DerSchossistfruchtbarnoch?

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DerSchossistfruchtbarnoch?
Kultur.
Samstag, 12. März 2016 | Seite 14
Die erste
Kunst im
erweiterten
Kunstmuseum
Eröffnung in einem Monat. Die Spannung
steigt. am 17. und 18. april wird nicht nur der
sanierte Hauptbau des Kunstmuseums
Basel, sondern auch der neue erweiterungs­
bau von Christ & gantenbein der Öffentlich­
keit zugänglich gemacht. Die architektur­
arbeiten sind inzwischen abgeschlossen,
derzeit wird noch die Leuchtanzeige an der
Fassade getestet. Und im innern des ge­
bäudes laufen die einrichtungsarbeiten auf
Hochtouren. als «Bilderrahmen für die
Kunst», bezeichnet emanuel Christ den
neuen Museumsbau, der in engem Dialog
zum Hauptbau steht, doch auch für sich
glänzend besteht. aufgewertet wird der
architektonische Rahmen durch die Kunst,
die nun in den verschiedenen ausstellungs­
räumen platziert wird – nach einer wohl­
durchdachten Choreografie von Museums­
direktor Bernhard Mendes Bürgi. So kann
etwa das Werk «Villa Malaparte» von günther
Förg (Foto rechts) ganz neu gesehen werden,
und die unbetitelte Stahlskulptur von
Donald Judd aus dem Jahr 1969 (Foto links)
kommuniziert mit der für den ganzen
Bau charakteristischen Deckengestaltung.
Der erste eindruck ist auf jeden Fall
vielversprechend. ras
Fotos Kunstmuseum Basel/Stefano graziani © Pro Litteris
Der Schoss ist fruchtbar noch?
Gute Unterhaltung mit Charles Lewinskys Brutalo-Baby «Andersen»
Von Christine Richard
Wohliges Schaukeln in Wellen. Warme
Dunkelheit. Dumpfe Stimmen hören,
nicht wissen wer. Ein Mann, eine Frau,
vermutlich Geschlechtsverkehr. Das
Schaukeln nimmt zu. Dann Stille.
So muss es im Mutterleib sein. Und
ist es auch. Jedenfalls beginnt Charles
Lewinskys neuer Roman im Dunkeln
einer Gebärmutter. Achtung, hier
spricht der Embryo. Gewagter Einfall.
Was sagt es denn so, das liebe Kleine?
Es sagt, dass die Gebärmutter wie
eine Gefängniszelle sei. Es will frei sein.
Es sagt, dass es Schäferhunde liebe.
Dass es auch die Mutter schon noch
dressieren werde. Es ist kalt und berechnend. Nackte Ratio.
Das Ungeborene mit seinen Stummelfingern ist klüger, als es die Entwicklungsbiologie erlaubt. Und perfider, als
die Spassgesellschaft ahnen kann. Es ist
viel, viel älter, als wir anfangs denken.
Es kennt sich mit Verhören und Foltern
aus. Es ist das Böse. Und wir sind bei
einer seiner Wiedergeburten dabei.
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MARIUS BORGEAUD
Der Schoss ist fruchtbar noch? Dieses Kind trägt die Untaten aus zwei
Weltkriegen und Gestapo-Kellern mit
sich ins Hier und Heute. Vielleicht. Den
historischen Zusammenhang können
wir nur ahnen. Lewinsky ist wie sein
Horror-Baby ein Meister des Versteckspiels. Aussen Kind, innen Folterknecht.
Gute Unterhaltung.
Vor allem das: Der Zürcher Charles
Lewinsky, er wird im April 70, bietet wie
immer gehobene Unterhaltung – mit
Spurenelementen der Zeitgeschichte.
Auf 400 Seiten, in 300 Abschnitten und
fünf Teilen. Das hinterhältige Kind und
sein harmloser Vater erzählen dieselben
Ereignisse aus unterschiedlicher Sicht.
Wie kann man sich doch täuschen ...
Der erste Teil kommt durchaus vergnüglich daher. Wir erleben, wie es sich
anfühlt, ein Embryo zu sein. Hilflos.
Abhängig. Die Lage hat allerdings auch
Vorteile. Das Kind hört im Bauch alles
mit. Es ertappt die Erwachsenen bei Lug
und Betrug; wie der scheinbar blinde
Gantenbein. Lustig das?
Nicht nur. Von Beginn weg ist klar,
dass in dem Kind ein erwachsener
Mann steckt. Wie ein «Geburtshelfer»
will er die Wahrheit ans Licht bringen.
Er scheint in einem früheren Leben
andere Menschen bei Verhören gefoltert zu haben. Und weil er später selber
verfolgt wurde, hat er sich eine neue
Identität zugelegt. Andersen, nennt er
sich. Andersen wie Anders Breivik?
Christian Andersen?
Ahnungen wie Giftblasen
Im zweiten Teil erzählt der junge
Vater. Er führt Tagebuch. 16. Juli 2003:
Geburt des Sohns. Aus Andersen wird
Jonas. Wie stolz der Vater ist! Weiss er
nicht, dass sein Sohn in der Fruchtblase
hockte und gierig mithörte wie ein
Spion? Nein, er weiss es nicht. Er ist
IT-Spezialist. Voll begeistert von der
Familiengründung.
Für
meinen
Geschmack berichtet er viele Seiten zu
ausführlich von den Alltagsproblemen
junger Eltern. Schmus.
Jonas ist pflegeleicht. Nur RapMusik passt ihm nicht. Warum? Der
Vater wundert sich, der Leser weiss es.
Jonas alias Andersen liebt Mozart.
Denn Mozart – war das nicht einer wie
er? Vielleicht war Mozart ebenfalls ein
Ein altes Kind. Charles Lewinsky (69)
erzählt die unglaubliche Story einer
mehrfachen Wiedergeburt. Foto Lukas Maeder
Wiedergeborener und gar kein Wunderkind. Wurde Mozart so früh aus dem
Verkehr gezogen, weil er zeigte, was in
ihm steckte – ein Erwachsener? Jonas/
Andersen will leben. Er darf nicht auffallen wie Mozart. Also lernt er, wie
man sich kindlich verhält.
Von Gestalt ein Kind, im Kopf ein
Erwachsener aus dem letzten Jahrhundert: Diese geniale Kombination liefert
wie spielerisch Erkenntnisse. Jonas
merkt kühl an, dass die Menschheit
«generell dümmer» geworden ist. Dass
seine Eltern nur «Durchschnittsware»
sind. Dass die «Kita» ein Kindergefängnis ist. Er will hinaus. Er kann nicht.
Exakt in der Mitte des Romans bricht
aus ihm eine brutale Gewaltfantasie
heraus – der Menschenquäler in Kindsgestalt; das Messer im Auge des Opfers.
Lewinsky lässt im Leser die bösen
Ahnungen aufsteigen wie Giftblasen.
Dieses Kind reagiert panisch, wenn es
Affen im Zookäfig sieht – weil es in
einem früheren Leben Menschen hinter
Gittern gefangen hielt? Es hat Angst vor
der Badewanne – Waterboarding?
Wenn der Winzling unbeaufsichtigt
ist, geht er an den Computer des Vaters.
Jonas alias Andersen hat Erinnerungslücken. Er will sich auf die Spur kommen. Er schafft es. Eine Firma namens
Andersen existiert noch; seine Firma.
Allmählich wird für den Leser ein
Lebenslauf rekonstruierbar. Dieser
Mann, der sich Andersen nennt, wurde
1898 als ein anderer geboren. 1914
meldete er sich mit 16 Jahren freiwillig
in den Krieg. Später muss er Verhöre
geführt haben, brutal, sachlich professionell. Nach der Nazizeit nannte er
sich Andersen, schuf sich eine neue
Identität und gründete 1948 die Handelskette Andersen. Er starb 1972 als
reicher Mann. Er blieb 30 Jahre tot.
2003 wird er erneut geboren und Jonas
genannt.
Kein Wunder also, dass der kleine
Kerl so altklug wirkt. Er ist es ja auch.
Alt. Und klug. Er ist in Wirklichkeit älter
als seine Eltern. Schon eher ein Wunder
ist, wie plausibel Charles Lewinsky
diese unglaubliche Story von der mehrfachen Wiedergeburt zu erzählen vermag. Das ist literarisches Handwerk auf
hohem Niveau. Keine falsche Schnittstelle, kein Gefühlskleister. Es erzählt
sich wie von selbst.
Das Elend der Literaturkritik besteht
darin, auf den Begriff bringen zu müssen, was mit Begriffen überhaupt nicht
zu fassen ist: das Vage, das Ineinanderfliessen, also genau das, was die Qualität dieses Romans auszeichnet. Die Raffinesse des Andeutens und Verbergens.
Im vierten Teil sind ein paar Jahre
vergangen. Jonas ist fort. Von daheim
abgehauen mit zwölf Jahren, mit dabei
nur den Schäferhund. Jetzt erzählt der
Vater. Er sitzt daheim, ohne Sohn, ohne
Frau, ohne Job, verwickelt in die
Geldaffäre einer gewissen Firma Andersen. Der Vater hat viel Zeit zum Denken.
Endlich geht ihm auf, dass sein Sohn
schon als Kind recht merkwürdig war.
Das allerdings wissen wir schon. Und
wir wissen sogar warum. Und deshalb
ist der vierte Teil auch recht langweilig.
Im fünften Teil nimmt die Handlung
endlich an Fahrt auf. Jonas alias Andersen erfährt, dass er einen Sohn hat. Und
einen Enkel, Felix. Um Felix kennenzulernen, wechselt Jonas noch einmal
seinen Namen und schreibt sich als
Kilian von Lauken im Internat von Felix
ein. Felix und er, Grossvater und Enkel
werden dicke Freunde. Sie sind ja im
gleichen Alter, lieben beide Musik.
Mozart.
Felix, der Glückliche. Für Jonas ist
er das ganze Glück. Die zwei Freunde
wollen wie Frischverliebte alles voneinander wissen. Sie spielen das grosse
Verhörspiel. Und jetzt passiert es: Der
Verhörspezialist Jonas wechselt erstmals die Seite. Felix fragt. Jonas gesteht.
Alles. Und nun?
Es gibt Romane, deren Schluss man
besser nicht verrät. Sicher ist: Nach der
Lektüre von «Andersen» schaut man die
lieben Kleinen in ihren Kuschelkissen
anders an. Warum ballen sie die Fäustchen? Weshalb schauen sie uns so wissend an? Warum greifen sie plötzlich,
vor Freude kreischend, zum glänzenden Brotmesser? Was bedeutet ihr
Lächeln in Wahrheit? Lieber nicht dran
denken.
Charles Lewinsky: «andersen». Roman.
nagel & Kimche (bei Hanser), zürich 2016.
400 S., ca. Fr. 26.–. Im Handel ab 14. 3.
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