Report : Die verbotene Halbinsel Wustrow

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Report : Die verbotene Halbinsel Wustrow
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Report : Die verbotene Halbinsel Wustrow
vom 20. August 2015
Aus der Redaktion der Zeitung für die Landeshauptstadt
Wo einst Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt Flak-Soldaten ausbildete, hat die Natur längst
über den Beton gesiegt.
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Kommentare 1
Die Mauern des einstigen Herrenhauses auf der Insel stehen von Pflanzen überwuchert wie
die Reste eines verwunschenen Schlosses.
Foto: Thomas Volgmann
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Am Strand von Rerik liegen die Badegäste dicht an dicht wie Ölsardinen. Gleich nebenan ist
der Strand von Wustrow menschenleer. Beide Welten trennt ein hoher Zaun mit Schildern:
„Lebensgefahr. Betreten strengstens verboten“. Hinter dem Zaun erstreckt sich auf einer
Länge von 12 Kilometern und einer Breite bis zu 2,3 Kilometern das wohl verlassenste und
geheimnisvollste Stück Mecklenburg-Vorpommern – die Halbinsel Wustrow.
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Wir wollen wissen, wie es hinter dem Zaun aussieht, besorgen uns eine Sondergenehmigung
und unterschreiben am Tor, dass wir auf eigenes Risiko Wustrow betreten.
Die verbotene Insel kennt viele Geschichten. Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt war im
Sommer 1943 hier als frisch verheirateter Oberleutnant und Ausbilder. Seine Frau Loki hatte
Ferien, wohnte in diesen Wochen im nahen Kühlungsborn. Das junge Paar traf sich häufig am
Strand, schrieb die Lehrerin in ihren Erinnerungen. Ihre Heimatstadt Hamburg verbrannte in
den grausigen Bombennächten vom 24. Juli bis 3. August 1943. Danach verließ Helmut
Schmidt die Halbinsel.
Adolf Hitler kam mit seinem Komplizen Benito Mussolini 1937 nach Wustrow, um dem
italienischen Diktator Deutschlands größte Flak-Artillerie-Schule zu zeigen. Der
Ausbildungskomplex war damals einer der modernsten seiner Art. 3000 Soldaten waren auf
Wustrow stationiert. Die Offiziere wohnten in der Gartenstadt, die der in Rostock geborene
Reformarchitekt Heinrich Tessenow entwarf. Mehr als hundert Ein- und
Mehrfamilienhäuser, Kaufhaus, Kino, Krankenhaus, Mannschaftsunterkünfte, Flugplatz, zwei
Häfen, Schwimmhalle entstanden – es fehlte an nichts.
Jahrzehntelang war Wustrow zuerst für die Wehrmacht und später für die Sowjetarmee
militärisches Sperrgebiet. Auch nach Abzug der Russen 1993 durfte das Eiland nur
eingeschränkt betreten werden. Seit 2004 ist es wieder vollständig gesperrt. Wer rauf will,
braucht eine Genehmigung des Besitzers. Der ist seit 1998 der Geschäftsmann Anno August
Jagdfeld. Die Sperrung begründet Unternehmenssprecher Christian Plöger mit der Gefahr
durch ungesicherte und einsturzgefährdete Gebäude und militärische Altlasten, die im
Gelände umherliegen: „Sicherheit geht vor.“
Wir gehen mit unserer Ausnahmegenehmigung los. 300 Meter hinter dem Tor stehen wir
schon in der Gartenstadt, oder in dem, was von ihr übrig geblieben ist. Die Dächer und
Fenster der meisten Häuser sind kaputt, seit Jahren regnet es rein. Die meisten Gebäude
hätten bereits nach dem Abzug der Russen saniert werden müssen. „Viele sind vermutlich
nicht mehr zu retten“, meint Plöger.
Anno August Jagdfeld hatte das Eiland 1998 für umgerechnet 7,5 Millionen Euro vom Bund
gekauft . Die Gartenstadt sollte saniert und um 100 zusätzliche Häuser für betuchte
Feriengäste erweitert werden. Außerdem waren ein Golfplatz mit Golfhotel, eine Marina für
240 Boote und ein Reiterhof geplant.
Für die Reriker Kommunalpolitiker um Bürgermeister Wolfgang Gulbis sind die Pläne bis
heute überdimensioniert. Aus Angst vor einer nicht abreißenden Verkehrslawine sperrten
die Stadtvertreter 2003 die einzige Straße zur Halbinsel auf dem Wustrower Hals per
Beschluss. Bis heute gibt es keine Einigung über ein Verkehrskonzept und damit keinen
Baubeginn.
Wir lassen die Gartenstadt hinter uns. Es schließt sich eine Heidelandschaft mit lichten
Bäumen und wild wuchernden Sträuchern an. Wohl nirgendwo an der Ostseeküste gibt es so
viele Mücken, Fliegen und Bremsen gleichzeitig.
Im hohen Gras steht nur hundert Meter von der Steilküste entfernt eine geheimnisvolle
Hütte aus braunem Holz. „Die gehörte Günther Uecker“, erzählt Christian Plöger. Der
Künstler, der mit seinen reliefartigen Nagelbildern Weltruhm erlangte, wuchs auf Wustrow
auf. Sein Vater, Techniker der Wehrmacht, verprügelte Sohn Günther fast jeden Tag, wie
Uecker später in einem Interview berichtete. 2002 kam der Künstler wieder und lebte
tageweise als Einsiedler in der braunen Holzhütte. Jagdfeld und die Stadt waren sich
ausnahmsweise einmal einig und hatten nichts gegen Ueckers Domzil. Die
Landkreisverwaltung vertrieb Uecker dann nach sechs Jahren doch per Gerichtsurteil und
mit dem Verweis auf den Naturschutz. Er sollte die Hütte selbst abreißen, was Uecker nicht
tat. Sie steht noch heute so, als wenn sie gestern von ihm verlassen worden wäre.
Wir gehen weiter und kommen zum Flugplatz. Die Natur hat über den Beton gesiegt, die
ehemalige Landebahn bedeckt kniehohes trockenes Gras. Auf den Tower kommen
manchmal Jäger, die den Bestand an Füchsen und Wildschweinen im naturverträglichen
Rahmen halten sollen. In der Abgeschiedenheit hat sich eine einzigartige Tier- und
Pflanzenwelt entwickelt. 90 Brutvogelarten wurden auf der Insel nachgewiesen. Davon sind
25 Arten gemäß der Roten Liste vom Aussterben bedroht.
Zurück geht es über den alten Gutshof, von dem nur noch die Außenwände des
Herrenhauses stehen, wieder zur Gartenstadt. Das Kino ist bereits eingestürzt. Weitere
Gebäude werden folgen.
Wie wird Wustrow in zehn Jahren aussehen? „Wir hoffen natürlich, dass der Knoten
irgendwann platzt und wir die Insel doch noch touristisch entwickeln können. Für den
Bereich der Gartenstadt ist das ja auch grundsätzlich vorgesehen“, meint der
Unternehmenssprecher. Doch nichts deutet derzeit auf eine Einigung hin.
Inzwischen gibt es auch andere Ideen. Jagdfeld könnte Wustrow gänzlich der Natur
überlassen und das Gelände als Ausgleichsfläche für große Bauprojekt im Küstenbereich
anbieten. „Solche Flächen an der Ostseeküste sind Goldstaub, damit könnte man Millionen
verdienen“, sagt Corinna Cwielag, Landesgeschäftsführerin des Bundes für Umwelt und
Naturschutz (BUND). Für Christian Plöger ist das Thema nicht neu: „Die notwendigen ÖkoPunkte sind genehmigt worden. Wir prüfen, wie wir damit umgehen.“ In der nächsten Zeit
soll die Verbuschung gestoppt werden, damit der Lebensraum seltener Tierarten erhalten
bleibt. Doch die Zukunft der Insel ist völlig offen.
von Thomas Volgmann
erstellt am 20.Aug.2015 | 12:00 Uhr
Warnschilder vor der Gartenstadt
Foto: Thomas Volgmann
Der Zaun vor der verbotenen Insel
Foto: Wüstneck
Kommentar
01. | Robert Sternberg | 20.08.2015 | 13:46 Uhr
Es wäre doch schön, ...
21:0
... wenn wir nicht die ganze Küste zubauen würden. Schauen wir uns doch mal andere Orte
an der Ostsee an, z. B. auf dem Darß: Dierhagen, Ahrenshoop, Prerow, etc. All diese Orte
werden kaum noch von Einheimischen bewohnt. Die Eigentumsverhältnisse sind eher
westlicher bestimmt. Das Resulat ist, dass diese früher mal idyllischen Orte ihre Seele und
den maritimen Charme verloren haben und heutzutage nur noch als kalte geradlinige
Feriendörfer existieren. Schade eigentlich!