Friedrich Dürrenmatt: Justiz

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Friedrich Dürrenmatt: Justiz
Univerzita Karlova v Praze
WiSe 2012/13
19.Dezember 2012
Seminar: Deutschsprachige Literatur nach 1968
Dozent: Dr. Milan Tvrdik
Referenten: Marrine Tourret, Emma Gallitre, Laura Volk, Lorna Stephen, Laura Heppeler,
Yasemin Yilmaz, Charlotte Sarrazin
Friedrich Dürrenmatt: Justiz
Zum Inhalt des Buches:
Am Anfang des Buches erklärt der Erzähler – Felix Spät – dass er die Absicht hat, den Kantonsrat
Dr.h.c. Isaak Kohler zu erschießen und dann sich selbst zu töten. Aber er schafft es nicht. Alles, das
diesem Anfang folgt, ist eigentlich eine Begründung dieses gescheiterten vorsätzlichen Mordes.
Im ersten Teil geht es um die Begegnung Späts mit dem Dr. Kohler in der Welt der reichbegüterten
Gesellschaft der Schweiz der 50. Jahre“. Dort spielt Kohler Billard mit zwei anderen Bürgern – Dr.
Benno und Professor Winter.
Drei Jahre nach dieser Begegnung, erschießt Kohler den Professor Winter im Restaurant „Du Théâtre“
vor eine Menge Zeugen. Da er wahrscheinlich kein Motiv hat und die Waffe verschwunden ist, wird
dieser Mord unverständlich und fast unmöglich. Dr. Kohler ist verurteilt, 20 Jahren im Zuchthaus zu
verbringen. Es ist komisch, dass er dabei immer ganz ruhig bleibt.
Kohler schlägt Spät einen Auftrag vor: Spät soll sich vorstellen, dass Kohler nicht schuldig sei und
einen anderen Mörder suchen. Spät, der in einer schwierigen finanziellen Situation steht, akzeptiert.
Spät beginnt zu untersuchen, und dadurch begegnet er Dr. Benno, seiner Freundin Daphne Müller, die
sich als die behinderte Multimillionärin Monika Steiermann ausgibt. Fast niemand weiß, dass Daphne
für die Steiermann arbeitet, und Monikas Leben in Vertretung lebt. Spät entdeckt, dass Benno ein
Motiv hat.
Diese Entdeckung führt zu einem Revisionsprozess. Aber Benno erhängt sich und Kohler wird
freigesprochen. Weil er weiß, dass Kohler trotzdem schuldig ist, entscheidet Spät sich Selbstjustiz zu
üben und Kohler zu ermorden.
Der Roman endet mit einem Nachwort des Herausgebers. Er erklärt was Spät und Kohler dreißig Jahre
später machen werden, und gibt die Lösung des Mordes. Eigentlich hatte Kohler ein Motiv: seine
Tochter Hélène zu rächen. Sie wurde nämlich von Winter, Daphne Müller und Dr. Benno mit Monika
Steiermanns Mitschuld vergewaltigt. Am Ende des Romans sind die vier Angreifer ermordet.
Zur Personenkonstellation:
In diesen Detektivroman gibt es viele Figuren, die alle in Beziehung sind und eine gesellschaftliche
Konstellation bilden. Hier sind die Hauptfiguren:
Felix Spät
Er ist der Erzähler.
Als er Kohler zum ersten Mal begegnet ist er ein junger Rechtsanwalt, der für den Staranwalt StüssiLeupin arbeitet. Späts Ideal ist die Justiz als wirkliche Gerechtigkeit. Aber die Wirklichkeit entfernt
ihn von diesem Ideal, die er schließlich verrät, als er Kohlers Auftrag akzeptiert. Den ganzen Roman
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lang hat er Geldsorgen, er wird Alkoholiker und verkehrt im Prostituierten-Milieu. Er verliebt sich in
dieTochter Kohlers, Hélène, was die Situation immer komplizierter für ihn macht.
Er verkauft seine Untersuchung an Stüssi-Leupin, was zum Revisionsprozess führt. Er ist von der
Gerechtigkeit beherrscht, und als Kohler wieder frei ist, will er sie wiederherzustellen. Er scheitert,
und endet als Dorfanwalt.
Dr.h.c. Isaak Kohler
Er ist ein sehr reicher und wichtiger Bürger, ein Kantonsrat der Stadt Zürich. Er ist sehr bekannt und
sehr . Er hat Billard als eine Leidenschaft und dieses Spiel beeinflusst seine Betrachtung der Welt: er
ist ein Rechner. Er ermordet Winter kaltblütig und bleibt sehr ruhig, selbst als er im Gefängnis steht.
Dort ist er selbst glücklich, was sehr komisch für alle scheint.
Kohler vergleicht die Gesellschaft mit einer Billardpartie: er ist der Spieler und die Kugeln können
Menschen sein. Nach seiner Freisetzung flieht er im Ausland und schickt er Spät viele Briefe.
Am Ende ist er hundertjährig und ziemlich erfolgreich. Er erzählt stolz seinen Mörder zu dem
Herausgeber, ohne die echten Motive zu präzisieren.
Hélène Kohler
Sie ist Isaak Kohlers Tochter und auch der Motiv Winters Mordes. Sie ist mitschuldig, denn sie hat die
Waffe verschwinden lassen, was Spät entdeckt hat. Sie sagt immer, dass ihr Vater unschuldig ist,
selbst wenn sie eigentlich weiß, dass er der Mörder war.
Am Ende des Romans, erklärt sie dem Herausgeber die Wahrheit: ihre Vergewaltigung und die Rache
seines Vaters.
Monika Steiermann
Sie stammt aus einer reichen Familie, aber ist behindert. Sie ist eine Zwergin. Sie lebt versteckt und
zahlt eine Frau – Daphne Müller – damit sie ihr Leben in der Gesellschaft führt. Sie ist mit Dr. Benno
verlobt, der sie durch Daphne begegnet hat. Als Daphne nicht mehr für sie arbeiten will, entdeckt die
ganze Stadt ihre richtige Identität. Das führt zum Skandal.
Als sie mitschuldig für Hélènes Vergewaltigung ist, wird sie auch ermordet Jahre später.
Daphne Müller
Die ist eine Frau aus niedriger Herkunft, die für Monika Steiermann arbeitet. Sie ist auch Winters
Tochter.
Sie ist eine Verführerin und hat viele Liebhaber. Sie wird auf unerklärlicher Weise umgebracht. Am
Ende versteht man, dass es gemäß Kohlers Plan war.
Dr. Benno
Er hat auch an Hélènes Vergewaltigung teilgenommen. Spät entdeckt, dass er ein Motiv hat, Winter zu
töten: er hat ein großen Teil Monikas Vermögen verspielt, was Winter wusste. Während des
Revisionsprozesses wird er vor allen als schuldig betrachtet, er flieht und erhängt sich schließlich.
Dann ist die ganze Stadt sicher, dass er der Mörder war.
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Stüssi-Leupin
Er ist der Staranwalt der Stadt. Spät verachtet seine Konzeption der Justiz. Er führt den
Revisionsprozess um Kohler freizusprechen, und dazu Prestige zu bekommen.
Darstellung:
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Die erzählte Zeit umfasst insgesamt mehrere Jahre (ca. 30-40)
Insgesamt wird raffend berichtet es finden jedoch Zeitsprünge und Pausen innerhalb der
Erzählung statt.
der Leser erhält eine Mitsicht der Geschehnisse (erst Spät, dann Dürrenmatt)
Es wird intradiegetisch erzählt, da die eigentlich Handlung (Dürrenmatts Bericht) die
Binnenhandlung von Späts Bericht enthält, es befindet sich also eine Erzählung innerhalb der
eigentlichen Erzählung.
Themen des Romans:
Frage nach dem unzuverlässigen Erzähler:
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Spät erscheint als unzuverlässiger Erzähler
Dürrenmatt greift im dritten Teil als eigentlicher Erzähler in die Romanhandlung ein
dadurch keine Sicherheit für den Leser: was genau ist wirklich Teil der Handlung?
Die Erzählung als Spiel/ Farce
Das Thema der Literatur an sich/ Funktion von Literatur:
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Frage nach der Funktion von Literatur an sich
Spät kritisiert seine eigene Schreibweise
Kohlers Auftrag: die Möglichkeit, dass dieser nicht der Mörder Winters war durchzuspielen
→ Literatur als Gedankenspiel, eine Variation einer möglichen Wirklichkeit
Kohler: „Das Mögliche ist beinahe unendlich, das Wirkliche streng begrenzt, weil doch nur
eine von allen Möglichkeiten zur Wirklichkeit werden kann. Das Wirkliche ist nur ein
Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar. Daraus folgt, dass wir das
Wirkliche umzudenken haben, um ins Mögliche vorzustoßen.“
Kohler testet die Grenzen der Wirklichkeit mit seinem Gedankenexperiment aus
Das Spiel – Billiard:
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Thema Billard innerhalb des Romans spielt immer wieder eine Rolle
Handlung in welche Spät verstrickt wird erscheint insgesamt als ein ausgeklügeltes Spiel,
ähnlich einer Billard-Partie
Kohler lässt ihn teilnehmen, da Spät wie er selber des öfteren bemerkt „keine Ahnung vom
Billard“ hat
Kohler als der Meisterpieler
à la bande öfter fallender Begriff → Die Art wie Kohler indirekt seine Gegner ausschaltet
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Justiz ein Detektivroman?
Unterscheidung
Kriminalroman: Schilderung eine Verbrechens, chronologisch - Gelingt das Verbrechen?
Detektivroman: Aufklärung eines Verbrechens, analytisch - Wer ist der Täter?
Der Detektiv
armchair detective: hauptsächlich geistige, intellektuelle Leistung; diszipliniert, gefestigt
hard- boiled man: körperliche Gewalt, muss aber auch einstecken. Versucht Erniedrigungen und
Missbrauch mit Hilfe erhöhten Alkoholkonsums zu kompensieren. Nicht ausschließlich Aufklärer des
Falls. Sondern auch Vertreter einer herrschenden Moral; Rächer
Spät passt in gewisser Weise zum Typus des hard- boiled man:
⁃
muss körperliche Gewalt einstecken, auch wenn er sie selbst nicht einsetzt.
⁃
Alkoholkonsum
⁃
Sein Ziel: Aufklärung des Falles + Versuch mit Kohler abzurechnen als moralische Aufgabe
⁃
Verstrickung in seinen Fall, Kampf gegen gesamte Umwelt: Justiz, Polizei, machtbesitzende
Züricher Gesellschaft
Seine Methoden: gattungskonform: Zeugenbefragung, Suche nach Motiv, Forschen nach der Tatwaffe
→ nicht erfolglos: Deduktion des Verschwindens der Tatwaffe
Spät entspricht nicht dem klassischen erfolgreichen Detektiv als aufklärende und handelnde Person.
Er ist eher passiv, hat keinen genauen Plan über sein Vorgehen, Hinweise kommen eher auf ihn zu,
stolpert irgendwie durch die Ermittlung, scheint hilflos verwickelt in ein gesellschaftliches Spiel
unentwirrbarer Beziehungen.
Späts Scheitern:
- klärt Fall zwar auf aber keiner glaubt ihm.
⁃
überführt nicht einen Verbrecher, sondern verhilft Kohler zur Freiheit
⁃
kann weiter Morde nicht verhindern, ist indirekt sogar daran beteiligt.
⁃
Begreift die weitgehend anonymen Ursachen des Verbrechens nicht, versteift sich auf ein
naives Feindbild Kohlers, will diesen einfach töten.
„ In einer verbrecherischen Welt bin ich selbst ein Verbrecher geworden.“
→ widerspricht armchair - detective, der keine Verbrechen begeht und auch dem hard- boiled man, der
das Ruder nochmal herumreißen kann. Beide sind klassisch in ihren Ermittlungen erfolgreich.
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Spät als Detektiv und Beteiligter hat insgesamt Ähnlichkeiten zum Typus des hard- boiled man, ist
aber im Gegensatz zu diesem schwächlich, hilflos und erfolglos. → Antiheld, Karikatur des hardboiled man
Der Täter
klassisch als Gegenfigur des Detektivs; master criminal: Inkarnation des Bösen diametral gezeichnet
zum Detektiv als Vertreter des Guten
Kantonsrat Kohler: taucht an wenigen Stellen auf, dennoch sammeln sich sämtliche Ereignisse und
Figuren um ihn.
Trägt Eigenschaften, die sonst der intellektuelle armchair detective vorweist:
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Unbeweglichkeit, zieht dennoch Fäden des Geschehens
⁃
ruhig, sicher, gelassen, bewusst; Macht, Unbeirrbarkeit
⁃
Schwächen? Übermenschliche Eigenschaften, Alter: Anspielung auf
Unsterblichkeit des klassischen Detektivs
Räume im Kriminalmodell
armchair- detective: abgeschlossene Räume
hard- boiled man: - ständig wechselnde offene Szenen, wechselndes Personal
⁃
Großstadt als undurchschaubares, gefährliches Gebilde; Raum der
Entfremdung, Identifikationssuche des Einzelnen, Institutionen versagen
Zürich, vermeintlich ruhiger, bürgerlicher Wohnort, als soziales Problemgebiet.
Ort der Entfremdung, eigene Welt der Luxusbauten, Villen, Hotels.
Ständige, willkürlich wechselnde Schauplätze, Detektiv als einziges Bindeglied
→ Orientierungslosigkeit in labyrinthischem Gesellschaftskonstrukt
Schauplatz nicht nur Kulisse, sondern Bühne der Zeit- und Gesellschaftsdarstellung als
Erkenntnisfunktion.
High Society vs. Unterwelt ( Zuhältermilieu, Prostitution, Kneipenkultur..)
Struktur: Verrätselung- Enträtselung
klassisch: Anfangs: völlige Unklarheit, rätselhafter Mord → Ermittlung: gesellschaftlicher
Verstrickungen werden aufgelöst → Ende = Klarheit
Justiz: Modell umgekehrt: Lösung am Anfang, scheinbar klarer Mord → Ermittlung Späts führt zur
Verrätselung; gesellschaftliche Verstrickungen werden nicht aufgelöst → Ende: keine völlige Klarheit,
Motive und Hintergründe bleiben zum Teil im Dunkeln, Leser verwirrter als zu Beginn
Justiz nur in Opposition zum klassischen Detektivroman verständlich
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Weltbilder in Justiz & klassischen Detektivroman
klassisch: Welt- und Menschenanschauung im Vertrauen in Vernunft und Verstand;
naturwissenschaftliche, empirische Untersuchungsmethoden, Kausalitätsprinzip Ursache – Wirkung
Selbst Verbrechen sind logisch, basierend auf Logik eines bestimmten Motivs
Justiz: Weltbild diametral zu dem des klassischen Detektivromans:
⁃
Uneindeutigkeit des Mordmotivs, unüberschaubare Vielzahl möglicher und
wahrscheinlicher Motive
⁃
auch am Ende wir der wahre Grund der Tat nicht klar
→ labyrinthisches Weltbild: die Wirklichkeit bietet keine eindeutigen Lösungen; kann gar nicht im
klassischer Struktur wiedergegeben werden. Das eigentliche Verbrechen spielt sich auf
wirtschaftlicher Ebene ab, völlig unverständlich für den gewöhnlichen Bürger.
Hintergründe wirtschaftlicher Konflikte zwischen Steiermann- Konzern und Kohler werden nicht
beschrieben: auch in der Realität, gelangen derartige Prozesse nie an die Öffentlichkeit
Justiz als Detektivroman ohne Lösungen. Keine vollständigen Kausalzusammenhänge, logischen
Verknüpfungen. Ursache – Wirkungschaos. In komplexen sozialen, politischen und wirtschaftlichen
Zusammenhängen muss der Detektiv scheitern, denn seine Methoden der Logik und Deduktion
funktionieren in dieser Welt nicht.
Motive in Justiz
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Die Liebe zwischen Hélène und Spät.
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Die Ehe des Herrn Mississippi (1952):
»Unsere Liebe kann nur durch ein Wunder gerettet werden. Wir müssen die Wahrheit sagen, wenn
wir an dieses Wunder glauben wollen«
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Spät spürte, dass Hélène ihm vertraute.
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Als Spät herausfand, dass Hélène ihren Vater geholfen hat, will er nichts mehr mit ihr zu tun
haben.
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Hélène will Spät erklären was sie nachher gemacht hat, aber er lässt sie nicht reden.
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Konflikt zwischen Pflicht und Liebe.
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Spät hat keinen Erfolg
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Friedli: »Ich verdiene Millionen. (…) Aber darin steckt Arbeit, Disziplin, verflucht nochmal.
Ich saufe wie ein Loch, zugegeben, aber reiße mich dafür auch jeden Morgen zusammen.«
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Verpasste Chancen und allein gestorben.
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Spät im Vergleich zu Kohler: ist das Justiz?
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Justiz als Gesellschafts- bzw. Zeitroman
Merkmale, die gegen Justiz als einen Kriminalroman sprechen:
-Vielzahl von Personen und Nebenhandlungen (untypisch für Kriminalroman, da sich dieses Genre
durch Funktionalität seiner Handlungselemente ausweist)
− Ausführlichkeit und Abschweifungen von Haupthandlung
− Bernhard Loch: Abbildung der Gesellschaft sei Hauptinteresse von Justiz- nicht der Kriminalroman > Milieustudie sei vordergründig
− Viele Figuren sind nur locker mit der Handlung verbunden (Knulpes, Architekt Friedli oder
Bildhauer Mock)
− Exkursionsartige Passagen: Land und Leute, Reaktion der Öffentlichkeit
− Gesellschaftliche Unterschiede von arm und reich werden stark unterschieden (Oberschicht im
Vergleich zum Prostituierten-Milieu) Einordnung in Klassengesellschaft -> Du Théatres
Raumverteilung als Modell für Gesellschaftsbild
− Die Vielzahl und Ausführlichkeit von Nebenhandlungen verdeutlicht, dass Dürrenmatt neben der
Darstellung des Kriminalfalls, eine satirische Beschreibung der Schweizer Gesellschaft in den 50er
Jahren zur Zeit der Hochkonjunktur gibt
− Die Briefe an seine Lektorin weisen konkrete Bezüge und reale Vorbilder für die Akteure in Justiz
auf (deshalb auch zu Beginn der Hinweis, dass alle Personen frei erfunden seien)
Begriffsbestimmung zur Gattung Gesellschaftsroman
-Gegenstück zum Entwicklungsroman; hier wird nicht das einzelne Schicksal einer
Hauptfigur
erzählt, sondern ein repräsentatives Bild der Gesellschaft oder ein Ausschnitt davon dargestellt
− Dürrenmatt „versucht den durch die Gesellschaft bedingten Zustand der Welt darzustellen“ , Jeske
− Das hat eine Typisierung der Figuren zur Folge, die als Repräsentanten bestimmter Zeitströmungen
eingesetzt werden
Phänotypen der Gesellschaft
− Figuren, die für die Handlung von geringerer Bedeutung sind, illustrieren Dürrenmatts
zeitgenössisches Gesellschaftsbild. Es sind stilisierte, satirische und nicht vollwertige Charaktere;
bestehend aus signifikanten Eigenschaften der zeitgenössischen Gesellschaft -> Hierbei funktioniert
die Steigerung ins Groteske als Distanzierung und Kritik
− Als Beispiel: Architekt Friedli
− Als Prototyp des erfolgreichen Schweizer Geschäftsmannes verdient er Millionen
− Fettleibigkeit und maßloses Gipfel essen karikieren den Musterkapitalisten
− Dürrenmatt nennt Fleiß, Disziplin, Korruption, Bestechung, Skrupelloslosigkeit und gnadenloses
Profitdenken als Gründe für den Erfolg ist mehrfach in Justiz zu finden (Bsp. Alfredo Traps)
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− Zudem wird von ihm Späts anfängliches Scheitern als Anwalt mit dem Fehlen von repräsentativen
Statussymbolen wie einem schicken Auto und dem entsprechenden Büro diagnostiziert
− Die (Super-)Reichen in Justiz sind mehrfach geschieden und verheiratet und schmücken sich mit
ihrer sexuellen Potenz (wechseln Frauen wie übrige Statussymbole)
− Hierfür ist auch der Anwalt Stüssi-Leupin ein Beispiel, der seine Frau nur ihres Geldes wegen
geheiratet hat und ihr ständiges Fremdgehen gleichgültig toleriert
Detektiv Lienhard und Dr. Benno als Gegensatzpaar
− Lienhard ist als Rechtsanwalt und Liebling der höheren Gesellschaft aktiv. Durch lauter Erbschaften
reich geworden, macht er eine steile Karriere ohne dafür sein Studium beendet zu haben
− Dr. Benno auch Olympia-Heimz genannt war sowohl sportlich als auch beruflich erfolgreich und mit
der begehrtesten Frau der Stadt, Monika Steierman alias Daphne Müller, liiert. Die Gründe für
seinen Ruin werden erst im dritten Teil von Justiz genannt. Kohler und die echte Steiermann haben
mit Intrigen für seinen gesellschaftlichen Abstieg gesorgt. Sein Schicksal wird von anderen
determiniert; Benno selbst ist nur ein willenloses Instrument in diesem Spiel
-> Für diese Phänotypen spielen moralische Werte keine Rolle. Sie sind etablierte Mitglieder der
Gesellschaft und steuern deren Zukunft. Welche Faktoren die Karriere und den finanziellen Erfolg
jedoch steuern, lässt Dürrenmatt bewusst im Dunkeln.
Justiz als Roman über die Schweiz
-Zunächst bleibt der Leser im Glauben, dass der Autor in Exkursen nur die Schweizer Geschichte und
das Leben in Zürich rekapitulieren will, um als Schweizer Schriftsteller zu gelten.
- es wird jedoch deutlich, dass die beschriebenen Szenen mehr sind als Rechtfertigung und
Lokalkolorit
sondern:
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die gesellschaftliche Umgebung und deren Geschichte bildet den Hintergrund des Mordes,
denn ohne diese wäre Tat und Reaktion darauf nicht so verständlich.
-
Klima: Gesellschaft, Politik und Wirtschaft etc. Um dieses zu begreifen muss man deren
Geschichte verstehen: Wie ein Land zu dem Geworden ist, was es ist.
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Abriss der Schweizer “Bewusstseins- Geschichte“
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um besondere Eigentümlichkeiten der Gesellschaft, das, was an den Fundamenten der
Schweiz „rüttelt“ begreiflich zu machen, fasst Dürrenmatt die Geschichte der Schweiz in dem
Kapitel “Land und Leute“ ironisch zusammen
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nach seiner Beschreibung entwickelte sich aus dem kriegerischen Land des Mittelalters im 19.
Jahrhundert durch die Industrialisierung ein hochtechnisierter Staat
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in diesem verbanden sich bürgerlich Ideale wie Fleiß und Sparsamkeit (neue Tugenden) und
die Industrie zu einem vorher nie gekannten Geschäftssinn
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die Wurzeln für diese Entwicklung lägen in der Vergangenheit, der entscheidende Schritt
jedoch – so Dürrenmatt- kam durch die Industrialisierung
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Wichtigsten Schweizer Ideale sind für Dürrenmatt Fleiß und Sparsamkeit
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Reichtum zu zeigen sei verpönt; Keine Verschwendung; Keine Pracht
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Dürrenmatt setzt sich mit diesen ‚Schweizerischen Tugenden’ äußerst ironisch auseinander:
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Das Gebot der Sparsamkeit taucht z.B. auch im Zusammenhang mit der Fahndungsaktion der
Polizei auf; mit der Nationaltugend ’Fleiß’ beschreibt er ebenfalls auch das Berufsethos der
Prostituierten.
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Zu diesen Idealen kommt außerdem eine strikte politische Neutralität hinzu, die zum obersten
Programm erklärt worden sei.
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Dürrenmatt kritisier nicht die fehlende Größe, nicht das Davonkommen, sondern die
Skrupellosigkeit mit der die politische Neutralität zum Geschäft wird
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Der Geschäftssinn ist der Grund für diese
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Der Politik wird so ihre Funktion enthoben; was sich rentiert ist gleichzeitig politisch richtig:
somit übernimmt Geschäftskalkül die Entscheidung
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„ Denn in Wahrheit wurden wir nur durch unsere Geschäfte beschützt“ (Schweizerpsalm III.)
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