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Tilman Rhode-Jüchtern
Die andere1 Intelligenz:
Kausalität oder Kontingenz?
(I) Mehr wissen, weniger weiter-wissen
Wir leben derzeit in einer sogenannten Zwischenzeit, in einer „Unordnung als
Signatur einer Epoche, unter dem offenen Himmel der Geschichte“, wie es Mathias
Greffrath (2006, 13-15) ausdrückt. Wir wissen in etwa, was war und was ist; zum
Beispiel kennen wir den Ausstoß von CO2 aus der Verbrennung von Kohlenstoff in
Automotoren und anderswo. Aber wir wissen nicht genau, was kommt, zum Beispiel
ein Anstieg des Meeresspiegels oder die Verschiebung des Golfstroms. Schlimmer
noch: „Je mehr wir wissen, desto weniger scheinen wir weiter-zu-wissen“ (von Mutius
2004, 12).
In einer aktuellen Schlagzeile zur Weltfinanzkrise wird ein Teil der Problemlage so
beschrieben: „Verloren in der Welt der Modelle. Ökonomen lernen im Studium zu viel
über Zahlen und zu wenig über Menschen – auch darum sind sie der Krise nicht
gewachsen“ (August Wilhelm Scheer, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.5.09)
Wir können also nicht mehr sagen: „Wir leben in einer Zeit des Wachstums“ oder
„des Übergangs von A nach B“, sondern – positiv ausgedrückt – in einer Zeit der
Bestandsaufnahmen und der Entscheidung über Optionen. Wie wir diese
Bestandsaufnahmen organisieren und wie wir über Entscheidungen entscheiden, ist
die alles entscheidende Frage. Vielleicht brauchen wir dafür eine andere Intelligenz,
andere Denkfiguren, andere Leitbegriffe als in der bisherigen Routine.
Ich möchte in diesem Vortrag nicht die Beobachtung der Welt neu erfinden, sondern
anknüpfen an den längst laufenden Diskurs. „Mehr Kapitalismus wagen“ verkündet
darin z.B. der CDU-Wirtschaftsanwalt Friedrich Merz in einem Buch, das im Oktober
2008, pünktlich zur großen Weltfinanzkrise erschienen ist. „Nach dem Bankrott“ ist
dagegen ein großes Interview mit Jürgen Habermas überschrieben (Die Zeit
46/2008, 53f); er kritisiert den Privatisierungswahn, die existenzgefährdende
Börsenspekulation, die verzerrte politische Kommunikation und beschwört die
Notwendigkeit einer neuen internationalen Weltordnung.
Zwei Hinsichten auf die Welt, die offensichtlich in grundverschiedenen Denkweisen
und Ordnungsbegriffen konstruiert werden. Wie wäre da noch Verständigung
möglich, zivilisierte Verständigung möglichst vor und nicht immer erst in oder nach
der Krise oder Katastrophe? Erlernte und erprobte Verständigung mit klaren und
wahren Prinzipien?
Ich hatte bereits gesagt, dass ich an einen laufenden Diskurs anknüpfen möchte.
Dieser ist u.a. ablesbar in einem Buch mit dem Titel „Glossar der Gegenwart“
(Bröckling et al. 2004), in dem Buch „Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken
1
Wenn man einen Schritt weiter gehen und sein eigenes Denken nicht nur nicht als „neu“, sondern auch nicht
als „anders“ bezeichnen will, kann man es mit Hartmut von Hentig halten: „Kreatives Denken ist in erster Linie
befreites Denken – nicht gehemmt von Furcht oder Routine oder perfektem Vorbild – es ist kein anderes
Denken.“ (Hentig 2000, 72) Befreites Denken ermöglicht zugleich in der Sache ein befreiendes Denken.
1
werden“ (von Mutius 2004) und in der neuen Reihe „edition unseld“ mit Titeln wie
„Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen“ oder „Das
Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft“ oder „Die Logik der
Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien“.
Diese Titel stehen nicht für einzelne neue Wissenszuwächse, sondern für Deutungen
und Antinomien, Es geht um Konzepte der Weltbeobachtung von „mittlerer
Reichweite“ und hoher strategischer Funktion, es geht um
„Deutungsschemata, mit denen die Menschen sich selbst und die Welt, in der sie
leben, interpretieren; normative Fluchtpunkte, auf die ihr Selbstverständnis und
Handeln geeicht sind; konkrete Verfahren, mit denen sie ihr Verhalten zu optimieren
suchen. (...) Sie präparieren die Antinomien gegenwärtiger Selbst- und
Sozialverhältnisse heraus und verbinden wissenschaftliche Analyse mit politischer
Diagnostik und Kritik.“ (editiorial des „Glossars der Gegenwart“)
Derartige gegenwärtige Leitbegriffe sind etwa Branding, Evaluation, Flexibilität,
Gender, Globalisierung, Governance, Kreativität, Nachhaltigkeit, Netzwerk,
Partizipation, Risiko, Synergie, Wellness und Wissen.
Zwei Hintergrundbegriffe tauchen in diesem Register allerdings nicht auf, nämlich
Kausalität und Kontingenz. Diese beiden Kategorien möchte ich mir heute
vornehmen.
Ich beginne mit einem Umweg über den Leitbegriff „Wissen“ (ebenfalls skizziert im
„Glossar der Gegenwart“). Wissen hat derzeit Konjunktur im Diskurs, es ist geradezu
eine gesellschaftliche Schlüsselkategorie geworden. Die „Wissensgesellschaft löst
die Industriegesellschaft ab“ (Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern
und Sachsen), „Wissen ist die ultimative Ressource des Unternehmens“ (eine
Unternehmensberaterin), „Die Zukunft gehört der Wissensgesellschaft“ (HeinrichBöll-Stiftung). Wissen wird dabei schwerlich als „wahre gerechtfertigte Überzeugung“,
als episteme im Sinne Platons verstanden; Wissen ist ganz unverhüllt eine
ökonomische Kategorie geworden. Und Wissen wird zur Macht, so wie es bisher das
Privateigentum an Produktionsmitteln war.
Also ist es wichtig zu klären, wer denn über die Wahrheit, Richtigkeit und
Wahrhaftigkeit des kommunizierten Wissens befindet. Das „herrschende Wissen“
zeigt schon die Richtung an, wenn wir an die kleinen und großen Fragen
zeitgenössischer „Menschenregierungskünste“ (Michel Foucault) denken, von der
Börse bis zum Atomausstieg. Experten geben ihr wissenschaftliches Wissen preis,
oftmals im Auftrag und gegen Honorar; Politiker machen daraus ihr eigenes Wissen
im Code der Politik; es gibt die Gegenexpertise sozialer Bewegungen und das
Laienwissen von Betroffenen. Wissen ist Medium gesellschaftlicher
Auseinandersetzung geworden, jedenfalls solange, wie dieses Medium noch
öffentlich sichtbar gehalten wird. Das Wissen der Informationsgesellschaft wird
dagegen immer mehr zum Geheimwissen, undurchschaubar zwischen Routine und
Missbrauch. Wissen wird nicht nur materiell gebraucht, sondern führt ebenso zur
Legitimation und zu neuer Macht und Herrschaft bis hin zum Kampf um etwas, was
man früher doxa nannte, bloße Meinung, neben dem auswählenden Interesse. Der
Kampf um Finanzsysteme, Energiezukünfte, quantitatives Wachstum wird jedenfalls
nicht nur als Kampf um fachliche Richtigkeit geführt.
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Neben diesen pragmatischen Dimensionen der Entstehung und Verwertung von
Wissen ist das bekannte Phänomen zu bedenken, dass auch die wissenschaftlichen
Wissensinhaber nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen kann. Sie kennen
sicherlich die Geschichte vom blinden Mann, der einen Elefanten beschreiben soll.
Je nach Erfahrung und Kontakt zum Elefanten wird er das Bein beschreiben, groß
und rau wie ein Baum, oder das Ohr, das sich anfühlt wie ein Fächer, oder den
Schwanz, der an ein Seil erinnert. Den ganzen Elefanten wird der Blinde ohnehin
nicht beschreiben können (Nicht-Blinde übrigens auch nicht, je nachdem ob sie
Mikrobiologen, Fotografen oder Veterinäre etc. sind).
Erkenntnis ist also eine Konstruktion zwischen Wissen und Interesse. Wie sonst
könnte man die Atomenergie einfach „umweltfreundlich“ nennen oder ein Elektroauto
ein „Nullemissionsauto“. Das funktioniert in der Werbung und in der Politik, wo man
um Mehrheiten „wirbt“, und es funktioniert nach einem ganz einfachen Trick. Der
Trick besteht darin, dass man bestimmte Systemgrenzen definiert, ohne sie
aufzudecken. Im Fall des „Nullenergieautos“ wird lediglich das Fahren mit einer
geladenen Batterie beobachtet; die Herstellung des Autos und des Stroms, die
gesamte Infrastruktur für das Autofahren und die gesamte Entsorgung bleiben außen
vor. Die Daimler AG verkündet derzeit in einer Kampagne mit dem Namen
„TrueBlueSolutions“ das Ziel einer „emissionsfreien Mobilität“. Das ist als Ziel nicht
ganz und gar falsch, aber es ist produktbezogen unvollständig und in der Wirkung
eine gefährliche halbe und illusionäre Wahrheit. Gefährlich deshalb, weil es als
ganze Wahrheit antritt.
„Emissionsfreies Auto“:
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Optik auf verschiedene Systeme und Systemumwelten
Wenn wir also in der spätindustriellen Gesellschaft von gesichertem Wissen
ausgehen müssen und wollen, um nicht auf fachlich-tönernen oder politischideologischen Füßen zu stehen, müssen wir uns um das Entstehen des Wissens und
den Umgang mit Wissen kümmern. Und das beginnt in der Schule.
In den neuen Bildungsstandards der Schulfächer in Deutschland ist ein eigener
Kompetenzbereich dafür ausgewiesen: Methoden und Erkenntnisgewinnung. Die
Schüler sollen also nicht einfach Methoden anwenden, um programmiertes Wissen
umzusetzen; sondern sie sollen Methoden als Weg zum Wissen und zu
Erkenntnissen reflektieren. Sie sollen beispielsweise nicht nur einen Durchschnitt
ausrechnen, sondern auch darüber nachdenken, was mit einem solchen Durchschnitt
ausgesagt werden kann. Sie sollen nicht nur beschreiben, was auf einer Karte notiert
ist, sondern auch darüber nachdenken, was auf dieser Karte nicht notiert ist. Sie
sollen bei einer Bildunterschrift nicht einfach zur Kenntnis nehmen, was dieses Bild
„ist“, sondern sie sollen die Botschaft der Unterschrift im Vergleich zum Bild kritisch
prüfen und ggf. alternative Deutungen in einer Unterschrift formulieren.
Im Folgenden will ich über diese beiden Pfade nachdenken. Der erste Pfad (II)
befasst sich mit dem sog. „systemischen“ Denken in Kontexten, der zweite Pfad (III)
befasst sich mit dem Denken in Alternativen. Am Ende (IV) komme ich zur
Diskussion über eine andere Intelligenz und woran man diese erkennt.
(II) Das „systemische“ Denken und das Denken in Kontexten
Es war ein Fortschritt, als man neben der reinen „Wissensvermittlung“ für den
Schulunterricht das Denken in Zusammenhängen von Ursache und Wirkung und in
Kontexten zum Metathema machte. Im Deutschunterricht war das etwa neben der
werkimmanenten Interpretation die Rezeptionsästhetik, in der die Wirkung eines
Textes auf den Leser beobachtet wurde; in der Geschichte war es z.B. die oral
history, in der man nicht mehr nur Daten und Strukturen, sondern auch deren
Bedeutung im alltäglichen sozialen Leben beobachtete; in den Naturwissenschaften
wurde auch über die Unmöglichkeit der Wertfreiheit und die Ethik geredet; in den
Fremdsprachen diskutierte man über das Lernen in Strukturen oder in der laufenden
Kommunikation und unterschied Kompetenz und Performanz als zwei Dimensionen
des Spracherwerbs; in der Geographie ging es nicht mehr nur um die Topographie
von Stadt/Land/ Fluss oder die Geofaktoren Boden/Wasser/Luft, sondern auch um
das alltägliche Geographie-Machen der Menschen in ihrer Gesellschaft, ihrer Umund Lebenswelt.
Man macht mit diesen Dimensionen das Fass der Komplexität auf. Diese soll aber
nicht das Verstehen unmöglich, sondern möglich machen. Sie muss deshalb
arrangiert und „reduziert“ werden. Paradigmatisch ist die Reduktion von Komplexität
z.B. als System im Sinne von Schaltplänen. „Wenn A, dann B“. So wollte man nicht
nur Lichtschalter verständlich machen, sondern auch den Naturhaushalt und ganze
Gesellschaften.
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Generationen von Schülern haben so z.B. den „Teufelskreis der Armut“ kennen und
auswendig gelernt . Schulbücher arbeiten noch heute mit solchen Bildern, nur dass
sie heute „concept maps“ heißen.
Die Folgerungen aus diesem linear-kausalen Denken scheinen überschaubar. Man
dreht an einer Stellgröße und löst damit eine bestimmte Wirkung aus. Nur leider
stimmt das nicht, weil Natur und Gesellschaft keinen solchen Schaltplan haben.
Sonst könnte man denken: Armut kommt vom Mangel an Geld, also gibt man
Entwicklungshilfe und die Armut ist an der Wurzel bekämpft ... Nein, das Geld fließt
womöglich ganz woanders hin und landet in einer Korruptionsschleife sehr schnell in
der Schweiz. Oder das Geld wird auf dem Fischmarkt konsumiert, anstatt davon eine
Angel anzuschaffen.
Gehen wir in die Sahara und besichtigen einen Brunnen, den eine deutsche
Entwicklungshilfeorganisation gespendet und gebaut hat. Diese hatte den
Wassermangel der Nomaden gesehen und wollte ihm abhelfen.
Dies ist ein Brunnen –
Ist es ein Brunnen?
(Foto: Rhode-Jüchtern)
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So kann man den Wassermangel und den Brunnen denken:
A+B=C
Wenn externe Einflussfaktoren dazu kommen, ist das Modell und seine Rechnung gestört.
Das Modell wird nicht nur schwieriger zu regeln,
sondern es kippt um in das Gegenteil seiner Bestimmung.
Wie konnte das passieren?
Ohne große Umwege können wir zu dem „System Sahelzone“ und dem Foto vom
„Saharabrunnen“ fünf typische Denkfallen benennen. Ich übernehme sie der
Einfachheit halber von einem Physiker und einem Politologen aus der „Society and
Technology Research Group“ der Daimler AG (Minx/ Preissler 2004, 257):
1. Unsere Wahrnehmung ist selektiv, notwendigerweise.
2. Die Auswahl von Informationen ist oft nicht durch die Sachlage bestimmt,
sondern durch Denkstrukturen. (Bevorzugung von erwünschten und
anschaulichen Informationen)
3. Zufällige und nicht-zufällige Ereignisse lassen sich kognitiv nur schwer
trennen. Zusammenhänge werden gesehen, wo es keine gibt, und sie werden
nicht erkannt, wenn sie nicht offensichtlich sind.
4. Nichtlineare Trends sind schwer einzuschätzen (Überbewertung von Trends,
Überschätzung der Stabilität bekannter Zustände)
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5. Erfahrung ist subjektiv. Verhalten wird fraglos als optimal interpretiert,
Reflexion und Kontrolle werden vernachlässigt.
Daraus erklären sich viele Übergangsprobleme von einem alten zu einem neuen
Denken (vgl. Minx/ Preissler 2004, 257).

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
Wir lernen nicht, andere Ideen und Standpunkte in die eigenen
Überlegungen einzubeziehen. Auch wenn wir in einem Boot sitzen,
sitzen wir nicht alle auf derselben Seite und tun nicht alle dasselbe. Ein
solches Boot wäre nämlich höchst instabil.
Komplexität ist nicht dasselbe wie das Übermaß von Phänomenen und
Wissen. Wir müssen Augenschein und Folgerungen unterscheiden,
dafür brauchen wir theoretische Konzepte.
Konzepte entstehen aus sinnstiftenden Erzählungen, in denen die
Vielfalt der Phänomene verstanden und der Raum für Interpretationen
geschaffen werden können. In diesen Erzählungen müssen auch die
sinntragenden Begriffe reflektiert werden.
(III) Denken in Alternativen
Wenn wir neu denken wollen, müssen wir uns zunächst das Suchfeld klar machen, in
dem wir zukünftige Entwicklungen erwarten und mitbestimmen wollen. Die
Automobilindustrie hat die Politik lange hingehalten mit nicht eingehaltenen
Selbstverpflichtungen; nun ist diese Strategie am Ende und das Suchfeld geht in
Richtung Energieeffizienz und Alternativen zur Auto-Mobilität. Damit verschiebt sich
der Fokus von der Technik zur sozialen Innovation. Wir können das nicht mehr „der“
Politik anvertrauen im Sinne einer Legitimation durch Institutionen und Verfahren
(Governement); wir müssen vielmehr eine formelle und informelle Konstruktion
entwickeln zu einem Governance-System. Wir müssen verstehen, dass systemische
Komplexität im Sinne einer technisch-ökonomischen Modellierung gefährlich sein
kann: Erstens, weil man sich an die alte Seh- und Denkweise gewöhnt hat, und
zweitens, weil die Ziele des Handelns nicht mehr einer allgemeinen Vernunft,
sondern der „Benchmark-Logik“ folgen. Die Verantwortlichkeit muss wieder von
Personen übernommen werden und zwar auch in der Funktionalität im System, nicht
außerhalb des Marktsystems. Auch der Kapitalismus braucht zur Vermeidung der
Selbstzerstörung einen neuen Geist (vgl. Boltanski/ Chiapello 2003), Kritik und neue
Ideen sind dabei die Ressource, nicht die Beschwörung des Immergleichen.
Ungewissheit ist keine Bedrohung, sondern eine Chance für Diskurs und tieferes
Nachdenken.
Anderes Denken braucht Diskurs, sonst bliebe es singulär. Stammtisch-Schlagworte
und scheinbar fraglose Sachzwänge sind dabei von gestern. Die Akzeptanz der
Möglichkeit von Alternativen und sozialutopische Erzählungen schaffen
Vorstellungen von Alternativen.
Begeben wir uns in ein Beispiel, das nicht gedanken-spielerisch, sondern existentiell
für das Überleben großer Teile der Weltbevölkerung ist, stellvertretend in der
Rätselfrage: „Warum leben im tropischen Regenwald des Amazonas fast keine
Menschen?“
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Vermutlich werden die meisten unter uns den Regenwald für einen Garten Eden
halten, den es deshalb und um der Sauerstoffproduktion willen unbedingt zu retten
gilt (womöglich noch gesponsert durch „Krombacher-Pils, ein Genuss“). Man könnte
also schon aus der bloßen Anschauung denken, dass hier ein artenreiches und
insgesamt äußerst üppiges Ökosystem besteht, das leicht auch viele Menschen
ernähren könnte.
Also: Wenn tropische Üppigkeit, dann Nahrung und Heilstoffe auch für viele
Menschen. Alles wächst wie von selbst, man muss nur noch ernten. Wenn A, dann
B.
Liegt hier ein Trugschluss, ein falsches Denken verborgen? Wo ist die Stelle, wo die
äußere Anschauung nicht mit der internen Funktionsweise des Systems zusammen
passt? Welche Randbedingungen setzen eine einfache natürliche kausale
Beziehung außer Kraft? Wo haben wir blinde Flecken und insofern falsch selektiert?
Hypothese 1: Wir unterstellen eine falsche Kausalität im natürlichen
Ökosystem.
Hypothese 2: Wir unterstellen eine ähnliche Funktionsweise natürlicher und
sozialer Systeme.
Jeder Schüler hat den Tropischen Regenwald „gelernt“; Bilder und/oder Schemata dazu
kennt jeder. Wenn man im Beispiel genauer hinsieht, wird man in der Legende eine Ziffer
vermissen, nämlich zur Einstrahlung der Sonne (= Energiezufuhr); aber vielleicht macht das
im Kreislauf/ System ja nichts aus (?).
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Im Unterschied zum natürlichen System erscheint die Tätigkeit des Menschen zerstörerisch:
Rodung und Siedlungen unterbrechen den Kreislauf bis zum Zusammenbruch.
Ist das zwangsläufig? Ist der Mensch nur ein Störfaktor? Und vor allem: Sind alle Menschen
und ihre Eingriffe gleich wirksam, die insulare Brandrodung für eine Indianersiedlung ebenso
wie die industrielle Ernte von Baumriesen, im Stoffkreislauf einerseits und in der Entnahme
aus dem Stoffkreislauf andererseits?
(Auffällig könnte sein, dass die Abnahme von abgestorbener Biomasse (= 2) bereits im noch intakten
Regenwald notiert wird – Ungenauigkeit des Zeichners oder weit reichende Wirkung der Eingriffe?
Vielleicht könnte man auch zwischen Transpiration (=6) und Niederschlag (= 10) einen
Zusammenhang zeichnen, ebenso zur erhöhten Verdunstung (=11)?)
Nun zur großen Frage, die wir im größeren Zusammenhang verstehen wollen. Wir
sehen im Regenwald eine Fülle von Lebensformen, eine Lebensvielfalt im Maximum,
an Land und im Meer. Aber die Menschen leben weitaus häufiger/dichter in den
gemäßigten und kalten Regionen der Erde. Wieso? (vgl. i.F. Reichholf 2008, 57-67)
Ursprünglich lebte im Amazonasbecken ein Indio auf zweieinhalb Quadratkilometern
des Regenwaldes, soviel wie Nomaden in der zentralen Sahara. In beiden
Großräumen sind diese Menschen zudem am Wasser konzentriert, am Ufer oder in
Oasen. Wüste ist klar, aber warum auch im Regenwald bei so viel Wasser und
angenehmem Klima zwischen 20 und 30°, und das fast ohne Jahreszeiten?
Eigentlich sollten wir doch in den Tropen ideal leben können!? Auch der innere
Stoffwechsel der Menschen bei uns ist doch tropisch orientiert; außerhalb der Tropen
machen wir die direkte Umwelt künstlich „tropisch“, d.h. möglichst gleichbleibend
warm und feucht.
In Amazonien lebten also vor der Kolonisierung rund zwei Millionen Indios auf fünf
Millionen Quadratkilometern (= 0,4 Ew/ km²), in Zentralafrika sind es 790 Menschen
pro hundert Quadratkilometer (= 7,9 Ew/ km²), in Indonesien 118 (= 118 Ew/Km²); in
Deutschland leben dagegen rund 230 Menschen auf einem Quadratkilometer, in den
Niederlanden mehr als 484. Irgendetwas muss also an den tropischen Regenwäldern
ungewöhnlich sein; es muss verstanden werden, dass in Afrika in der Wüste nahezu
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so viele Menschen wie im Regenwald leben, und dass es in Südamerika das kalte
Hochland der Anden war, das eine Hochkultur genährt hat
Die Zahlen sagen zunächst überraschend das Gegenteil des Schemas aus: Nicht:
„Je üppiger die Natur, desto mehr Lebensraum für Menschen“, sondern: „desto
weniger.“
Die Antwort findet sich dann, wenn man die tropischen Regenwälder nicht nach der
Erscheinung, sondern als Ökosystem betrachtet. Von der äußeren Anschauung der
Dinge zur Beobachtung als System: Alles könnte auch ganz anders sein.
Dieses Ökosystem ist extrem artenreich, die pflanzliche Biomasse pro Hektar beträgt
über 1000 Tonnen, das meiste davon ist Holz. Blätter und Epiphyten machen davon
nur ein paar hundert Tonnen aus. Das Holz ist schwer und hart, es wächst langsam.
Tiere sind extrem selten, außer Ameisen. Tiere bringen an Biomasse nur
zweihundert kg/ ha (= 0,5 t) auf die Waage, das sind 2 Promille, ein Zweitausendstel
der Pflanzenmasse. Im Vergleich: Die Savannen oder Grasländer tragen eine
Vegetation von 50 t/km², dazu immerhin 20 t/km² Tiere. Das ist im Verhältnis Tiere zu
Pflanzen unvergleichlich größer als im Regenwald.
Was sind die Gründe in der Brille der Ökosystemforschung? Der Amazonaswald hat
das ganze Jahr über 12 Stunden Sonnenenergie, mehr als 2000 mm Niederschlag,
tagaus-tagein. Aber die Bäume wachsen extrem langsam, sie sind sehr hart und sehr
schwer. Laub und Äste werden ohne Verzögerung aufgearbeitet und stehen als
Nährsalze wieder zur Verfügung; sie werden in der Symbiose sofort und ohne
Verluste aufgenommen. Sie gelangen erst gar nicht in das fließende Wasser; dieses
entspricht chemisch fast einem aqua destillata. Etwas an Nährstoffen kommt mit dem
Passat als Wüstenstaub über den Atlantik, davon nähren sich Aufsitzerpflanzen –
Orchideen, Bromelien, Farne – die „aus der Luft“ leben und dort im Niederschlag
Kalium, Phosphate und andere Mineralstoffe aufnehmen. Die Böden selbst tragen
zwar die Pflanzen, aber sie ernähren sie nicht.
Ergebnis erstens: Der amazonische Wald ist ein nahezu geschlossenes Ökosystem,
mit perfektem Recycling von Nährstoffen. Es erzeugt aber keine Überschüsse. Die
Biomasse nimmt kaum zu, sie wird nur immer wieder umgesetzt. Überraschend mag
es sein, dass ein Wald, der nicht mehr wächst, kein großer Sauerstofflieferant mehr
ist. Ausgewachsene Wälder sind im Gleichgewicht, sie erhalten sich über raschen
Umsatz ohne Überschuss. Tiere können hier kaum etwas holen. Die Vielfalt der Tiere
ist nur verständlich im Rahmen etwa der Verteilung von Samen und Früchten, nicht
aus Stoffkreisläufen und Energieumsätzen. Die Vielfalt betrifft die spezialisierten
Arten, aber nicht die Individuenzahl. Häufig auch an Zahl sind nur Ameisen und
Termiten. Aber auch sie sind im Ökosystem eher Destruenten als Konsumenten (im
Sinne von Entnehmern).
Ergebnis zweitens: Die meisten Pflanzen im zentralen Amazonas sind giftig oder
übelschmeckend. Sie werden also nicht verzehrt. Die ultra-tödlichen Jagdgifte der
Indios oder Pygmäen stammen aus Lianen oder Urwaldpflanzen. Die starke
Sonneneinstrahlung nötigt die ihr ausgesetzten Pflanzen, derbe und feste
Blattformen zu entwickeln wie sonst in Trockengebieten. Das Überangebot an
Strahlungsenergie bei knappen Mineralvorräten führt zum Aufbau komplexer
hochmolekularer Substanzen wie dicke und zähe Milchsaftformen, Phenole und
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Gerbstoffe. Bei uns kennen wir diesen Prozess aus dem Harz bei Nadelbäumen;
dieses Harz birgt die Energie, die mangels Nährsalzen nicht in Wachstum hinein
geleitet werden kann.
Beide Erklärungskomplexe zeigen, dass der amazonische Regenwald als ein sehr
gut funktionierendes geschlossenes System verstanden werden kann, das
keine/kaum Überschüsse erzeugt. Der Mangel an Mineralstoffen wird als
Minimumfaktor wirksam. Das „Gesetz vom Minimum“ (nach Justus von Liebig, 1840)
besagt, dass das Auftreten und die Häufigkeit einer Art in einem bestimmten
Lebensraum von demjenigen Nährstoff bestimmt wird, der für den Organismus
essentiell ist und dessen Gehalt im Mangelbereich (Minimum) liegt
(www.Umweltlexikon-online.de).
Der Mangel an Nährstoffen erklärt sich auch durch die immense Artenvielfalt und
deren Seltenheit; die meisten Arten sind zahlenmäßig so selten, dass sie andere
nicht dominieren und verdrängen. Mangel ist immer mit Artenvielfalt verbunden.
Überfluss dagegen begünstigt einige wenige Arten. Der Mangel an Wasser in der
Sahara hält die Zahl der Menschen niedrig und beschränkt sie auf die Oasen und
einige Nomaden mit der Kenntnis von Brunnen; das Vorkommen von Wasser
(Oasen, Wadis) dagegen begünstigt das Vorkommen von Menschen und einigen
wenigen Nutzpflanzen wie Dattelpalmen, Hirse, Obst.
Ein wenig günstiger für die menschliche Besiedlung ist der afrikanische Regenwald,
der Mineralien aus den ostafrikanischen Vulkanbergen und aus der Sahara bezieht.
Auch die höheren Zahlen auf den indonesischen Regenwald-Inseln hängen vom
Nachschub vulkanischer Mineralien ab. So ist etwa Java seit Jahrtausenden eine
Reisinsel, während in derselben Klima- und Vegetationszone Amazonien nahezu
jungfräulich ist.
Wenn der Regenwald gerodet und etwa die Nutzpflanze Soja gesät ist, zeigt sich,
wie mager der Boden wirklich ist. Es gibt keinen Humus, Nährstoffe lassen sich nicht
auf Vorrat einbringen.
Fazit: Der Augenschein vermittelt einen unzutreffenden Einruck, wenn man
oberflächig oder symptomatisch kausal denken würde; es wäre ökosystemisch
betrachtet eine falsche Kausalität. Der Aufbau einer produktiven Landwirtschaft
bedeutet den Aufbau von Ungleichgewichten, dies ist ein ökonomisch-technischsozialer Prozess nach eigenen Gesetzmäßigkeiten neben denen der „natürlichen“
Natur (nach: Reichholf 57-67).
Damit wären beide Hypothesen vorläufig bestätigt und das schafft uns einige und
erhebliche Probleme. Aber diese lassen sich jetzt lösen (oder vermeiden).
(IV) Altes und Neues Denken im Spiegel der Begrifflichkeiten
Wir kommen zum Schluss: Bereits die Sprache verrät uns viel über die Art der
Beobachtung und der Denkweise eines Menschen oder in einem Diskurs. Die einen
behaupten: „So ist es!“, während die anderen fragen: „Ist es so?“. Behauptung steht
gegenüber Frage, Triviales gegen Komplexes, Getrenntes gegen Verbundenes.
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Kategorien als Erkennungszeichen für Altes und Neues Denken (MUTIUS 2004,40f.)
Die Vokabelliste im Schema zur „Anderen Intelligenz“ zeigt uns dies auf einen Blick.
Wir können das Elektroauto oder den Regenwald betrachten als Objekt – dann ist es
so, wie es uns als objektive Eigenschaft erscheint: Das Auto erzeugt keine
Emissionen; der Regenwald ist eine üppige Landschaft. Oder: Wir betrachten etwas
in Beziehungen. Dann steht das Elektroauto in Beziehung zur Stromerzeugung an
anderer Stelle oder es steht in Beziehung zum Aufwand bei der Herstellung, beim
Betrieb, bei der Entsorgung; der Regenwald steht als Ökosystem in Beziehung zu
seinen Elementen und zu seiner Umwelt, z.B. dem Menschen/ der Gesellschaft.
Im alten Denken betrachten wir Dinge, im neuen Denken betrachten wir Prozesse. Im
alten Denken vertreten wir Meinungen, im neuen Denken tragen wir Beobachtungen
vor. Im alten Denken glauben wir an objektive Erkenntnis, im neuen Denken wissen
wir, dass Erkenntnis beobachterabhängig ist. Und so geht es weiter: Gesetze stehen
gegen Kontexte, Abbildung gegen Konstruktion, Eindeutigkeit gegen Ambivalenz.
Einfache Definition gegen doppelte Beschreibung, Entweder – Oder steht gegen
Sowohl – als – Auch.
Das Elektroauto erzeugt beim Fahren mit der vollen Batterie keine Emission; es ist
aber vollgepackt mit einem ökologischen Rucksack bei der Produktion, beim
sonstigen Betrieb und bei der Entsorgung. Der Regenwald ist sowohl maximal
fruchtbar als auch maximal unfruchtbar – je nach Art der Beobachtung und nach
Interesse des Beobachters.
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Das ist im Prinzip schon alles. Das gilt es zu verstehen.
Literatur:
Boltanski, Luc / Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. UVKVerlagsgesellschaft, Konstanz 2003
Bröckling, Ulrich/ Krasmann, Susanne/ Lemke, Thomas (Hrsg.)(2004): Glossar der
Gegenwart. (edition suhrkamp 2381) Frankfurt/M.
Egner, Heike (2008): Warum konnte das nicht verhindert werden? Über den
(Nicht)Zusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis und politischen
Entscheidungen. In: Felgentreff, C./ Glade, T. (Hg.): Naturrisiken und
Sozialkatastrophen. Spektrum Akademischer Verlag, München, 421-433
Greffrath, Mathias (2006): Montaigne heute. Leben in Zwischenzeiten. Diogenes,
Zürich
Habermas, Jürgen (2008): Nach dem Bankrott. Ein Interview über die Notwendigkeit
einer internationalen Weltordnung. In: Die Zeit 46/2008, 53f
Hentig, Hartmut von (2000): Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen
Begriff. Beltz Verlag, Weinheim - Basel
Minx, Eckard/ Preissler, Harald (2004): „Die Sonne geht nicht im Osten auf.“
Zukunftsfähiges Denken und verantwortliches Handeln. In: Mutius, B.v. (2004): Die
andere Intelligenz. Klett-Cotta, Stuttgart. S. 254-269
Mitchell, Sandra (2008): Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu
verstehen. (edition unseld 1). Frankfurt/M.
Mutius, Bernhard von (Hrsg.)(2004): Die andere Intelligenz – Wie wir morgen denken
werden. Klett-Cotta, Stuttgart
Reichholf, Josef H. (2008): Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft.
(edition unseld 5) Frankfurt/M.
Stiegler, Bernhard (2008): Die Logik der Sorge. Der Verlust der Aufklärung durch
Technik und Medien. (edition unseld 6) Frankfurt/M.
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