Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger

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Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger
Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger
“Carson McCullers ist in meinen Augen die bedeutendste Autor/in Amerikas, wenn nicht der
Welt. Ich habe in ihrem Werk eine Dichte und einen Adel des Geistes gefunden, wie es sie
seit Melville in unserer Prosa nicht mehr gegeben hat”, urteilt Tennessee Williams, einer ihrer
treusten Freunde. (Zitat bei FemBio) Ich habe bisher nichts von ihr gelesen und war erstaunt,
dass „Carson“ eine Frau ist und dass sie 23 alt war, als sie ihren Debutroman schrieb.
Schauplatz ist eine Stadt in Georgia im Süden der USA. Eine Hand voll Personen sind lose
miteinander verbunden, treffen sich, gehen auseinander, bleiben aber doch allein,
unverstanden. In ihrem Außenseiterleben sind sie typisch für Ort und Zeit, die meisten
Schwarze – McCullers nennt sie Neger, doch sind die sozialen Verhältnisse, auch wenn meist
an die Hautfarbe gekoppelt, entscheidender. Da ist der schwarze Arzt Benedict Copeland, der
sich bis zum Zusammenbruch für seine Patienten einsetzt, der Arbeiter Jake Blount, auch er
Weltverbesserer, der Wirt Biff Brannon, der Tag und Nacht sein kleines Restaurant betreibt
oder die allmählich erwachsen werdende Mick Kelly. Alle ahnen ein Ziel, haben eine vage
Vorstellung von einem Leben, das besser ist als ihres, müssen aber einsehen, dass es 1940 in
den Südstaaten keinen Weg dahin gibt.
Zentrale Person im Roman ist der taubstumme John Singer. John Singer verliert seinen
Partner und Freund Spiros Antonapoulos an eine Irrenanstalt. Seit er allein lebt, wird seine
Wohnung zum Treffpunkt, er, der Taubstumme, hat ein Ohr für die Probleme der anderen, sie
fühlen sich bei ihm daheim, verstanden.
Nun geschah es oft, daß Singer angesprochen wurde und seinen Spaziergang unterbrach. Er
lernte alle möglichen Leute kennen. Wenn ein Fremder ihn ansprach, überreichte er ihm seine
Karte, um sein Schweigen zu erklären. Nach und nach kannte man ihn in der ganzen Stadt. Er
ging sehr aufrecht, die Hände stets in den Taschen. Seinen grauen Augen schien nichts zu
entgehen, und sein Gesicht trug immer noch den friedlichen Ausdruck, den man meistens bei
sehr weisen oder sehr bekümmerten Menschen findet. Er ließ sich gern von jemand aufhalten,
dem an seiner Gesellschaft gelegen war. Denn letzten Endes hatte all sein Gehen und
Wandern keinerlei Ziel.
In dieser Zeit kamen in der Stadt manche Gerüchte über den Taubstummen auf. In früheren
Jahren war er mit Antonapoulos nur zur Arbeit und wieder nach Hause gegangen, sonst aber
immer mit seinem Freund zu Hause geblieben. Damals hatte sich niemand um sie gekümmert
– es sei denn, daß man wegen des dicken Griechen auf sie aufmerksam wurde. Der Singer
jener Jahre war in Vergessenheit geraten.
Nun gingen allerlei phantastische Gerüchte über den Taubstummen um. Die Juden hielten ihn
für einen Juden. Die Geschäftsleute von der Hauptstraße behaupteten, er hätte eine Erbschaft
gemacht und wäre sehr reich. In einer Textil-Gewerkschaft raunte man sich ehrfürchtig zu, er
wäre ein Beauftragter des Gewerkschaftsbundes. Ein einsamer Türke, der vor Jahren
irgendwie in die Stadt geraten war und mit seiner Familie im Hinterzimmer seines kleinen
Wäschegeschäftes ein trauriges Leben fristete, wollte seiner Frau einreden, der Taubstumme
wäre ein Türke. Wenn er türkisch spräche, verstünde ihn der Taubstumme, so meinte er. Bei
solchen Beteuerungen erwärmte sich seine Stimme, er vergaß, mit den Kindern zu zanken,
und war voller Pläne und Tatendrang. Ein alter Mann vom Lande wußte zu erzählen, der
Taubstumme stamme aus seiner Heimat, und sein Vater hätte die beste Tabakernte in der
Gegend. All dieses erzählte man sich von Singer.
Wichtiger aber: Der Roman bleibt nicht privat. Er befasst sich dezidiert mit den
Rassenproblemen im amerikanischen Süden, er zeigt die unterschiedlichen Vorstellungen, wie
man diese Verhältnisse verändern könnte. Jake Blount, der versoffene Revolutionär, prügelt
sich in seinem drängenden Aktionismus, der Arzt Copeland hält am Neujahrstag eine
marxistische “Predigt”, er hat seinen Sohn Karl Marx genannt. Sogar die Nachrichten aus
Nazi-Deutschland dringen nach Georgia und begleiten die Gespräche.
Es gibt aber in den 1940er Jahren nicht den Ansatz eines Happy-Ends. Singer erschießt sich
und Carson McCullers beschreibt das nüchtern, als würde sie alles im Leben kennen.
Eine Weile irrte er mit gesenktem Kopf durch die Straßen, aber die Sonnenglut und die
feuchte Schwüle machten ihn beklommen. Mit verschwollenen Augen und schmerzendem Kopf
kam er schließlich in seinem Zimmer an. Nachdem er sich ausgeruht hatte, trank er ein Glas
eisgekühlten Kaffee, dazu rauchte er eine Zigarette. Dann säuberte er Aschenbecher und
Glas, zog die Pistole aus der Tasche und Schoß sich eine Kugel ins Herz.
Copeland wird krank und danach zu seinen Enkeln aufs Land gebracht, Blount macht sich
davon, Mick Kelly, die immer von der Musik geträumt hat, wird Verkäuferin bei Woolworth.
Mick rieb sich mit der Faust die gerunzelte Stirn. So war das also. Die ganze Zeit hatte sie
eine Art Wut in sich. Nicht so eine Wut, wie man sie als Kind hat, die schnell wieder verraucht
– nein, eine andere Wut. Nur gab es eigentlich nichts, worüber man wütend sein konnte.
Höchstens das Geschäft. Aber dort hatte sie ja keiner darum gebeten, die Stellung anzunehmen. Also gab es wirklich nichts, worüber man wütend sein konnte. Ihr war, als hätte
man sie betrogen. Nur daß niemand sie betrogen hatte. Also konnte man auch seine Wut an
niemandem auslassen. Und dennoch – trotz alledem hatte sie dieses Gefühl: betrogen.
Aber vielleicht würde es mit dem Klavier klappen, und dann wäre alles in Ordnung. Vielleicht
war es ihr schon bald möglich. Denn sonst – wozu, zum Teufel, sollte das alles gewesen sein?
Daß sie so an der Musik hing? Und all die Pläne, die sie in der inneren Welt gemacht hatte?
Das alles mußte doch für irgend etwas dagewesen sein, wenn es einen Sinn haben sollte. Und
den mußte und mußte und mußte es haben. Ja, es hatte einen Sinn.
Na also!
O.K.
Einen Sinn.
1940
350 Seiten