Bundesvereinigung Stotterer

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Bundesvereinigung Stotterer
Problembeschreibung Stottern
I. Was wir über das Stottern wissen
Krankheitsbild:
Stottern ist eine Unterbrechung des natürlichen Redeflusses. Das Kernverhalten des
Stotterns, das alle stotternden Personen, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß,
aufweisen, besteht aus Wiederholungen von Wörtern (ich-ich-ich), Silben (ka-ka-kakann) und Lauten (k-k-k-kann), Dehnungen (iiiiich) und regelrechten Blockaden (---ich).
Manche Stotternde zeigen zusätzlich Verkrampfungen von Gesichtsmuskeln und/oder
andere Körperbewegungen.
Die Sprechstörung ist individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt und tritt auch in
verschiedenen Situationen unterschiedlich stark auf.
„Stottern ist eine zeitweise auftretende, willensunabhängige, situationsabhängige
Redeflußstörung oft nicht bekannter Ursache, die durch angespanntes, stummes
Verharren in der Artikulationsstellung (tonisches Stottern), Wiederholungen (klonisches
Stottern), Dehnungen sowie Vermeidungsreaktionen (Wortvertauschungen, Satzumstellungen) charakterisiert ist.“ aus: Wirth, G.: Sprachstörungen, Sprechstörungen, Kindliche Hörstörungen
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 5. Auflage, 2000
Entstehungstheorie:
„Stottern ist ein Syndrom, an dessen Zustandekommen in individuell unterschiedlicher
Verteilung und Gewichtung körperliche, seelische und interpersonelle Faktoren beteiligt
sind. Stottern entsteht in der Regel in der frühen Kindheit. Es wird von multiplen,
koexistierenden und miteinander interagierenden Faktoren beeinflußt. Es handelt sich
hierbei um Faktoren physiologischer, organischer, linguistischer und psychologischer
Natur, die sich im Verlauf der Lebensspanne individuell verändern und eine sich
verändernde Bedeutung für den Stotternden annehmen können.
Als Folge des Stotterns können vielfältige Lernprozesse ablaufen, die zu einer schweren
Zusatzproblematik führen. Diese Folgeerscheinungen haben negative Rückwirkungen
auf das eigentliche Stottern. Reaktionen der Eltern auf Unflüssigkeiten beim Sprechen,
Erziehungsverhalten der Eltern, Persönlichkeitsmerkmale und soziales Verhalten des
Kindes brauchen nicht ursächliche Faktoren für die Entstehung des Stotterns zu sein.
Stottern ist eine Krankheit, keine Angewohnheit. Die somatischen Theorien zur
Erklärung des Stotterns sind für die Entstehung und Verursachung des Stotterns
geeignet, die psychologischen Erklärungsversuche für die Entwicklung und Aufrechterhaltung des Stotterns.
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Eindimensionale theoretische Erklärungsversuche des kindlichen Stotterns, gleichgültig
aus welchem theoretischen oder weltanschaulichen Lager sie stammen, sind nicht in der
Lage, das äußerst vielschichtige Problem des Stotterns zu erklären. Daher haben die
aus ihnen abgeleiteten therapeutischen Richtlinien nur eine beschränkte Reichweite; sie
sind also nur für einige Patienten mit Stottern hilfreich, weisen jedoch keine universelle
Brauchbarkeit auf.
Stottern ist vielmehr ein multidimensionales Problem. Eine Vielzahl von Faktoren ist an
seinem Entstehen beteiligt, die in jedem individuellen Einzelfall herausgearbeitet werden
müssen. Die Diagnostik muß jedoch so angelegt sein, daß aus den Ergebnissen auch
Schlußfolgerungen für die Indikation zu bestimmten Therapieverfahren gezogen werden
können. Einige wichtige Ursachenfaktoren kennen wir mit Sicherheit überhaupt noch
nicht.
Die Ursache des Stotterns ist also unbekannt.“ aus: Wirth, G.: Sprachstörungen, Sprechstörungen, Kindliche
Hörstörungen Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 5. Auflage 2000
vgl. auch Johannsen et.al, Forschungsberichte; Fiedler & Standop, Stottern, S. 72
Häufigkeit:
Über 1% der Bevölkerung leidet an Stottern. Das männliche Geschlecht ist dabei stärker
betroffen. Ursächlich wird eine bessere Sprachbegabung des weiblichen Geschlechts
vermutet. Bei Kindern sind 4-5% betroffen, 75% davon sind Knaben. Ungefähr 80 %
aller Kinder im Alter zwischen 2 und 6 Jahren durchlaufen Phasen von unflüssigem
Sprechen, Hängenbleiben. Diese Sprechunflüssigkeiten gehören zur normalen Sprachentwicklung.
(Hier ein kleiner Exkurs zum Verständnis)
Besonderheiten der Sprachentwicklung:
Gerade im Alter zwischen 2 und 6 Jahren durchläuft ein Kind eine Vielzahl von
komplexen Entwicklungsschritten in der Sprachentwicklung. Diese üben Druck auf die
Anforderungen für die Sprechflüssigkeit aus:
• Die grammatischen Fähigkeiten entwickeln sich stürmisch, die Sätze werden immer
länger und komplexer. Die Satzplanung im Kopf muß immer schneller ablaufen.
• Der Wortschatz des Kindes steigt explosionsartig an. Die Wörter müssen immer
genauer und schneller aus dem Gedächtnis abgerufen werden.
• In der Aussprache werden immer längere und komplexere Wort- und Lautreihen
verwendet, und das bei altersgemäß ansteigender Sprechgeschwindigkeit.
• Das Kind lernt die gesellschaftlichen Gesprächsregeln und ist gleichzeitig intensiv
darum bemüht, seinen Gesprächspartner zu verstehen. Dabei nimmt die
Spontaneität ab, das Kind kontrolliert seine Äußerungen immer stärker.
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Dem gegenüber stehen einige Widrigkeiten der Entwicklung, diese stellen Hürden für
ein reibungsloses Sprechen dar:
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Die Schaltstellen und Nervenverbindungen im Hirn, die für die Ausführung der Sprechbewegungen
verantwortlich sind, sind noch vergleichsweise unreif.
Die Koordination der über 100 Muskeln, die am Sprechen beteiligt sind, ist noch nicht störungsfrei
eingespielt.
Der Kehlkopf ist noch klein, die Stimme noch nicht so belastbar wie bei Erwachsenen. Außerdem ist
die Stimmlage höher und benötigt daher mehr Kraft.
Die Lungen sind viel kleiner als beim Erwachsenen. Kinder müssen viel öfter einatmen und können
viel weniger auf einen Ausatemstrom sprechen.
Zudem steht das Kind in Konkurrenz zum Sprachvorbild des Erwachsenen, versucht an dessen
Sprachvermögen und an dessen Sprechgeschwindigkeit heranzukommen.
Man kann es sich schon denken: Stolperstellen sind vorprogrammiert. In der Tat
durchlaufen ca. 75-80% aller Kinder eine Phase von mehr oder weniger unflüssigem
Sprechen. Manche Kinder scheinen dabei allerdings störungsanfälliger zu sein als
andere.
Stottern oder Entwicklungsunflüssigkeit?
Viele Fachleute haben unabhängig voneinander und übereinstimmend festgestellt, daß
die Art und Weise der Sprechunflüssigkeiten und die Häufigkeit der Stottersymptome
sich von den sogenannten entwicklungsbedingten Unflüssigkeiten unterscheiden, die
sich nach kurzer Zeit wieder von alleine verlieren.
Fachleute klären das mittels der Differential-Diagnose ab. (vgl. dazu Natke, S. 45-54, Johannsen et.al.,
Forschungsbericht 32, S. 4)
Grundsätzlich gilt, daß sobald Eltern sich Sorgen über das Sprechen ihres Kindes
machen, müssen sie gut beraten werden: über Stottern, Ursache, Verlauf und wie sie ihr
Kind unterstützen können. Je nach Ausprägung des Stotterns (wenn Sprechen Mühe
macht) sollte das Kind, unabhängig vom Alter, therapeutische Unterstützung erfahren.
Hier setzt unsere präventive Arbeit an: Information, Beratung und Unterstützung und
wenn möglich Vermittlung eines Therapeuten, der Erfahrung in der Therapie stotternder
Kinder hat. Die Gruppe der Eltern bildet den größten Anteil von Ratsuchenden:
•
•
•
weil fast alle Kinder Phasen von Sprechunflüssigkeiten durchlaufen,
das „Alltagswissen“ über Stottern, Ursache, Verlauf und Therapie in der Regel falsch ist und
das Bild stotternder Menschen stigmatisiert ist (Stottern steht für dumm, psychisch krank, Eltern
haben nicht gut genug aufgepaßt, sozial schwach),
ist die Sorge und Angst der Eltern, etwas falsch zu machen, sehr verständlich.
Der erste Ansprechpartner für Eltern ist der Kinderarzt oder Hausarzt.
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II. Versorgungslage
Als einzige bundesweit tätige Beratungsstelle für Stottern (s. Anlage 1) beziehen sich
unsere Aussagen zur Über-, Unter- und Fehlversorgung auf das gesamte Bundesgebiet,
auf die Gesamtbevölkerung und die Leistungserbringer (Logopäden, Sprachtherapeuten, Atem-, Stimm- und Sprechlehrerinnen) und von ambulanter Versorgung.
Unterversorgung
In der Versorgung stotternder Menschen gibt es eine Unterversorgung, die wir anhand
unserer Datenbank „Therapeuten, die Stottern behandeln“ aufzeigen werden.
Zur Datenbank:
Diese Datenbank wurde 1997 erstellt und seitdem ständig aktualisiert. Wir verschickten
bundesweit über 7.000 Fragebögen (Anlage 2) und nutzten dabei auch die Infrastruktur
der Fachverbände: Logopädie, Sprachheilpädagogik, Atem-, Stimm- und Sprechlehrerinnen.
Unser bundesweites Verzeichnis von Fachleuten, die Stottern behandeln, besteht z.Zt.
aus 885 Datensätzen mit Aussagen (Anlage 3) über die Qualifizierung des Behandlers
und sein therapeutisches Angebot. Diese Angaben sind Selbstauskünfte. Das betonen
wir auch in der Beratung und weisen auf Besonderheiten hin.
Quantitative Betrachtung:
Fachleute, die von ihren Ausbildungsinhalten prädestiniert sind, Stottern zu behandeln:
Logopäden, Sprachtherapeuten, Atem-, Stimm- und Sprechlehrerinnen und Phoniater.
Letzte Berufsgruppe haben wir vernachlässigt, da Phoniater eher diagnostizieren als
behandeln.
Nach Auskunft der jeweiligen Berufsverbände ergeben sich folgende Zahlen:
Logopäden:
(dbl)
Sprachheilpädagogen:
(dbs)
Sprachheillehrer:
(dgs)
7.200 Mitglieder + 10% Nichtmitglieder
ca. 8.000
2.000 Mitglieder + 50% Nichtmitglieder
ca. 3.000
8.000 Mitglieder + 10% Nichtmitglieder
ca. 9.000
--------------ca. 20.000
insgesamt:
Nach dieser Auflistung gibt es ungefähr 20.000 Fachleute, die nach ihrer jeweiligen
Ausbildungsordnung Stotternde behandeln können müßten.
In unserer Datenbank „Stottertherapeuten“ haben wir 885. Wir sind sicher, daß mehr
Fachleute Stottern behandeln, als wir erfassen konnten. So ist uns von etlichen Therapeuten bekannt, daß sie lange Wartelisten führen und aus diesem Grund nicht ins
Verzeichnis aufgenommen werden wollten.
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1. Wir haben hier ein Zahlenverhältnis von
ca. 20.000 Fachleuten zu ca. 1.200, die Stottern behandeln.
2. Für ein weiteres Zeichen von Unterversorgung sprechen Wartelisten und Angaben
von Eltern, daß sie manchmal bis zu 2 Jahren auf einen Termin warten müßten.
3. Die Verteilung der Therapeuten, die Stottern behandeln, sortiert nach Bundesländern
und Postleitzahlen (s. Anlage 4 und 5) zeigen recht anschaulich, daß es zwar in
großen Städten und generell im Westen eine bessere Versorgung für Stotternde gibt,
doch man insgesamt von einer Unterversorgung sprechen muß. (Erfahrung aus
unserer Beratung: Es ist nicht selten, daß wir Eltern stotternder Kinder im Umkreis
von 50 km keinen Stottertherapeuten nennen können. Zur Zeit begleiten wir solche
Familien beratend.)
Die Deutschlandkarte „Stottertherapeuten“ hat viele weiße Flecken .....
Qualitative Betrachtung:
Vor der qualitativen Betrachtung unserer Therapeuten, die Stottern behandeln, möchten
wir nochmal auf unseren Anhang „Früherkennung und Prävention“ hinweisen. Wichtige
Stichworte sind: Je früher, desto besser der Behandlungserfolg, nicht das Alter, sondern
die Stottersymptomatik ist entscheidend für eine direkte Arbeit am Stottern, ein guter
Therapeut beherrscht möglichst viele Techniken und Methoden der Stottertherapie –
sein Behandlungskonzept ist mehrdimensional.
Um etwas zur Qualität unserer erfaßten Stottertherapeuten sagen zu können, haben wir
eine Stichprobe gemacht und uns jeden Datensatz nach den in Anlage 6 aufgelisteten
Kriterien angesehen. Hier die Ergebnisse:
Auszählung der Stichprobe des Therapeutenverzeichnisses
Die Stichprobe setzt sich aus den ersten 204 Datensätzen des Verzeichnisses
zusammen.
111 Therapeuten können nach den Angaben in den Fragebögen (bzw. weil sie uns
persönlich bekannt sind) als qualifiziert (s. Anlage 6) bewertet werden.
19 Therapeuten gaben bei zu behandelnden stotternden Kindern Altersangaben > 4
Jahre an (manche behandeln zusätzlich nur indirekt).
54 Therapeuten bieten für Kinder nur indirekte Therapie oder sogar nur
Elternberatung an (teilweise arbeiten diese Therapeuten zusätzlich auch nur mit
Kindern ab 5 Jahren).
Einige dieser Therapeuten bieten direkte Therapie erst im Schulalter an, unabhängig
von einem evtl. bereits vorher bestehenden Störungsbewußtsein.
13 Therapeuten machten keine Angaben zu der von ihnen angebotenen Therapie.
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3 Therapeuten arbeiten in Sprachheilschulen und führen die Therapie nur in diesem
Rahmen durch.
1 Therapeut ist z.Zt. nicht berufstätig
3 Therapeuten arbeiten nach eindeutig eindimensionalen Konzepten (einer hiervon ist
Psychologe und bietet ausschließlich Verhaltenstherapie an).
6 Therapeuten geben an, daß sie
- nur wenige Fälle behandeln, da der Arbeitsschwerpunkt ein anderer ist
- nicht viel über Stottern wissen und kaum Erfahrung haben
- in absehbarer Zeit ein Stottertherapeut eingestellt werden soll
- Stotternde nur beraten, jedoch keine Therapie durchführen
- eine Weitergabe der Adresse nicht erwünscht ist, da eine zu lange Warteliste vorliegt
- Stottern als Ausdruck eines Persönlichkeitsproblems ansehen (und entsprechend
behandeln...)
Fazit: Nach unseren Daten gibt es nicht nur zu wenig ausgebildete Stottertherapeuten,
sondern die wenigen sind oft auch zu einseitig ausgebildet. Dieses Ergebnis
deckt sich mit den Erfahrungen, die wir in unserer jahrelangen Beratung gemacht
haben.
Fehlversorgung
In der Versorgung Stotternder weisen wir auf eine Fehlversorgung durch Pädiater,
Hausärzte, Logopäden, Sprachtherapeuten und mangelndes Alltagswissen über
Stottern hin.
a) Fängt ein Kind an zu stottern, holen sich Eltern in der Regel bei ihrem Kinder- oder
Hausarzt Rat. Kinderärzte wissen etwas über die Sprachentwicklung und daß
Sprechunflüssigkeiten ganz normal zur Sprachentwicklung gehören. Sie wissen
jedoch nichts über das Stottern, den Verlauf und die Therapie. Statt Eltern in ihrer
Sorge ernst zu nehmen, vertrösten sie Eltern mit Worten wie: „das wächst sich schon
heraus....“.
Starkweather (1987) verweist auf die zentrale Bedeutung gerade der Pädiater. In
dem Ausmaß, in dem diese in der Hoffnung auf eine spontane Remission auf solche
allgemeinen Faustformeln zurückgreifen, wie grundsätzlich bis zum Einschulungsalter abzuwarten, oder tröstend auf zu erwartende Veränderungen im Rahmen der
Pubertät zu verweisen, werden die Chancen einer Frühbehandlung und erfolgreichen
Prävention vertan. Das Störungsbild kann sich verfestigen, die für die inhaltliche
Therapieplanung so entscheidende ursprüngliche Entstehungskonstellation wird
beim Kind durch die Entwicklung einer Sekundärsymptomatik zugeschüttet und ist
den Eltern, denen zudem von einem vertrauenswürdigen Fachmann geraten wird,
das ganze Geschehen nicht zu beachten oder sich keine Sorgen zu machen, nach
Jahren des Abwartens nicht mehr erinnerlich. Die Chance, mit relativ geringfügigen
Hilfestellungen oder Veränderungen psychosozialer Einflußgrößen das Kind wieder
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zu stabilisieren und es vor einer Stotterkarriere zu bewahren, wird so oft aus
Unkenntnis nicht ergriffen.
(vgl. Schulze, H. Stottern und Interaktion; Phoniatrische Ambulanz der Universität Ulm, 1989, Johannsen et.al.,
Forschungsbericht Nr. 9, S. 5)
[Aus unserer Beratungspraxis können wir diese Vertröstungen der Pädiater nur
bestätigen. Fast jede zweite Mutter kann das bestätigen. Da Eltern trotzdem noch
besorgt sind, versuchen sie von woanders Hilfe zu bekommen: Psychologen,
Heilpraktiker, der Tropfen verschreibt oder andere „Wunderheiler“.]
b) Bei Vorschulkindern, die in logopädische / sprachtherapeutische Behandlung
kommen, wird nicht entsprechend der Schwere des Krankheitsbildes interveniert,
sondern entsprechend veralteter Anschauungen.
(vgl. Natke, S. 105-106; Johannsen et.al., Forschungsbericht Nr. 9, S. 7; Schulte, S. 86-91)
c) Jede Therapie, die verspricht, in kürzester Zeit von der Krankheit zu befreien, wird
von primär und sekundär Betroffenen aufgesucht. Mögliche Gründe: Das allgemeine
Wissen über Stottern und Therapie ist veraltet. Alle Menschen (einschließlich der
Betroffenen) denken, daß Stottern psychisch begründet ist, also Ausdruck einer
psychischen Störung ist. Oder: Stottern ist eine schlechte Angewohnheit oder Eltern
haben nicht gut genug aufgepaßt... („Er stottert, weil er so schüchtern ist.“ Richtig ist: Er ist so
schüchtern, weil er stottert.)
Es ist wenig bekannt, daß Stottern (einfach gesagt) eine körperlich bedingte
Fehlfunktion ist, also körperliche Ursachen hat, eine Krankheit ist. Dieses falsche
Wissen über Stottern führt zur sozialen Ausgrenzung, den bekannten Klischees:
Stotternde sind „Blödiane“ und „Psychopathen“. Die Medien, voran Filme, Romane
und Zeitungen. haben daran einen wesentlichen Anteil, indem sie stotternde
Menschen falsch, einseitig und verzerrt immer wieder neu in Szene setzen.
(vgl. Benecken: Wenn die Grazie mißlingt)
Diese Stigmatisierung wird zum Selbstbild, löst Angst, Scham und Unsicherheit aus.
Stottern ist peinlich...u.v.m. Deshalb muß Stottern so schnell wie möglich weg, das gibt
es nicht, das darf nicht sein. Für sogenannte „Wunderheiler“ sind primär und sekundär
Betroffene eine geeignete Klientel.
Zusammenfassung
In der Versorgung Stotternder gibt es ganz eindeutig eine Unterversorgung: quantitativer
und qualitativer Mangel an Leistungserbringern.
Eine Fehlversorgung zeigt sich vor allem in der Versorgung stotternder Kinder und ihrer
Eltern. Und das gleich auf zwei Ebenen:
• In der Erstversorgung durch den Pädiater. Aufgrund unzureichender Sachkenntnis
vertraut er auf die spontane Remission der Krankheit. Dadurch wird eine Entwicklung
von Sekundärsymptomatiken und innerfamiliären psycho-sozialen Beeinträchtigungen, Konflikte (Krankheit) gefördert. Der Krankheitsverlauf wird unnötig verlängert.
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• In der Behandlung stotternder Vorschulkinder.
Grund:
Es gibt bundesweit so wenige qualifizierte Leistungserbringer, daß
es für Eltern stotternder Kinder vergleichbar einem Lotteriegewinn ist,
wenn sie zufällig einen Stottertherapeuten finden, der auch Erfahrung in
der Behandlung stotternder Vorschulkinder hat.
III. Empfehlungen
Zum Bereich der Unterversorgung durch Quantität und Qualität der Leistungserbringer:
(Logopäden/Sprachtherapeuten)
An ca. 70 Fachschulen und 17 Universitäten werden Logopäden und Sprachheilpädagogen ausgebildet. Für beide Berufsgruppen sind Sprachstörungen, wozu
auch Stottern gehört, verbindlicher Ausbildungs- und Prüfungsinhalt.
Empfehlung: Eine Ausbildung zum Fachtherapeuten, z.B. Stottertherapeuten
[Vorbilder dafür gibt es in den Niederlanden. Dort ist das eine eigene Fachausbildung.]
Gründe für die Empfehlung:
• Nach unserer Kenntnis und der Auswertung der Stichprobe unseres „Stottertherapeuten-Verzeichnisses“ werden diese Richtlinien unzulänglich umgesetzt.
• Außerdem ist Stottern aufwendiger: multifaktorielle Ursachen, daraus folgend mehrdimensionale Therapiemethoden.
• Die allgemeine Verunsicherung bezüglich Stottern ist sehr groß, da das „Allgemeinwissen“ schlecht, sogar falsch ist.
• Stottern zählt zu den „schwierigen Sprachstörungen“. Deshalb vertiefen sich nur
wenige in diese Problematik, und es müssen viele kostenaufwendige Fortbildungen
gemacht werden.
Fehlversorgungen im Bereich Stottern:
• Kinder- und Hausärzte verlängern durch unzureichende Sachkenntnis über Stottern
den Krankheitsverlauf.
Empfehlung: durch regelmäßige Informationen in den entsprechenden Fachzeitschriften, durch Fortbildungen oder auch durch eine vertiefende Fachausbildung im
Bereich Sprachentwicklung, in der Stottern auch vorkommt.
• Logopäden / Sprachtherapeuten verursachen durch qualitative Mängel ihrer Leistung
eine Fehlversorgung von Stotternden.
Empfehlung: Fachausbildung zum Stottertherapeuten wie o.g.
• Das falsche Alltagswissen über Stottern verursacht eine Fehlversorgung durch das
professionelle Umfeld von stotternden Kindern. Erzieher und Lehrer wissen über
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Stottern nicht mehr bzw. nichts Zutreffenderes als die übrige Bevölkerung. Das führt
im schulischen Bereich zu folgenschweren Benachteiligungen.
Empfehlung: Erzieher und Lehrer sollten in ihrer Ausbildung auch etwas über Stottern
lernen.
Weitere Empfehlungen wären:
• Wissenschaftliche TV-Sendungen über das Thema „Stottern“.
• Helfen Sie mit, die Geschäftsstelle der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe e.V.
mit ihrem einzigartigen Beratungsangebot bekannter zu machen (s. Anlage 1)
Unsere Arbeit ist im Besonderen der Prävention gewidmet. Denn stotternde Kinder
•
•
sind die zahlenmäßig größte Gruppe (80% aller Kinder zwischen 2 und 6 Jahren haben Phasen von
Sprechunflüssigkeiten, bei ca. 5% aller Kinder wird Stottern diagnostiziert und bei Dreiviertel tritt bis
ins späte Jugendalter eine Spontanremission ein). Doch welches Kind remittieren wird, weiß niemand!
Es gilt, den Krankheitsverlauf zu verkürzen.
Das möglichst frühzeitige Erkennen des Stotterns bei Kindern wird allgemein als günstige
Voraussetzung dafür angesehen, mit einer gezielten Behandlung zum Erfolg zu kommen. (Aus der
Diagnosogenic-Theorie ist häufig die radikale Forderung abgeleitet worden, die Sprechfehler des
Kindes seien auf keinen Fall zu beachten. Die Folge war, daß sich Stottern in einem Taburaum
entwickelte).
vgl. Fiedler & Standop, S. 208; Schulze, H.: S. 86; Johannsen et.al., Forschungsbericht 43, S. 3; Natke, S.103-109
Präventionsmöglichkeit ist gegeben:
Stottern muß für Kinder kein lebenslanges Problem werden. Durch gute Beratung und
frühzeitige, fachkompetente Intervention kann es behoben werden.
Die Information des sozialen Umfeldes (Erzieherin, Lehrerin, Kinder- und Hausarzt)
haben dabei eine besondere Bedeutung für den Verlauf der Krankheit.
Unsere Bitte und Empfehlung: Verhindern Sie, daß die Behandlung stotternder
Vorschulkinder, die Beratung ihrer Eltern aus dem Heilmittelkatalog gekürzt bzw.
gestrichen wird. Das ist der absolut falsche Ansatz.
Gern sind wir bereit, zu den einzelnen angerissenen Darstellungen ausführlicher
Stellung zu nehmen.
Köln, den 04.09.2000
BUNDESVEREINIGUNG
STOTTERER-SELBSTHILFE e.V.
Dipl. Päd. Ruth E. Heap
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