Alle Wetter!

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Alle Wetter!
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Christophorus 313
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Reise
Text
Elmar Brümmer
Fotografie
Tyler Larkin
Alle Wetter!
Vor der Westküste Kanadas liegt das nobelste Wetterhäuschen der Welt.
Rund um das Wickaninnish Inn auf Vancouver Island inszeniert die Natur spektakuläre
Schauspiele. Ein idealer Aussichtsposten für die Grenzgänger unter den Genießern.
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Lichte Momente: „The Wick“ ist ein Grenzposten zwischen
Zivilisation und Wildnis
Die Stammkundschaft schätzt das einmalige Naturschauspiel.
Nicht nur in stürmischen Zeiten lernt der Gast auf Vancouver Island
aus der sicheren Entfernung den Respekt vor Wind und Wellen.
Tofino ist jenes Fleckchen der nördlichen Hemisphäre, an
dem ausgewachsene Plasma-Bildschirme Minderwertigkeitskomplexe bekommen. Gegen die hier verbreitete Art
von Fernsehen, vom Fußboden bis zur Decke auf voller Zimmerbreite, gibt es keinen ernst zu nehmenden technischen
Gegner. Picture window nennen das die Nordamerikaner,
und wirklich – ein Bild von einem Fenster. Und das Programm erst: Discovery Channel ohne Sendepause. Gerade
läuft ein Naturfilm, der sich im Schnellvorlauf zum Spektakel
auswächst. Eben noch herrschte beste Florida-Stimmung
am Chesterman Beach, jetzt spielen tief hängende Wolkenschwaden San Francisco. Wo kamen die bloß so schnell her?
Meteorologie à la Dr. Jekyll and Mr. Hyde.
Das Wickaninnish Inn ist ein Wetterhäuschen der ganz besonderen Art. Es lebt mit diesen Kapriolen, es lebt von ihnen,
es lebt durch sie. Unter den Naturfreunden trägt das Luxushotel in der Wildnis den Ehrentitel „Stormwatchers Inn“. Im
Winter, wenn sich der Pazifik austobt, schätzt die Stammkundschaft das einmalige Naturschauspiel – aus der sicheren
Entfernung. Nicht nur in stürmischen Zeiten lernt der Gast
hier den Respekt vor Wind und Wellen, vorzugsweise von
ruhigeren Gewässern aus: in einer der geräumigen Badewannen mit Meerblick. In dem Moment, als die Schaumkronen
(drinnen) mit der Gischt (draußen) um die Wette schwappen, stellt sich dem Reporter die Gewissensfrage: Darf man
solche Orte überhaupt preisgeben? Aus der Indianersprache
stammt der Begriff, der der Herberge auf dem der Westküste Kanadas vorgelagerten Inselfinger seinen Namen gibt:
Wickaninnish ist das Wort für „Niemanden mehr vor seinem
Kanu haben“. Eine malerische Umschreibung für „schöne
Aussichten“.
Vancouver Island ist ein Stück Regenwald, das an der Pazifik-Kante angelandet ist. Von Klima und Vegetation her
gesehen scheint es direkt aus Südostasien angeschwemmt
worden zu sein. Wald und Wasser, das sind die einzigen
direkten Nachbarn des „Wicks“, wie das Hotel von seinen
Liebhabern abgekürzt wird. Feucht und grün sind die Zedern-Wälder, die sich meilenweit in alle Richtungen erstrecken. Selbst mittags und an sonnigen Tagen benetzt der
Tau noch die Wanderer. Ein Mikro-Klima, das von Strand
zu Strand wechselt.
„Das Wetter gehört zu unseren Attraktionen“, weiß Hausherr Charles McDiarmid, „und zu den Erfahrungen, die die
Gäste nicht missen wollen. Jede Jahreszeit hat hier ihren
eigenen Reiz. Wer in den wilden Monaten kommt, der sucht
genau dieses Erlebnis.“ Gelbes Ölzeug hängt im Kleiderschrank wie andernorts der Schuhlöffel. Provoziert diese
Ausrüstung das Wetter? Wer einen Appetitanreger für ein
natürliches Abenteuer sucht, der kann sich auf einen Dschungel-Lehrpfad begeben, der am Hotelparkplatz beginnt. Er
lernt in einem Viertelstündchen Huckleberry-Sträucher,
Reh-Farne und Rote Zedern mit einer Haut aus immergrünem Moos kennen. Den Touren sind in Länge und Schwierigkeitsgrad keine Grenzen gesetzt. Wer einen guten Guide
erwischt, erlebt Weißkopfadler und Bären beim Lachsfang.
Der Pacific Rim National Park verfügt über die dichteste
Schwarzbärenpopulation des Staates, auch die der Lachse
ist ansehnlich.
Wenn der Hunger nach Natur fürs Erste gestillt ist, kommt
der Appetit. Oben auf der Klippe, wo das vielfach ausgezeichnete Pointe Restaurant den Hotelslogan von der „rustikalen Eleganz“ in kulinarische Finessen übersetzt, wird an
Abenden mit starker Brandung zum Dinner das Dach geöffnet. Zehn bis zwölf Fuß schwappen die Wellen hoch, direkt
bis unter den Pavillon auf der Klippe. Der erstaunte und faszinierte Gast glaubt sich auf der Brücke eines Schiffs auf A
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Informationen
The Wickaninnish Inn, Osprey Lane at Chesterman Beach,
P.O. Box 250, Tofino, British Columbia, V0R 2Z0, Canada
Telefon: 001-250-725-3100
Telefax: 001-250-725-3110
E-Mail: [email protected], Internet: www.wickinn.com
Das Hotel, das zum Verbund von Relais & Châteaux zählt,
verfügt über 75 Gästezimmer und Suiten. Je nach Jahreszeit
und Zimmer kostet die Übernachtung pro Zimmer
zwischen 220 und 820 Kanadische Dollar. Es werden zahlreiche Specials angeboten. Auf dem Hotelgelände liegt
das Ancient Cedars Spa.
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B R I T I S H
Port Hardy
PAZIFISCHER
Vancouver
Island
OZEAN
Clayoquot
Sound
C O L U M B I A
Whistler
Courtenay
Pt. Alberni
Tofino
Pacific
Rim
National
Park
Vancouver
Nanaimo
Victoria
0
200 km
Seattle
Grafik: RWS
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Anreise: Von Vancouver aus verkehren Fähren an die Ostküste von Vancouver Island. Vom Hafen Nanaimo aus
dauert die Überquerung der Insel mit dem Auto etwa drei
Stunden, von Victoria aus etwa 4,5 Stunden bis nach
Tofino. Regelmäßige Flugverbindungen gibt es von Vancouver aus, zum Beispiel mit Regency Air.
Telefon: 001-604-278-1608
Nützliche Websites:
www.pacificrim-visitor.com, www.pacificrimtourism.ca,
www.tofino-bc.com, www.vancouverisland.com
Schwimm-Flügel: Wasser ist das in jeder Hinsicht
bestimmende Element von Vancouver Island
Aussichtsreich: Die Zimmer im Wickaninnish Inn liefern ein
(Ent-)Spannungsfeld zwischen Bett und Bad
Tofino – Tokio: Gegenüber von Chesterman Beach auf der
anderen Seite des Ozeans liegt Japan
hoher See zu befinden. Manchmal schießt die Gischt sogar
wie ein Geysir an den Panoramascheiben hoch. Alles so rau
hier, und doch so geschützt. Der Trommelwirbel der Wellen
wird durch Opernmusik untermalt. Fraglos kann nur Wagner diesen Takt halten, das Bühnenbild besorgt der Sternenhimmel. Das Wickaninnish Inn ist eine Grenzstation, Heimat
für Grenzgänger zwischen Zivilisation und Wildnis. Menschen, die zur Ruhe kommen wollen, trotz des gigantischen
Crescendos.
umstößlichen Thesen seiner Nobelherberge. Und er weiß,
dass er damit das Innere der Menschen nach außen bringt.
Oberflächliche Betrachtungsweisen haben hier nur in einer
Hinsicht ihre Berechtigung: wenn es um die Oberflächen der
verwendeten Materialien geht, die durchweg ökologisch
sind. Wohlfühlen hat mit fühlen zu tun. Identität ist dem
Hotelier wichtig, Authentizität auch. Das eine geht nicht
ohne das andere.
Der Ruf der Wildnis hilft dem Reisenden, die fünf Stunden
Anreisezeit von Vancouver aus mit der Fähre und dem Auto
zu überbrücken. Die Zivilisation ist plötzlich weit weg, nicht
mehr in Kilometern oder Stunden zu messen. Schon die satte
Buckellandschaft, wie vom Hausgärtner Tolkiens gestaltet,
signalisiert: Dieser Platz ist ein besonderer. Fantasieren gehört hier zum Alltag. Man kann sich darin verlieren, und
dadurch zu sich finden. „Wir bringen das Draußen nach
drinnen“, zitiert Hotelier Charles McDiarmid eine der un-
Auch wenn gerade Ebbe ist, gibt es eine klare Anweisung
für alle, die auf der am Strand freigelegten Klippenlandschaft klettern oder weit hinausschwimmen wollen: „Ist es
sicher?“„Nie!“ Wieder was gelernt, immer wieder Respekt.
Aber die Gedanken, die dürfen ohne Angst vor der mächtigen Strömung treiben, in der sich im Frühjahr Buckelwale
tummeln, die durch den Clayoquot Sound Richtung Beringstraße ziehen. Das Salzwasser, das es aus den Mulden zwischen den Steinbergen am Strand nicht rechtzeitig zurück
ins Meer geschafft hat, bringt Farbe in den Nachmittag. Die
so genannten tidepools blühen auf – durch weiße Salzpilze,
grüne Seeanemonen, orangene Seesterne. Dann kommt der
Nebel. Das Schemenhafte verstärkt den natürlichen Zauber.
Treibholz wird angeschwemmt, das diesen Namen auch verdient: nicht Stöckchen oder Bretter, sondern Stämme.Wer
bis jetzt auf dem Deckchair gedöst hat, muss jetzt runter an
den Strand. Auf halbem Weg fällt einem ein, dass vor lauter
Begeisterung der Schlüssel im Zimmer zurückgeblieben ist.
Chris, der Concierge, lächelt milde: „Das passiert hier ständig.“ Sturm- und Drangzeit für Städter. Chris hat größtes
Verständnis: Vor dreieinhalb Jahren kam er aus dem Staat
New York auf Besuch nach Vancouver Island, er kehrte nur
noch einmal dorthin zurück – um seine Sachen zu holen.
Zurück im Trockenen, die steife Brise aus Südwest ist nur
noch ein akustisch sanftes Pfeifen, kommt der ganze Komfort
des Aussichtspostens zum Tragen. Rechts von der Fensterfront der Kamin, links der Ohrensessel. Der Philosoph Blaise
Pascal hätte seine Freude an der temporären Einsiedelei,
bestand doch für ihn das ganze Unglück des Menschen in
seiner Unfähigkeit, in Ruhe in seinem Zimmer zu bleiben.
Auf dem Sims ein Fernglas mit Profikaliber, und ein Album
mit rauer Oberfläche. Die CD-Auswahl auf dem linken
Nachttisch ist perfekt auf die Situation abgestimmt – Easy
Jazz, Liebeslieder, Arien und der Tanz der Meerjungfrauen.
Auf dem rechten Schränkchen liegt Sebastian Jungers Bestseller vom „Perfekten Sturm“. Doch das Album mit seinem
dicken Deckel duldet einstweilen keine Literatur neben sich:
Wie viele Hotels mit Gästebuch für jedes Zimmer gibt es?
Auch das gibt der Suite Charakter, es enthält mehr als bloße
Danksagungen, auch wenn die Magie des Ortes auf beinahe
jeder zweiten Seite beschworen wird. Aber sie wirkt auf jeden
anders. Ein General Sheang Shiu teilt militärisch korrekt mit,
dass er die Zeit abseits seiner Pflicht sehr genossen hat. Er
werde zurückkommen. In friedlicher Mission, ist doch zu
hoffen.
Charles McDiarmid liebt sein Leben on the rocks. 13 Jahre
lang hat er erstklassige Hotels für „Four Seasons“ in aller
Welt geführt, ehe es ihn mit aller Macht zurück in seinen Heimatort zog. Es war in Dallas, Texas, als er merkte, wie sehr
ihm das Meer fehlte, mit dem er aufgewachsen war. Der feine
Mann bezeichnet es poetischer: „Dem Ruf des Ozeans kann
man sich nicht entziehen.“ Eindringlich muss es ihm eine Vision geflüstert haben. So entstand auf dem elterlichen Grundstück ein Hotel nach seinen Vorstellungen. Vater Howard,
der pensionierte Landarzt, und Bruder Bob, der Handwerker, trugen das Projekt nicht nur ideell mit.
Der neue Tag beginnt mit einem „Coastal Kiss“, der auf der
Breakfast-Karte als Frühaufstehergetränk ausgewiesen ist:
Champagner, Merlot-Eiswein, Passionsfrucht. Die Weine
hier haben es ohnehin gut: „Wir lassen sie die beste Luft auf
diesem Planeten atmen“, befindet McDiarmid. Vorzüglich
lässt sich das Prinzip von Küche, Keller und Hotel inhalieren:
„Das Beste, was die Menschen hervorbringen, mit dem Besten von Mutter Natur kombinieren.“
Auf dem Tisch liegt die „Tofino Time“, Untertitel: Halbe
B
Geschwindigkeit, doppeltes Vergnügen.