Ein anderes Land - Österreichisches Filmmuseum
Transcription
Ein anderes Land - Österreichisches Filmmuseum
50 Jahre Filmmuseum Ein anderes Land Fünf österreichische Filmgeschichten The Austrian Film Museum is turning fifty this year, and to mark the occasion the Diagonale film festival will present a five-part show created as a team effort. The words that form the institution’s name will literally constitute the program, and offer a series of open-ended questions: Austria? Film? Museum? Ein Programm: Das Österreichische Film museum feiert 2014 sein fünfzigjähriges Bestehen. Aus diesem Anlass präsentiert die Diagonale eine gemeinsam entwickelte fünfteilige Schau. Die drei Wörter im Namen der jubilierenden Institution werden dabei buchstäblich zum Programm – und zu einer Serie offener Fragen: Österreich? Film? Museum? Die Antworten sind einfach und kompliziert. Erstens: Der einzige Pool, in dem hier nach Filmen gefischt wurde, ist jener des Museums selbst – eine Sammlung kinematografischer Zeugnisse, die fünfzig Jahre lang nach bestimmten Kriterien, aber auch dank vieler unvorhersehbarer Akquisitionen aufgebaut wurde. Zweitens sind es logischerweise Filme, die hier gesammelt wurden; aber welche grundsätzliche Vorstellung vom Medium Film drückt die „Kollektion Filmmuseum“ am ehesten aus? Und was könnte, drittens, die Idee von Österreich sein, die sich dabei herausfiltern lässt – aus einer Sammlung, 220 die seit 1964 ganz dezidiert nichtnationalen Überlegungen folgt? Kurz gesagt: Ist das, was der Dreifachfilter „Österreich, Film, Museum“ auf der Grazer Kinoleinwand abwerfen wird, etwas ganz Fremdartiges – oder ist es genauso zwielichtig, glanzvoll, verkommen und endlos berückend wie das Land, in dem wir leben? Wie die Ausdrucksform Film, der wir unsere Arbeit widmen? Wie jenes zwischen Ideologie und Kritik pendelnde Bildungsinstrument, das sich Museum nennt? Fünf Termine, Titel, Temperamente. Es geht ums Kino und wie es sich selber begreift. Es geht um Nazis (sowie andere Antisemit/ innen) – und um diejenigen, die mittels Film Möglichkeiten geschaffen haben, der Folklorisierung des NS-Staats zu widerstehen. Es geht um eine konkrete Situation der Nachkriegsentwicklung, in der eine Nachfrage nach dem „Modernen“ entsteht, wie auch immer es sich anfühlen mag: Unser Wien, 1957–67. Es geht um den Klang der Sprache des Films, wie also das Weben von Sounds, Schriftzeichen und Einstellungen einen unverwechselbaren Darstellungsmodus und zugleich einen unverwechselbaren Locus beschwört („das Österreichische“ im Licht des „Filmischen“). Und es geht um Skepsis gegenüber jener Idee von Nation oder nationaler Kinematografie, die ständig Ursprungszeugnisse fordert: Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene Sammlung Österreichisches Filmmuseum In Transit, jenseits der Staatsgrenzen oder im Blick von außen auf dieses Land, kann „das Österreichische“ seiner Versulzung entgehen. Eine solche Betrachtungsweise, in der „Ausländervorteil“ und Inländerrum einander fröhlich begegnen, wird von der „ÖsterreichSammlung“ des Filmmuseums auf fast natürlichem Wege hervorgebracht. Nur fünf?! Diese Begrenzung ist glückhaft, denn sie verbietet das „Repräsentative“ und die damit einhergehenden Fallen fast schon von selbst. Weder Österreich noch das Museum und seine Sammlung sind hier „in all ihren Facetten“ oder „ausgewogen“ dargestellt. Am ehesten noch der Film: Bei fünf Programmen kommen nämlich die wirtschaftlich marginalisierten Gattungen gegenüber dem dominanten Spielfilmformat am ehesten zur Geltung. Es sind insgesamt 33 Beispiele aus den Jahren 1896 bis 2014, darunter ein „richtiger“ Spielfilm (Himmel oder Hölle), ein „richtiger“ Dokumentarfilm (Franz Grimus) und ein halbabendfüllendes Hybrid (Unser Wien). Ansonsten: Filmessay, Filmlyrik, Werbefilm, Künstler/innenfilm, Spielfilmfragment, frühes Kino der Attraktionen, Amateurfilm, anthropologisches Dokument, Trailer, Filmbeitrag fürs Fernsehen, „Aktualität“ und Wochenschau. 33 Filme – alle großartig. Der Verdacht ist durchaus nachvollziehbar: Da sind doch Sotiros (Alone) Sammlung Österreichisches Filmmuseum © Robert Beavers sicherlich jede Menge öde Filme dabei, die etwas „belegen“, eine These illustrieren oder beweisen sollen?! Die sind doch da nicht alle drin, weil sie für sich genommen toll sind?! Doch. Das ist der Vorschlag. 33 tolle Filme, von denen viele ihre Tollheit den Autor/innen und Mitwirkenden, der bewusst gewählten bzw. im Material gefundenen Form, den Ideen und deren Durchführung verdanken. Für manche aber gilt das nicht; sie verdanken ihre Wirkung vielmehr der eigentümlichen Kraft des Films, auch jenseits solcher Kategorien großartig zu sein. Die Tollheit der letzteren, teilweise anonymen Beispiele kommt anderswo her. Aus einer Begegnung zwischen Welt und Maschine, bei der das Verrückte, Schöne oder Entsetzliche der historischen Realität ganz klar und blitz lichthaft erscheint: blank gescheuert durch die – oft ungewollte, unbeholfene, schein‑ bar gestaltlose, vom reinen Geschehen gebannte – Bedienung der Aufnahmeapparatur. Dies wiederum gilt natürlich auch für die Filme von Künstler/innen. In diesen schiebt sich in die Begegnung von Welt und Maschine eine zusätzliche Membran, und sie pulsiert nach einem jeweils eigenen Beat, nach den immer neu zu verhandelnden Gesetzen eines anderen Landes. (Alejandro Bachmann, Sebastian Höglinger, Alexander Horwath, Barbara Pichler, Regina Schlagnitweit; Kurator/innen) Ein anderes Land 221 50 Jahre Filmmuseum Programm 1 Ein anderes Land Kino Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 93 min From the start, cinema has been at the centre of Austrian Film Museum’s curatorial practice. This program presents some of the ways in which filmmaking has considered cinema itself – from its pre-history to its inner beauty, from its economical and social functions to the organization of a special type of venue. Das Kino – als sozialer Ort, als Architektur, als technisch-ästhetischer Zusammenhang – ist seit jeher der zentrale kuratorische Ausgangspunkt des Österreichischen Filmmuseums. Zur Ausstellung kommen nicht Objekte, Materialien und Faksimiles, die vor, nach oder parallel zu einem Film entstehen, sondern vor allem die Filmwerke selbst: Die Ausstellung ist ein Aufführungsakt. Umso mehr, als das Kino selber schon genug über sich erzählen kann. Einige dieser Erzählungen versammelt das erste Programm: vom Jahrmarkt, dessen Erbe der Film teilweise antrat, über die irritierende, jedenfalls aber zu propagierende Neuheit „Kino“ im späten 19. Jahrhundert bis zu seiner Durchsetzung als prägendes Massenmedium der Moderne. Die Ertastung der libidinösen und materiellen Beschaffenheit von Film und Kino durch die forschende Jugend (ein Burgenlandkind im Burgenland) geht über in die nicht unähnliche Begeisterung des erwachsenen Filmkurators 222 für den Ort seiner Lust (ein Innviertlerkind in New York). Dort oszilliert das Sichtbare im Unsichtbaren, zwischen der Kargheit des Beichtstuhls, der Anonymität der Peepshow und den Schatten in der urmenschlichen Höhle. (Alejandro Bachmann) The Case of Lena Smith Josef von Sternberg, US 1929, 35mm, s/w, 4 min [Fragment] Das einzige existierende Fragment dieses klassischen „Wien-Films“ wurde 2003 vom Historiker Komatsu Hiroshi in einem Laden in China entdeckt. Die errettete Sequenz spielt 1895 im Prater, einem jener Orte, an dem sich ältere Schaukünste in Kino verwandelten. Sternbergs virtuelle Rückkehr in die Stadt seiner Jugend besticht durch die Verschmelzung von Fin-de-Siècle-Sujets (Schnitzler, Salten) und moderner Filmsprache: Montage und Bildkomposition deuten den kaleidoskopischen Bilderrausch an, der für reale und Kino gewordene Vergnügungsparks gleichermaßen kennzeichnend ist. Entrée du cinématographe à Vienne Cinématographe Lumière, FR 1896, 35mm, s/w, 1 min Das Kino kommt nach Österreich – das hieß 1896: der Kinematograf. Die Apparatur der Brüder Lumière zeichnet eine Minute auf der Wiener Kärntner Straße auf. Im Hintergrund: The Case of Lena Smith Sammlung Österreichisches Filmmuseum, Kadervergrößerung: Georg Wasner Werbung für das Kino. Im Vordergrund laufen Leute vorbei, bleiben stehen und blicken uns forschend über 118 Jahre hinweg an: im Kino. Sophie und Johann Nehez, Direktor des Zentralkinos Wien 16, wünschen Prosit! Charly Chaplin in Wien Sammlung Österreichisches Filmmuseum, Kadervergrößerung: Georg Wasner Himmel oder Hölle Wolfgang Murnberger, AT 1990, 16mm, Farbe, 72 min Drehbuch Wolfgang Murnberger Kamera Fabian Eder Darsteller Adi Murnberger, Fabian Weidinger, Johannes Habeler Kino ist auch: die Möglichkeit reproduzierter Herzlichkeit. 1916 wünschen die Leiter des Ottakringer Zentralkinos ihren Besucher/ innen ein fröhliches neues Jahr, immer wieder und immer genau gleich, als Vorfilm in all ihren Vorstellungen. Wolfgang Murnbergers autobiografisch gefärbtes Kinodebüt – und sein Abschlussfilm an der Wiener Filmakademie. Das Aufwachsen eines burgenländischen Buben als leicht füßiges, beängstigendes, enorm erfindungs reiches Kaleidoskop von Initiationsriten: Momente zwischen Kino und Welt, Bildern und Körpern. Charly Chaplin in Wien Apropos Film: Kubelka in New York Selenophon Tonfilmschau Austria, AT 1931, 35mm, s/w, 4 min Helmuth Dimko & Peter Hajek, AT 1970, 16mm, s/w, 11 min Eine doppelte Sensation. Anlässlich der Premiere von City Lights (1931) besucht dessen Schöpfergott Österreich. Die damalige Wochenschau hält diesen Augenblick eklatanter Massenhysterie auch akustisch für die Nachwelt fest – mittels der in Wien entwickelten „Selenophon“-Tontechnik. Zum ersten Mal spricht Chaplin im Film. 1970 eröffnen die Anthology Film Archives ihre eigene Spielstätte: das „Unsichtbare Kino“ nach dem Konzept von Peter Kubelka. Helmuth Dimko und Peter Hajek, Gestalter des legendären, über Jahrzehnte ausgestrahlten TV-Magazins Apropos Film, besuchen Kubelka zu diesem Anlass in New York. Ein Stück Fernsehen, das noch die Größe besaß, Menschen vor der Kamera Zeit zu lassen, sich zu entfalten – selbst dann, wenn sie sich (so wie Kubelka) in ihrer Arbeit genau gegen dieses Medium richteten. Anonym, AT 1916, 35mm, Farbe, 1 min Mittwoch, 19. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1 Ein anderes Land 223 50 Jahre Filmmuseum Programm 2 Ein anderes Land Nazis Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 85 min Eight documentary films focus on the theme of National Socialism: Propaganda productions of National Socialist salvation and identity collide with (at times retrospectively) popular and ephemerally cinematic forms of elucidation, critique and resistance. Film und Kino sind imstande, Auskunft über die Stimmungslagen einer Zeit zu geben; ohne Frage auch dazu, Stimmungen zu leiten und zu manipulieren. Wenn Archiv und (österreichisches) Kino also zum Themenkomplex Nationalsozialismus befragt werden, muss es sowohl um die propagandistischen Inszenierungen von NS-Heil und -Selbstverständnis gehen (ersichtlich beispielsweise am Fall Eigruber) als auch um künstlerische, populäre und ephemere Formen von Auf klärung, Kritik und Widerständigkeit. Diese reichen von den Beobachtungen durch die alliierten Befreier bis zu retrospektiven, formal diversen Reflexionen von Alfred Kaiser oder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Erst komplettiert durch diese Blicke aus zeitlicher (und geografischer) Distanz ver mittelt sich das Bild einer totalitären Zeit, die sich insbesondere in Wochenschauen und Spielfilmen ständig selbst besah, ohne sich dabei jemals wirklich wahrzunehmen. (Sebastian Höglinger) 224 Ein Drittes Reich Alfred Kaiser, AT 1975, 16mm, s/w, 28 min Ein Drittes Reich basiert auf Film- und Tonmaterial der NS-Reichsfilmindustrie, teilweise sehr prominenten Propagandafilmen, aber auch relativ unbedeutenden „Kulturfilmen“ (…) Kaiser zerlegt die filmischen Abläufe, bis das Material an seinen eigenen Widersprüchen erstickt. (Bert Rebhandl) Monson Collection: Vienna 1938 Lafayette P. Monson, US 1938, 35mm, Farbe, 1 min Ein ephemeres Fundstück in Farbe: Auf einer Besuchsreise im Sommer 1938 dokumentiert der Arzt und Amateurfilmer Lafayette P. Monson die antisemitischen Schmierereien auf den Wiener Geschäftsfassaden. Im omnipräsenten Rot der Hakenkreuzfahnen vermittelt sich eine Atmosphäre von Ausgrenzung und Angst. Ab 1. Juli rechts fahren! Ostmark Wochenschau, DE 1938, 35mm, s/w, 2 min „Volksgenossen, Verkehrsgemeinschaft ist ein Stück nationalsozialistischer Volks gemeinschaft.“ Die „Ostmark-Wochenschau“ erläutert die Einführung der Rechtsfahr ordnung in Österreich. Ein skurriles wie auch symbolträchtiges Dokument zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Ein Drittes Reich Sammlung Österreichisches Filmmuseum Eigruber Audienz Anonym, DE 1940, 16mm, s/w, 2 min Audienz bei einem glühenden Nationalsozialisten der ersten Stunde, dem Reichsstatthalter von Oberdonau und späteren Reichsverteidigungskommissar August Eigruber. Ein seltener Einblick in den inneren Zirkel der Hitler-Getreuen. Ein rohes, gespenstisches Dokument über Rangordnung und Selbstdarstellung. Die Todesmühlen Hanuš Burger, DE/US 1945, 35mm, s/w, 22 min Der erste nach der Befreiung produzierte Dokumentarfilm über die NS-Konzentrationslager. Die Kamera fokussiert ausgehungerte Überlebende, Leichenberge und die erzwungene Lagerbesichtigung der Bevölkerung aus der Umgebung. Ein Dokument der Fassungslosigkeit, ein Beleg des Massenmords. Prozess Mauthausen: Eigruber im Kreuzverhör Welt im Film, DE/AT 1946, 35mm, s/w, 2 min Im März 1946 wird August Eigruber im Mauthausen-Hauptprozess angeklagt und von einem US-Gericht zum Tod durch den Strang verurteilt. Selbst im Angesicht des Niedergangs und konfrontiert mit den eigenen Taten bleibt der enge Hitler-Vertraute aufrecht in These Are the Men Sammlung Österreichisches Filmmuseum seiner Überzeugung, trotzt seine Haltung jeglicher Einsicht und Reue. These Are the Men Alan Osbiston & Dylan Thomas, GB 1943, 35mm, s/w, 12 min Idee Robert Neumann „What men set men against men?“ Ein Meer von ausgestreckten Händen beantwortet die Frage: the Nazis. „These are the men, these are to blame.“ Über die Maschekseite karikieren Robert Neumann, Alan Osbiston und Dylan Thomas die Biografien der unantastbaren Nazi-Führungsriege und entlarven den Wahnsinn des Totalitären mit den Mitteln der filmischen Montage. Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, BRD 1973, 16mm, Farbe und s/w, 16 min Kamera Renato Berta Darsteller/innen Günter Peter Straschek, Danièle Huillet, Peter Nestler Der Film folgt einer Vorahnung und ihrem Verlauf, jener „Befürchtung“, die Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky schreiben lässt, er fühle sich weder als Deutscher noch als Europäer, „kaum als Mensch“: ein Jude, ein Vaterlandsloser, ohne Aufenthaltsrecht, dem Schlimmsten ausgeliefert … (Louis Séguin) Donnerstag, 20. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1 Ein anderes Land 225 50 Jahre Filmmuseum Programm 3 Ein anderes Land Unser Wien: Der Weg ins Freie Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 96 min The title says it all: five films, spanning precisely one decade, convey post-war development, a longing for “modernity” in a variety of forms, the fascination with newness and the staying power of the old. Der Titel ist hier Programm: Fünf Filme, die genau eine Dekade umfassen, erzählen von Nachkriegsentwicklungen, vom Wunsch nach der „Moderne“ in unterschiedlichsten Aus formungen, von der Faszination des Neuen und der Beharrungskraft des Alten. Kristallisationspunkt ist im wortwörtlichen Sinn Wien, die Hauptstadt als Ort, der zum Fokus filmischer Imaginationen und Haltungen wird. Im Zentrum steht Unser Wien, eine Ode auf das moderne Wien des Jahres 1963, ein pervers-belustigendes Stück, in seinem Duktus ein entlarvender Spiegel der Zeit. Darum gruppiert finden sich Arbeiten, die sich gegen diese filmgewordene Lobeshymne stellen, die eine andere Geisteshaltung, andere filmische Bezugssysteme etablieren und die in ihrer strengen formalen Struktur, im Spiel mit Raum und Zeit, einen Reichtum anderer Bilder dieser Stadt konstruieren. Auf paradoxe Weise fügt auch die vom österreichischen Avantgardisten Ferry Radax in der Schweiz produzierte Werbung nur eine weitere Perspektive auf unser Wien hinzu – der Weg ins Freie als Weg ins (Erwerbs-)Exil. (Barbara Pichler) 226 Tourist Everlight Ferry Radax, CH 1957, 35mm, Farbe, 4 min Can you imagine that …? Ein Werbefilm für Everlight-Uhren, deren besondere Qualitäten in einer Materialcollage angepriesen werden, die nicht das Produkt, sondern die filmischspielerischen Ideen von Ferry Radax ins Zentrum stellt. Eine Fuge Jörg Ortner, AT 1959, 35mm, s/w, 13 min Ein Film eines Vergessenen der österreichischen Kunstfilmgeschichte. Untertitel: Aggressive Melancholie gegen eine Stadt. Beide, Aggression und Melancholie, finden sich zu gleichen Teilen in dieser dauernden, manischen Bewegung durch Wien – immer wieder Schaufenster, Verkehr, Straßenbahnfahrten, unterirdische Passagen, Menschenmassen. Tatsächlich ebenso ein Film über wie ein Film gegen Wien. Unser Wien Hanns Matula, AT 1963/64, 35mm, Farbe und s/w, 49 min Darsteller/innen Heinz Conrads, Johanna Matz, Peter Weck Ein Flugzeug in der Warteschleife über Schwechat und Heinz Conrads als Illusionist, der den Insass/innen mit Erzählungen über und Bildern von Wien die Zeit vertreibt. Ein seltsames Werk zwischen liebevoller p.r.a.t.e.r. © Ernst Schmidt jr. Courtesy of sixpackfilm Ode und schamlosem Werbefilm, das die modernen Errungenschaften der Hauptstadt ebenso preist, wie es sich ungehemmt schon damals abgenudelter Klischees bedient. Charme und charmanter Grant, Schönheit, Heurigenseligkeit, der Walzer und das Staatsopernballett gehören ebenso zu dieser Melange wie das Industriegelände Liesing, moderne Verkehrsplanung, sozialer Wohnbau oder das zukünftige AKH. In schönster Manier des Mainstream-Narrativs der Nachkriegszeit wird hier ein Heimatbild beschworen, das zu gleichen Teilen die Suggestion der Erneuerung und eine beklemmende Rückwärtsgewandtheit beschwört und dabei die noch nicht allzu weit zurückliegende Vergangenheit völlig ausblendet. Hernals Sammlung Österreichisches Filmmuseum nahmen und Lautgedichten Ernst Jandls“ (Ernst Schmidt jr.). Hernals Hans Scheugl, AT 1967, 35mm, Farbe, 11 min, restaurierte Fassung 2014 In Hans Scheugls Hernals regiert die Struktur. Ausgangspunkte sind dokumentarische Vorstadtbeobachtungen und eingestreute inszenierte Szenen – zu bewundern sind Peter Weibel und VALIE EXPORT als handgreifliches Paar. Aus der Zerstückelung von Raum und Zeit, aus der Fragmentierung, der Doppelung, der Wiederholung, die aber doch nicht dasselbe bedeutet, entsteht eine synthetische Wirklichkeit, wie sie nur im Film möglich ist. p.r.a.t.e.r. Ernst Schmidt jr., AT 1963–1966, 16mm, Farbe und s/w, 19 min Ein Film über den Prater, ein Film über die Menschen, die dort anzutreffen sind. „Dokumentarische Aufnahmen des Praters in verschiedenen Kamera- und Schnitttechniken; die Bilder sind zum Teil realistisch, aber auch tachistisch aufgelöst. Im Ton eine Collage aus realen Geräusch- und Musikauf- Freitag, 21. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1 Ein anderes Land 227 50 Jahre Filmmuseum Programm 4 Ein anderes Land Der Klang der Sprache des Films Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 83 min Via sounds, letters, and images the five films in this program weave a double-breasted suit. They indicate the “essential” qualities of the medium itself (while happily foregoing one or the other in the process). As a group, they also suggest what “Austrianness” might mean. At the same time, they negate this very idea by emphasizing the constructedness of any kind of “…ness” (national, mental, aesthetic). Fünf österreichische Filme. Nicht deshalb, weil sie in Österreich und von Österreicher/ innen gemacht sind, sondern weil sie etwas zum Erklingen bringen – eine bestimmte Welt, durch ein bestimmtes Medium: fragmentierte Artikulation durch Sujets, Gesichter, Farben, Töne, Zeichen, Landschaften, Sprechweisen, die alle auch, oft unwillkürlich, über ein Land erzählen. Und vielleicht auch über dessen Filmkultur – eine gewisse Haltung zum Bild, zur Montage, zur Sprache. Die Welt, die hier erklingt und erscheint, wird nämlich nicht als natürlich vorausgesetzt, sondern in ihrem konstruierten Charakter gezeigt, in ihrer Künstlichkeit erkannt. Die Fragilität all dieser Bilder, die Instabilität und Veränderbarkeit dieser (Kultur-)Konstruktionen, kommt am Ende als Allegorie auf die Leinwand. Sie zeigt sich an den materiellen Spuren der Zeit, die (über ein knappes Jahrhundert hinweg) die stummen, in magischen Farben schillernden 228 Berge und Täler Niederösterreichs langsam zersetzt hat. (Alejandro Bachmann) Franz Grimus Michael Pilz, AT 1977, 16mm, Farbe, 46 min Wenn man in der Geschichte zurückschaut, sieht man, dass es kaum nennenswerte glaubhafte Dokumente des Alltagslebens einfacher Leute gibt. Der Film Franz Grimus stellt den Versuch dar, diesen Mangel zu beheben, aber auch den Mangel kinematografischer Qualitäten des Fernsehens. (Michael Pilz, Juni 1997) Wessen Aurach, dessen Traun Arnold Schicker, AT 1985, 16mm, Farbe, 16 min Musik Anton Bruckner, Maly Nagl, The Beach Boys „Herausgekotzt, aber nicht hingekotzt“ sei der Film, so Arnold Schicker. Bestandsaufnahme einer Gegend in schneidend präzisen, mit Augen- und Ohrenzwinkern hergestellten Ton-Bild-Scheren. Sie erzählen von Widersprüchen, Lappalien und Kleinkriegen am Gartenzaun, von einer zu kleinen Welt, die filmisch aufgesprengt zu neuer Größe findet. Ägypten Kathrin Resetarits, AT 1997, 16mm, s/w, 11 min Wenn man nicht hören kann, werden „Talkies“ zu „Silents“ und die eigenen Artikulationen zu expressiven Gesten der Gebärdensprache, Franz Grimus Sammlung Österreichisches Filmmuseum Ägypten © Kathrin Resetarits Courtesy of sixpackfilm die an das Schauspiel des Stummfilms erinnern. Kathrin Resetarits’ essayistischer Dokumentarfilm über gehörlose Menschen ist ein zärtlicher und genauer Kommentar zum Verhältnis von Film und Sprache. Text II Marc Adrian, AT 1964, 35mm, s/w, 3 min Beliebige Kombinationen von je zwei Buchstaben, die bei den Worten „Ja“ und „Du“ Töne erzeugen. Sprache nicht als Bedeutungsträgerin, sondern als zufälliges Nacheinander grafischer Elemente im Glücksspielmodus des Einarmigen Banditen. Text II © Marc Adrian Courtesy of sixpackfilm Schrattenské údoli v Dolních Rakousích (Schrattental in Niederösterreich) Anonym, AT ca. 1915–1920, 35mm, Farbe, 7 min Ein Aktualitätenfilm über den Ort Schrattental und seine Umgebung. Mittels digitaler Technologien konnten die ausgebleichten Farben der Ursprungskopie wiederhergestellt werden, die nie ein wahres Abbild dieser Landschaft boten, aber den Versuch, ihre Schönheit ins Filmische zu übersetzen. Schrattenské údoli v Dolních Rakousích Sammlung Österreichisches Filmmuseum Samstag, 22. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1 Ein anderes Land 229 50 Jahre Filmmuseum Programm 5 Ein anderes Land In Transit Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 74 min Nine films, representative of the Austrian Film Museum, offer outward and inward perspectives under the theme of “Austrian cinema”, and challenge the notion of national cinematography. It offers a vision of cinema as a transit country – such as through the facial expressions of expatriates, amateur filmmakers and travelers – and teems with both real and cinematic depictions of longing and escape. Film impliziert Bewegung – von Bildern, Erinnerungen, Geschichte(n). Es sind die Rastund die Grenzenlosigkeit, die sich als Grundbedingungen des Kinos festmachen lassen und die Idee einer nationalen Kinematografie als widersprüchlich ausweisen. Exemplarisch für die Sammlung des Österreichischen Filmmuseums fokussiert dieses Programm neun Blicke von außen und nach außen, die sich unter das Banner „österreichisches Kino“ stellen und dieses gleichwohl ad absurdum führen: Blicke von französischen Städtepor trätisten, die das (Film-)Bild Wiens in die Welt hinaustragen, von Jonas Mekas, der mit Mozart im Kopf und Elvis vor Augen ebendahin aufbricht, von Amateurfilmer/innen, Exilant/ innen und Reisenden. Durchdrungen von tatsächlichen wie filmischen Sehnsuchts- und Fluchtbewegungen, erweist sich das Kino als Transitland – Örtlichkeit als temporary thing. (Sebastian Höglinger) 230 Wien & Mozart Jonas Mekas, US 2001, 35mm, Farbe, 1 min 1971 führt Jonas Mekas’ Rückweg von Litauen nach New York auch über Wien, wo er Freunde hat: Peter Kubelka, Hermann Nitsch u. a. Die damals entstandenen Aufnahmen – filmisches Transitmaterial – blieben dreißig Jahre lang unbearbeitet, bis sie anlässlich der Viennale 2001 in Mekas’ ureigenen, atemraubend lebendigen „Wien-Film“ mündeten. Elvis Jonas Mekas, US 2001, 35mm, Farbe, 2 min Ein litauischer Filmemacher, der US-amerikanische Rock ’n’ Roll-Gott, ein Wiener Walzer. Jonas Mekas’ Aufnahme eines Elvis-Auftritts im Madison Square Garden deliriert zum Dreivierteltakt im original Schrammel-Sound. Transitorische Durchdringung mit Hüftschwung: It feels so right. Wien 1920 Anonym, FR/AT 1920, 35mm, s/w, 18 min [Ausschnitt] Der Blick von außen. Für die „Archives de la Planète“ fotografiert ein französisches Filmteam der Société Albert Kahn die Straßen Wiens: einen Trachtenumzug auf dem Rathausplatz, Menschenschlangen vor den Geschäften am Naschmarkt … Alltagskultur anno 1920. Wien & Mozart Sammlung Österreichisches Filmmuseum Semiotic Ghosts Sammlung Österreichisches Filmmuseum Ausflughafen Schwechat Sotiros (Alone) Margret Veit, AT 1961, 8mm auf HD, s/w, 9 min, stumm Robert Beavers, US/AT 1976/77, 16mm, Farbe, 11 min 1961, kurz nach Eröffnung des Flughafens Wien-Schwechat, tummeln sich Menschen mit Ferngläsern und Kameras auf dessen Aussichtsterrassen. Unter ihnen: die Amateurfilmerin Margret Veit. Sie schneidet direkt in der Kamera und fängt Bilder voller Fortschrittsfaszination, Sehnsucht und latenter Science-Fiction ein. La Jetée auf ephemer. Ein Dialog zwischen Film und Filmmacher, entstanden während Robert Beavers’ langer Rekonvaleszenz in der Steiermark. „Die Schönheit der Arbeiten von Robert Beavers gründet in der unbedingten Entschiedenheit, persönliche Erfahrung mit ausschließlich filmischen Mitteln und einer selbst entwickelten und zur Vollkommenheit gebrachten Filmschrift sinnfällig zu machen“ (Harry Tomicek). Semiotic Ghosts Lisl Ponger, AT 1991, 16mm, Farbe, 15 min Behind This Soft Eclipse Semiotic Ghosts ist kinematografische Erinnerung, visuelle Ethnografie und Reflexion über das Fotografische. Mit assoziativen Bildern und Klängen formuliert Lisl Ponger Ahnungen einer Welt und montiert diese zur sinnlichen Reise ins Dazwischen von Alltag, Inszenierung und Illusion. Eve Heller, US 2004, 16mm, s/w, 9 min 37/78 Tree again Elegisch inszeniert schreibt sich die Landschaft Ontarios in die Materialität eines selbst entwickelten High-Contrast-Films ein. Mit poetisch getrübtem Kamerablick – über und unter Wasser – folgt die Amerikanerin-Österreicherin Eve Heller den entschwundenen Pfaden der Filmemacherin Marion McMahon. Kurt Kren, AT/US 1978, 16mm, Farbe, 4 min Temporary Thing Kurt Krens erster Film im US-Exil: Einzelbildaufnahmen eines Baumes in Vermont, fotografiert auf einem abgelaufenen Infrarotfilm über den Zeitraum von 50 Tagen. Witterung und Lichtverhältnisse schillern „in einem der schönsten Filme des Kinos“ (C. Huber). Dietmar Brehm, AT 2014, Video, Farbe, 5 min Von Linz-Mozartstraße in die Sehnsuchtswelt der US-amerikanischen Popindustrie. Zu Lou Reeds „Temporary Thing“ beschwört Dietmar Brehm die Hypnotik der Vergänglichkeit: ein Abschluss, grenzenlos in Raum und Zeit. Samstag, 22. März, 18.00 Uhr, Schubertkino 1 Ein anderes Land 231