Frankfurter Institut für Transformationsstudien MITJA SIENKECHT
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MITJA SIENKECHT ENTGRENZTE ETHNOPOLITISCHE KONFLIKTE No. 01/11 Frankfurter Institut für Transformationsstudien Frankfurter Institut für Europa-Universität Viadrina Transformationsstudien Postfach 1786 Frankfurt Institute for D - 15207 Frankfurt (Oder) Transformation Studies Arbeitsberichte - Discussion Papers ISSN 1431- 0708 Herausgeber - Editorial Board Prof. Dr. J.C. Joerden Prof. Dr. H. Ribhegge Prof. Dr. J. Neyer © by the Author Mitja SIENKNECHT Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Globalisierungsbedingte Veränderungen und theoretische Perspektiven Abstract Die Exklusion ethnischer Minderheiten aus dem nationalen Politiksystem stellt eine entscheidende Ursache für die Entstehung ethnischer Konfliktsituationen dar. Dies liegt darin begründet, dass der Staat die nationale Identität der Bevölkerung konstruiert und die Exklusion eines Bevölkerungsteils zur (gewalttätigen) Infragestellung der Legitimation der Regierung oder zu Sezessionsbestrebungen führen kann, die die Einheit des Staates gefährden. Diese innerstaatlichen Konfliktsituationen weisen im Zuge von Globalisierungsprozessen Entgrenzungstendenzen auf: So haben sich beispielsweise auf globaler politischer Ebene neue Akteure herausgebildet, die sich dem Schutze der Menschenrechte verpflichtet haben und daher von exkludierten Minderheiten adressiert werden können. Während Internationalen Organisationen in der gängigen Konfliktforschung eher eine konfliktmindernde Wirkung zugesprochen wird – etwa durch Mediation – wird in diesem Papier mittels des rationalistischen Ansatzes und der Weltgesellschaftstheorie die radikalisierende Wirkung der globalen Ebene herausgearbeitet. Die These ist, dass Internationale Organisationen zu einer Radikalisierung ethnischer Minderheiten beitragen können, wenn deren Inklusionserwartungen enttäuscht werden und neben dem Einsatz von Gewalt keine Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Interessen besteht. Mitja Sienknecht ist Doktorandin des Graduiertenkollegs „Transformations in Global Governance – Europe and the World Order in Historical Perspective“ an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte 1. Einleitung Ethnisch heterogene Staaten sind auf der gesamten Welt verbreitet. Im Durchschnitt haben Länder fünf ethnische Gruppen, wobei die Länder im Westen im Schnitt weniger verschiedene Gruppen aufweisen als in Sub-Sahara Afrika.1 Während bis vor 100-200 Jahren ethnische Gruppen nicht als Basis politischer Mobilisierung oder Autorität angesehen wurden, ist die Politisierung von Ethnizität in Subsahara-Afrika, Süd- und Südost-Asien, dem Nahen Osten und Teilen Europas weit verbreitet und der Zugang zu politischen und ökonomischen Leistungen ist oftmals nach ethnischen Linien organisiert. Ethnizität ist in vielen der Länder sozial relevant. Soziale Relevanz ist gegeben, wenn Menschen ethnische Unterscheidungen registrieren und im alltäglichen Leben ihr Handeln danach strukturieren.2 Ethnische Konflikte stellen seit der Verschiebung des weltweiten Kriegsgeschehens zu innerstaatlichen Kriegen die dominierende Form dar.3 Ruanda und Bosnien Herzegowina sind zwei Beispiele dafür, dass Ethnizität eine starke Ressource in der Politik sein kann.4 In dieser Arbeit stehen ethnische Konflikte im Vordergrund, die auf Exklusionen einer ethnischen Minderheit aus sozialen Systemen beruhen. Es ist zu beobachten, dass innerstaatliche Konfliktsituationen heutzutage oftmals eine internationale und transnationale Dimension aufweisen. Dies liegt unter anderem an einer Verdichtung der kommunikativen Möglichkeiten zu Diasporen, anderen Minderheiten oder benachbarten Staaten. Insbesondere aber an der globalen Herausbildung eines vormals nationalstaatlich verorteten Politiksystems und an der globalen Norm-Durchsetzung der Menschenrechte, die das Konfliktverhalten der Akteure beeinflussen können. Eine sich dadurch vollziehende Entgrenzung „innerstaatlicher“ Konflikte lässt sich auch an der Genese von Akteuren auf weltpolitischer Ebene erkennen. An diese können Minderheiten aus ethnischen Konflikten beispielweise ihre Exklusion aus dem nationalen politischen System als 1 Subsahara-Afrika ist die einzige Region auf der Welt, in der weniger als die Hälfte aller Länder eine ethnische Mehrheitsgruppe aufweisen; im Westen hingegen hat jedes Land eine ethnische Mehrheitsgruppe und drei von fünf Ländern haben eine dominante Mehrheitsgruppe (90% der Bevölkerung oder mehr). Vgl. Fearon 2006, S. 854. 2 Fearon 2006, S. 853. 3 Vgl. Singhofen 2005, S. 21. Aber auch Pfetsch/Rohloff 2000, S. 130 und Gurr 1998, Henderson/Singer 2000. 4 Vgl. Wolff 2006, S. 31. 1 FIT Discussion Paper 01/11 Menschenrechtsverletzung kommunizieren oder die Internationalen Organisationen beobachten und adressieren Menschenrechtsverletzungen in einem Staat direkt. Internationale Organisationen werden so zu Konfliktadressaten im vormals innerstaatlichen Konfliktsystem. Auf diese Weise bildet sich zum einen das weltpolitische System heraus, das konfliktregulierend wirken soll. Zum anderen kann aufgrund der möglichen Adressierbarkeit der weltpolitischen Ebene und den daraus resultierenden Inklusionserwartungen der Minderheiten ein Konfliktpotenzial entstehen, dem in der Forschung bisher wenig Beachtung geschenkt wurde. Diese Lücke soll im Verlauf des Papiers diskutiert werden, um eine zukünftige Anschlussfähigkeit für weitere Arbeiten herzustellen. Folgende Forschungsfrage steht im Fokus dieses Papiers: Wie haben sich ethnische Konflikte im Zuge von Globalisierungsprozessen verändert und mit welcher theoretischen Perspektive können die Veränderungen erfasst werden? Grundsätzlich wird in der Konfliktforschung zwischen primordialen, konstruktivistischen und instrumentellen Ansätzen zur Erklärung von Konflikten unterschieden.5 Während Vertreter des primordialen Ansatzes den ethnischen Nationalismus als eine Manifestation einer bestehenden kulturellen Tradition und Identität einordnen und ethnische Kategorien immer als sozial relevant ansehen, verstehen Vertreter des instrumentellen Ansatzes unter Ethnizität die Möglichkeit der ethnischen Mobilisierung zur Stärkung politischer Allianzen und Realisierung ökonomischer Interessen.6 Die Schwäche der primordialen Ansätze liegt darin, dass diese keine Varianz in der Gewaltbereitschaft von Ethnien über Raum und Zeit erklären können.7 Aus instrumenteller Perspektive lässt sich die Varianz in der Politisierung von Ethnizität durch strategisches und instrumentelles Verhalten der Akteure erklären. Dieser rationale Aspekt verweist zugleich auf die zugrundeliegende Annahme, dass rationale Entscheidungen die Basis für Konflikte bilden und ermöglicht daher die Analyse des Einbezugs der globalen Ebene auf Grundlage von rationalen Entscheidungen 5 (Ressourcen, Unterstützung, Vgl. Gurr/Pitsch 2002, S. 290, vgl. Wieland 2000, S. 26-34. Vgl. Gurr 1993, S. 124; vgl. Stewart 2001, S. 5ff.; vgl. Smith 1996, S.446f. Rational-Choice Ansätze helfen dabei strategisches und instrumentelles Verhalten von Akteuren zu erklären (vgl. Kirchgässner 2000, S. 27-64), allerdings vernachlässigen sie emotionale Faktoren, vgl. Petersen 2002, S. 33. 7 Vgl. Fearon 2006, S. 857. 6 2 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Rückzugsmöglichkeiten). Somit bieten rationale Ansätze einen möglichen Erklärungsrahmen für globale Konfliktsituationen. Konstruktivistische Ansätze gehen davon aus, dass ethnische Identitäten soziale Konstruktionen und somit wandlungsfähig sind;8 sie ermöglichen gleichzeitig sowohl rationale als auch normengeleitete Aspekte und Verhaltensweisen in die Analyse mit einzubeziehen. Die systemtheoretische Weltgesellschaftstheorie gründet auf einem operativen Konstruktivismus und ermöglicht es scheinbar evidente soziale Tatsachen, wie die Entgrenzung ethnischer Konflikte mittels eines kommunikationstheoretischen Zugangs zu analysieren. Um einer Beantwortung der Forschungsfrage näher zu kommen, wird im nächsten Kapitel zunächst aufgezeigt warum der Nationalstaat in einer Vielzahl von Ansätzen den entscheidenden Analysefokus bildet. Hierfür ist es notwendig, zunächst die Entstehung und Funktion von modernen Nationalstaaten darzustellen (Kapitel 2.1). Auf dieser Grundlage wird in Kapitel 2.2 das hier im Fokus stehende Erkenntnisinteresse über den Zusammenhang von politischer Exklusion und Konflikt thematisiert. Dieser Zusammenhang ist insofern relevant, da davon ausgegangen wird, dass die Exklusion aus dem nationalen Politiksystem nicht nur eine entscheidende Ursache für die Entstehung von Konflikten darstellt sondern auch die Entgrenzung ethnischer Konflikte fördert. Aufgrund dessen wird im darauffolgenden vierten Kapitel der theoretische und empirische Bedarf für die Überwindung einer nationalstaatlichen Perspektive zur Erklärung ethnischer Konflikte dargelegt. Diesbezüglich werden in Kapitel 4.1 die in der Konfliktforschung weit verbreiteten rationalistischen Ansätze herangezogen. In Kapitel 4.2 findet dann der systemtheoretische Weltgesellschaftsansatz Berücksichtigung, der dem operativen Konstruktivismus zuzuordnen ist und aufgrund der theoretischen Annahmen die Fokussierung der nationalen Ebene zu überwinden scheint. Abschließend werden weitere Implikationen für die Forschung beschrieben. 8 Vgl. Gurr/Pitsch 2002, S. 290. 3 FIT Discussion Paper 01/11 2. Methodologischer Nationalismus Die meisten Theorien der Politikwissenschaft und Soziologie stellen den Nationalstaat in den Fokus ihrer Analyse. Der so genannte 'methodologische Nationalismus' erfasst den Nationalstaat als zentrale Analyseeinheit und definiert Gesellschaft(en) entlang territorialer Grenzen. Es wird davon ausgegangen, dass die Nationalstaaten die entscheidenden Akteure sind, die das internationale System konstituieren.9 „In fact, the view of the state as the key player in the international arena is so strong that the English language does not provide a common word or phrase to describe international relations without invoking the nation as the object of study.”10 Da in diesem Papier innerstaatliche Konflikte mit einer ethnischen Dimension im Vordergrund stehen, wird im Folgenden zunächst die Frage beantwortet, warum der Nationalstaat eine so bedeutende Rolle in Bezug auf die Inklusion der Bevölkerung einnimmt. Dies erfolgt, indem die Funktion des modernen Nationalstaates in Bezug auf die Konstruktion einer nationalen Identität herausgearbeitet wird. Im Anschluss werden die aus der Identitätskonstruktion resultierenden Spannungspotentiale aufgezeigt, die in Form von Exklusionen eines Bevölkerungsteils aus sozialen Systemen zu beobachten sind. 2.1 Die Funktionen des modernen Nationalstaates Nationalstaaten stellen seit dem Westfälischen Frieden im Jahre 1648 die klassische politische Ordnungseinheit des internationalen Systems dar und sind durch drei wesentliche Elemente – die Nation, das Territorium und die Staatsgewalt – charakterisiert.11 Im Zuge des 18. Jahrhunderts gewinnt der Begriff der Nation an Relevanz und beansprucht eine neue Form der Staatlichkeit, die auf eine evolutionäre Weiterentwicklung der ständischen Gesellschaftsstruktur verweist.12 Die Untertanen werden als Nation bezeichnet, was sowohl Teilnahmerechte als auch Handlungspflichten normiert und insofern modern ist, als dass erstmals prinzipiell jeder in das politische System inkludiert wird.13 Aus dieser Vollinklusion folgt die 9 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 20f. De Mesquita 2006, S. 831. 11 Vgl. Wimmer 2002, S. 87; Kersten 2000, S. 230. 12 Vgl. Stichweh 2000, S. 48. 13 Vgl. Stichweh 2000, S. 48f. 10 4 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte bedeutende Funktion des Nationalstaats, für die Bürger Identifikationsmöglichkeiten mit einem nationalen Bezugssystem zu bieten, das die Individualität des Einzelnen integrieren kann. Die Entstehung einer Nation und die Konstruktion von Identifikationsmöglichkeiten kann auf zwei unterschiedliche Arten erfolgen: Zum einen kann ein neu entstandener oder bereits existierender Staat versuchen, die auf dem staatlichen Territorium lebenden Bürger zu einer Nation zu formen (Frankreich, Spanien, Türkei); zum anderen kann eine bereits bestehende Nation das Ziel verfolgen einen eigenen Staat aufzubauen oder politische Autonomie zu erreichen (Deutschland, Italien, Baskenland, Katalonien, Kurdistan). Diese unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Staat und Nation werden oftmals mit den Begriffen der politischen oder ethnischen Nation zum Ausdruck gebracht.14 In beiderlei Hinsicht gewinnt das politische System an Bedeutung, das die Anerkennung der ethnischen und kulturellen Identität in einem Staat – sprich die politische Inklusion von der Bevölkerung – gewährleistet. Anhand der Konstruktion von Nation wird die neue Form der Staatlichkeit deutlich: Zum ersten Mal in der Geschichte von Staatlichkeit wird die Vielzahl der einzelnen Bürger und die Teilnahme dieser am politischen Gemeinwesen relevant. Der Nationalstaat garantiert eine relative kulturelle Homogenität nach innen wodurch die Stabilität des Staates gesichert und die Abgrenzung zu anderen Staaten nach außen gewährleistet wird.15 Allerdings stellt sich mit der Entstehung von Nationalstaaten die Frage, inwiefern ethnische Minderheiten die Einheit und Stabilität der politischen Nation gefährden können. Während die Inkorporation einer weiteren Ethnie in den meist multikulturellen Dynastien und Großreichen kaum eine Schwierigkeit darstellte,16 ist die politische Nation in Hinblick auf eine ethnisch heterogene Bevölkerungsstruktur 14 Vgl. Wimmer 2002, S. 56, vgl. Stichweh 2000, S. 49. Anstelle von „politischer Nation“ wird auch der Begriff der „liberalen Nation“ verwendet. Vgl. Rösel 1997, S. 147. Allerdings zielt dieser bereits auf eine demokratische Ordnung ab, weshalb im weiteren Verlauf der Arbeit auf den Begriff der politischen Nation rekurriert wird. Schneckener (2002) unterscheidet zwischen Demos (politische Nation) und Ethnos (ethnische Nation): „Der Demos tendiert eher zu einer Inkorporierung und Assimilierung (inklusiv), der Ethnos zu einer Separierung und Segregation (exklusiv), dominierend bleibt jedoch die demotisch oder ethnisch bestimmte core nation.“ Schneckener 2002, S. 32. 15 Vgl. Vgl. Wimmer 2002, S. 53. 16 Vgl. Stichweh 2000, S. 53. 5 FIT Discussion Paper 01/11 besonders gefordert, um die Einheit des Staates zu gewährleisten. Die Einheit des Staates kann durch die Konstruktion einer übergeordneten Identität gewährleistet werden, da so die Heterogenität einer Gesellschaft homogenisiert und ein Nationalgefühl erzeugt werden kann. Dafür ist es jedoch notwendig, die Religion, Identität und gesamte Kultur der einzelnen Ethnien der kommunikativ neu erzeugten Identität unterzuordnen, was zu Konfliktlinien führen kann.17 „Das erhöht in der Folge für politisch konstituierte Nationen den Druck, ihre bereits vorhandenen fremdethnischen Gebiete der Kernnation zu assimilieren, und das provoziert umgekehrt, gerade wenn die politische Nation diesen Versuch unternimmt, den Widerstand und die Sezessionsbestrebungen in dem betroffenen fremdethnischen Gebiet.“18 Die Staats- und Nationenbildung können also in einem engen Zusammenhang mit Minderheiten- und Nationalitätskonflikten stehen.19 Aus der Perspektive des Staates ist die physische Sicherheit des Staates und seiner Institutionen gefährdet, wenn separatistische Gruppen die territoriale Einheit des Staates bedrohen.20 Das beschriebene Konfliktpotenzial hat unter anderem dazu geführt, dass die Anzahl von innerstaatlichen Konflikten deutlich zugenommen hat. Der moderne Nationalstaat weist also eine stark inkludierende Seite auf, da der einzelne Bürger für das politische Gemeinwesen relevant und eine Vollinklusion möglich ist; gleichzeitig ist in multiethnischen Staaten eine stark exkludierende Seite zu erkennen, die sich in der Schwierigkeit des Aufbaus eines nationalen Bezugsystems, das nicht zur Unterdrückung oder Exklusion einer Ethnie beiträgt, widerspiegelt. Es kann also festgehalten werden, dass ethnisch heterogene Staaten (politische Nationen) mit der Herausforderung konfrontiert sind, einerseits die Einheit des Staates zu gewährleisten, und andererseits ethnische Minderheitengruppen zu inkludieren, um die Entstehung von Konfliktlinien zu verhindern. 17 Vgl. Smith 1995, S. 101. Stichweh 2000, S. 53. 19 Für einen historischen Überblick über das Verhältnis von Ethnizität und Kultur auf die Politik und Staatsbildung, siehe Smith 1996, S. 449ff. 20 Vgl. Wolff 2006, S. 77. Auch die Existenz und der Erfolg separatistischer Gruppen in anderen, benachbarten Staaten können einen Anreiz für Gruppen bieten, sich ebenfalls gegen die Unterdrückung zu richten und gegenüber den staatlichen Institutionen zu radikalisieren. Vgl. Wolff 2006, S. 77. Dies lässt sich beispielsweise anhand der ethnischen Minderheit der Kurden im Irak und in der Türkei erkennen. 18 6 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte 2.2 Politische Exklusion und Konflikt Die Exklusion ethnischer Minderheiten aus dem nationalen politischen System wird in der Konfliktforschung und in dieser Arbeit als bedeutender Faktor für die Entstehung von ethnischen Konflikten angesehen.21 Gurr und Pitsch (2002) stellen auf Grundlage des Minorities at Risk-Projektes und der darin gewonnenen Daten fest, dass mehr als die Hälfte der rebellierenden Gruppen, die zwischen 1990 und 1998 erhoben wurden, in ihrem Staat einer aktiven politischen Diskriminierung unterlagen.22 Neben der politischen Exklusion besteht auch oftmals eine wirtschaftliche und rechtliche Diskriminierung. Doch warum spielt die Exklusion aus dem politischen System eine entscheidende Rolle für die Radikalisierung23 einer Gruppe? Die Exklusion aus dem politischen System wird als entscheidend angesehen, da in diesem kollektiv bindende Entscheidungen getroffen und nationalstaatliche Identitäten konstruiert werden.24 Der Ausschluss einer Minderheit aus dem nationalen Politiksystem führt zum einen dazu, dass ihre ethnische Identität nicht anerkannt wird und zum anderen, dass für Minderheiten keine Möglichkeit besteht, über politische Ämter das Thema ihrer Exklusion auf der politischen Agenda anschlussfähig zu halten. Dies birgt ein hohes Konfliktpotenzial in sich, da so keine Vertretung dieser ethnischen Identität im politischen System möglich ist. In der Forschung über den Zusammenhang zwischen Exklusionen aus sozialen Systemen und Konflikten kann zwischen handlungs- und strukturtheoretischen Ansätzen unterschieden werden.25 Strukturtheoretische Ansätze erklären Konflikte durch gesellschaftsstrukturelle Faktoren wie sozialen Ungleichheiten oder Überlappungen von Differenzierungsformen. Handlungstheoretische Ansätze stellen hingegen für die Erklärung von Konflikten die Entscheidungen von Bewegungen in den Mittelpunkt, die sich aus rationalen Überlegungen ergeben.26 21 Vgl. EPR, MAR. Vgl. Gurr/Pitsch 2002, S. 299. 23 Es wird davon ausgegangen, dass sich eine Radikalisierung auf zwei Ebenen vollzieht. Einerseits innerhalb der Ideologie der Gruppe und andererseits durch die Handlungen und den Einsatz von Gewalt. „Radikalisierung“ wird demnach definiert als die erhöhte Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt von ethnischen Minderheitengruppe, um eine bestehende Gesellschaftsordnung, in den für diese Gruppe wichtigen Fragen, von Grund auf zu verändern. 24 Vgl. Stetter 2008, S. 112. 25 Vgl. Bonacker 2005, S. 3. 26 Vgl. Bonacker 2005, S. 4; vgl. Gurr 1993, S. 167; aber auch Stewart 2001, S. 5ff. und Smith 1996, S. 446f. 22 7 FIT Discussion Paper 01/11 Vertreter des handlungstheoretischen Ansatzes sehen Ethnizität und die Exklusion einer Ethnie aus sozialen Systemen als Möglichkeit der ethnischen Mobilisierung zur Stärkung politischer Allianzen und Realisierung ökonomischer Interessen. Dieser rationale Ansatz entstammt aus den Wirtschaftswissenschaften. Vertreter des greedAnsatzes identifizieren die Gier (greed) von Akteuren nach raubbaren Ressourcen, schwache staatliche Strukturen vorausgesetzt, als Auslöser von Bürgerkriegen.27 Ethnizität wird zwar als Möglichkeit der ethnischen Mobilisierung zur Stärkung politischer Allianzen und Realisierung ökonomischer Interessen angesehen, aber die Entstehung von Konflikten kann sie nach quantitativen Studien nicht erklären.28 Dadurch wird den Akteuren und rationalen Überlegungen eine höhere Erklärungskraft zugeschrieben als den Strukturen. In den letzten Jahren haben sich jedoch Ansätze herausgebildet, die die fehlende politische Dimension ökonomischer Ansätze kritisieren.29 Politische Ungleichheiten in ethnisch heterogenen Gesellschaften als Konfliktursache, so der Vorwurf, werden im greed-Modell vorschnell als nicht entscheidend zurückgewiesen. Diese (rationalen) Ansätze unterstellen das Menschenbild eines homo oeconomicus. Aufgrund dessen können sie kaum empirische Beispiele erklären, in denen Sezessionsbestrebungen einer Gruppe verfolgt werden, die mit dem Verbleib im Staat ökonomisch besser gestellt wäre (Kurden in der Türkei), oder in denen sich ein Individuum am Kampf einer Gruppe beteiligt, obwohl die feindliche Gruppe viel stärker und größer ist. Vertreter von grievances-Modellen gehen von sozialen, politischen und ökonomischen Ungleichheiten zwischen verschiedenen Gruppen eines Staates als Ursache für bewaffnete Konflikte aus.30 Diese Ansätze identifizieren in den Ungleichheitsstrukturen zwischen Ethnien und in der sozialen Wahrnehmung dieser die entscheidende Konfliktursache. Die Ungleichheiten beziehen sich auf politische, ökonomische, kulturelle Aspekte und führen dazu, dass unterdrückte ethnische 27 Vgl. Collier/Hoeffler 2000. Vgl. Collier/Hoeffler 2004; vgl. Fearon/Laitin 2003, S. 88. Allerdings sind auch neue Studien zu erwähnen, die den Aspekt der ethnischen Ungleichheit wieder stärker in den Vordergrund rücken, vgl. Ohlson 2008; vgl. Cederman/Wimmer/Min 2008. 29 Vgl. Østby 2004, S. 5. 30 Vgl. Gurr 1993, S. 126ff.; vgl. Ohlson 2008; vgl. Cederman/Wimmer/Min 2008, vgl. Bonacker 2005, S. 4; aber auch Stewart 2001, S. 5ff. und Smith 1996, S. 446f. 28 8 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Minderheiten gegen die Akteure rebellieren, die diese Ungleichheiten hervorrufen: meist die Regierung eines Staates.31 Diese Form der Ungleichheiten, lässt sich nach Stewart (2001) als horizontale Ungleichheit bezeichnen, die sich auf der Gruppen-Ebene vollzieht.32 Aus der Gruppenmitgliedschaft ergeben sich die Identität und das Verhalten eines Individuums – wobei ein jeder multiple Identitäten besitzt. Die Gruppenidentität entsteht auf Grundlage gemeinsamer Werte und durch die Abgrenzung zu einer anderen Gruppe.33 Soziale Ungleichheiten werden dann relevant, wenn anhand der kulturellen Identität eine von den Gruppenmitgliedern wahrnehmbare Abgrenzung zu anderen Gruppen erfolgt.34 So können kulturelle – im Sinne starker – Identitäten35 in Kombination mit politischen Ungleichheiten und einer Unterdrückung des Themas durch das politische System, die Wahrscheinlichkeit der Radikalisierung einer Gruppe erhöhen. Die Abgrenzung zu einer anderen Gruppe wird meist sozial konstruiert und kann eine hohe Gruppenloyalität und Ablehnung der anderen Gruppe erzeugen.36 Die Gruppenebene, die sich aus dem sozialen Vergleich mit einer anderen Gruppe ergibt, stellt also einen entscheidenden Faktor für die Stabilität eines Landes dar.37 Für die Radikalisierung ist die Wahrnehmung von Ungleichheiten zwischen (mindestens) zwei Gruppen und nicht zwischen einzelnen Individuen ausschlaggebend, da eine individualistische Perspektive Exklusionen oftmals auf persönliches Versagen zurückführt und dann nicht radikalisierend wirkt.38 31 Vgl. CRISE. Vgl. Stewart 2001, S. 3. Vertikale Ungleichheiten werden hingegen anhand von Individuen oder Haushalten gemessen. 33 Vgl. Stewart 2001, S. 2; vgl. Weber 1996, S. 52. 34 Vgl. Stewart 2001, S. 7. 35 So geht Walter (2002) davon aus, dass sich Identitäten quasi „zementieren” und somit verhindern, dass gespaltene Gruppen zusammenarbeiten. Konflikte, die mit der Identität der Gruppe verknüpft sind, sind demnach schwieriger zu lösen, als Konflikte über teilbare Ressourcen. Vgl. Walter 2002, S. 12. 36 Vgl. Horowitz 1985, S. 144f. Die Annahme Horowitz hat sich aus den Ergebnissen der Experimente von Henri Tajfel ergeben, die gezeigt haben, dass die Konstruktion von Gruppenidentitäten und die damit einhergehende Abgrenzung zu anderen Gruppen schnell erfolgt. Ethnische Gruppen stellen in diesem Sinne eine Besonderheit dar, da die Mitgliedschaft meist qua Geburt gegeben ist. Zur Übersicht siehe Horowitz 1985, S. 143-147. 37 Vgl. Weber 1996, S.52, vgl. Østby 2006, S. 2, vgl. Stewart 2001, S. 2. 38 Vgl. Bonacker 2005, S. 8. 32 9 FIT Discussion Paper 01/11 Die Ausführungen haben gezeigt, dass Exklusionen für die Entstehung von Konflikten Relevanz besitzen.39 Da Exklusionen aus sozialen Systemen wie dem Politik-, Rechts- oder Wirtschaftssystem erfolgen und national betrachtet werden, liegt der Schwerpunkt der bislang vorgestellten Ansätze auf dem Nationalstaat und innerstaatlichen Konfliktaspekten. In dem vorliegenden Papier besteht das Ziel darin, auf Grundlage der vorangegangenen Erkenntnisse die globale Dimension von ethnopolitischen Konflikten zu erfassen und die Notwendigkeit der Überwindung einer nationalstaatlichen Perspektive darzustellen. Im nachfolgenden Kapitel wird daher der Bedarf einer globalen Beobachtungsperspektive aufgezeigt bevor dann auf rationalistische Theorie und Weltgesellschaftstheorien eingegangen wird, die eine mögliche theoretische Antwort auf die globale Dimension ethnischer Konflikte bieten. 3. Der theoretische und empirische Bedarf einer globalen Beobachtungsperspektive „Alle in den vergangenen Jahren als „neu“ herausgestellten Merkmale des Kriegsgeschehens haben eine lange Geschichte.“40 Der Einfluss der globalen Ebene auf vermeintlich innerstaatliche Konfliktsituationen unterliegt somit einem langen evolutionären Prozess. Innerstaatliche Konfliktsituationen werden von globalen Zusammenhängen beeinflusst bzw. hervorgebracht und gesellschaftliche Interessen organisieren sich unabhängig vom Staat und der Regierung grenzüberschreitend.41 Ansätze der Globalisierungsforschung unterscheiden vier Bereiche des globalen Strukturwandels42: 1. Die Strukturen der Weltwirtschaft, 2. Die globalen, gesellschaftlichen Kommunikations- und Austauschstrukturen, 3. Die globalisierte Politik und 4. Die Herausbildung internationaler und transnationaler Normen und Wertvorstellungen. Nachfolgend wird der Strukturwandel für die Punkte 2-4 näher ausgeführt und in Hinblick auf veränderte Konfliktsituationen erörtert. 39 Vgl. Wimmer 2002, S. 102; vgl. Gurr/Pitsch 2002, S. 299ff.; vgl. Hafez 2003, S. 204. Hafez betont, dass zusätzlich zur Exklusion auch das Verhalten der ethnischen Bewegung und der regierenden Elite mit einbezogen werden müsse. Hafez vernachlässigt jedoch die Bedeutung von externen Akteuren, wie zum Beispiel einflussreichen Staaten der internationalen Staatengemeinschaft oder NGOs, die aufgrund der globalen Durchsetzung von Menschenrechten an Bedeutung und Einfluss gewonnen haben. 40 Schlichte 2002, S. 129. 41 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 10. 42 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 12. 10 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Zu 2. Die globalen, gesellschaftlichen Kommunikations- und Austauschstrukturen: Während die kommunikative Anschlussfähigkeit zunächst auf der physischen Präsenz von Personen beruhte, sind durch den Buchdruck, die Telekommunikation und vor allem das Internet neue Formen entstanden, die eine physische Anwesenheit für die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen obsolet werden lassen.43 Nach Hepp (2005) lässt sich diese Entwicklung als globalisierter kommunikativer Austauschprozess bezeichnen. In Bezug auf ethnische Konfliktsituationen stellen Diasporen ein Beispiel für die physische und kommunikative Deterritorialisierung dar: Die Diaspora teilt die gleichen kulturellen Repräsentationen wie ihre Heimatethnie, was auf der kommunikativen Vernetzung und Anschlussfähigkeit zwischen Diaspora und Heimatethnie beruht. „At the level of ethnicity we have an increasing number of communicative thickenings of minority groups and diasporas within Europe.“44 Die Verbindung zur Heimatethnie bleibt heutzutage deutlich ausgeprägter und spiegelt sich neben der identitären Verbindung auch in der finanziellen und/oder personellen Unterstützung der Heimatethnie in Konfliktsituationen wider. Die Bürgerkriegsforschung unterstreicht die Bedeutung der Unterstützung von außen, wobei sich Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung eher auf die Konfliktträchtigkeit auswirken als die verbale und auf die Identität einer Gruppe abzielende Unterstützung.45 Zu 3. Die globalisierte Politik: Das vormals nationale politische System weist heutzutage eine klare globale Dimension auf. Diese Entwicklung hängt mit der veränderten Bedeutung von Nationalstaaten zusammen, die durch Globalisierungsprozesse hervorgerufen wird und vor allem die Souveränität von Staaten betrifft. Neben dem Nationalstaat haben sich auf weltpolitischer Ebene Organisationen und private Regime herausgebildet, die sich globalen Themen annehmen. Als Beispiele sind sowohl Abkommen wie das Kyoto-Protokoll oder 43 Vgl. Hepp 2005, S. 4. Hepp 2005, S. 9. 45 Vgl. Harff/Gurr 2004, S. 105. 44 11 FIT Discussion Paper 01/11 Basel II zu nennen, die deutlich machen, dass globale Probleme wie die Umweltzerstörung und die Bankenaufsicht nicht mehr unilateral gelöst werden können; als auch Internationale Organisationen, wie die Vereinten Nationen (VN), die sich mit globalen Sicherheitsfragen auseinandersetzt und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, die die Einhaltung der Menschenrechte überwachen. Durch diese Entwicklungen konstituiert sich das weltpolitische System. In Bezug auf Konfliktsituationen ist festzustellen, dass sowohl die Konflikte eine globale Dimension im Sinne einer Transnationalisierung von Konfliktakteuren und gegenständen aufweisen, die sich staatlichen Regulierungsmechanismen entziehen; als auch die Konfliktbearbeitungsmechanismen in einen globalen Rahmen eingebettet sind, wodurch der Einfluss externer Akteure auf innerstaatliche Konfliktsituationen zunimmt.46 Besondere Beachtung gilt es in diesem Zusammenhang Internationalen Organisationen zu schenken, da diese als Vertreter der Menschenrechte angesehen werden und Einfluss besitzen, Normenverletzungen in einem Staat öffentlich zu machen. In der bisherigen Forschung zu ethnischen Konflikten stand die konfliktmindernde Wirkung internationaler Organisationen in Mediationsprozessen im Fokus. Internationale Organisationen können allerdings auch von Minderheiten adressiert werden, die politische exkludiert sind und auf diese Weise in das Konfliktgeschehen einbezogen werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Organisationen in solch einem Fall auch eine radikalisierende Wirkung entfalten können.47 Zu 4. Die Herausbildung internationaler und transnationaler Normen und Wertvorstellungen: Globale Normen und Wertvorstellungen werden durch verschiedene Organisationen des weltpolitischen Systems generiert und durchgesetzt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die Charta der VN repräsentieren solche Norm- und Wertvorstellungen, die sich auf globaler Ebene institutionalisieren 46 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 9f. An dieser Stelle sollte betont werden, dass nicht unterstellt wird, dass die Vereinten Nationen oder Europäische Union beispielsweise direkt durch Truppen oder Waffenlieferungen in einen Konflikt eintreten. Dem alleinigen Einfluss internationaler Organisationen wird demnach keine eigenständige Erklärungskraft in Bezug auf die Radikalisierungswahrscheinlichkeit ethnischer Minderheiten zugeschrieben. 47 12 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte und Druck für die Staaten erzeugen, sich an diesem globalen Konsens zu orientieren. Diesbezüglich nehmen „Kontrollinstanzen“ wie NGOs, Internationale Organisationen und die Medien eine wichtige Funktion zur Überwachung der Einhaltung von Menschenrechten ein. Diese daraus entstehende transnationale Öffentlichkeit entzündet sich an politischen Entscheidungen einer Regierung mit menschenrechtsverletzenden Folgen – sprich, wenn über die Folgen der Entscheidungen kommuniziert wird: „Es sind nicht die Taten, die die Menschen erschüttern, sondern die öffentlichen Worte über diese Taten.“48 Die Erfahrung des Holocaust und die von Beck als Amerikanisierung des Holocaust bezeichneten Entwicklung, die zu einer Übertragung dieser Erfahrung auf die globalisierte Politik führt, trägt dazu bei, dass Menschenrechte allgemein eingeklagt werden können und impliziert somit eine Entgrenzung politischer Souveränität.49 Der Konflikt zwischen der Souveränität eines Staates und diese einschränkende Menschenrechte ist Sinnbild dieser Entwicklung. Neben der empirischen Begründung für den systematischen Einbezug der globalen Ebene, existiert auch die theoretische, die auf die Überwindung des zuvor dargestellten methodologischen Nationalismus abzielt und mittlerweile die sozialwissenschaftliche Theoriedebatte erfasst hat.50 Die Wissenschaft orientiert sich an den zuvor benannten Entgrenzungsprozessen in dem Sinne, dass sich die Soziologie der globalen Dimension von Konflikten zuwendet und die Theorien der Internationalen Beziehungen die gesellschaftliche Dimension zunehmend berücksichtigen.51 „[..] [Die] Tendenzen einer Überschreitung der klassischen Trennung zwischen soziologischen, politikwissenschaftlichen und IB-Perspektiven, der vielfach diskutierte Wandel von Staatlichkeit, die Entstehung neuer Konflikte aufgrund von prekärer 48 Staatlichkeit und neuer Beck 2002, S. 76. Diese Annahme verweist auf den kommunikativen turn, der in dieser Arbeit verfolgt wird und in Kapitel 3.2.1 explizite Berücksichtigung erfährt. 49 Vgl. Beck 2002, S. 78f. 50 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 21. 51 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 10. 13 FIT Discussion Paper 01/11 Hybridordnungen im Zuge externer Interventionen sowie das im Kontext der Globalisierungsdebatte zu verzeichnende Bedürfnis einer Erklärungsebene oberhalb des Staates, lassen es sinnvoll erscheinen, Weltgesellschaftsforschung und Konfliktforschung stärker aufeinander zu beziehen.“52 Daher sollen im Folgenden die Theorieansätze in den Fokus gestellt werden, die die globale Ebene systematisch mit einbeziehen. Diesbezüglich werden zunächst exemplarisch rationalistische Ansätze vorgestellt, die eine ausdrückliche globale Komponente in ihren Analysen aufweisen, um aufzuzeigen welche Erklärung für die Entgrenzung innerstaatlicher Konflikte gegeben wird. Im daran anschließenden Kapitel werden weltgesellschaftliche Ansätze in den Mittelpunkt gerückt, um die Analyse der Entgrenzung von ethnischen Konflikten mittels eines kommunikationstheoretischen Zugangs nachzuvollziehen und deutlich zu machen welche Logik hinter der Entgrenzung ethnischer Konflikte steht. 3.1 Rationalistische Ansätze Die rationalen Ansätze stehen in der Tradition der in Kapitel 2.2 beschriebenen greed-Ansätze, die ökonomische Aspekte und rationale Entscheidungen in den Vordergrund für die Erklärung von Konflikten stellen. Hinsichtlich der Konfliktakteure kann in innerstaatlichen Konflikten zwischen der Seite der Regierung und der Seite nicht-staatlicher Gruppen unterschieden werden. Während die Regierung auf das Territorium des Nationalstaates begrenzt ist, lässt sich beobachten, dass nicht-staatliche Konfliktakteure über diese Grenzen hinweg operieren. Salehyan (2009) bezeichnet letztere als transnationale Rebellen und definiert diese als bewaffnete Oppositionsgruppe, deren Operationen nicht von den Grenzen der Nationalstaaten beschränkt sind.53 Rebellen organisieren sich transnational, da so die Kosten der Organisation des Kampfes reduziert werden und sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass weitere Ressourcen für die Rebellion akquiriert werden können. Da Konflikte für die beteiligten Gruppen Opfer 52 53 Bonacker/Weller 2006, S. 23f. Vgl. Salehyan 2009, S. 15. 14 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte implizieren, liegt ein pragmatischer Grund für die Transnationalisierung darin, dass die Rebellengruppen dem Zugriff der Staatsmacht entgehen, wenn in angrenzenden Staaten ein Rückzugsraum besteht. Die Mitglieder der kurdischen PKK, die in Konflikt mit der türkischen Regierung und dem Militär stehen, haben beispielsweise Syrien lange Zeit als Rückzugsmöglichkeit genutzt und unter anderem dadurch ihren langen Bestand gesichert.54 Das Argument lautet also, dass die Rebellen Ressourcen und Mobilisierungsmöglichkeiten außerhalb des Staatsterritoriums zu generieren versuchen und sich dadurch transnational organisieren, um dem Zugriff der territorial begrenzten Staatsmacht zu entgehen.55 Auf diese Weise stärken nichtstaatliche Gruppen ihre Verhandlungsposition, da der Staat durch die transnationale Vernetzung der Gruppe meist nicht dazu in der Lage ist, diese militärisch zu besiegen. Der Ansatz von Salehyan erfasst systematisch die transnationale Komponente von Bürgerkriegen mittels eines rationalistischen Erklärungsmodells. „External mobilization opportunities give rebel groups bargaining power through the ability to impose costs on the state, and they open a bargaining space. At the same time, external mobilization makes finding an acceptable settlement more difficult by creating ambiguity about the rebel’s relative strength and the appropriate level of concessions that must be offered; by making it more difficult for the rebels to commit to demobilization agreements; and by introducing new actors into the bargain.“56 Salehyan geht in seinem rationalistischen Erklärungsmodell davon aus, dass neben der Motivation (greed vs. grievances) auch die Opportunität für eine Gruppe bestehen muss.57 Opportunitätstheorien fügen der Motivation zur Rebellion Aspekte wie die Wahrscheinlichkeit des Erfolges, die Kosten kollektiver Handlungen und die Kosten des Kampfes hinzu. Das bedeutet, dass benachteiligte Individuen glauben 54 Vgl. Strohmeier 2003, S. 108. Die PKK existiert bis heute und wurde von Abdullah Öcalan und anderen Studenten offiziell im Jahre 1978 gegründet. Sie setzte sich die Befreiung der Kurden von der Dominanz der Türken als oberste Priorität, vgl. White 2000, S. 135; vgl. Bilge Criss 1995, S. 18; vgl. Imset 1992, S. 19. 55 Vgl. Salehyan 2009, S. 19. 56 Vgl. Salehyan 2009, S. 20. 57 Vgl. Salehyan 2009, S. 21. 15 FIT Discussion Paper 01/11 müssen, dass eine begründete Chance besteht, ihre Ziele durchzusetzen, andernfalls schließen sie sich nicht einer Rebellengruppe an.58 Viele Ansätze haben versucht, das politische Verhalten von Gruppen mit StandardModellen zu erklären, in denen politische Akteure als Maximierer ihrer eigenen Interessen verstanden werden.59 Diese Modelle können jedoch kein politisches Verhalten erklären, das sich an sozialen Normen orientiert, freiwillige Beiträge zu öffentlichen Gütern liefert oder redistributive Programme unterstützt, die den Einzelnen nicht bevorteilen.60 Weiterhin ist die Frage, wann die Politisierung von Ethnizität von Gewalt begleitet ist nur in einigen mikroökonomischen Theorien Analysegegenstand. Dies ist darauf zurückzuführen, dass mobilisierte Gruppen von rationalen Ansätzen oft als einheitliche Akteure bezeichnet werden. Die Gewalt resultiert dann aus dem Scheitern von Verhandlungen, aufgrund privater Informationen bzw. Informationsdefizite und aufgrund von Vertrauensproblemen.61 Die Besonderheit ethnischer Konflikte liegt in solchen Erklärungsansätzen dann nur darin, dass der Akteurstyp und das Thema als ethnisch eingeordnet werden.62 Lake und Rotschild (1996) konstatieren, dass die Entstehung ethnischer Konflikte in der strategischen Interaktion zwischen und innerhalb einer Gruppe begründet liegt. Sie identifizieren drei strategische Dilemmata, die zum Ausbruch von Gewalt führen können: Erstens, Informationsdefizite, zweitens, Vertrauensprobleme und drittens, Anreize, Gewalt präventiv anzuwenden (Sicherheitsdilemma).63 Die Umstände unter denen ein Sicherheitsdilemma virulent werden kann liegen 1. im Regierungsumbruch bzw. -zusammenbruch, 2. in der geographischen Isolierung oder Verwundbarkeit einer Minderheit in einer größeren Gruppe, 3. in Veränderungen im Machtverhältnis zwischen Gruppen, 4. in Veränderungen im Zugang zu oder der Kontrolle von ökonomischen Ressourcen und 5. in der erzwungenen oder freiwilligen Demobilisierung von Partisanen.64 Wolff (2006) fügt als zusätzlichen sechsten Punkt hinzu, dass Veränderungen in der externen 58 Vgl. Salehyan 2009, S. 21. Vgl. Bowles/Gintis 2006, S. 951. 60 Vgl. Bowles/Gintis 2006, S. 952. 61 Vgl. Fearon 1995. 62 Vgl. Fearon 2006, S. 862. 63 Vgl. Lake/Rotschild 1996, S. 41. 64 Diese Aufzählung basiert auf Walter/Snyder (1999) und ist zitiert nach Wolff 2006, S. 74. 59 16 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Unterstützung oder in dem Mächtegleichgewicht zwischen rivalisierenden Unterstützern zu einem Sicherheitsdilemma und einem präventiven Einsatz von Gewalt durch die ethnische Gruppe führen können. Bei den externen Akteuren, die für Konflikte Relevanz besitzen, kann zwischen externen Eliten (bad neighbours) und externen Bevölkerungen (bad neighbours) unterschieden werden. Beide können dazu beitragen, dass sich der Konflikt verlängert, da durch sie Rückzugsmöglichkeiten bereit gestellt werden und Ressourcen mobilisiert werden können.65 Möglichkeiten der Finanzierung einer Rebellion liegen in natürlichen Ressourcen, in der Finanzierung durch die Diaspora oder in der Unterstützung durch andere Regierungen.66 Die Diaspora und andere finanzstarke Regierungen stellen aufgrund der Bedeutung von konfliktspezifischem Kapital den Hauptanalysegegenstand dar. Auf diese Weise integrieren ökonomische Ansätze die globale Ebene in ihre Analyse. Falls die globale Dimension von Konflikten in Form einer transnationalen Öffentlichkeit, NGOs oder Internationalen Organisationen Berücksichtigung findet, wird sie daraufhin abgeklopft, ob die finanziellen Ressourcen einer Rebellengruppe gestärkt werden (können) oder die Verbindung einen strategischen Vorteil impliziert. Dies vernachlässigt beispielsweise Aspekte der Identitätsbildung und festigung sowie der Inklusionserwartungen ethnischer Minderheiten, die im nächsten Kapitel aufgegriffen werden. Die rationalen Ansätze argumentieren, dass die Unterstützung durch internationale oder transnationale Akteure die Radikalisierungswahrscheinlichkeit der Ethnie erhöhen bzw. den Konflikt aus dem Grunde verlängern kann, da – im rationalistischen Jargon – die „Verhandlungsposition“ der ethnischen Minderheit gestärkt wird. Somit wird als wichtiger Punkt festgehalten, dass die globale Dimension konfliktverschärfend wirken kann. Allerdings zeigt sich, dass der methodologische Nationalismus nicht in seiner Gänze überwunden wird. 65 Vgl. Wolff 2006, S. 71. In Bezug auf den Einfluss externer Akteure sind auch Ansätze zu nennen, die den Wandel des Austrages von Bürgerkriegen in Folge der internationalen Umwälzungen nach Ende des Kalten Krieges untersuchen. Vgl. Kalyvas/Balcells 2010, vgl. Toft 2010. 66 Vgl. Collier/Hoeffler 2001, zitiert nach Wolff 2006, S. 86. 17 FIT Discussion Paper 01/11 Es bleibt festzuhalten, dass die rationalistischen Ansätze zwar eine Vielzahl wichtiger Faktoren der Konfliktforschung identifizieren. Der Erkenntnisgewinn in Bezug auf Identitätskonstruktionen, die Bedeutung von Inklusionsenttäuschungen oder die identitäre Unterstützung durch externe Akteure ist jedoch gering. 3.2 Weltgesellschaftsansätze In den folgenden Kapiteln gesellschaftstheoretische wird in die Beobachtungsperspektive kommunikations- der und Weltgesellschaftsansätze eingeführt, um darzustellen, dass diese Ansätze einen überzeugenden Rahmen für die Beschreibung und Analyse ethnischer Konflikte aus einer globalen Perspektive liefern können. Die Ursprünge der Weltgesellschaftstheorie liegen in den 1970er Jahren begründet, die als Anfangs- und Formierungsphase bezeichnet werden kann. Die zu dieser Zeit entwickelten Ansätze entstanden zum Teil in Kritik zu klassischen soziologischen und politikwissenschaftlichen Modernisierungstheorie und den Annahmen, Konzepten, dass Staaten wie die der zentralen Analyseeinheiten bilden und das internationale System von Anarchie geprägt ist. Es entwickelten sich unabhängig voneinander drei prominente Weltgesellschaftstheorien, die durch unterschiedliche Theoriekontexte geprägt sind. Zu nennen sind die Weltgesellschaftstheorien von Niklas Luhmann67, die der Systemtheorie zugeordnet wird, von Peter Heintz68, die dem Kontext der Entwicklungssoziologie entspringt und die von John W. Meyer, die neoinstitutionalistisch geprägt ist69. Weltgesellschaft wird als eine Ebene der Sozialorganisation verstanden, die nicht auf Nationalstaaten oder ein Funktionssystem reduziert werden kann und somit eine emergente Ebene 67 Vgl. Luhmann 1975 [1971], S. 51-72; 1997, S. 145-171. Vgl. Heintz 1976; 1982. Heintz (1976; 1982) versteht unter Weltgesellschaft einen globalen Interaktionszusammenhang, der keinen zentralen gesellschaftlichen Teilbereich aufweist, aber einen konflikttheoretischen Kern inne hat. Die Entstehung von Stratifikation und Konflikt erklärt er durch die ungleiche Verteilung von Ressourcen. 69 Vgl. Meyer 1980; Meyer et al. 1998. Meyers Ansatz ist von Begriffen wie „world culture“ und „world polity“ charakterisiert. Die Kernaussage des Meyerschen Gesellschaftsbegriffs ist die Entwicklung eines hegemonialen kulturell-legitimatorischen Wertezentrums, das weltweit homogenisierend auf die Sozialverhältnisse wirkt (Isomorphiethese), so dass von einer Weltgesellschaft auszugehen ist. Vgl. Meyer 1980; Meyer et al. 1998. Zu weiteren Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Weltgesellschaftskonzepte vgl. Wobbe 2000, Greve/Heintz 2005 und Bonacker/Weller 2006. 68 18 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte repräsentiert.70 Des Weiteren verbindet die Ansätze die Annahme, dass die Kontingenz der modernen Gesellschaft ohne die Weltgesellschaft nicht hinreichend erklärt werden könne. „In dieser Kopplung […] liegt der entscheidende Unterschied zu den vielen Ansätzen, die sich unter dem Dach der Globalisierungsforschung finden.“71 Im Unterschied zu Globalisierungsansätzen, welche eher die Entstehung des Globalisierungsprozesses beleuchten, konzentrieren sich die Weltgesellschaftsansätze auf die Analyse der daraus entstehenden Strukturen: Sozialer Wandel wird als Resultat dieser Strukturen und Zusammenhänge begriffen.72 Somit lassen sich diese Ansätze eher den strukturtheoretischen Ansätzen der Konfliktforschung zuordnen (grievances). Im Anschluss wird aus folgenden Gründen auf die Weltgesellschaftstheorie von Niklas Luhmann und auf Autoren rekurriert, die seinen Ansatz weiterentwickelt haben: Zum einen können mit diesen theoretischen Konzepten die Entgrenzungsprozesse in funktionaler, territorialer und symbolischer Hinsicht erfasst und analysiert werden; zum anderen können die Konflikthaftigkeit von Exklusionsprozessen, die Entgrenzung von Konfliktsituationen und der Einbezug des globalen politischen Systems auf innerstaatliche Konflikte umfassend beschrieben werden. 3.2.1 Entgrenzungsprozesse in der Weltgesellschaft Die Theorie der Weltgesellschaft geht davon aus, dass Konflikte – in Folge der Durchsetzung der funktionalen Differenzierung73 und weltweiten kommunikativen Anschlussfähigkeit – weltgesellschaftliche Ereignisse sind und gleichzeitig die weltgesellschaftliche Entwicklung beeinflussen. Somit ist in der Theorie aufgrund der funktionalen Ausdifferenzierung globaler Teilsysteme implizit die kommunikative Aufhebung von territorialen Grenzen in innerstaatlichen Konflikten angelegt. Die Möglichkeit der Entgrenzung von Konflikten basiert auf der 70 Vgl. Wobbe 2000, S. 6. Wobbe 2000, S. 8. 72 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 29. Für einen Überblick über die verschiedenen Ansätze der Globalisierungsforschung, vgl. Held et al. 1999. 73 Die funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich für verschiedene gesellschaftliche Bereiche Funktionssysteme herausgebildet haben, wie etwa Wirtschaft, Politik, Religion, Recht, Wissenschaft, Kunst, Sport, etc. 71 19 FIT Discussion Paper 01/11 Grundannahme der Weltgesellschaftstheorie, dass Kommunikationen prinzipiell weltweit möglich sind und das Letztelement alles Sozialen darstellen. Da die Gesellschaft nach Luhmann aus allen weltweit möglichen Kommunikationen besteht, kann es nur noch eine Gesellschaft geben – nämlich die Weltgesellschaft, in der sich eben auch Konflikte ereignen.74 Dieser theoretisch vollzogene Perspektivenwechsel ermöglicht die Aufhebung der bisher üblichen Nationalstaatsfokussierung, die den Staat mit der Gesellschaft gleichgesetzt hat. Die Weltgesellschaftstheorie folgt einer differenzierungstheoretischen Lesart, in der Grenzen kommunikativ erzeugt und überwunden werden.75 In einer primär funktional differenzierten Gesellschaft sind die Funktionssysteme aufgrund ihrer operativen Eigenlogik und der Annahme der prinzipiellen kommunikativen Erreichbarkeit grundsätzlich global und nicht national angelegt.76 Ausnahmen stellen das Politik- und Rechtssystem dar, da diese Systeme an das Herrschaftsgebiet des Nationalstaates gekoppelt sind. Allerdings sind auch in diesem Bereich aufweichende Tendenzen zu beobachten: Es entstehen neue Formen auf der globalen Politikebene, wie die VN und EU oder private Rechtsregime und globale Menschenrechtsorganisationen, wie Amnesty International, die mit der Weltgesellschaftstheorie beobachtet werden können. Demnach wird der Fokus in der Weltgesellschaftstheorie auf die Wirkung von Strukturen und deren Entgrenzung gelegt, durch die eine abnehmende Kongruenz von Staatsterritorium, Staatsgewalt und Nation deutlich wird. Der WeltgesellschaftsTheorie folgend, meint Entgrenzung nicht die Auflösung von Grenzen sondern deren Bedeutungsveränderung und die Entstehung neuer – immer kommunikativ verstandener – Grenzen, woraus wiederum neue Konfliktlinien resultieren können oder bereits bestehende Konflikte einer Wandlung unterliegen.77 74 Luhmann stellt in dieser Hinsicht jedoch auch fest, dass regionale Unterschiede existieren und „Weltgesellschaft“ nicht auf eine zunehmende Uniformität verweist. 75 Vgl. Bonacker 2006b, S. 78. 76 Die evolutionären Errungenschaften, wie die Erfindung des Buchdrucks, des Telefons und des Internets haben dazu beigetragen, dass sich Kommunikationsangebote von der Anwesenheit von Personen zeitlich und räumlich lösen konnten. Sie gelten als Grundvoraussetzung für das Aufspannen weltweiter Kommunikationsnetze. Vgl. Luhmann 1997, S. 151. Die „und-so-weiter“-Hypothese besagt, dass in jeder Interaktion ein „und-so-weiter“ anderer Kontakte der Gesprächspartner angelegt ist und so die Möglichkeit einer weltweiten Verflechtung existiert. Es ergibt sich aus der Herausbildung „weltweit orientierter Kommunikation“ (Luhmann 1975 [1971], S. 57), dass es nur noch eine Gesellschaft geben kann: Die Weltgesellschaft. 77 Vgl. Bonacker 2003, S. 124, vgl. Bonacker 2006b, S. 84, vgl. Brock 2000. 20 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Aus kommunikationstheoretischer Perspektive kann die Veränderung von drei Grenzen beobachtet werden, die sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive auf die Staatsgewalt, das -territorium und die Nation beziehen. Die daraus entstehenden neuen Strukturen in und für die Weltgesellschaft werden nachfolgend beleuchtet. 1. Funktionale Grenzen beziehen sich auf die Grenzen von Teilsystemen und dienen sowohl der Abgrenzung gegenüber anderen Systemen, als auch der Inklusion von Individuen über spezifische Rollen.78 Beispiele für gesellschaftliche Teilsysteme sind Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, Religion, etc. Die funktionale Entgrenzung von Teilsystemen bedeutet, dass sich diese der nationalstaatlichen Begrenzung entziehen (z.B. operiert die Wirtschaft in ihrer Eigenlogik über nationalstaatliche Grenzen hinweg). Deshalb ist anzunehmen, dass sich – so wie die Wirtschaft global operiert – ein weltweit operierendes politisches Kommunikationsgeflecht herausbildet. Die funktionale Entgrenzung der Politik – die in dieser Arbeit im Vordergrund steht – bewirkt die Herausbildung neuer Organisationsformen auf globaler Ebene, die das weltpolitische System mit konstituieren.79 Die Funktion dieser neuen Organisationsformen liegt auf globaler Ebene darin, Entscheidungsprozesse vorzubereiten und zu beschließen. Resultat hiervon sind etwa die diversen Menschenrechtsabkommen. Der Staat wird durch diese Entwicklung nicht obsolet, sondern behält als politische Organisation im Weltsystem Politik seine Relevanz. 2. Territoriale Grenzen erfüllen die Funktion der Zuschreibung von Zuständigkeiten und zielen auf das Charakteristikum des Staatsgebietes ab. Die territoriale Entgrenzung impliziert eine Reterritorialisierung von staatlichen Grenzziehungen – also die abnehmende Bedeutung nationalstaatlicher Grenzen zugunsten anderer größerer, also regionaler oder 78 79 Vgl. Bonacker 2006b, S. 81. Vgl. Bonacker 2006b, S. 85. 21 FIT Discussion Paper 01/11 kleinerer, substaatlicher Grenzen.80 Die Transnationalisierung von Rebellengruppen ist ebenfalls ein Hinweis auf die Bedeutungsverschiebung territorialer Grenzen. In Bezug auf ethnische Minderheiten ist oftmals eine territoriale Konzentration der Minderheit zu beobachten (z.B. Kurden im Südosten der Türkei), die zu einer substaatlichen Grenzziehung führt. Eine Verbindung der kurdischen Minderheiten im Iran, Irak, Syrien und der Türkei würde hingegen zu einer regionalen Grenzziehung führen (Kurdistan). Im Rahmen dieser Entgrenzungsprozesse über oder unterhalb der territorialen Grenzen stellt sich die Frage nach der Zuständigkeit im weltpolitischen System. 3. Symbolische Grenzen erzeugen durch die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden kollektive Identitäten und zielen auf das soziale Konstrukt der Nation ab. Die symbolische Entgrenzung meint die Loslösung von Nationalstaat und kollektiver Identität, so dass unter- und oberhalb des Nationalstaates neue Grenzen der Identität gezogen werden.81 Anhand der Kurden in der Türkei ist zu beobachten, dass auf lokaler Ebene eine gemeinsame, kurdische Identität besteht, während die Verbindungen zur Diaspora in Westeuropa ein Zeichen für die symbolische Entgrenzung und Identitätsbildung auf transnationaler Ebene ist. Der Einfluss der Diaspora auf Konfliktsituationen kann konfliktfördernd und -entschärfend sein: „Diasporas can support moderates in their search for peace, but they have also been known to provide the funding for militants who pursue an otherwise legitimate agenda by means of violence.”82 Diese symbolische Entgrenzung meint jedoch nicht, dass die Bedeutung der Exklusion der ethnischen Identität der Minderheit aus dem politischen System an Relevanz verliert. Momentan stellt der Nationalstaat trotz Entgrenzungsprozessen immer noch die Ordnungseinheit dar und bleibt daher von großer Bedeutung. 80 Vgl. Bonacker 2006b, S. 85. Vgl. Bonacker 2006b, S. 86. 82 Vgl. Wolff 2006, S. 115f. Die Diaspora der Iren hat zunächst den Konflikt und dann den Friedensprozess unterstützt, ebenso wie die Diaspora des Kosovo. 81 22 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Anhand dieser Ausführungen ist deutlich geworden, dass die Weltgesellschaftstheorie zum einen eine normative Begriffsbestimmung vermeidet, da sie sich aus differenzierungs- und evolutionstheoretischer Perspektive nähert. Dadurch wird die Theorie nicht von einem bestimmten Menschenbild abgeleitet, welches zwar einer Reduktion von Komplexität entsprechen würde, aber gleichzeitig auch starre Erklärungsmuster liefert. Zum anderen erlauben der systemtheoretische Konfliktbegriff und das Prozessmodell, territoriale Grenzen überschreitende ethnische Konflikte systematisch weltgesellschaftlichen Perspektive ausgegangen und wird zu behandeln. liegt verschiedene, Ein darin, dass sich zum weiterer von Teil einer Vorteil der Gesellschaft widersprechende gesellschaftliche Entwicklungen, mit dem gleichen theoretischen Bezugsrahmen erklärt werden können.83 Im Anschluss werden nun die theoretischen Annahmen zu Konflikten, welche die Theorie der Weltgesellschaft bietet, thematisiert. 3.2.2 Die kommunikative Dimension von Konflikten und Exklusionen Der systemtheoretische Konfliktbegriff gründet sich im Gegensatz zu einer Vielzahl anderer Ansätze, die Handlungen in den Mittelpunkt rücken, auf eine kommunikationstheoretische Plattform: Erst die Kommunikation über einen Konflikt lässt den Konflikt entstehen und als gesellschaftliches Phänomen begreifen. Wenn Konflikte nämlich nicht kommuniziert werden, „[…] sind sie kein Bestandteil der Gesellschaft, kein soziales Ereignis, sondern entweder psychische Konflikte oder gar kein Konflikt.“84 Der Rückbezug auf Kommunikation als Grundelement alles Sozialen ermöglicht die Analyse sozialer Konflikte mittels eines wertneutralen Werkzeugkastens. Konfliktsysteme entstehen, wenn Erwartungen enttäuscht werden. Das Besondere an den so definierten Konfliktsystemen ist, dass ihre Systembildung auf andere soziale Systeme angewiesen ist, da Konflikte solche Erwartungen negieren, die erst in einem anderen System entstanden sein müssen. Da die Entstehung der Konfliktsysteme von anderen Systemen abhängt, werden 83 84 Vgl. Bonacker/Weller 2006, S. 30. Vgl. Bonacker 2008, S. 273. 23 FIT Discussion Paper 01/11 Konfliktsysteme in der Weltgesellschaftstheorie auch als parasitäre Systeme bezeichnet.85 „Ein Konflikt ist die operative Verselbstständigung eines Widerspruchs durch Kommunikation. Ein Konflikt liegt also nur dann vor, wenn Erwartungen kommuniziert werden und das Nichtakzeptieren der Kommunikation rückkommuniziert wird.“86 Im Falle eines Konflikts erfolgt demnach kein „Kommunikationsabbruch“ sondern die Kommunikation wird fortgeführt – durch Benutzung der Möglichkeit des „Neins“. Die Exklusion einer ethnischen Minderheit aus sozialen Bereichen durch die Regierung wird von der betroffenen Minderheit nicht akzeptiert und abgelehnt. Diese Ablehnungskommunikation entwickelt sich zu einem sozialen Konfliktsystem, wenn die Strukturen der Widerspruchskommunikation stabilisiert werden. Die Konfliktsysteme sind Teil der Weltgesellschaft und beeinflussen den weltgesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Zentral für die Konfliktanalyse der Weltgesellschaftstheorie ist der Zusammenhang zwischen funktionaler Differenzierung, sozialer Ungleichheit und Inklusion/Exklusion von Individuen: „“Exklusion“ bedeutet dabei die (temporäre) kommunikative Nichtberücksichtigung von Personen in Funktionssystemen; an anderer Stelle wird daher in der systemtheoretischen Literatur auch von Exklusion als fehlender „Adressabilität“ von Personen innerhalb bestimmter Funktionssysteme gesprochen.“87 Es wird angenommen, dass Exklusion und dessen Duplizierung ein enormes Konfliktpotenzial in sich tragen und daher die Entstehung eines Konfliktsystems bedingen können, wenn sich die exkludierte Gruppe gegen die Exklusion richtet und 85 Vgl. Luhmann 1984, S. 531. „[…] aber das Parasitentum ist hier typisch nicht auf Symbiose angelegt, sondern tendiert zur Absorption des gastgebenden Systems durch den Konflikt in dem Maße, als alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen für den Konflikt beansprucht werden.“ Luhmann 1984, S. 533. 86 Vgl. Luhmann 1984, S. 530. 87 Albert/Stetter 2006, S. 72. 24 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte diese ablehnt. Gesellschaftliche Relevanz erhält der Konflikt dann, wenn sich aus dem Protest ein parasitäres Konfliktsystem mit Konfliktgegenständen und -akteuren herausbildet. Durch die Beobachtung von Konflikten aus systemtheoretischer Perspektive ist zu erkennen, dass Konfliktsysteme nicht zur Auflösung tendieren, sondern eine Eigendynamik entfalten, die die Integration neuer Themen, Akteure, Gegenstände fördert, um den Fortbestand des Systems zu sichern. Für die Analyse und Bewertung von Konflikten sowie für ihre Lösung ist dies von hoher Relevanz. Am Beispiel der kurdischen Minderheit in der Türkei lässt sich dieser Vorgang eingängig exemplifizieren: Im Zuge des Entstehungsprozesses der türkischen Republik wurde die Identität der ethnischen Minderheit der Kurden nicht anerkannt, da das Ziel darin bestand eine übergeordnete, türkische Nation zu formen, die auf der Konstruktion einer türkischen Identität basiert. Daraus resultierte die politische Exklusion der kurdischen Minderheit, so dass die ethnische Identität der Kurden im politischen System nicht anerkannt wurde. Dies lässt sich besonders deutlich daran erkennen, dass erst in den letzten Jahrzehnten der Begriff „Kurde“ im offiziellen türkischen Diskurs genutzt wird, während dies bis zu den 1980er Jahren verboten war.88 Ein großer Teil der Kurden assimilierte sich in die türkische Republik, allerdings bestand vor allem der südostanatolische Teil der Kurden auf die Anerkennung ihrer kurdischen Identität. Politische Parteien, die die kurdische Identität im Parlament vertreten wollten, wurden regelmäßig durch das türkische Verfassungsgericht wegen Verletzung der staatlichen Einheit verboten. Die Entstehung der PKK in den 1980er Jahren führte dazu, dass sich ein gewalttätiger Konflikt bis hin zum Bürgerkrieg in den 1990er Jahren entwickelt hatte, der sich einerseits zwischen dem türkischen Staat und dem Militär und andererseits der PKK verstetigte.89 Als Folge der Stabilisierung der Widerspruchskommunikation hat sich ein gewalttätiges parasitäres Konfliktsystem mit Konfliktakteuren und - gegenständen herausgebildet, das gesellschaftliche Relevanz aufweist. 88 Vgl. Somer 2004, S. 246f.; vgl. Bezwan 2008, S. 288. Der Konflikt in der Türkei wird zwischen 1992 und 1997 als Bürgerkrieg eingeordnet. Diese Zahlen stützen sich auf die Kriegsdefinition vom Uppsala Konfliktdatenset, das zur Kategorisierung als Krieg min. 1000 battlerelated deaths zur Voraussetzung macht. Vgl. UCDP Definitions. 89 25 FIT Discussion Paper 01/11 Die Wahrscheinlichkeit der Radikalisierung in einem Konfliktsystem erhöht sich, wenn die Erwartungen beider Konfliktparteien dauerhaft kollidieren bzw. eine Erwartung negiert wird. Wenn keine der beiden Konfliktparteien dazu imstande ist ihre Ziele durchzusetzen, erhöht sich das Risiko der gewalttätigen Eskalation zur Zielerreichung. Der Staat zielt durch den Einsatz von Gewalt darauf ab die Staatsgewalt und -räson zu demonstrieren, während die ethnische Bewegung mit Gewalt ihren Fortbestand sichern kann, da weitere Konfliktgegenstände und akteure in das System einbezogen werden und so das Konfliktsystem stabilisiert wird. „Tendentiell führt die Fixierung auf ein Ziel dazu, daß die Bewegung sich in ihrem Verlauf, der das Ziel nicht erreicht, radikalisiert. Radikalismus ist nicht Entstehungs- sondern Fortsetzungsbedingung.“90 Dieses Argument lässt sich mit einem kommunikationstheoretischen Zugang illustrieren: Falls die Ablehnung einer Erwartung dazu führt, dass sich ein Konfliktsystem als parasitäres System herausbildet, erhält die Selbstreferenz den Bestand des Konfliktsystems. Durch diese Herangehensweise wird weder dem Nationalstaat noch dem Individuum bzw. der Gruppe eine rationale Logik unterstellt, da der Fortbestand von Konflikten durch die Logik des Systems erklärt wird. Konfliktsysteme binden mehr als jede andere Systemebene die persönliche Identität der beteiligten Personen ein, was zu der scharfen Trennung zwischen Konfliktparteien führt und die Sozialdimension von Konflikten berührt. 3.2.3 Einbezug der globalen Ebene in das Konfliktsystem Anhand der Systemlogik von Konflikten lässt sich darüber hinaus auch der Entgrenzungsprozess im Sinne der Adressierung von Organisationen des weltpolitischen Systems durch ethnische Minderheiten erfassen: Der Einbezug der globalen Ebene, in Form von internationalen Organisationen, durch die ethnische Minderheit erfolgt, um weitere Akteure und Themen in das Konfliktsystem zu integrieren und auf diese Weise den Bestand des Konfliktsystems zu sichern. Die Fortsetzung des Konflikts ist nur möglich, wenn das Thema/Ziel der Konfliktpartei 90 Vgl. Luhmann 1984, S. 547. 26 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte auf globaler Ebene anschlussfähig ist, sprich von dem jeweiligen Adressaten berücksichtigt wird. Internationale Organisationen wie der Europarat, die VN oder supranationale Organisationen wie die EU treten dafür ein, dass die kulturelle Identität ethnischer Minderheiten respektiert und anerkannt wird und stellen daher eine „sinnvolle“ Adresse für die ethnischen Minderheiten dar, die ihre Exklusion und deren Aufhebung thematisieren wollen. Der Einbezug der globalen Ebene, so das Argument dieser Arbeit, dient also dazu, die Ablehnung der politischen Exklusion zu stärken und die internationale Organisation als Unterstützer dieses Ziels zu gewinnen. In vielen konflikttheoretischen Ansätzen wird dem Einfluss von Organisationen eine konfliktmindernde Wirkung attestiert91; in diesem Papier soll auch die indirekte, konfliktfördernde Wirkung von Organisationen in Bezug auf ethnische Konfliktsituationen als bisher vernachlässigter Aspekt aufgezeigt werden. Zunächst konstatiert auch die Weltgesellschaftstheorie – ähnlich wie andere Ansätze der Konfliktforschung – dem Einbezug von Dritten eine konfliktmindernde Wirkung, da so die Unsicherheit in einem Konfliktsystem erhöht werden kann. „Die Erhöhung der Unsicherheit erfolgt durch Einbeziehung von Dritten in das Konfliktsystem – von Dritten, die zunächst unparteiisch sind, also nicht vorweg schon mit einer der Parteien oder mit „Seiten“ der Konfliktthemen solidarisiert sind, die aber im weiteren Verlauf Stellung beziehen und die eine oder andere Seite begünstigen können.“92 Es wird also durch den Einbezug von Dritten, wie internationalen Organisationen, eine Erwartungsunsicherheit eingeführt, die neue Strukturbildungsmöglichkeiten und Kontingenzen schafft und daher die Auflösung eines Konfliktes zur Folge haben kann.93 Dies liegt auch darin begründet, dass das Verhalten der Dritten meist 91 In den letzten Jahren hat die Forschung zum Einfluss von Internationalen Organisationen auf Konfliktsituationen zugenommen. Es wurde u.a. festgehalten, dass die friedensfördernde Effektivität der Organisation von ihrer Form abhängt; so stiften hochgradig institutionalisierte Organisationen mit sicherheitspolitischem Mandat am ehesten Frieden. Vgl. Boehmer/Gartzke/Nordstrom 2004. 92 Luhmann 1984, S. 540. 93 Vgl. Luhmann 1984, S. 540. 27 FIT Discussion Paper 01/11 moralisch oder rechtlich aufgewertet ist und ein Nachgeben der Konfliktparteien dann nicht als Schwäche angesehen wird. In der Konfliktforschung wird dies durch Mediationsansätze thematisiert. 3.2.4 Radikalisierung durch Einbezug der globalen Ebene? Allerdings wird in diesem Papier davon ausgegangen, dass Internationale Organisationen auch zu einer Radikalisierung beitragen können, wenn die an die Organisationen gerichteten Erwartungen der ethnischen Minderheit enttäuscht werden. Denn es kann vermutet werden, dass der Einbezug von Dritten – in Form von internationalen Organisationen – dann zu keiner Konfliktlösung führen wird, wenn die grundsätzliche Haltung der Organisationen von bestimmten Werten und Normen vorherbestimmt wird und diese somit aus ihrem Selbstverständnis heraus auf Seiten der ethnischen Minderheit anschließen müsste. Schließlich gelten bestimmte normengeleitete Internationale Organisationen durch ihre Selbstbeschreibung als Unterstützer und Schützer von Menschenrechten und als Norm- und Werteverbreiter.94 Diese Wahrnehmung wird seit dem (für die ethnische Minderheit) erfolgreichen Einsatz von internationalen Organisationen im Kosovo gefestigt. Ein entsprechendes Verhalten wird auch von anderen Minderheiten für ihre Situation gefordert, so dass die Neutralität von internationalen Organisationen und die daraus resultierende Erhöhung von Unsicherheit in einem Konfliktsystem stark eingeschränkt werden. Daraus kann folgen, dass ethnische Minderheiten internationale Organisationen mit dem Ziel adressieren, sie auf ihre Seite zu ziehen und aus den genannten Gründen auch davon überzeugt sind, dass das funktioniert. Diese Entwicklung kann in Bezug auf die vorherigen Ausführungen so verstanden werden, dass sich von Seiten der ethnischen Minderheit eine Erwartungshaltung gegenüber den Organisationen aufbaut. Die Erwartung der Minderheit besteht darin, dass ihre Exklusion aufgehoben wird und sie ins nationale Politiksystem integriert werden bzw. dass die Minderheit in ihrem Wunsch nach Sezession oder Autonomie von den Organisationen unterstützt wird. Da sich somit eine Erwartungshaltung der 94 Hierbei ist ausdrücklich nicht gemeint, dass die internationalen Organisationen gewalttätige Rebellengruppen unterstützen, sondern vielmehr, dass das Ziel der politischen Inklusion erreicht wird. Dies fällt jedoch zum Teil mit den Zielen gewalttätiger Gruppen zusammen; es gilt allerdings eine klare Trennung aufrecht zu erhalten. 28 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte ethnischen Minderheit aufgebaut hat, besteht die Möglichkeit der Entstehung eines Konfliktes, wenn die Erwartungen negiert werden. Die betroffene ethnische Minderheit wird sich vermutlich so verhalten, dass sie der internationalen Organisation keinen Grund gibt, sich auf die andere, also staatliche Seite zu schlagen – der Einsatz von Gewalt wird beispielsweise als Selbstverteidigung dargestellt; die Minderheit wird aber erwarten, dass die internationale Organisation sie gegenüber dem exkludierenden Staat unterstützt und diese Erwartung kann das Verhältnis zwischen Minderheit und Organisation konflikthaft gestalten. Wenn die Inklusionserwartungen der ethnischen Minderheit durch die internationalen Organisationen enttäuscht werden, etwa weil keine Veränderung erzielt wird, sich die Organisationen nach Wahrnehmung der Minderheit nicht ausreichend einsetzen, der Staat schlichtweg auf seiner Souveränität beharrt und somit keinen Verhandlungen zustimmt oder die Organisationen gar den Staat unterstützen und die Minderheit als Terrorgruppe bezeichnen, kann es sein, dass sich für die ethnische Minderheit der Eindruck erhärtet ihr Ziel ohne den Einsatz von Gewalt nicht erreichen zu können. Der Hauptkonflikt wird sich auch weiterhin zwischen Staat und Minderheit abspielen, aber die durch die Internationalen Organisationen bedingte Erwartungsenttäuschung kann zu einer rigideren Verhandlungsposition der ethnischen Minderheit beitragen, die eine Konfliktlösung stark erschwert. Somit bilden sich nicht zwei voneinander unabhängige Konfliktsysteme heraus, sondern im Rahmen des Hauptkonfliktes zwischen Minderheit und Regierung findet ein weiterer Akteur in Form der Internationalen Organisation eintritt. Gewalt wird dann als Mittel verstanden den Konflikt aufrecht und anschlussfähig zu erhalten, da davon ausgegangen wird, dass gewaltintensive Konflikte von der internationalen Gemeinschaft eher berücksichtigt werden. Der Beitrittsprozess der Türkei zur EU hat die Hoffnung der kurdischen Minderheit auf eine Verbesserung ihrer Situation – im Sinne einer Inklusion – erhöht, da mit einer klaren Unterstützung durch die Mitgliedstaaten bzw. die Europäische 29 FIT Discussion Paper 01/11 Kommission gerechnet wurde.95 Die Mitgliedstaaten der EU haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Kurden-Frage politisch gelöst werden muss. Dies solle durch die Durchsetzung der Kopenhagener Kriterien erfolgen, die Teil der Voraussetzungen eines EU-Beitritts der Türkei sind.96 Die Reformen werden von türkischer Regierungsseite jedoch eher zögerlich umgesetzt. Des Weiteren ist zu betonen, dass die Europäische Kommission im Gegensatz zum Europäischen Parlament die Kurden-Frage nur sehr vorsichtig anspricht.97 Darüber hinaus wurde die PKK bzw. die KADEK und KONGRA-GEL seit dem 2. April 2004 von der EU in die Liste der „terroristischen Organisationen“ aufgenommen.98 Dies hat die Inklusionserwartung und Hoffnung der kurdischen Minderheit auf eine politische Lösung durch die Beziehungen zur EU enttäuscht. Es wird zwar im Rahmen der Kopenhagener Kriterien und der EU-Progress Reports gegenüber der türkischen Regierung darauf verwiesen, dass die Minderheitenrechte ausgebaut werden sollen, allerdings erfolgt keine klare Stellungnahme in Bezug auf die Kurden. Somit konnten in dem friedlichen Zeitraum von 1999 bis 2004 keine umfassenden Verbesserungen für die Ausübung der kulturellen Identität der Kurden und damit der Inklusion der Kurden festgestellt werden.99 Der fehlende politische Wandel ist an der Ablehnung der türkischen Regierung zu erkennen, mit kurdischen Parteien oder anderen Vertretungen in Dialog zu treten.100 Als Antwort auf die fehlenden Reformen hinsichtlich der Akzeptanz der kulturellen Identität der Kurden, kündigte die PKK im Jahr 2004 ihren Waffenstillstand auf.101 Dieses Beispiel dient zur Exemplifizierung der theoretischen Annahmen und bedarf weiterer Analysen. Es wird jedoch deutlich, dass die globale Ebene in Form von Internationalen Organisationen mit einem klaren Menschenrechtsbezug Erwartungen auf Seiten der Minderheit schürt, die es näher zu analysieren gilt. 95 Vgl. Patton 2003, S. 44. Vgl. Wessels 2008, S. 95. 97 Vgl. Buro 2007, S. 10. 98 Gegen diesen Beschluss klagte Öcalan im Namen der PKK mit der Begründung, dass die PKK seit Juli 1999 die Forderung nach der kurdischen Unabhängigkeit aufgegeben habe und seither nur mit friedlichen und politischen Mitteln die Anerkennung anstrebt, vgl. Rechtssache T-229/02 des EuGh. Am 3. April 2008 wird der Klage stattgegeben, allerdings halten die EU-Mitgliedstaaten an ihrer Einordnung fest. Vgl. Buro 2007, S. 4. 99 Vgl. EU-Regular Report 2004, S. 47f. 100 Vgl. Marcus 2007b, S. 302. 101 Vgl. Marcus 2007a, S. 75; vgl. Lüdemann-Dundua 2006, S. 197. 96 30 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Folgende These kann für die weitere Forschung in diesem Bereich abgeleitet werden: Internationale Organisationen können zu einer Radikalisierung der ethnischen Minderheit beitragen, wenn die Erwartungen der Minderheit enttäuscht werden und diese neben dem Einsatz von Gewalt keine Möglichkeit der Durchsetzung ihrer Interessen sehen. Diese Entwicklungen können mithilfe der Weltgesellschaftstheorie theoretisch ausgearbeitet und empirisch überprüft werden. Durch den Rekurs auf Kommunikation als das alles Soziale erzeugende Element, wird es mittels Weltgesellschafts-Ansätzen möglich, die verschiedenen Kommunikationen zwischen ethnischen Minderheiten, Diasporen, Staaten und internationalen Organisationen analytisch zu erfassen. Ethnische Minderheiten sind in diesem Zusammenhang als soziale Bewegungen zu verstehen, die ein Konfliktsystem erzeugen können, indem sie die Entscheidung der politischen Exklusion durch die Organisation des Staates ablehnen und aufgrund der weltweiten Kommunikationszusammenhänge Organisationen richten, ihren was Radikalisierungswahrscheinlichkeit Gegensatz zur Protest zu führen Konflikteindämmung einer kann. durch auch Diese den an internationale Erhärtung Erkenntnis Einbezug der steht in internationaler Organisationen in der gängigen Konfliktforschung und die kommunikativen Vorgänge markieren ein wichtiges Forschungsdesiderat und bedürfen weiterer Analysen. 4. Implikationen für die Forschung Als Alternative zu einem zusammenfassenden Fazit werden an dieser Stelle die Relevanz und der Gewinn einer weltgesellschaftlichen Betrachtungs- und Analyseweise entgrenzter ethnischer Konflikte hervorgehoben. Der theoretische und empirische Bedarf für die Auseinandersetzung mit Weltgesellschaftsansätzen liegt in der Bedeutung der Gesellschaft für die internationale Politik und der Notwendigkeit einer Alternative zum Konzept des internationalen Systems. Mathias Albert (2002) hat aufgezeigt, dass die Politikwissenschaft der Internationalen Beziehungen auch heute noch Semantiken der Selbstbeschreibung des politischen Systems übernimmt. 31 FIT Discussion Paper 01/11 Dies führt dazu, dass die Theorien der Internationalen Beziehungen in der Semantik von „Staat“ und „Souverän“ verharren und der Nationalstaat als Akteur im Mittelpunkt der Analyse steht. Der Gesellschaftsbegriff orientiert sich dann quasi automatisch normativ an der „integrierenden Einheit“ des Staates.102 Nach Einschätzungen von Mathias Albert ist die Systemtheorie die einzige Theorie, die aufgrund der theoretischen Annahme einer funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft nicht am methodologischen Nationalismus verhaftet ist,103 und bildet daher einen sinnvollen Rahmen, um den methodologischen Nationalismus in der Konfliktanalyse zu überwinden. Durch das Luhmannsche Verständnis von Weltgesellschaft als ein alles Soziale umspannendes System, wird diese implizite Normativität des Gesellschaftsbegriffs umgangen, ein analytischer Blick auf Gesellschaft ermöglicht und die globale Ausrichtung sozialer Analysen befördert. Diese Aspekte erscheinen grundlegend für die weitere Forschung über Konflikte. Mittels des theoretischen Rüstzeugs systemtheoretischer Ansätze kann die soziale Komplexität der Weltgesellschaft ganzheitlich erfasst werden.104 Dies wird dadurch ermöglicht, dass keine vorgefassten historischen Endpunkte oder stabile, unveränderliche kausale Mechanismen angenommen werden.105 „This view marks a radical break with the (Western) humanist tradition in social thought, yet it also relinquishes social theory from the burden of having to explain how social systems operate on the basis of ontological assumptions about the human being.“106 Mittels der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie wird es möglich, die ethnischen Minderheitsgruppen, internationale Organisationen und Nationalstaaten gleichwertig zu beobachten und zu analysieren. 102 Vgl. Albert 2002, S. 313. Vgl. Albert 2010, S. 51. 104 Obgleich an dieser Stelle der Vorwurf der Überkomplexität an die systemtheoretische Weltgesellschaftstheorie gerichtet werden könnte, gilt es zu berücksichtigen, dass eine Abstraktion im Rahmen einer Gesellschaftstheorie von Nöten ist, um alles Soziale erklären zu können. Da Forschungsvorhaben ein klar umrissenes Erkenntnisinteresse haben, ist es möglich nur bestimmte Aspekte der Weltgesellschaftstheorie für die Erklärung der Strukturen und Prozesse zu berücksichtigen. Dabei bietet es sich an, auf die Wissenschaftler zu rekurrieren, die in der Tradition Luhmanns versuchen, die abstrakte Theorie der Gesellschaft unter anderem für die Konfliktanalyse anwendbar zu machen. Man sollte sich also von der oftmals so bezeichneten „schweren Kost“ der Systemtheorie nicht abschrecken lassen. 105 Vgl. Albert 2010, S. 45f., vgl. Albert/Cedermann 2010. 106 Vgl. Albert 2010, S. 46. 103 32 Sienknecht: Entgrenzte ethnopolitische Konflikte Dass die Theoriekonstruktion von Luhmann auch als Konflikttheorie aufgefasst werden kann, zeigt sich an dem kommunikationstheoretischen Zugang.107 Bislang wurden Konflikte in der modernen Systemtheorie jedoch eher unsystematisch berücksichtigt. Luhmann hat einzig in seinem Buch Soziale Systeme grundlegende Ausführungen zu Konflikten gemacht108 und dies in einer sehr abstrakten theoretischen Weise, so dass die Verbindung zwischen konkreten ethnischen Konflikten und weltgesellschaftlichen Strukturen bislang noch eine Leerstelle markiert, obgleich die Theorie – wie ausgeführt wurde – das notwendige Analyseinstrumentarium zur Verfügung stellt.109 Vertreter der systemtheoretischen Weltgesellschaftstheorie, wie Mathias Albert, Thorsten Bonacker und Stephan Stetter haben bereits damit begonnen, diese Lücke zu schließen. In dem Papier ist jedoch deutlich geworden, dass es weiterer Forschung bedarf, um die Weltgesellschaftstheorie mit Erkenntnissen der Konfliktforschung zu verbinden und empirisch zu unterlegen. 107 Vgl. Albert/Stetter 2006, S. 61. Vgl. Luhmann 1984, S. 488-550. 109 Messmer hat in seiner systemtheoretischen Arbeit zu Konflikten diesen zwar einen zentralen Stellenwert eingeräumt, allerdings ohne einen weltgesellschaftlichen Bezug herzustellen, vgl. Messmer 2003. 108 33 FIT Discussion Paper 01/11 5. Literaturverzeichnis Albert, Mathias 2002: Zur Politik der Weltgesellschaft, Identität und Recht im Kontext internationaler Vergesellschaftung, Weilerswist: Velbrück Wiss. Albert, Mathias/ Stetter, Stephan 2006: Viele Weltgesellschaften, viele Konflikte? Zur Rolle von „Konflikt“ in der Weltgesellschaftstheorie, in: Bonacker, Thorsten/ Weller, Christoph (Hg.): Konflikte der Weltgesellschaft. Akteure – Strukturen – Dynamiken, Frankfurt/ New York: Campus Verlag, S. 49-80. 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