft wurde die Instabilität des Vertrages
durch den Abzug der nigerianischen ECOMOG-Truppen. Nach einem Regierungswechsel
140
Adebajo, Adekeye, 2002, S. 98-99.
Keen, 2005, S. 253.
142
Ebd., S. 254.
143
Keen, 2005, S. 256-258; Humphreys, Macartan/Weinstein, Jeremy M., Demobilization and
Reintegration, in: The Journal of Conflict Resolution, Vol. 51, No. 4 (2007), S. 549-554.
141
S. 46
in Nigeria hatte der neue Präsident Olusegun Obasanjo entschieden, die finanziellen
Mittel seines Staates auf den Wiederaufbau demokratischer Strukturen im eigenen Land
zu konzentrieren. Am 31. August 1999 begann Nigeria mit dem phasenweisen Abzug
seiner Truppen aus Sierra Leone. Um das Entstehen eines Sicherheitsvakuums zu
verhindern, sah sich die UN nun gezwungen, unter einem entsprechenden UN-Mandat
„Friedenstruppen“ nach Sierra Leone zu versenden.144
6.4.1 Die United Nations Mission in Sierra Leone
Zwischen dem Beginn des Abzugs der nigerianischen Streitkräfte und der Etablierung der
UN-Mission in Sierra Leone vergingen beinahe zwei Monate. Am 22. Oktober 1999
verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1270 und rief damit die United
Nations Mission in Sierra Leone (UNAMSIL) ins Leben. Die Bereitstellung und
Entsendung der Truppen vollzog sich hingegen nur schleppend. Erst nach vier Monaten
hatten die 6000 Mann starken Truppen ihren Zielort erreicht. Es dauerte bis zum April
des Jahres 2000, dass die militärische Truppenstärke der UN eine Zahl erreichte, die der
vormaligen ECOMOG-Streitmacht annähernd gerecht wurde. Etwa 8700 UN-Soldaten
befanden sich Anfang 2000 in Sierra Leone. Die von der UN entsandten Streitkräfte
konnten ihrer Aufgabe jedoch keinesfalls gerecht werden. Folgt man den Ausführungen
David Keens, so handelte es sich um eine bunt zusammengewürfelte, multi-nationale
Armee, die noch dazu unterfinanziert, sowie schlecht ausgebildet und ausgerüstet war.145
Wie desaströs die UNAMSIL-Streitkräfte auf ihre Mission vorbereitet waren, wird
besonders deutlich, wenn man die Ereignisse im Mai des Jahres 2000 in Betracht zieht.
Innerhalb von einer Woche nahmen RUF-Rebellen beinahe 500 UN-Soldaten gefangen –
darunter ein ganzes sambisches Bataillon – und eigneten sich im Zuge der Übergriffe die
Ausrüstung der Friedenstruppen an. Diese Erfolge seitens der Rebellen schienen eine
Welle der Euphorie unter ihnen ausgelöst zu haben. In den folgenden Wochen kam es in
wachsendem Maße zu Zwangsrekrutierungen aus der Zivilbevölkerung. Kurz darauf
begannen die Rebellen auf Freetown zuzumarschieren. Die Gefangennahme der UNSoldaten und der anschließende Marsch auf Freetown verbreiteten Angst und Schrecken
unter der Bevölkerung. Angesichts der erneut prekären Situation und der eindeutigen
Diskreditierung des Lomé-Abkommens durch die RUF-AFRC geriet die britische
Regierung in enormen Zugzwang. Auf die Bitte der Kabbah-Regierung, britische
Streitkräfte in die UN-Mission zu integrieren, reagierte Großbritannien allerdings
ablehnend. Stattdessen entschieden sich die Briten, Truppen unter eigenem Kommando
144
145
Adebajo, Adekeye, 2002, S. 99-100.
Keen, 2005, S. 261.
S. 47
zu entsenden. Am 8. Mai 2000 erreichten die ersten Truppen Großbritanniens die
Hauptstadt Sierra Leones.146
6.4.2 Der RUF-Niedergang und die letzten Jahre des Bürgerkrieges
Die britischen Truppen hielten ihre Aktivitäten vorwiegend auf den Bereich um Freetown
beschränkt. Dennoch half ihre Intervention dabei, die generelle Lage in Sierra Leone zu
Gunsten der Regierung zu verschieben. Obwohl sich Anfang 2000 etwa die Hälfte des
Landes unter der Kontrolle der Rebellen befand, gewannen die alliierten Kräfte allmählich
die Oberhand. Ende des Jahres gewährte der Interimsführer der RUF, Issa Sesay, den
UNAMSIL Truppen freien Zugang zu RUF-Gebieten. Im Mai 2001 versicherte die RUFFührung, sie würde alle von der UN eroberten Waffen zurückgeben, einige tausend
Kindersoldaten entlassen und den Demobilisierungsprozess beginnen. Neben der
britischen Intervention nennt Keen als Hauptgrund für diese Wendung die verstärkte
Teilnahme guineischer Truppen an den Kampfhandlungen. Guinea befand sich infolge
des anhaltenden Bürgerkrieges in einer ähnlichen Lage wie Sierra Leone Anfang 1991.
Der Konflikt drohte nach Guinea überzuschwappen, woraufhin das guineische Militär und
freie Kampfverbände aus der Region alles daran setzten, die Wurzel des Übels
auszuschalten. Die gemeinsamen Attacken der unnachgiebigen Guinesen und der,
mittlerweile von den Briten ausgestatteten, Sierra Leonischen Zivilmilizen auf die
Rebellen, sorgten für die Bereitschaft innerhalb der RUF-AFRC auf Forderungen der UNTruppen einzugehen. Bereits im August 2001 konnten UNAMSIL-Funktionäre berichten,
dass die RUF ihre angekündigten Zugeständnisse in die Tat umgesetzt hatte.147 Ein
weiterer entscheidender Faktor für die Bereitschaft zur Kooperation seitens der Rebellen
war die schwindende Unterstützung für die RUF aus Liberia. Im März 2001 hatte der UNSicherheitsrat
eine
Resolution
verabschiedet,
welche
ein
Embargo
gegen
Diamantenexporte aus Liberia beinhaltete und liberianischen Regierungsmitgliedern ein
Reiseverbot auferlegte. Vor allem das Handelsembargo gegen Liberia, das Land, aus
dem die RUF hauptsächlich ihre Ausrüstung bezog, erschöpfte auf signifikante Weise die
Ressourcen der Rebellen.148 Ferner war das UN-Mandat UNAMSIL’s in Reaktion auf die
Ereignisse des Mai 2000 ausgebessert worden, sodass sich bis Anfang des Jahres 2002
17.455 Blauhelmsoldaten in Sierra Leone befanden. Damit war UNAMSIL zur weltweit
größten Friedensmission aufgewertet worden und stellte mit jährlichen Kosten von etwa
700 Millionen US-Dollar gleichzeitig die kostspieligste UN-Mission dar. Die erhöhte
Truppenstärke
UNAMSIL’s
wurde
zudem
begleitet
von
Maßnahmen
der
Vertrauensbildung mit den Rebellen, deren Ängste vor Tötung, Stigmatisierung und
146
147
148
Adebajo, Adekeye, 2002, S. 100-101; Keen, 2005, S. 260-264.
Keen, 2005, S. 267-269.
Ebd., S. 270-271.
S. 48
genereller Zurückweisung Hindernisse auf dem Weg zur Demobilisierung darstellten.
Zusammen mit der Offensive aus Guinea, sowie der britischen Intervention und der
schwindenden Unterstützung für die Rebellen aus Liberia trug die aufgewertete UNMission dazu bei, dass der Großteil der Rebellen den Bürgerkrieg als verloren ansah.149
In der letzten Phase der Demobilisierung zwischen 2001 und 2002 konnten circa 50.000
Kämpfer aller Fraktionen, darunter auch viele Kamajors, entwaffnet werden.150 Schon im
September
2001
hatte
das
Parlament
dafür
votiert,
den
1998
ausgerufenen
Ausnahmezustand um sechs Monate zu verlängern. Im Februar des Jahres 2002,
nachdem insgesamt rund 76.000 Kombattanten demobilisiert worden waren151, erklärte
die Regierung den Bürgerkrieg schließlich offiziell für beendet.152 Kurz darauf, im Mai
desselben Jahres, wurden Neuwahlen abgehalten, aus denen die SLPP und Ahmed
Tejan Kabbah als klare Sieger hervorgingen. Trotz vieler weiterhin bestehender
Probleme konnte sich das Land nach zwölf Jahren des Kriegszustandes endlich dem
Wiederaufbau widmen.153
7. Sierra Leone nach dem Bürgerkrieg
Wie bereits erwähnt, wurde der Bürgerkrieg Anfang 2002 offiziell für beendet erklärt.
Nachdem Präsident Kabbah durch die Wahlen vom 14. Mai in seinem Amt bestätigt
worden war, richtete sich der Fokus der Regierung nun auf den Wiederaufbau Sierra
Leones. Wie viele andere Staaten, die vom Kriegs- in den Friedenszustand übergingen,
sah sich das Land mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Nichtsdestotrotz
schienen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Rückkehr in friedliche Zeiten
gegeben. Man konnte davon ausgehen, dass die Regierung aus den Fehlern ihrer
Vorgänger gelernt hatte und nun alles daran setzte, die Zustände im Land derart zu
verändern, dass sich eine Tragödie wie die der vorrangegangenen zwölf Jahre nicht
wiederholen würde. Ahmed Tejan Kabbah schien der richtige Mann für die Bewältigung
der enormen Probleme Sierra Leones zu sein. Auf Grund seiner langen, hochdekorierten
Laufbahn in internationalen Organisationen, allen voran der UN, vermittelte er den
Eindruck eines besonnenen Technokraten, der sich gezielt den Aufgaben des
Wiederaufbaus widmen konnte. Sein guter Ruf sorgte dafür, dass sich auch die
internationale Gebergemeinschaft für den Wiederaufbau in Sierra Leone engagierte,
149
Keen, 2005, S. 272-273.
Humphreys, Macartan/Weinstein, Jeremy M., 2007, S. 539.
151
Ebd.
152
Humphreys, Macartan/Weinstein, Jeremy M., Who Fights? The Determinants of Participation in
Civil War, in: American Journal of Political Science, Vol. 52, No. 2 (2008), S. 438.
153
Keen, 2005, S. 283.
150
S. 49
sodass zu Beginn von Kabbahs zweiter Amtszeit alle Vorzeichen in Richtung einer
raschen Verbesserung der Lage zeigten.154
7.1 Präsident Kabbah und die erste Phase des Wiederaufbaus
Die wichtigsten Aufgaben, die Kabbah zu bewältigen hatte, waren die Reform des
Sicherheitssektors, die Dezentralisierung der Verwaltungsstrukturen, die Bekämpfung der
Korruption im
Lande und die Verbesserung der
Lage der Jugendlichen und
Heranwachsenden Sierra Leones. Kabbah führte denn auch Reformen ein, die darauf
abzielten, diese dringenden Probleme zu lösen.155 Zuallererst jedoch musste ein Forum
geschaffen werden, in dem die Betroffenen des Bürgerkrieges Gehör finden und ihre
Sorgen und Nöte artikulieren konnten. Dieses Forum, welches schon im Zuge des LoméAbkommens angedacht war, manifestierte sich in Form der Truth and Reconciliation
Commission (TRC). Die TRC sollte dabei helfen, die Ursachen und das Ausmaß der
groben Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges ans Tageslicht zu
bringen und bot den Opfern die Möglichkeit ihre Menschenwürde gegenüber den Tätern
verbal zu verteidigen. Allerdings ergaben sich häufig Schwierigkeiten für die TRC im
Zusammenhang mit dem Special Court (SC), dem Organ, welches für die Strafverfolgung
der Akteure, und vor allem der Hauptakteure, des Bürgerkrieges verantwortlich war.
Oftmals verweigerten die Akteure ihre Aussagen im TRC, da sie damit rechnen mussten,
sich bezüglich ihrer Strafprozesse zusätzlich zu belasten. Außerdem konnte die TRC
neben psychischer Entlastung, die abhängig von den jeweiligen Umständen auch zu
psychischer Belastung werden konnte, keine weitere Fürsorge für die Betroffenen
leisten.156 Diese Aufgabe kam demnach der Regierung zu, die dazu angehalten war,
durch ihre Reformen eine Besserung der sozialen und wirtschaftlichen Lage für die
Bevölkerung herbeizuführen. Ein Hauptaugenmerk der Reformen musste dabei die
Lösung des Jugendproblems in Sierra Leone sein. Historisch gesehen war die Jugend
des Landes die Bevölkerungsschicht, die man über Jahrzehnte hinweg am meisten
vernachlässigt hatte. Nicht rein zufällig waren Jugendliche der Ausgangspunkt für die
Radikalisierung des Protestes gegen das repressive System der 1970er und 1980er
Jahre, eine Radikalisierung, welche mitverantwortlich für die Entstehung der RUF
gewesen ist. Ferner waren es Jugendliche, die den Hauptanteil der RUF-Rebellen
ausgemacht
154
hatten,
auch
wenn
ein
Großteil
von
ihnen
gegen
ihren
Willen
Sesay, Amadu [u.a.], Post-War Regimes and State Reconstruction in Liberia and Sierra Leone,
CODESRIA, Senegal 2009, S. 56-58.
155
Ebd., S. 56.
156
Ebd., S. 62-66.
S. 50
zwangsrekrutiert worden war.157 2003 machten Menschen im Alter zwischen 15 und 35
Jahren ganze 33 Prozent der Sierra Leonischen Bevölkerung aus. Um dem Problem der
extremen Vernachlässigung von Jugendlichen entgegenzuwirken, etablierte die KabbahRegierung zunächst ein Jugend- und Sportministerium. Dieses wurde später durch
diverse Programme, wie das National Youth Development Programme oder die National
Drug Control Strategy, ergänzt.158 Ein weiteres Hauptproblem, dessen sich die KabbahRegierung dringend annehmen musste, stellte die im Lande immer noch weitverbreitete
Korruption dar. Zum Zwecke der Eindämmung von Korruption hatte die Regierung daher,
auf Anraten internationaler Geber, schon im Jahr 2000 eine Anti-Korruptionskommission
(AKK)
ins
Leben
gerufen.
Diese
Kommission
sollte
die
Beaufsichtigung
von
Regierungsbeamten effektiv gewährleisten. Außerdem fiel es ihr zu, Korruptionsvorfälle
zu
untersuchen,
sowie
öffentliche
Bildungskampagnen
zum
Thema
Korruption
durchzuführen, um so das Bewusstsein für die schädlichen Auswirkungen von Korruption
zu verdeutlichen. Man erhoffte sich von der Etablierung der AKK eine landesweite
Steigerung des Vertrauens in die guten Absichten der Regierung. Entgegen den großen
Hoffnungen und Erwartungen gelang es der AKK indes nicht, bedeutsame Erfolge im
Kampf gegen die Korruption unter den Regierungsbeamten und denjenigen die enge
Verbindungen zur Regierung unterhielten, zu erzielen. Offenbar griffen die Regierung und
nicht zuletzt Präsident Kabbah persönlich des Öfteren aktiv in die Arbeit der AKK und der
Justiz ein, um die Strafverfolgung ehemaliger Regierungsmitglieder, die der Korruption
für schuldig befunden worden waren, zu behindern.159 Zu Beginn des Jahres 2007 führte
der Korruptionswahrnehmungsindex der internationalen Organisation Transparency
International Sierra Leone auf Position 150 von 179 untersuchten Ländern. Diese
schlechte Bewertung bestätigte die steigende Zahl an Kritikern, die dem Präsidenten
vorwarf, er würde seine politischen Programme lediglich dazu benutzen, den Anschein
von veränderten Verhältnissen in der Regierungsführung zu erwecken. Tatsächlich ließ
sich diese These auch auf das neu eingerichtete Jugend- und Sportministerium
anwenden. Bereits im Juli 2003 musste die Regierung herbe Kritik seitens der nationalen
Jugendkoalition ob der fehlenden Zusammenarbeit mit den Jugendlichen bei der
Gestaltung des eigens für sie geschaffenen Ministeriums hinnehmen. Die mangelnde
Einbeziehung der Jugendlichen in die Gestaltung und Implementierung der Programme
des Ministeriums symbolisierte für viele die Kontinuität der Vernachlässigung und
Nichtberücksichtigung von Jugendinteressen in Sierra Leone.
Zudem gelang es der
Regierung unter Präsident Kabbah, teils auf Grund der nach wie vor prekären
157
Wais, Zubari, The Role of Youth and the Sierra Leone Diaspora in Democratic Awakening, in:
Zack-Williams, A.B. [Hrsg.], The Quest for Sustainable Development and Peace. The 2007 Sierra
Leone Elections, Uppsala 2008, S. 54.
158
Sesay, Amadu [u.a.], 2009, S. 69.
159
Ebd., S. 72.
S. 51
wirtschaftlichen Lage des Landes, teils auf Grund offensichtlichen Desinteresses, weder
den Zugang zu Bildung für Jugendliche noch deren Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt
wesentlich zu verbessern. Vor allem die Jugend in den ländlichen Gebieten wurde aus
den
ohnehin
mangelhaften
ausgeschlossen.
160
Sicherheitssektors
Bestrebungen
nach
positiven
Veränderungen
Allein in den Bereichen der Dezentralisierung und der Reform des
konnte
die
Kabbah-Regierung
einige
nennenswerte
Erfolge
vorweisen. Im Februar des Jahres 2004 verabschiedete sie den Local Government Act.
Dieses Gesetzespapier stattete die Bezirks- und Gemeinderäte Sierra Leones erstmals
mit beträchtlichen Freiheiten im Umgang mit ihren Finanz- und Personalangelegenheiten
aus.
Gleichzeitig
legte
das
Gesetz
besonderen
Wert
auf
Transparenz
und
Verantwortlichkeit beim Gebrauch der neu erworbenen Freiheiten. Ferner sah der Local
Government
Act
die
Schaffung
eines
ressortübergreifenden
Komitees
für
Dezentralisierung und Kommunalverwaltung, sowie den Ersatz des Systems der
Betriebsleitungen auf kommunaler Ebene durch ein neues System, basierend auf zu
wählenden Kommunalräten, vor. Auch wenn es vor allem im Bereich der Transparenz
und Verantwortlichkeit, und somit bei der generellen Implementierung der neuen
Strukturen, erhebliche Schwierigkeiten gab, schuf die Kabbah-Regierung mit diesen
großangelegten Veränderungen die Basis für eine flächendeckend-dezentrale Form der
Verwaltung Sierra Leones. Im Sicherheitssektor gab es ebenfalls einschneidende
Veränderungen. Hier konnte sich die Regierung auf die Unterstützung Großbritanniens,
der UN und ECOMOG’s verlassen. Sie halfen bei der Planung und Durchführung von
Reformen des Verteidigungsministeriums, der Polizei, des Gerichtswesens und der
Geheimdienste. Diese Reformen zielten vor allem darauf ab, dafür zu sorgen, dass sich
die Armee dauerhaft loyal gegenüber der demokratisch gewählten Regierung verhalten
würde. Außerdem wurde der Aufbau eines zivilgeführten Polizeiapparates anvisiert, der
dazu fähig sein sollte, den Friedenszustand im Land aufrecht zu erhalten.161
Die Umstrukturierung des Sicherheitssektors, sowie die Fortschritte im Bereich der
Dezentralisierung, trugen eindeutig dazu bei, den Friedenszustand in Sierra Leone zu
stabilisieren und die Entwicklung des Landes voranzutreiben. Dennoch wogen die
Versäumnisse der Kabbah-Regierung nicht minder schwer und sorgten dafür, dass das
Vertrauen in die Regierungsvertreter stetig sank. Der offenbar fehlende Wille, die
Korruption in der Verwaltung ernsthaft zu bekämpfen, wurde der Kabbah-Regierung
besonders von der internationalen Gebergemeinde schwer angelastet, sodass wichtige
Institutionen zunehmend abgeneigt waren, die versprochenen finanziellen Mittel
bereitzustellen. Die Abhängigkeit von externer Finanzierung stellte jedoch eines der
160
161
Sesay, Amadu [u.a.], 2009, S. 70-71.
Ebd., S. 60-62.
S. 52
größten Probleme beim Wiederaufbau des Landes dar162, weshalb sich vielerorts die
Meinung etablierte, Kabbah habe die gute Ausgangsposition Sierra Leones nach
Beendigung des Bürgerkrieges mit seiner Amtszeit zu Nichte gemacht.163 Doch nicht nur
die internationale Gemeinschaft zeigte ihre Unzufriedenheit mit der Kabbah-Regierung. In
der Bevölkerung machte sich auf Grund des nur schleppend vorangehenden
Wiederaufbaus sozialer Strukturen und der immer noch kritischen Wirtschaftslage großer
Unmut breit. Selbst fünf Jahre nach dem Bürgerkrieg stand die Arbeitslosenrate Sierra
Leones bei fatalen 65 Prozent und viele junge Menschen sahen sich konfrontiert mit
Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit.164 Der Vorwurf, Kabbah und seine Minister seien aus
demselben Holz geschnitzt, wie die korrupte Machtelite zu Zeiten des APC, wurde immer
lauter. Große Teile der Bevölkerung, allen voran die stark gebeutelte Jugend, wurden der
leeren Regierungsversprechungen überdrüssig. Mit zunehmender Dauer der Amtszeit
Präsident Kabbahs stieg die Anspannung im Lande. Es ist wohl das bedeutendste
Zeichen für die Stabilisierung der Verhältnisse nach dem Krieg, dass sich die allgemeine
Missstimmung nicht in gewaltsamen Ausschreitungen niederschlug. Vielmehr bediente
sich die Bevölkerung eines demokratischen Mittels, um ihrer Frustration Ausdruck zu
verleihen.
7.2 Die Wahlen des Jahres 2007: Der Weg in eine bessere
Zukunft?
In den vergangenen Jahrzehnten suchte ein Teil der frustrierten und entfremdeten
Jugend Sierra Leones ihr Heil in der militanten Revolution gegen das zu dieser Zeit
bestehende repressive System. Die grauenvollen Erfahrungen des langjährigen
Bürgerkrieges und die Rückkehr zu partizipatorischen Verhältnissen in der Politik sorgten
jedoch dafür, dass das Engagement für den Prozess der politischen Meinungsbildung
sowohl für die Jugendlichen als auch für die übrige Bevölkerung wieder in den
Vordergrund des Interesses rückte. Jene Besinnung auf die eigene politische
Handlungsfähigkeit hatte starken Einfluss auf den Ausgang der Wahlen des Jahres
2007.165 Anders als 1996 und 2002, da die Wahlen als Teil des Prozesses der
Konfliktbewältigung verstanden wurden und der Übergang in den Friedenszustand die
Hauptsorge der Wähler darstellte, standen die Wahlen 2007 unter dem Vorzeichen der
Forderung nach politischen Veränderungen.166 Der überwiegende Teil der Bevölkerung
162
Sesay, Amadu [u.a.], 2009, S. 67.
Ebd., S. 73-74.
164
Zack-Williams, A.B., International Intervention and the Struggle for Democracy, in: ZackWilliams, A.B. [Hrsg.], The Quest for Sustainable Development and Peace. The 2007 Sierra
Leone Elections, Uppsala 2008, S. 33.
165
Wais, Zubari, 2008, S. 55-56.
166
Ebd., S. 39-40.
163
S. 53
sehnte sich nach einer Regierung, welche eine Festigung der demokratischen
Verhältnisse herbeiführen und die Basis für eine nachhaltige Entwicklung im Lande legen
würde.167 Sorgen um die Bewältigung des Alltagslebens und die generelle wirtschaftliche
Lage Sierra Leones bildeten den Mittelpunkt der Debatten unter den Wählern. Fragen
nach der Fähigkeit der amtierenden Regierung, sich der akuten Probleme anzunehmen,
wurden laut, denn trotz einiger Fortschritte, die die Kabbah-Regierung erzielen konnte,
befand sich Sierra Leone weiterhin in einem desolaten Zustand. So wurde das Land zur
Zeit der Wahlen von 2007 an letzter Stelle des Human Development Index (HDI)168
geführt. Dies spiegelte sich unter anderem in den katastrophalen Verhältnissen bei der
Grundversorgung
der
Bevölkerung
in
wichtigen
Bereichen
wie
Elektrizität
und
Trinkwasser wider. Das Leben in Sierra Leone war für die Mehrheit der Menschen nach
wie vor ein harter Kampf gegen widrige Umstände.169 Dementsprechend zeigten die von
diesen Umständen Betroffenen besonderes Interesse daran, die Wahlen des Jahres
2007 zu nutzen, um ihre Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung auszudrücken.
Die Wahlen fanden am 11. August statt. Sieben Parteien hatten sich erfolgreich für die
Teilnahme registriert. Chancen auf einen Wahlsieg wurden hingegen nur den beiden
großen Parteien, der SLPP und dem APC, zugerechnet. Das Rennen um die
Präsidentschaft entschied sich demnach hauptsächlich zwischen Ernest Bai Koroma vom
APC und Solomon Berewa von der SLPP. Da Ahmed Kabbah bereits zwei Amtszeiten
absolviert hatte, war er nicht berechtigt, ein weiteres Mal für die Präsidentschaft zu
kandidieren. Die Ernennung Berewas, des langjährigen Vizepräsidenten, zu seinem
Nachfolger an der Spitze der SLPP, sorgte jedoch dafür, dass es innerhalb der Partei zu
einem Bruch kam. Charles Margai, Sohn des früheren Parteivorsitzenden und
ehemaligen Ministerpräsidenten Sierra Leones, Albert Margai,
fühlte sich bei der
Auswahl des Präsidentschaftskandidaten übergangen und gründete kurzer Hand eine
eigene Partei, das People’s Movement for Democracy and Change (PMDC).170 Diese
Entwicklung während des Wahlkampfes spielte dem APC in die Hände. Der APC zehrte
ohnehin schon von der Unbeliebtheit der SLPP. Nun gab es auch noch eine Partei, die
aus dem Herzen der SLPP entstanden war und ihr die Stimmen ihrer traditionellen
Stammwählerschaft streitig machte. Ein weiterer Faktor, der sich positiv für den APC
auswirkte, war die rege Auseinandersetzung seiner Vertreter mit den Sorgen und Nöten
der Unter- und Mittelschicht der Gesellschaft. Ähnlich wie einst zu Entstehungszeiten des
167
Zack-Williams, A.B./Gbla, Osman, The Conduct of the Elections: Challenges of Peacebuilding
and Awakening, in: Zack-Williams, A.B. [Hrsg.], The Quest for Sustainable Development and
Peace. The 2007 Sierra Leone Elections, Uppsala 2008, S. 78.
168
Der Human Development Index ist ein weltweites Ranking der UN zur gesellschaftlichen
Entwicklung einzelner Länder und Regionen, basierend auf verschiedenen Indikatoren, wie ProKopf-Einkommen, Lebenserwartung und Alphabetisierung.
169
Wais, Zubari, 2008, S. 56-57.
170
Zack-Williams, A.B., 2008, S. 30.
S. 54
APC fokussierte die Partei ihre Bemühungen auf die weniger wohlhabenden Kreise der
Bevölkerung, während die SLPP weitgehend in ihrem elitären Muster verharrte.171 Dass
der APC die Wahlen tatsächlich gewinnen würde, hatte allerdings kaum jemand erwartet.
Doch genau so kam es. Der APC konnte sich im ersten Wahlgang mit 44,3 Prozent der
Stimmen klar gegen die 38,3 Prozent der SLPP durchsetzen. Auch die Stichwahl172
konnte die Partei Koromas mit 59 der 112 zu vergebenen Parlamentssitze für sich
entscheiden. Laut A.B. Zack-Williams zeigte sich in diesem Wahlausgang die
Bewusstwerdung der Wählerschaft darüber, dass sie ihre Politiker auf demokratischem
Wege für deren Verfehlungen zur Verantwortung ziehen kann.173
Zweifelsohne stellte die Wahl des Jahres 2007 einen beträchtlichen Fortschritt bezüglich
der demokratischen Stabilität Sierra Leones dar. Bedenkt man, dass das Land erst fünf
Jahre zuvor den Zustand des Bürgerkrieges überwunden hatte, so präsentiert sich die
Übertragung der Regierungsgewalt von einer demokratisch gewählten Regierung auf die
nächste gar als eine überaus bedeutsame Errungenschaft. Besonders vielversprechend
ist es in diesem Zusammenhang, dass eben jene Errungenschaft auf die aktive
Beteiligung
der
Sierra
Leonischen
Bevölkerung
am
demokratischen
Prozess
zurückzuführen ist. Gerade in Sierra Leone, in Anbetracht seiner turbulenten Geschichte,
kann die Rückkehr zu politischer Partizipation und zur Mobilisierung der Massen in einem
demokratischen Rahmen nicht hoch genug bewertet werden.174 Die Wahlen zeigten
allerdings noch einen weiteren Trend auf. Obgleich es sich um freie demokratische
Wahlen handelte175, schienen die Optionen der Wähler auf die zwei etablierten Parteien
des Landes begrenzt zu sein. Folgt man der Argumentation von Zubari Wais, so gibt es
zwischen APC und SLPP jedoch kaum Unterschiede in ihrer ideologischen oder
politischen Ausrichtung.176 Dies wiederum würde bedeuten, dass selbst ein demokratisch
herbeigeführter Regierungswechsel nicht zwangsläufig zu Veränderungen in der
politischen Realität führen muss. Wais warnt vor einem Kreislauf, in dem sich die
miteinander konkurrierenden politischen Eliten bei der Führung des Landes abwechseln,
ohne jemals echte politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen zu bewirken.177
Wie weit die Bereitschaft und die Fähigkeit der neuen Regierung geht, eine positive
Zukunft für das Land und seine Bevölkerung herbeizuführen, bleibt abzuwarten. Sicher
ist, dass die Entwicklung hin zu einem demokratischen Diskurs einen enormen Fortschritt
171
Zack-Williams, A.B., 2008, S. 13.
In Sierra Leones politischem System benötigt eine Partei mindestens 55% der gesamten
Wählerstimmen, um zum Sieger einer Wahl erklärt werden zu können. Bei der Stichwahl treten
nur noch die beiden stärksten Parteien des ersten Wahlgangs gegeneinander an.
173
Zack-Williams, A.B., 2008, S. 13, S. 35.
174
Wais, Zubari, 2008, S. 59.
175
Zack-Williams, A.B., 2008, S. 34.
176
Wais, Zubari, 2008, S. 60.
177
Ebd., S. 61.
172
S. 55
für die Menschen in Sierra Leone darstellt, und dass diese Entwicklung den Weg in die
richtige Richtung vorgezeichnet hat.
8. Abschließende Bemerkungen
Wie aus den vorangegangenen Schilderungen zu ersehen ist, steht die relativ kurze
Phase der politischen Unabhängigkeit Sierra Leones einer sehr viel längeren Zeit
externer Einflussnahme auf das Land gegenüber. Vor allem die nahezu 100 Jahre
andauernde Fremdherrschaft der Briten hat eine eigenständige Entwicklung in Sierra
Leone lange Zeit fast unmöglich gemacht. Die Vorgehensweise der britischen
Kolonialherren beraubte die Menschen Sierra Leones nicht nur ihrer Unabhängigkeit,
sondern etablierte gleichsam ein System der materiellen Ausbeutung, welches sich noch
dazu
einheimischer
Arbeitskräfte
bediente,
um
die
Ressourcen
des
Landes
abzuschöpfen. Hier wurde frühzeitig der Grundstein für einen Großteil der Miseren
gelegt, die im Laufe der Geschichte über das Land und seine Bevölkerung hereinbrechen
sollten. Gleichwohl ist auch die Rolle der korrupten einheimischen Machteliten, die sich
seit der Unabhängigkeit an der Spitze des Staates festgesetzt haben, nicht von der
Geschichte Sierra Leones zu trennen. Das fehlende Verantwortungsgefühl dieser Eliten
gegenüber dem Gemeinwohl des Staates und seiner Bevölkerung hatte entscheidenden
Anteil an den katastrophalen Entwicklungen, welche die Tragödie des Bürgerkrieges erst
möglich machten. Glücklicherweise konnte der Krieg in Sierra Leone nach langem
Ringen zu Beginn des 21. Jahrhunderts beendet werden, sodass nun zumindest die
unabdingliche Basis für eine positive Entwicklung – der Friedenszustand – wieder
gegeben ist. Es ist dem Land und seinen Bewohnern zu wünschen, dass die amtierende
Regierung, zusammen mit der internationalen Gemeinschaft, einen Weg findet, die
Verhältnisse im Lande weiter zu bessern, und, dass sie mit Hilfe einer stabilisierten
Wirtschaft die Voraussetzungen schaffen kann für eine weitestgehend gewaltfreie
Gesellschaft, die es ihren Mitgliedern erlaubt, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Die
stärksten Impulse für eine demokratische Lösung der akuten Probleme gingen bislang
von der Zivilbevölkerung aus. Ihr enormes Engagement im Prozess der politischen
Meinungsbildung seit Beendigung des Krieges steht für die Bereitschaft und den
Wunsch, die unmittelbare Vergangenheit hinter sich zu lassen, um auf friedlichem Wege
die Entwicklung des Landes voranzutreiben. Nun ist es an den Politikern, das in sie
gesetzte Vertrauen mit ehrlichen Bemühungen um das Wohl der Menschen in Sierra
Leone zu belohnen.
S. 56
Die hier vorliegende Arbeit hat versucht, einen konzisen Überblick über die ereignisreiche
Geschichte Sierra Leones zu liefern. Auf Grund der Tatsache, dass es sich um eine
komprimierte Zusammenfassung der gesamten Geschichte des Landes handelt, konnten
einige Bereiche der Historie nur kurz angeschnitten werden. Für ein umfassenderes
Verständnis der Ereignisse und Dynamiken innerhalb der Gesellschaft Sierra Leones
lohnt sich eine vertiefende Beschäftigung mit deren Geschichte. Zu den Bereichen, die in
der vorliegenden Arbeit vernachlässigt werden mussten, zählen die Entstehung und
Weiterentwicklung der Krio-Gesellschaft, sowie die traditionelle und gegenwärtige Rolle
der Chieftaincy als Verwaltungsorgan in den ländlichen Gegenden Sierra Leones. Für die
nähere Beschäftigung mit der Geschichte der Krio kann ich dem Leser die Bücher von
Akintola J.G. Wyse und Mac Dixon-Fyle nahelegen.178 Akintola beschreibt ausführlich die
Wurzeln und den Werdegang der Krio-Gesellschaft. Der Sammelband von Dixon-Fyle
ergänzt diesen historischen Blick durch aktuelle Forschungsergebnisse und fügt sie zu
einer „Neuen Perspektive“ zusammen. Um bessere Kenntnis über die Bedeutsamkeit der
traditionellen Autoritäten in Sierra Leone zu erlangen, bietet sich der Artikel von Richard
Fanthorpe zur politischen Rolle der Chiefdoms an.179 Weitere Themenbereiche, welche in
der vorliegenden Arbeit nur wenig Platz gefunden haben, umfassen die Ursachen für die
lange Dauer des Bürgerkrieges, sowie die Motivationen der verschiedenen Fraktionen
und Individuen für deren Beteiligung am Krieg. Hierfür sei neben den bereits im
Literaturverzeichnis aufgeführten Werken zum Bürgerkrieg besonders auf den, von
Ibrahim Abdullah herausgegebenen, Sammelband Between Democracy and Terror. The
Sierra
Leone
Civil
War
verwiesen.180
Die
genannten
Literaturhinweise
sind
selbstverständlich nur als Anregungen zu verstehen und sollen keineswegs die Neugier
des Lesers mindern, sich auf eigenem Wege vertiefend mit der Geschichte Sierra Leones
auseinanderzusetzen. Ich hoffe, ich konnte dem Leser mit Hilfe meiner Arbeit einen
Einblick in den außerordentlich intensiven Verlauf der Geschichte Sierra Leones geben
und in ihm das Interesse wecken, sich auch weiterhin mit diesem Land, seinen Menschen
und deren Kultur zu beschäftigen.
178
Wyse, Akintola J.G., The Krio of Sierra Leone: An Interpretive History, Washington, D.C. 1989;
Dixon-Fyle, Mac [Hrsg.], New Perspectives on the Sierra Leone Krio, New York [u.a.] 2006.
179
Fanthorpe, Richard, Locating the Politics of a Sierra Leonean Chiefdom, in: Africa: Journal of
the International African Institute, Vol. 68, No. 4 (1998), S. 558-584.
180
Abdullah, Ibrahim [Hrsg.], Between Democracy and Terror. The Sierra Leone Civil War, Dakar
2004.
S. 57
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S. 58
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Wyse, Akintola J.G., The Krio of Sierra Leone: An Interpretive History, Washington, D.C.
1989.
S. 59

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