Ein anderes Land - Österreichisches Filmmuseum

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Ein anderes Land - Österreichisches Filmmuseum
50 Jahre Filmmuseum
Ein anderes Land
Fünf österreichische Filmgeschichten
The Austrian Film Museum is turning fifty
this year, and to mark the occasion the
Diagonale film festival will present a
five-part show created as a team effort.
The words that form the institution’s name
will literally constitute the program, and
offer a series of open-ended questions:
Austria? Film? Museum?
Ein Programm: Das Österreichische Film­
museum feiert 2014 sein fünfzigjähriges
Bestehen. Aus diesem Anlass präsentiert die
Diagonale eine gemeinsam entwickelte fünfteilige Schau. Die drei Wörter im Namen der
jubilierenden Institution werden dabei buchstäblich zum Programm – und zu einer Serie
offener Fragen: Österreich? Film? Museum?
Die Antworten sind einfach und kompliziert.
Erstens: Der einzige Pool, in dem hier nach
Filmen gefischt wurde, ist jener des Museums
selbst – eine Sammlung kinematografischer
Zeugnisse, die fünfzig Jahre lang nach bestimmten Kriterien, aber auch dank vieler
unvorhersehbarer Akquisitionen aufgebaut
wurde. Zweitens sind es logischerweise
Filme, die hier gesammelt wurden; aber welche grundsätzliche Vorstellung vom Medium
Film drückt die „Kollektion Filmmuseum“
am ehesten aus? Und was könnte, drittens,
die Idee von Österreich sein, die sich dabei
herausfiltern lässt – aus einer Sammlung,
220
die seit 1964 ganz dezidiert nichtnationalen
Überlegungen folgt?
Kurz gesagt: Ist das, was der Dreifachfilter
„Österreich, Film, Museum“ auf der Grazer
Kinoleinwand abwerfen wird, etwas ganz
Fremdartiges – oder ist es genauso zwielichtig, glanzvoll, verkommen und endlos berückend wie das Land, in dem wir leben? Wie die
Ausdrucksform Film, der wir unsere Arbeit
widmen? Wie jenes zwischen Ideologie und
Kritik pendelnde Bildungsinstrument, das
sich Museum nennt?
Fünf Termine, Titel, Temperamente. Es geht
ums Kino und wie es sich selber begreift.
Es geht um Nazis (sowie andere Antisemit/
innen) – und um diejenigen, die mittels Film
Möglichkeiten geschaffen haben, der Folklorisierung des NS-Staats zu widerstehen. Es
geht um eine konkrete Situation der Nachkriegsentwicklung, in der eine Nachfrage nach
dem „Modernen“ entsteht, wie auch immer
es sich anfühlen mag: Unser Wien, 1957–67.
Es geht um den Klang der Sprache des Films,
wie also das Weben von Sounds, Schriftzeichen und Einstellungen einen unverwechselbaren Darstellungsmodus und zugleich einen
unverwechselbaren Locus beschwört („das
Österreichische“ im Licht des „Filmischen“).
Und es geht um Skepsis gegenüber jener Idee
von Nation oder nationaler Kinematografie,
die ständig Ursprungszeugnisse fordert:
Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
In Transit, jenseits der Staatsgrenzen oder im
Blick von außen auf dieses Land, kann „das
Österreichische“ seiner Versulzung entgehen.
Eine solche Betrachtungsweise, in der
„Ausländervorteil“ und Inländerrum einander
fröhlich begegnen, wird von der „ÖsterreichSammlung“ des Filmmuseums auf fast
natürlichem Wege hervorgebracht.
Nur fünf?! Diese Begrenzung ist glückhaft,
denn sie verbietet das „Repräsentative“
und die damit einhergehenden Fallen fast
schon von selbst. Weder Österreich noch
das Museum und seine Sammlung sind hier
„in all ihren Facetten“ oder „ausgewogen“
dargestellt. Am ehesten noch der Film:
Bei fünf Programmen kommen nämlich die
wirtschaftlich marginalisierten Gattungen
gegenüber dem dominanten Spielfilmformat
am ehesten zur Geltung. Es sind insgesamt
33 Beispiele aus den Jahren 1896 bis 2014,
darunter ein „richtiger“ Spielfilm (Himmel
oder Hölle), ein „richtiger“ Dokumentarfilm
(Franz Grimus) und ein halbabendfüllendes
Hybrid (Unser Wien). Ansonsten: Filmessay,
Filmlyrik, Werbefilm, Künstler/innenfilm,
Spielfilmfragment, frühes Kino der Attraktionen, Amateurfilm, anthropologisches Dokument, Trailer, Filmbeitrag fürs Fernsehen,
„Aktualität“ und Wochenschau.
33 Filme – alle großartig. Der Verdacht ist
durchaus nachvollziehbar: Da sind doch
Sotiros (Alone)
Sammlung Österreichisches Filmmuseum © Robert Beavers
sicherlich jede Menge öde Filme dabei, die
etwas „belegen“, eine These illustrieren oder
beweisen sollen?! Die sind doch da nicht alle
drin, weil sie für sich genommen toll sind?!
Doch. Das ist der Vorschlag. 33 tolle Filme,
von denen viele ihre Tollheit den Autor/innen
und Mitwirkenden, der bewusst gewählten
bzw. im Material gefundenen Form, den Ideen
und deren Durchführung verdanken. Für
manche aber gilt das nicht; sie verdanken
ihre Wirkung vielmehr der eigentümlichen
Kraft des Films, auch jenseits solcher Kategorien großartig zu sein. Die Tollheit der
letzteren, teilweise anonymen Beispiele
kommt anderswo her. Aus einer Begegnung
zwischen Welt und Maschine, bei der das
Verrückte, Schöne oder Entsetzliche der
historischen Realität ganz klar und blitz­
lichthaft erscheint: blank gescheuert durch
die – oft ungewollte, unbeholfene, schein‑
bar gestaltlose, vom reinen Geschehen gebannte – Bedienung der Aufnahmeapparatur.
Dies wiederum gilt natürlich auch für die
Filme von Künstler/innen. In diesen schiebt
sich in die Begegnung von Welt und Maschine
eine zusätzliche Membran, und sie pulsiert
nach einem jeweils eigenen Beat, nach den
immer neu zu verhandelnden Gesetzen eines
anderen Landes. (Alejandro Bachmann, Sebastian
Höglinger, Alexander Horwath, Barbara Pichler,
Regina Schlagnitweit; Kurator/innen)
Ein anderes Land
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50 Jahre Filmmuseum
Programm 1
Ein anderes Land
Kino
Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 93 min
From the start, cinema has been at the
­centre of Austrian Film Museum’s curatorial
practice. This program presents some of the
ways in which filmmaking has considered
cinema itself – from its pre-history to its
inner beauty, from its economical and social
functions to the organization of a special
type of venue.
Das Kino – als sozialer Ort, als Architektur, als
technisch-ästhetischer Zusammenhang – ist
seit jeher der zentrale kuratorische
Ausgangs­punkt des Österreichischen Filmmuseums. Zur Ausstellung kommen nicht
Objekte, Materialien und Faksimiles, die vor,
nach oder parallel zu einem Film entstehen,
sondern vor allem die Filmwerke selbst:
Die Ausstellung ist ein Aufführungsakt. Umso
mehr, als das Kino selber schon genug über
sich erzählen kann. Einige dieser Erzählungen
versammelt das erste Programm: vom Jahrmarkt, dessen Erbe der Film teilweise antrat,
über die irritierende, jedenfalls aber zu
propagierende Neuheit „Kino“ im späten
19. Jahrhundert bis zu seiner Durchsetzung
als prägendes Massenmedium der Moderne.
Die Ertastung der libidinösen und materiellen
Beschaffenheit von Film und Kino durch die
forschende Jugend (ein Burgenlandkind im
Burgenland) geht über in die nicht unähnliche
Begeisterung des erwachsenen Filmkurators
222
für den Ort seiner Lust (ein Innviertlerkind in
New York). Dort oszilliert das Sichtbare im
Unsichtbaren, zwischen der Kargheit des
Beichtstuhls, der Anonymität der Peepshow
und den Schatten in der urmenschlichen
Höhle. (Alejandro Bachmann)
The Case of Lena Smith
Josef von Sternberg, US 1929, 35mm, s/w, 4 min
[Fragment]
Das einzige existierende Fragment dieses
klassischen „Wien-Films“ wurde 2003 vom
Historiker Komatsu Hiroshi in einem Laden in
China entdeckt. Die errettete Sequenz spielt
1895 im Prater, einem jener Orte, an dem sich
ältere Schaukünste in Kino verwandelten.
Sternbergs virtuelle Rückkehr in die Stadt
seiner Jugend besticht durch die Verschmelzung von Fin-de-Siècle-Sujets (Schnitzler,
Salten) und moderner Filmsprache: Montage
und Bildkomposition deuten den kaleidoskopischen Bilderrausch an, der für reale und
Kino gewordene Vergnügungsparks gleichermaßen kennzeichnend ist.
Entrée du cinématographe à Vienne
Cinématographe Lumière, FR 1896, 35mm, s/w, 1 min
Das Kino kommt nach Österreich – das hieß
1896: der Kinematograf. Die Apparatur der
Brüder Lumière zeichnet eine Minute auf der
Wiener Kärntner Straße auf. Im Hintergrund:
The Case of Lena Smith
Sammlung Österreichisches Filmmuseum, Kadervergrößerung: Georg Wasner
Werbung für das Kino. Im Vordergrund laufen
Leute vorbei, bleiben stehen und blicken uns
forschend über 118 Jahre hinweg an: im Kino.
Sophie und Johann Nehez, Direktor des
Zentralkinos Wien 16, wünschen Prosit!
Charly Chaplin in Wien
Sammlung Österreichisches Filmmuseum, Kadervergrößerung: Georg Wasner
Himmel oder Hölle
Wolfgang Murnberger, AT 1990, 16mm, Farbe, 72 min
Drehbuch Wolfgang Murnberger Kamera Fabian
Eder Darsteller Adi Murnberger, Fabian Weidinger,
Johannes Habeler
Kino ist auch: die Möglichkeit reproduzierter
Herzlichkeit. 1916 wünschen die Leiter des
Ottakringer Zentralkinos ihren Besucher/
innen ein fröhliches neues Jahr, immer wieder
und immer genau gleich, als Vorfilm in all
ihren Vorstellungen.
Wolfgang Murnbergers autobiografisch
gefärbtes Kinodebüt – und sein Abschlussfilm
an der Wiener Filmakademie. Das Aufwachsen
eines burgenländischen Buben als leicht­
füßiges, beängstigendes, enorm erfindungs­
reiches Kaleidoskop von Initiationsriten:
Momente zwischen Kino und Welt, Bildern
und Körpern.
Charly Chaplin in Wien
Apropos Film: Kubelka in New York
Selenophon Tonfilmschau Austria, AT 1931, 35mm,
s/w, 4 min
Helmuth Dimko & Peter Hajek, AT 1970, 16mm,
s/w, 11 min
Eine doppelte Sensation. Anlässlich der
Premiere von City Lights (1931) besucht
dessen Schöpfergott Österreich. Die damalige Wochenschau hält diesen Augenblick
eklatanter Massenhysterie auch akustisch
für die Nachwelt fest – mittels der in Wien
entwickelten „Selenophon“-Tontechnik.
Zum ersten Mal spricht Chaplin im Film.
1970 eröffnen die Anthology Film Archives
ihre eigene Spielstätte: das „Unsichtbare
Kino“ nach dem Konzept von Peter Kubelka.
Helmuth Dimko und Peter Hajek, Gestalter
des legendären, über Jahrzehnte ausgestrahlten TV-Magazins Apropos Film, besuchen
Kubelka zu diesem Anlass in New York.
Ein Stück Fernsehen, das noch die Größe
besaß, Menschen vor der Kamera Zeit zu
lassen, sich zu entfalten – selbst dann, wenn
sie sich (so wie Kubelka) in ihrer Arbeit genau
gegen dieses Medium richteten.
Anonym, AT 1916, 35mm, Farbe, 1 min
Mittwoch, 19. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1
Ein anderes Land
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50 Jahre Filmmuseum
Programm 2
Ein anderes Land
Nazis
Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 85 min
Eight documentary films focus on the theme
of National Socialism: Propaganda productions of National Socialist salvation and
identity collide with (at times retrospectively)
popular and ephemerally cinematic forms
of elucidation, critique and resistance.
Film und Kino sind imstande, Auskunft über
die Stimmungslagen einer Zeit zu geben;
ohne Frage auch dazu, Stimmungen zu leiten
und zu manipulieren. Wenn Archiv und (österreichisches) Kino also zum Themenkomplex
Nationalsozialismus befragt werden, muss
es sowohl um die propagandistischen Inszenierungen von NS-Heil und -Selbstverständnis gehen (ersichtlich beispielsweise am
Fall Eigruber) als auch um künstlerische,
populäre und ephemere Formen von Auf­
klärung, Kritik und Widerständigkeit. Diese
reichen von den Beobachtungen durch die
alliierten Befreier bis zu retrospektiven,
formal diversen Reflexionen von Alfred Kaiser
oder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.
Erst komplettiert durch diese Blicke aus
zeitlicher (und geografischer) Distanz ver­
mittelt sich das Bild einer totalitären Zeit,
die sich insbesondere in Wochenschauen
und Spielfilmen ständig selbst besah, ohne
sich dabei jemals wirklich wahrzunehmen.
(Sebastian Höglinger)
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Ein Drittes Reich
Alfred Kaiser, AT 1975, 16mm, s/w, 28 min
Ein Drittes Reich basiert auf Film- und
­Tonmaterial der NS-Reichsfilmindustrie,
teilweise sehr prominenten Propagandafilmen, aber auch relativ unbedeutenden „Kulturfilmen“ (…) Kaiser zerlegt die filmischen
Abläufe, bis das Material an seinen eigenen
Widersprüchen erstickt. (Bert Rebhandl)
Monson Collection: Vienna 1938
Lafayette P. Monson, US 1938, 35mm, Farbe, 1 min
Ein ephemeres Fundstück in Farbe: Auf einer
Besuchsreise im Sommer 1938 dokumentiert
der Arzt und Amateurfilmer Lafayette P.
­Monson die antisemitischen Schmierereien
auf den Wiener Geschäftsfassaden. Im
­omnipräsenten Rot der Hakenkreuzfahnen
vermittelt sich eine Atmosphäre von Ausgrenzung und Angst.
Ab 1. Juli rechts fahren!
Ostmark Wochenschau, DE 1938, 35mm, s/w, 2 min
„Volksgenossen, Verkehrsgemeinschaft ist
ein Stück nationalsozialistischer Volks­
gemeinschaft.“ Die „Ostmark-Wochenschau“
erläutert die Einführung der Rechtsfahr­
ordnung in Österreich. Ein skurriles wie auch
symbolträchtiges Dokument zum Anschluss
Österreichs an das Deutsche Reich.
Ein Drittes Reich
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Eigruber Audienz
Anonym, DE 1940, 16mm, s/w, 2 min
Audienz bei einem glühenden Nationalsozialisten der ersten Stunde, dem Reichsstatthalter
von Oberdonau und späteren Reichsverteidigungskommissar August Eigruber. Ein seltener
Einblick in den inneren Zirkel der Hitler-Getreuen. Ein rohes, gespenstisches Dokument
über Rangordnung und Selbstdarstellung.
Die Todesmühlen
Hanuš Burger, DE/US 1945, 35mm, s/w, 22 min
Der erste nach der Befreiung produzierte
Dokumentarfilm über die NS-Konzentrationslager. Die Kamera fokussiert ausgehungerte
Überlebende, Leichenberge und die erzwungene Lagerbesichtigung der Bevölkerung aus
der Umgebung. Ein Dokument der Fassungslosigkeit, ein Beleg des Massenmords.
Prozess Mauthausen:
Eigruber im Kreuzverhör
Welt im Film, DE/AT 1946, 35mm, s/w, 2 min
Im März 1946 wird August Eigruber im Mauthausen-Hauptprozess angeklagt und von
einem US-Gericht zum Tod durch den Strang
verurteilt. Selbst im Angesicht des Niedergangs und konfrontiert mit den eigenen Taten
bleibt der enge Hitler-Vertraute aufrecht in
These Are the Men
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
seiner Überzeugung, trotzt seine Haltung
jeglicher Einsicht und Reue.
These Are the Men
Alan Osbiston & Dylan Thomas, GB 1943, 35mm,
s/w, 12 min Idee Robert Neumann
„What men set men against men?“ Ein
Meer von ausgestreckten Händen beantwortet die Frage: the Nazis. „These are the men,
these are to blame.“ Über die Maschekseite
karikieren Robert Neumann, Alan Osbiston
und Dylan Thomas die Biografien der unantastbaren Nazi-Führungsriege und entlarven
den Wahnsinn des Totalitären mit den
Mitteln der filmischen Montage.
Einleitung zu Arnold Schoenbergs
Begleitmusik zu einer Lichtspielscene
Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, BRD 1973,
16mm, Farbe und s/w, 16 min Kamera Renato Berta
Darsteller/innen Günter Peter Straschek, Danièle
Huillet, Peter Nestler
Der Film folgt einer Vorahnung und ihrem
Verlauf, jener „Befürchtung“, die Arnold
Schönberg an Wassily Kandinsky schreiben
lässt, er fühle sich weder als Deutscher
noch als Europäer, „kaum als Mensch“: ein
Jude, ein Vaterlandsloser, ohne Aufenthaltsrecht, dem Schlimmsten ausgeliefert …
(Louis Séguin)
Donnerstag, 20. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1
Ein anderes Land
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50 Jahre Filmmuseum
Programm 3
Ein anderes Land
Unser Wien: Der Weg ins Freie
Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 96 min
The title says it all: five films, spanning
precisely one decade, convey post-war development, a longing for “modernity” in a variety
of forms, the fascination with newness and
the staying power of the old.
Der Titel ist hier Programm: Fünf Filme, die
genau eine Dekade umfassen, erzählen von
Nachkriegsentwicklungen, vom Wunsch nach
der „Moderne“ in unterschiedlichsten Aus­
formungen, von der Faszination des Neuen
und der Beharrungskraft des Alten. Kristallisationspunkt ist im wortwörtlichen Sinn Wien,
die Hauptstadt als Ort, der zum Fokus filmischer Imaginationen und Haltungen wird.
Im Zentrum steht Unser Wien, eine Ode auf
das moderne Wien des Jahres 1963, ein pervers-belustigendes Stück, in seinem Duktus
ein entlarvender Spiegel der Zeit. Darum
gruppiert finden sich Arbeiten, die sich gegen
diese filmgewordene Lobeshymne stellen,
die eine andere Geisteshaltung, andere filmische Bezugssysteme etablieren und die in
ihrer strengen formalen Struktur, im Spiel mit
Raum und Zeit, einen Reichtum anderer Bilder
dieser Stadt konstruieren. Auf paradoxe Weise
fügt auch die vom österreichischen Avantgardisten Ferry Radax in der Schweiz produzierte
Werbung nur eine weitere Perspektive auf
unser Wien hinzu – der Weg ins Freie als Weg
ins (Erwerbs-)Exil. (Barbara Pichler)
226
Tourist Everlight
Ferry Radax, CH 1957, 35mm, Farbe, 4 min
Can you imagine that …? Ein Werbefilm für
Everlight-Uhren, deren besondere Qualitäten
in einer Materialcollage angepriesen werden,
die nicht das Produkt, sondern die filmischspielerischen Ideen von Ferry Radax ins
Zentrum stellt.
Eine Fuge
Jörg Ortner, AT 1959, 35mm, s/w, 13 min
Ein Film eines Vergessenen der österreichischen Kunstfilmgeschichte. Untertitel:
­Aggressive Melancholie gegen eine Stadt.
Beide, Aggression und Melancholie, finden
sich zu gleichen Teilen in dieser dauernden,
manischen Bewegung durch Wien – immer
wieder Schaufenster, Verkehr, Straßenbahnfahrten, unterirdische Passagen, Menschenmassen. Tatsächlich ebenso ein Film über
wie ein Film gegen Wien.
Unser Wien
Hanns Matula, AT 1963/64, 35mm, Farbe und s/w,
49 min Darsteller/innen Heinz Conrads, Johanna
Matz, Peter Weck
Ein Flugzeug in der Warteschleife über
Schwechat und Heinz Conrads als Illusionist,
der den Insass/innen mit Erzählungen über
und Bildern von Wien die Zeit vertreibt.
Ein seltsames Werk zwischen liebevoller
p.r.a.t.e.r. © Ernst Schmidt jr.
Courtesy of sixpackfilm
Ode und schamlosem Werbefilm, das die
modernen Errungenschaften der Hauptstadt
ebenso preist, wie es sich ungehemmt schon
damals abgenudelter Klischees bedient.
Charme und charmanter Grant, Schönheit,
Heurigenseligkeit, der Walzer und das
Staatsopernballett gehören ebenso zu dieser
Melange wie das Industriegelände Liesing,
moderne Verkehrsplanung, sozialer Wohnbau
oder das zukünftige AKH. In schönster
Manier des Mainstream-Narrativs der Nachkriegszeit wird hier ein Heimatbild beschworen, das zu gleichen Teilen die Suggestion
der Erneuerung und eine beklemmende
Rückwärtsgewandtheit beschwört und dabei
die noch nicht allzu weit zurückliegende
Vergangenheit völlig ausblendet.
Hernals
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
nahmen und Lautgedichten Ernst Jandls“
(Ernst Schmidt jr.).
Hernals
Hans Scheugl, AT 1967, 35mm, Farbe, 11 min,
restaurierte Fassung 2014
In Hans Scheugls Hernals regiert die Struktur. Ausgangspunkte sind dokumentarische
Vorstadtbeobachtungen und eingestreute
inszenierte Szenen – zu bewundern sind
Peter Weibel und VALIE EXPORT als handgreifliches Paar. Aus der Zerstückelung von
Raum und Zeit, aus der Fragmentierung,
der Doppelung, der Wiederholung, die aber
doch nicht dasselbe bedeutet, entsteht eine
synthetische Wirklichkeit, wie sie nur im Film
möglich ist.
p.r.a.t.e.r.
Ernst Schmidt jr., AT 1963–1966, 16mm,
Farbe und s/w, 19 min
Ein Film über den Prater, ein Film über
die Menschen, die dort anzutreffen sind.
„Dokumentarische Aufnahmen des Praters
in verschiedenen Kamera- und Schnitttechniken; die Bilder sind zum Teil realistisch,
aber auch tachistisch aufgelöst. Im Ton eine
Collage aus realen Geräusch- und Musikauf-
Freitag, 21. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1
Ein anderes Land
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50 Jahre Filmmuseum
Programm 4
Ein anderes Land
Der Klang der Sprache des Films
Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 83 min
Via sounds, letters, and images the five films
in this program weave a double-breasted suit.
They indicate the “essential” qualities of the
medium itself (while happily foregoing one
or the other in the process). As a group, they
also suggest what “Austrianness” might mean.
At the same time, they negate this very idea
by emphasizing the constructedness of any
kind of “…ness” (national, mental, aesthetic).
Fünf österreichische Filme. Nicht deshalb,
weil sie in Österreich und von Österreicher/
innen gemacht sind, sondern weil sie etwas
zum Erklingen bringen – eine bestimmte Welt,
durch ein bestimmtes Medium: fragmentierte
Artikulation durch Sujets, Gesichter, Farben,
Töne, Zeichen, Landschaften, Sprechweisen,
die alle auch, oft unwillkürlich, über ein Land
erzählen. Und vielleicht auch über dessen
Filmkultur – eine gewisse Haltung zum Bild,
zur Montage, zur Sprache. Die Welt, die hier
erklingt und erscheint, wird nämlich nicht
als natürlich vorausgesetzt, sondern in ihrem
konstruierten Charakter gezeigt, in ihrer
Künstlichkeit erkannt. Die Fragilität all dieser
Bilder, die Instabilität und Veränderbarkeit
dieser (Kultur-)Konstruktionen, kommt am
Ende als Allegorie auf die Leinwand. Sie zeigt
sich an den materiellen Spuren der Zeit, die
(über ein knappes Jahrhundert hinweg) die
stummen, in magischen Farben schillernden
228
Berge und Täler Niederösterreichs langsam
zersetzt hat. (Alejandro Bachmann)
Franz Grimus
Michael Pilz, AT 1977, 16mm, Farbe, 46 min
Wenn man in der Geschichte zurückschaut,
sieht man, dass es kaum nennenswerte
glaubhafte Dokumente des Alltagslebens
einfacher Leute gibt. Der Film Franz Grimus
stellt den Versuch dar, diesen Mangel zu
beheben, aber auch den Mangel kinematografischer Qualitäten des Fernsehens.
(Michael Pilz, Juni 1997)
Wessen Aurach, dessen Traun
Arnold Schicker, AT 1985, 16mm, Farbe, 16 min
Musik Anton Bruckner, Maly Nagl, The Beach Boys
„Herausgekotzt, aber nicht hingekotzt“ sei
der Film, so Arnold Schicker. Bestandsaufnahme einer Gegend in schneidend präzisen,
mit Augen- und Ohrenzwinkern hergestellten
Ton-Bild-Scheren. Sie erzählen von Widersprüchen, Lappalien und Kleinkriegen am
Gartenzaun, von einer zu kleinen Welt, die
filmisch aufgesprengt zu neuer Größe findet.
Ägypten
Kathrin Resetarits, AT 1997, 16mm, s/w, 11 min
Wenn man nicht hören kann, werden „Talkies“
zu „Silents“ und die eigenen Artikulationen
zu expressiven Gesten der Gebärdensprache,
Franz Grimus
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Ägypten © Kathrin Resetarits
Courtesy of sixpackfilm
die an das Schauspiel des Stummfilms
erinnern. Kathrin Resetarits’ essayistischer
Dokumentarfilm über gehörlose Menschen
ist ein zärtlicher und genauer Kommentar
zum Verhältnis von Film und Sprache.
Text II
Marc Adrian, AT 1964, 35mm, s/w, 3 min
Beliebige Kombinationen von je zwei Buchstaben, die bei den Worten „Ja“ und „Du“
Töne erzeugen. Sprache nicht als Bedeutungsträgerin, sondern als zufälliges Nacheinander grafischer Elemente im Glücksspielmodus des Einarmigen Banditen.
Text II © Marc Adrian
Courtesy of sixpackfilm
Schrattenské údoli v Dolních Rakousích
(Schrattental in Niederösterreich)
Anonym, AT ca. 1915–1920, 35mm, Farbe, 7 min
Ein Aktualitätenfilm über den Ort Schrattental und seine Umgebung. Mittels digitaler
Technologien konnten die ausgebleichten
Farben der Ursprungskopie wiederhergestellt werden, die nie ein wahres Abbild
dieser Landschaft boten, aber den Versuch,
ihre Schönheit ins Filmische zu übersetzen.
Schrattenské údoli v Dolních Rakousích
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Samstag, 22. März, 11.30 Uhr, Schubertkino 1
Ein anderes Land
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50 Jahre Filmmuseum
Programm 5
Ein anderes Land
In Transit
Kurzfilmprogramm – Gesamtlänge 74 min
Nine films, representative of the Austrian Film
Museum, offer outward and inward perspectives under the theme of “Austrian cinema”,
and challenge the notion of national cinematography. It offers a vision of cinema as a transit country – such as through the facial expressions of expatriates, amateur filmmakers
and travelers – and teems with both real and
cinematic depictions of longing and escape.
Film impliziert Bewegung – von Bildern, Erinnerungen, Geschichte(n). Es sind die Rastund die Grenzenlosigkeit, die sich als Grundbedingungen des Kinos festmachen lassen
und die Idee einer nationalen Kinematografie
als widersprüchlich ausweisen. Exemplarisch
für die Sammlung des Österreichischen Filmmuseums fokussiert dieses Programm neun
Blicke von außen und nach außen, die sich
unter das Banner „österreichisches Kino“
stellen und dieses gleichwohl ad absurdum
führen: Blicke von französischen Städtepor­
trätisten, die das (Film-)Bild Wiens in die Welt
hinaustragen, von Jonas Mekas, der mit
Mozart im Kopf und Elvis vor Augen ebendahin
aufbricht, von Amateurfilmer/innen, Exilant/
innen und Reisenden. Durchdrungen von tatsächlichen wie filmischen Sehnsuchts- und
Fluchtbewegungen, erweist sich das Kino als
Transitland – Örtlichkeit als temporary thing.
(Sebastian Höglinger)
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Wien & Mozart
Jonas Mekas, US 2001, 35mm, Farbe, 1 min
1971 führt Jonas Mekas’ Rückweg von Litauen
nach New York auch über Wien, wo er Freunde
hat: Peter Kubelka, Hermann Nitsch u. a. ­
Die damals entstandenen Aufnahmen – filmisches Transitmaterial – blieben dreißig Jahre
lang unbearbeitet, bis sie anlässlich der Viennale 2001 in Mekas’ ureigenen, atemraubend
lebendigen „Wien-Film“ mündeten.
Elvis
Jonas Mekas, US 2001, 35mm, Farbe, 2 min
Ein litauischer Filmemacher, der US-amerikanische Rock ’n’ Roll-Gott, ein Wiener Walzer.
Jonas Mekas’ Aufnahme eines Elvis-Auftritts
im Madison Square Garden deliriert zum
Dreivierteltakt im original Schrammel-Sound.
Transitorische Durchdringung mit Hüftschwung: It feels so right.
Wien 1920
Anonym, FR/AT 1920, 35mm, s/w, 18 min [Ausschnitt]
Der Blick von außen. Für die „Archives de
la Planète“ fotografiert ein französisches
Filmteam der Société Albert Kahn die Straßen
Wiens: einen Trachtenumzug auf dem Rathausplatz, Menschenschlangen vor den
Geschäften am Naschmarkt … Alltagskultur
anno 1920.
Wien & Mozart
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Semiotic Ghosts
Sammlung Österreichisches Filmmuseum
Ausflughafen Schwechat
Sotiros (Alone)
Margret Veit, AT 1961, 8mm auf HD, s/w, 9 min, stumm
Robert Beavers, US/AT 1976/77, 16mm, Farbe, 11 min
1961, kurz nach Eröffnung des Flughafens
Wien-Schwechat, tummeln sich Menschen
mit Ferngläsern und Kameras auf dessen
Aussichtsterrassen. Unter ihnen: die Amateurfilmerin Margret Veit. Sie schneidet direkt
in der Kamera und fängt Bilder voller Fortschrittsfaszination, Sehnsucht und latenter
Science-Fiction ein. La Jetée auf ephemer.
Ein Dialog zwischen Film und Filmmacher,
entstanden während Robert Beavers’ langer
Rekonvaleszenz in der Steiermark. „Die
Schönheit der Arbeiten von Robert Beavers
gründet in der unbedingten Entschiedenheit,
persönliche Erfahrung mit ausschließlich
filmischen Mitteln und einer selbst entwickelten und zur Vollkommenheit gebrachten Filmschrift sinnfällig zu machen“ (Harry Tomicek).
Semiotic Ghosts
Lisl Ponger, AT 1991, 16mm, Farbe, 15 min
Behind This Soft Eclipse
Semiotic Ghosts ist kinematografische Erinnerung, visuelle Ethnografie und Reflexion
über das Fotografische. Mit assoziativen
Bildern und Klängen formuliert Lisl Ponger
Ahnungen einer Welt und montiert diese zur
sinnlichen Reise ins Dazwischen von Alltag,
Inszenierung und Illusion.
Eve Heller, US 2004, 16mm, s/w, 9 min
37/78 Tree again
Elegisch inszeniert schreibt sich die Landschaft Ontarios in die Materialität eines selbst
entwickelten High-Contrast-Films ein. Mit
poetisch getrübtem Kamerablick – über und
unter Wasser – folgt die Amerikanerin-Österreicherin Eve Heller den entschwundenen
Pfaden der Filmemacherin Marion McMahon.
Kurt Kren, AT/US 1978, 16mm, Farbe, 4 min
Temporary Thing
Kurt Krens erster Film im US-Exil: Einzelbildaufnahmen eines Baumes in Vermont, fotografiert auf einem abgelaufenen Infrarotfilm
über den Zeitraum von 50 Tagen. Witterung
und Lichtverhältnisse schillern „in einem der
schönsten Filme des Kinos“ (C. Huber).
Dietmar Brehm, AT 2014, Video, Farbe, 5 min
Von Linz-Mozartstraße in die Sehnsuchtswelt
der US-amerikanischen Popindustrie. Zu Lou
Reeds „Temporary Thing“ beschwört Dietmar
Brehm die Hypnotik der Vergänglichkeit: ein
Abschluss, grenzenlos in Raum und Zeit.
Samstag, 22. März, 18.00 Uhr, Schubertkino 1
Ein anderes Land
231

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