Kanada - Historisches Lexikon der Schweiz

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Kanada - Historisches Lexikon der Schweiz
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26/11/2014 |
Kanada
Als die Kolonisation Neufrankreichs einsetzte, waren auch Schweizer
daran beteiligt. 1604 sorgten Schweizer Soldaten in franz. Diensten für
den Schutz einer Expedition nach Akadien (franz. Bezeichnung für
ehem. Koloniegebiet, welches in etwa die heutigen Provinzen Nova
Scotia, New Brunswick sowie Teile der Provinz Quebec und des
amerikan. Bundesstaats Maine umfasste), an welcher der
Forschungsreisende Samuel de Champlain teilnahm. Um 1649 gründete
der vermutlich aus Freiburg stammende Pierre Miville in der Nähe der
Dieser Artikel wurde
Stadt Quebec eine kleine Kolonie. Die Gegend wird heute Canton des
für die Buchausgabe des HLS mit Bildern
Suisses fribourgeois genannt. Jacques Bizard von Bevaix, der 1672 nach illustriert. Bestellen Sie das HLS bei
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Neufrankreich gekommen war, wurde 1677 Major der
Gouverneursgarde und 1691 Vizegouverneur von Montreal. Zwei
Abteilungen des Marineinfanterieregiments Karrer in franz. Diensten
verstärkten 1721-45 die Garnison Louisbourg. Einige dieser Soldaten
liessen sich später in der Region nieder. In jenem Teil K.s, der schon
1713 britisch geworden war, siedelten sich 1749-55 dreihundert von
England in der Schweiz rekrutierte Protestanten an. Sie lebten in
Neuschottland, hauptsächlich in Halifax und Lunenburg.
Neufrankreich wurde nach dem Siebenjährigen Krieg 1763 engl. Kolonie. Zwei Schweizer wirkten als
Generalgouverneure des Landes und als Oberbefehlshaber der brit. Truppen, nämlich 1777-85 Frédéric
Haldimand aus Yverdon und 1811-16 Georges Jacques Marc Prevost aus Genf. Letzterer verteidigte die
Kolonie erfolgreich gegen die amerikan. Invasion im anglo-amerikan. Krieg (1812-14), der mit dem Frieden
von Gent endete. Ab 1813 verstärkten die in brit. Diensten stehenden Regimenter von Wattenwyl und de
Meuron die Truppen von Prevost und beteiligten sich an den Kämpfen. Wie schon die Männer des Regiments
Karrer liessen sich einige Offiziere und Soldaten der beiden Regimenter in K. nieder, v.a. in der Kolonie Rivière
Rouge, wohin ihnen 1821 zweihundert Schweizer Einwanderer folgten. Gegen Ende des 18. Jh. hatten sich
Schweizer Täufer, die aus Pennsylvania gekommen waren, im Westen Ontarios angesiedelt. Sebastian
Freyvogel aus Gelterkinden machte ab 1828 als Pionier ein grosses Gebiete am Ufer des Huronsees urbar.
Zweihundert vorwiegend aus Saanen stammende Schweizer gründeten um 1880 eine Kolonie in Nipissing im
Norden Ontarios.
Die Schweizer in K. waren Soldaten in fremden Diensten, aber auch Pelzhandel treibende Kaufleute (Laurenz
Ermatinger), Bauern, und Missionare (Henriette Feller-Odin, Père Louis Babel). Bergführer aus Interlaken
führten Ende des 19. Jh. den Alpinismus in den Selkirks und Rocky Mountains ein. Wie die
Generalgouverneure der Kolonialzeit machten einige dieser Einwanderer steile polit. Karrieren, nachdem K.
mit dem British North America Act 1867 brit. Dominion geworden war. Samuel Mürner oder Merner aus
Reichenbach etwa zog 1887 in den Senat ein.
Die Schweiz eröffnete 1875 ein Generalkonsulat in Montreal, 1906 eines in Toronto und 1913 zwei weitere in
Vancouver und Winnipeg. Heute verfügt sie über drei Karrieregeneralkonsulate in Montreal, Toronto und
Vancouver. Nachdem K. die 1931 im Statut von Westminster verankerte polit. Unabhängigkeit erlangt hatte,
nahm die Schweiz 1945 diplomat. Beziehungen zu K. auf. In Ottawa ersetzte 1957 eine Botschaft die seit
1945 bestehende Gesandtschaft. Die 1947 eröffnete kanad. Gesandtschaft in Bern erhielt 1953 den Status
einer Botschaft. Ausserdem unterhält K. in Genf eine ständige Mission bei den Internat. Organisationen.
Dreimal wurde die Schweiz beauftragt, die Interessen K.s zu vertreten: Während des 2. Weltkriegs in
Frankreich (de facto) gegenüber der Vichy-Regierung, 1952-53 im Iran und 1956-58 in Syrien. Die
Unabhängigkeitsbestrebungen von Quebec fanden auch in der Schweiz Widerhall, v.a. bei den jurass.
Separatisten nach der Rede, die General de Gaulle 1967 an der Weltausstellung in K. gehalten hatte.
2000 waren 34'192 Personen bei den schweiz. konsularischen Vertretungen in K. gemeldet, davon 23'626
Doppelbürger. 1887-2000 wanderten etwa 50'000 Schweizer nach K. aus, davon über 40'000 in der 2. Hälfte
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des 20. Jh. (1950-79 30'000). 1871 lebten 60% der Nachkommen der Einwanderer der ersten Generation in
Neuschottland, 1911 waren es nur noch 11,2%. Ontario hatte Neuschottland den Rang abgelaufen (1881
51%, 1901 44,2%, 1911 29,1%), auf dem zweiten Platz folgte Alberta (1911 18,1%). 1887-1938 übersiedelten
8'548 Schweizer nach K., das mit 3,7% der Auswanderer an dritter Stelle der Destinationen der
Überseeauswanderer, jedoch weit hinter den Vereinigten Staaten (73%) und Argentinien (10,2%) rangierte.
Bis zum 2. Weltkrieg waren die meisten Auswanderer Bauern. Nach dem Krieg passte sich die Immigration der
technolog. Entwicklung an und diversifizierte sich: Während drei Jahrzehnten wanderten sehr viele
Professoren, Ingenieure, Techniker, Unternehmer, Geschäfts- und Kaufleute, Facharbeiter und Angestellte des
Gastgewerbes ein. Die Anzahl der Bauern, die nach 1968 stark rückläufig war, stieg ab Ende der 1970er Jahre
wieder an. Zahlreiche Bauern, viele von ihnen aus der Westschweiz, erwarben Bauernhöfe in Quebec oder
Ontario. Clubs und Vereine erleichtern den Neuankömmlingen die Integration und bieten ihnen die
Gelegenheit, die Schweizer Traditionen zu pflegen. Die kanad. Kolonie in der Schweiz hat sich zwischen 1964
(1'210 Personen, ohne Doppelbürger) und 2002 (4'809 Personen) praktisch vervierfacht. Im Schnitt besitzen
50-60% der Eingewanderten eine Jahresaufenthaltsgenehmigung, ein grosser Teil von ihnen sind Frauen
(Spitalpersonal). Die Zahl der Niederlassungsbewilligungen stieg explosionsartig an, nämlich von 66 (1964)
auf 1'021 (1997).
Zwischen der Schweiz und K. wurden im 20. Jh. mehrere Abkommen unterzeichnet. Die meisten von ihnen
kamen nach der Verfassung von 1982 zustande, welche den British North America Act von 1867 ersetzte und
die gesetzl. Abhängigkeit von England beseitigte. Der brit. König bzw. die Königin blieb als einzige Verbindung
zwischen K. und dem ehem. Mutterland bestehen. Die Schweiz und K. schlossen u.a. einen Freundschafts-,
einen Handels- und einen Niederlassungsvertrag (1914) ab, ferner ein Luftverkehrsabkommen (1976), eine
Vereinbarung über die Beziehungen auf dem Gebiet des Films und der Audiovision (1988), ein Abkommen
über die Zusammenarbeit bei der friedl. Nutzung der Kernenergie (1989), einen Rechtshilfevertrag in
Strafsachen (1995), ein Abkommen über soziale Sicherheit einschliesslich einer Vereinbarung mit Quebec
(1995), einen Auslieferungsvertrag (1996) und ein Doppelbesteuerungsabkommen (1998).
Die Schweizer Ausfuhren nach K. beliefen sich 1995 auf fast 760 Mio. Fr., 2005 auf 2'269 Mio. Fr., davon 1'574
Mio. Fr. für Chemikalien und verwandte Erzeugnisse sowie 217 Mio. Fr. für Maschinen. Die Einfuhren betrugen
1995 383 Mio. Fr., 2005 822 Mio. Fr., davon 345 Mio. Fr. für Chemikalien und verwandte Erzeugnisse, 127 Mio.
Fr. für Maschinen, 99 Mio. Fr. für Autos und Flugzeuge, 81 Mio. Fr. für Papier und Papierprodukte sowie 72
Mio. Fr. für landwirtschaftl. Produkte. Der Saldo der Handelsbilanz, der Anfang des 21. Jh. für die Schweiz
positiv ist, fiel bis Ende der 1950er Jahre zugunsten K.s aus. Am Vorabend des 2. Weltkriegs importierte die
Schweiz Güter für 24,1 Mio. Fr. und exportierte für 14,7 Mio. Franken. 1945 beliefen sich diese Zahlen bereits
auf 103,5 Mio. Fr. (massive Weizeneinkäufe) bzw. 35,1 Mio. Franken. Die Schweiz rangierte 2000 an sechster
Stelle der Investorenländer (5,275 Mrd. Fr.), während K. der siebtgrösste ausländ. Anleger in der Schweiz war
(2,265 Mrd. Fr.). Zudem fliessen indirekte Finanzmittel nach K., v.a. Anleihen auf dem helvet. Markt für öffentl.
Körperschaften und Industriegesellschaften K.s. Die meisten grossen Industrieunternehmen der Schweiz
besitzen in K. entweder Produktions- und/oder Verkaufszentren, Tochtergesellschaften oder breite
Beteiligungen an lokalen Unternehmen. 2001 beschäftigten die in K. niedergelassenen Schweizer Firmen rund
34'700 Personen. Die grossen Schweizer Banken, mehrere Privatbanken sowie Versicherungs- und
Transportgesellschaften sind ebenfalls in K. vertreten. Kanad.-schweiz. Handelskammern bestehen in
Montreal, Toronto und Vancouver, eine Swiss Canadian Business Association in Calgary. Die Association
canado-suisse mit Sitz in Zürich vereint in der Schweiz Geschäftsleute, die an wirtschaftlichen, finanziellen
und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern interessiert sind.
Die seit langem bestehenden kulturellen Beziehungen sind breit gefächert. Einer ihrer Wegbereiter war Peter
Rindisbacher, der in den 1820er Jahren als Erster den kanad. Westen malte. Vom Ende des 1. Weltkriegs an
lehrten zahlreiche Schweizer Professoren an den kanad. Universitäten und höheren Schulen, darunter
François Jeanneret, Pionier der Forschungen über die frankokanad. Kultur, der Germanist Hermann
Böschenstein, Laure Eva Rièse, Prof. für franz. Sprache und Literatur, der Geologe Carl Faessler und der
Ingenieur Joseph Risi. Ende 1995 übten um die 200 Schweizer in K. eine Lehrtätigkeit aus.
1969 wurde in Toronto die erste kulturelle Vereinigung K.-Schweiz (Association culturelle Canada-Suisse)
gegründet, 1970 in Montreal eine weitere. Pro Helvetia übernahm 1985 das Patronat über die KanadaTournee des Orchestre de la Suisse romande und über die Ausstellung Rindisbacher, die 1984-86 im Rahmen
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des internat. Programms der Nationalmuseen gezeigt wurde. Ebenfalls Pro Helvetia schuf zusammen mit dem
kanad. Conseil des Arts einen Literaturpreis Kanada-Schweiz, der mit 2'500 kanad. Dollar dotiert ist und
jährlich abwechslungsweise einem Kanadier bzw. einem Schweizer verliehen wird. 1977-2004 war zweifellos
der Dirigent Charles Dutoit die kulturelle Gallionsfigur unter den Schweizern. Er leitete das
Symphonieorchester von Montreal. Die kulturelle Präsenz K.s in der Schweiz ist ebenfalls vielfältig und
umfasst auch die Sparten Theater und natürlich das Chanson (Pauline Julien, Félix Leclerc, Gilles Vigneault,
Céline Dion). Austausch pflegen auch die Salons du livre von Genf und Montreal, während die Institutionen der
frankophonen Länder (Frankofonie) Kontakte zwischen Quebec und der Westschweiz schaffen. Das 1956 gegr.
Neuchâtel Junior College bietet jungen Kanadiern die Möglichkeit, in der Schweiz ihr letztes Jahr auf der
Sekundarstufe I zu absolvieren. Im Sport tragen Kanadier seit drei Jahrzehnten als Trainer oder Spieler
erheblich dazu bei, das Niveau des Eishockeys in der Schweiz zu heben.
Literatur
– C. de Bonnault, «Les Suisses au Canada», in Bull. des recherches hist., 61, 1955, Nr. 2, 51-70
– Dictionnaire biographique du Canada, 1-, 1966
– H.E. Bovay, Le Canada et les Suisses, 1604-1974, 1976
– L. Schelbert, Einführung in die schweiz. Auswanderungsgesch. der Neuzeit, 1976
– E. Bürkler, Der Aussenhandel Schweiz - K., 1990
– J. Magee, The Swiss in Ontario, 1991
Autorin/Autor: Henry E. Bovay / PTO
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