EvThom 98 Förster Mörder

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EvThom 98 Förster Mörder
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Niclas Förster
Die Selbstprüfung des Mörders
(Das Gleichnis vom Attentäter)
Übersetzung
Jesus spricht: Das Königreich des Vaters gleicht einem Menschen, der einen Würdenträger
töten wollte. Er zog das Schwert in seinem Haus, stach es in die Wand, damit er erkenne, ob
seine Hand stark sei. Dann tötete er den Würdenträger.
Sprachlich-narrative Analyse
Das Gleichnis vom Attentäter findet sich im Thomasevangelium in einer Gruppe von
Gleichnissen (EvThom 96-98), die alle vom Reich Gottes handeln. Das unmittelbar
voranstehende Gleichnis vom Mehlkrug erläutert das Kommen des Reiches als
überraschendes Eingreifen Gottes, das ebenso unerwartet entdeckt wird, wie die Frau
feststellen muß, daß das Mehl aus dem Krug, den sie auf der Schulter trug, herausgerieselt
war. Im Anschluß an das Gleichnis vom Attentäter ist das Logion 98 eingeordnet, das
diejenigen zu Jesu Brüdern erklärt, die den Willen des Vaters tun (vgl. Mk 3,31-35 par). Das
Reich verbindet sich dadurch mit der Aufgabe aller familiären Bindungen und das Eingehen
in Gottes Reich hängt allein vom Ausführen des göttlichen Willens ab.
Sprachliche Analyse
Im Gleichnis vom Attentäter wird ebenso wie an anderen Stellen des Thomasevangeliums das
Reich mit einem Menschen verglichen. Dieser Mensch wird im Dativ genannt, danach folgt
ein erläuternder Relativsatz. Eine solche zweigliedrige Satzkonstruktion ist nicht nur im
Thomasevangelium bezeugt, sondern findet sich auch in den synoptischen Evangelien
(Jeremias 71965, 101). Das Reich Gottes wird dabei mit der für das Thomasevangelium
typischen Wendung als „Reich des Vaters“ bezeichnet (vgl. ThomEv 57, 76, 96-98, 113).
In dem einleitenden Satz werden zudem die zwei auftretenden Personen mit wenigen Worten
charakteresiert. Die Hauptperson ist ein Mörder, dessen Tatvorbereitungen geschildert
werden. Das Mordopfer ist eine sozial hochstehende Persönlichkeit, deren erfolgreiche
Ermordung am Schluß des Gleichnisses kurz vermerkt ist. Unklar bleibt indessen das Motiv
der Mordtat; denn die Gleichniserzählung konzentriert sich ganz auf die Vorbereitungsphase
der Tat. Der Ermordete tritt dabei nur als Nebenfigur in einer passiven Opferrolle auf. Über
ihn erfahren wir lediglich im Einleitungssatz, daß er ein Würdenträger ist, den der koptische
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Text mit dem nicht übersetzten, griechischen Begriff megistanos
S megistanos
bezeichnet.
Dieser Szenenangabe folgt im zweiten Satz eine Miniaturerzählung, in der über die
Selbstprüfung des Mörders, mit der er sich für sein Vorhaben präpariert, berichtet wird. Zu
diesem Zweck zieht er als Mordwaffe ein Schwert, mit dem er sein Opfer töten will. Um sein
Tun wohl vor neugierigen Blicken zu schützen und eine Entdeckung seiner Pläne zu
verhindern, geschieht dies in seinem Haus. Dabei wird man in das Innere des Hauses
hineingenommen und gleichsam Zeuge der heimlichen Übungen des Verbrechers. Erzählt
wird, wie er sein Schwert in eine Wand seines Hauses, die wohl aus Holz war, rammte. Die
dahinter stehende Absicht wird im Gleichnis klar genannt: Es ging dem Mörder darum
herauszufinden, ob er „stark sei“ natwk natok. Dies konnte er daran ablesen, wie tief das
Schwert in der Wand steckte, wobei die Wand für den Körper des Opfers stand. Außerdem
konnte er testen, ob er über ausreichend Kraft verfügte, dem zu Ermordenden eine tiefe und
damit tötliche Stichwunde zuzufügen. Auf diesen Aspekt des Überprüfens der eigenen Stärke
kommt es somit in dieser kurzen Erzählung an. Deshalb steht der Nachweis der eigenen
Befähigung zum Mord vor der Tat im Zentrum des Gleichnisses. Erst „dann“ tote tote,
nach dem gelungenen, heimlich erprobten Todesstoß, wie es betont im letzten Satz des
Gleichnisses heißt, führt der Täter sein Vorhaben aus und tötet den Würdenträger. Wichtig ist
ferner, daß ihm sein Plan gelang, weil er zuvor seine eigene Kraft richtig eingeschätzt hatte.
Das tertium comparationes des Gleichnisses ist demnach das unerläßliche Prüfen der eigenen
Fähigkeiten, das zum Erfolg führt und den Kern der Handlungsschilderung ausmacht.
Sozialgeschichtliche Analyse (Bildspendender Bereich)
Das Bild eines Verbrechers, der an einer Hauswand mit Hilfe seines Schwertes seine
Befähigung für einen Mordanschlag überprüft, wird seit Auffindung des Thomasevangeliums
von vielen Forschern immer wieder als „verwirrend“ und „anstößig“ bezeichnet (Hunzinger
1960, 212; Higgins 1960, 304; Stroker 1988, 101; Patterson 1993, 90; Zöckler 1999, 198).
Dementsprechend wird die zentrale Figur der Gleichniserzählung als „amoralischer Held“
(Schramm, Löwenstein 1986, 55) bewertet, und man nimmt an, daß der Vergleich des Reichs
Gottes mit einem Mörder sowie seiner Tatvorbereitungen von Jesu Zeitgenossen als
unpassend und nur schwer akzeptierbar empfunden wurde. Die besondere Anstößigkeit des
Bildes spricht allerdings auch für die Authentizität der Überlieferung; denn es ist kaum
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vorstellbar, daß die spätere christliche Gemeinde dieses Gleichnis erst gebildet hat (z.B.
Schramm, Löwenstein 1986, 53; Funk, Hoover 1993, 525).
Das daramtische Bild wird von vielen Exegeten „aus der harten Wirklichkeit des Zelotismus“
(Jeremias 71965, 195, vgl. Hunzinger 1960, 212; Stroker 1988, 101; DeConick (The Original
Gospel) 2006, 272) erklärt und das Geschehen als politisch motivierte Tat betrachtet, wobei
vorausgesetzt wird, daß Jesus die brisanten Hintergründe in der jüdischen Opposition gegen
die römische Herrschaft aus Furcht vor Repressalien nicht expressis verbis ausgesprochen hat.
Hierbei ist wohl vor allem an die sog. Sikarier gedacht, von denen uns der jüdische Historiker
Josephus berichtet, daß sie von ihren Zeitgenossen als eine neue Art des Widerstandes gegen
Rom betrachtet wurden (BJ 2, 254). Er schrieb ihnen eine besonders perfide Taktik zu, d.h.
sie töteten ihre Gegner, darunter den Hohenpriester Jonathan, hinterrücks mit Hilfe von unter
ihren Kleidern versteckten Dolchen. Dabei stachen sie so plötzlich im Gedränge z.B. im
Jerusalemer Tempel an jüdischen Festtagen zu, daß sie nach der Tat unerkannt in der
umstehenden Volksmenge untertauchen konnten (BJ 2, 254-255; AJ 20, 164-166. 187). Im
Hinblick auf diese Deutung stimmt jedoch skeptisch, daß Josephus diese spezielle Form des
Meuchelmords erst für die Zeit kurz vor dem Ausbruch des jüdischen Kriegs unter dem
römischen Prokurator Felix bezeugt und von einem politischen Hintergrund der Mordtat im
Gleichnis vom Attentäter keine Rede ist.
In eine andere Richtung weist n.m.E. die Bezeichnung des Mordopfers als megistavn
megistan. In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung interessant, daß dieser Begriff vom
koptischen Übersetzer unverändert aus seiner Vorlage übernommen wurde. Dieses Wort, das
man mit „Würdenträger“ oder „Vornehmer“ übersetzen kann, findet sich auch an anderer
Stelle im Thomaevangelium (ThomEv 78). Hier bezeichnet es die „weiche Kleidung“
tragenden Könige und deren Vornehme, die die Wahrheit nicht erkennen werden. Wie diese
Textstelle nahelegt, war das griechische Wort megistavn megistan in der Tat eine
Bezeichnung für Mitglieder des königlichen Hofstaats oder für andere Personen von hohem
gesellschaftlichen Rang. Diese Bedeutung scheint ebenfalls in Apk 6,15 und 18,23
vorausgesetzt zu sein und läßt sich auch in der griechischen Literatur nachweisen (Vettius
Valens 61,16, Artemidorus 1,2). Beachtenswert für die Auslegung des Gleichnisses vom
Attentäter scheint weiterhin Mk 6, 21 zu sein. An dieser Stelle ist vom Festmahl anläßlich der
Geburtstagsfeier des Herodes Antipas, des Landesherrn Jesus, die Rede, zu der neben den
Befehlshabern der kleinen Schutztruppe des Ethnarchen auch die Notablen Galiläas und die
megista`sin megistasin geladen waren. Diese „Vornehmen“ gehörten offensichtlich zum
Kreis der Höflinge. Wir können davon ausgehen, daß sie keinesfalls „erste Zivilbeamte“
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(Wohlenberg 1910, 182, vgl. Hoehner 1972, 102) waren, sondern zu einer für orientalische
Höfe typischen Schicht von Adligen gehörten, die beispielsweise bei den Parthern „auf ihren
Burgen saßen, lehnspflichtig waren und in einem gewissen Gegensatz zu dem Beamtenadel
standen“ (König 1931, 331). Zu ihren Verpflichtungen gehörte neben dem Kriegsdienst u.a.
die Teilnahme an den königlichen Empfängen (convictu magistanum), wie der römische
Historiker Sueton notiert (Cal 5). Interessant ist, daß Sueton dabei das griechische Lehnwort
magistanum im lateinischen Text ebenso wie es der koptische Übersetzer des
Thomasevangelium gebrauchte, weil es offenbar die geläufige Benennung dieser
orientalischen Adelsklasse war. Dieselbe soziale Schichtung und Herrschaftsform wie am Hof
des Großkönigs der Parther prägte dann auch die Höfe anderer orientalischer Kleinfürsten. So
mußte 59 n.Chr. der römische General Corbulo bei einem Feldzug die „Vornehmen
Armenians“ (megistanas Armenios) vertreiben (Tacitus Ann 15,27) und eroberte dabei z.B.
die Festung Tigranokerta, indem er den abgeschlagenen Kopf eines Adligen „ex megistanis“
mit einem Katapult über die Stadtmauer werfen ließ (Frontinus, Strategemata 2,9,5). Diese
Art von psychologischer Kriegsführung bezeugt uns das Sozialprestige dieser höfischen
Führungsschicht, denn nach ihrem Tod betrachteten die Belagerten den Kampf offenbar als
aussichtslos. Dieselbe Herrschaftsstruktur wird von Josephus im Königreich Adiabene
vorausgesetzt (AJ 20,26) und spiegelt sich gelegentlich auch in der Wortwahl der Septuaginta
bei der Beschreibung orientalischer Fürstenhöfe (z.B. Dan 5,23). Sie scheint für das
Verhältnis heidnischer Stämme in Transjordanien zu den ihre Gebiete beherrschenden,
jüdischen Königen kennzeichnend gewesen zu sein. Dafür ist wieder Josephus als Zeuge
anzuführen, der in seiner Autobiographie von zwei heidnischen megasta`neı meagstanes
des jüdischen Königs Agrippa II aus der ostjordanischen Trachonitis berichtet, die während
des jüdischen Kriegs zu ihm überliefen. Sie führten nicht bloß Pferde und Waffen, sondern
ebenfalls erhebliche Geldmittel mit sich (Vit 112). Die jüdische Bevölkerung stand ihnen aber
mit Haß gegenüber, verlangte die Beschneidung als Zeichen ihres Übertritts zum Judentum,
und man verdächtigte sie sogar, gefährliche „Zauberer“ zu sein (Vit 149). Josephus konnte die
beiden „Würdenträger“ vom Hof Agrippa II vor einem drohenden Mordanschlag nur retten,
indem er sie heimlich wieder in das Herrschaftsgebiet des Königs abschob.
Um diese gewaltbereite Ablehnung zu verstehen, ist zu berücksichtigen, daß Herodes der
Große wie auch seine Söhne sich während ihrer Regentschaft mit einem ihnen ergebenen
Kreis oft paganer Gefolgsleute umgaben (vgl. z.B. AJ 17, 219.225.341.345). Der
Herodessohn Archelaos erhielt z.B. während eines Zechgelages mit solchen sog. „Freunden“
(AJ 17, 344) durch einen Boten den Befehl des Augustus, sich nach Rom zu begeben, wo er
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vom Kaiser in die Verbannung geschickt wurde. Einen wichtigen Hinweis, wie sich diese
königlichen Höflinge beim Volk verhaßt gemacht hatten, enthält der Bericht des Josephus
über eine Gesandtschaft vornehmer Juden an Augustus, die den Kaiser vergeblich um die
Absetzung der Herodesdynastie ersuchten. Die Deputierten der Juden führten dabei ins Feld,
der Kreis der „Freunde“ sei von Herodes durch spezielle Abgaben für seine Loyalität belohnt
worden (AJ 17,308), die die Bevölkerung belasteten. Ferner ist von Vergewaltigungen von
Frauen durch Betrunkene die Rede, die wohl wegen ihrer Stellung bei Hof dafür nicht belangt
wurden, was Schande über die betroffenen Familien gebracht habe (AJ 17, 309).
Diese Nachrichten des Josephus legen nahe, daß man mit dem im Thomasevangelium
beschriebenen Mord nicht nur die Widerstandsbewegung der Zeloten oder Sikarier in
Verbindung bringen kann. Falls der megistavn megistan, der das Mordopfer war, aus der
Schicht nicht-jüdischer Vornehmer stammte, die an den Höfen des Herodes und seiner
Nachfolger einflußreiche Positionen einnahmen, dazu noch erheblichen Reichtum als Lohn
ihrer Dienste ansammeln konnten und sich überdies des königlichen Schutzes sogar bei
schweren Straftaten erfreuten, dann könnten für den Attentäter im Gleichnis noch ganz
andere, persönliche Motive infrage kommen. Diese Zusammenhänge dürften den
Zeitgenossen Jesu bekannt und verständlich gewesen sein.
Um das Bild des Attentäters, der seine Kraft durch einen an der Hauswand geprobten
Todesstoß prüfte, zu verstehen, ist für die Interpretation weiterhin wichtig, daß er sich damit
an die Fechtausbildung römischer Legionäre und Gladiatoren anlehnte, wie sie uns der
spätantike Autor Vegetius schildert. Das Erlernen des tötlichen Schwertstoßes gehörte
nämlich als Schlüsselelement zum römischen Fechttraining, wie es uns in den Quellen für das
Militär entgegentritt. Dabei wurde das Kampftraining mit speziellen Übungswaffen
durchgeführt, die jeweils das doppelte Gewicht der wirklichen Armeewaffen hatten (Vegetius,
Epitoma rei militaris I 12, 4). Geübt wurde an einem Holzpfahl, der den Gegner darstellte und
modernen Pappkameraden entsprach (Vegetius, Epitoma rei militaris I 11, 7-8; dazu:
Lambertz 1942, 2516; Horsmann 1991, 133-135, 139-143). Von Vegetius erfahren wir ferner,
daß die Ausbilder in erster Linie den erfolgreichen Stich mit der Waffe lehrten. Die Römer
konzentrierten sich besonders auf diese Kampftaktik, weil nach Vegetius eine geschlagene
Wunde oftmals nicht tötlich war. „Hingegen ein Stich, der nur zwei Zoll tief geht, ist tötlich,
denn notwendig trifft ins Leben, was (tief) eindringt“ (Vegetius, Epitoma rei militaris I 12, 2;
Übersetzung: Müller 1997, 47). Darum wurden auch überschwere Waffen zur Kräftigung der
Rekruten verwendet und der Holzpfahl benutzt, an dem die Attacke mit voller Kraft simuliert
werden konnte. Diese Nachrichten des Vegetius zeigen uns, daß der Attentäter des
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Gleichnisses eine gängige Übungsmethode anwandte, um zu testen, ob er im Ernstfall den
Trainingsstand eines Berufssoldaten erreicht hatte und darum den Mord durch einen tötlichen
Stoß mit entsprechender Wucht und Tiefe ausführen konnte. Erst nachdem er sich selbst
dieser Prüfung unterzogen hatte, die ihm zeigte, ob er das Trainingsziel jedes professionellen
Fechters z.B. bei den römischen Legionen erreicht hatte, führte er seine Tat aus.
Analyse des Bedeutungshintergrunds
Das im Gleichnis verwendete Bild eines Mörders bei der Tatvorbereitung ist ein Unikum in
der christlichen Literatur und wurde vermutlich von den ersten Hörerinnen und Hörern als
eine Provokation aufgefaßt. Es überrascht daher nicht, daß wir keine direkte Parallele in den
Evangelien finden können, obwohl in der synoptischen Gleichnistradition durchaus moralisch
fragwürdige Hauptfiguren wie etwa der betrügerische Verwalter in Lk 16,1-8 vorkommen
(Hunzinger 1960, 212). Bilder von Krieg und Gewalt sind ebenfalls aufgegriffen (Schramm,
Löwenstein 1986, 54; Stroker 1988, 101; DeConick (The Original Gospel) 2006, 272).
Beispielsweise wird der Sohn und Erbe im Gleichnis von der Weingärtnern (Mk 12,1-12 par.
ThomEv 65) am Ende von den Pächtern ermordet, und Jesus verwendete sogar das Bild eines
Raubüberfalls, der nur durch Stärke und Waffengewalt abgewehrt werden könne (Mk 3,27).
Auch scheute er sich nicht, Bildmaterial aus der Sphäre des Krieges und der
Kriegsvorbereitung zu benutzen (Lk 14,31-32). Trotzdem stellt das Gleichnis vom Attentäter
einen Extremfall dar, wenn auf der Bildebene die Selbstprüfung eines Mörders vor der am
Ende erfolgreichen Tat im Zentrum des Geschehens zur Erläuterung des Gottesreiches steht.
Dabei geht es nicht um die Motive für das Verbrechen, die Planung oder die Einzelheiten der
Ausführung. Vielmehr wird der Mord mit einem Schwertstoß an einer Holzwand geprobt, um
Gewißheit über über die nötige Körperkraft zu erlangen. Auf diese Entscheidungssituation,
d.h. den Moment des Abwägens vor dem Wagnis der Tat, ist die szenische Schilderung des
Gleichnisses zugespitzt. Der Schlüssel der Deutung liegt daher in der Interpretation dieser
Situation. Von einigen Exegeten wurde eine Auslegung auf Gott und „die erfolgreiche,
endgültige Durchsetzung der Gottesherrschaft“ (Schramm, Löwenstein 1986, 54; vgl.
Hunziner 1960, 216; Nordsieck 2004, 344) vorgeschlagen, wobei das Gleichnis eventuell
vorhandene Zweifel an Gottes Eingreifen zerstreuen solle. Ein solches Verständnis des
geschilderten Moments des Erforschens der eigenen Stärke und der daraus abgeleiteten
Entscheidung ist n.m.E. abzulehnen, denn es erscheint absurd, daß Gott sich seiner
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Fähigkeiten erst „in einer Art Generalprobe“ (Lindemann 1980, 221) vergewissern müßte
(Stroker 1988, 102; Schröter 1997, 136; Zöckler 1999, 198). Es ist daher vorzuziehen, das
Prüfen der eigenen Kraft auf diejenigen Menschen zu beziehen, die sich auf das kommende
Reich Gottes einlassen wollen: Sie sollen dies nicht unüberlegt und ohne gründliches
Erwägen der Folgen tun, denn eine Entscheidung ohne Kenntnis der eigenen Fähigkeiten
wäre zum Scheitern verdammt. Genauso wie der Attentäter angelehnt an das Fechttraining
von Soldaten oder Gladiatoren sich an einer Wand auf die Probe stellt, so gilt es auch in
dieser Situation sich selbst vor dem Handeln richtig einzuschätzen. Dabei hat Jesus sicherlich
nicht unbedacht eine so „verfängliche und dramatische Szenerie“ (Zöckler 1999, 199)
entworfen, sondern wollte durch dieses Bildmaterial einschärfen, daß es sich bei dem Reich
Gottes um keine Kleinigkeit handele, sondern den Ernst der Lage unterstreichen, bei der es
um Kopf und Kragen gehe und ein Versagen fatale Konsequenzen haben könne (vgl. Jeremias
7
1965, 195).
Es ist daher zurecht wiederholt auf eine Parallele im Gleichnispaar in Lk 14,28-32
hingewiesen worden (Jeremias 71965, 195; Fieger 1991, 248; Nordsieck, 344). Auch hier
mahnt Jesus wohlüberlegt ans Werk zu gehen, d.h. wie ein Bauherr vor dem Beginn seine
Kosten errechnet und eine König seine Truppenstärke und die des Gegners ins Kalkül zieht,
bevor er die Schlacht wagt. Ebenso mahnt das Gleichnis vom Attentäter sich für das Reich
Gottes nicht leichtfertig ohne Selbstprüfung zu entscheiden.
Aspekte der Wirkungsgeschichte
Im Hinblick auf das im Gleichnis vom Attentäter gezeichnete Bild eines Mörders vor der
Ausführung seines Verbrechens, ist es nicht erstaunlich, daß dieses Gleichnis nur im
Thomasevangelium überliefert wurde. Obgleich es sich um ein echtes Jesuswort handeln
dürfte, verhinderte diese Bildlichkeit, die die frühe Kirche wohl als unerträglich empfand,
seine weitere Verbreitung. Man muß sich dabei aber stets vor Augen halten, daß es sich um
keine moralische „Zensur“ (Lüdemann 2000, 804) der Jesusüberlieferung handelte, sondern
daß die verfolgte Gemeinde jede Äußerung zu vermeiden suchte, mit deren Hilfe ihre
Loyalität gegenüber dem römischen Staat in Zweifel gezogen werden konnte. Es lag daher
nahe, dieses Gleichnis nicht zu tradieren, um jedes Mißverständnis des Attentäterbildes als
Rechtfertigung politischer Gewalt, wie sie etwa im ersten jüdischen Krieg gegen Rom
kulminierte, auszuschließen.
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Literatur zum Weiterlesen
T. Schramm, K. Löwenstein, Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen
1986.
Th. Zöckler, Jesu Lehren im Thomasevangelium, Nag Hammadi and Manichaean Studies 47,
Leiden, Boston, Köln 1999.
Verwendete Literatur
A. D. DeConick, The Original Gospel of Thomas in Translation. With a Commentary and
New English Translation of the Complete Gospel, London, New York 2006.
B. D. DeConick, On the Brink of the Apocalypse: A Preliminary Examination of the Earliest
Speeches in the Gospel of Thomas, in: J. M. Asgeirsson, A. D. DeConick, R. Uro (Hgg.),
Thomasine Traditions in Antiquity. The Social and Cultural World of the Gospel of
Thomas, Nag Hammadi and Manichaean Studies 59, Leiden, Boston 2006, 93-118.
M. Fieger, Das Thomasevangelium. Einleitung, Kommentar und Systematik, NTA 22,
Münster 1991.
R. W. Funk, R. W. Hoover, The Five Gospels. The Search for the Authentic Words of Jesus.
New Translation and Commentary, New York u.a. 1993.
A. J. B. Higgins, Non-Gnostic Sayings in the Gospel of Thomas, NT 4 (1960), 292-306.
H. W. Hoehner, Herod Antipas, MSSNTS 17, Cambridge 1972.
G. Horsmann, Untersuchungen zur militärischen Ausbildung im republikanischen und
kaiserzeitlichen Rom, Wehrwissenschaftliche Forschungen 35, Boppard 1991.
C.-H. Hunzinger, Unbekannte Gleichnisse Jesu aus dem Thomas-Evangelium, in: Judentum,
Urchristentum, Kirche FS J. Jeremias, hg. v. W. Eltester (Hg.), Berlin 1960, 209-220.
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R. Nordsieck, Das Thomas-Evangelium. Einleitung – Zur Frage des historischen Jesus –
Kommentierung aller 114 Logien, Neukirchen-Vlyun 2004.
König, Art. Megistanes, PRE XIV (1931), 330-331.
Lambertz, Art. palaria, PRE XVIII (1942), 2515-2516.
A. Lindemann, Zur Gleichnisinterpretation im Thomas-Evangelium, ZNW 71 (1980) 214243.
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G. Lüdemann, Jesus nach 2000 Jahren. Was er wirklich sagte und tat. Mit Beiträgen von F.
Schleritt und M. Janßen, Lüneburg 2000.
F. L. Müller (Übers.), Publius Flavius Vegetius Renatus, Abriß des Militärwesens lateinisch
und deutsch mit Einleitung, Erläuterungen und Indices v. F. L. M., Stuttgart 1997.
St. J. Patterson, The Gospel of Thomas and Jesus, Sonoma 1993.
T. Schramm, K. Löwenstein, Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen
1986.
J. Schröter, Erinnerungen an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in
Markus, Q und Thomas, WMANT 76, Neukirchen-Vluyn 1997.
W. D. Stroker, Extracanonical Parables and the Historical Jesus, in: Ch. W. Hedrick (Hg.),
The Historical Jesus and the Rejected Gospels, Semeia 44 (1988) 95-120.
G. Wohlenberg, Das Evangelium des Markus ausgelegt v. G. W., KNT 2, Leipzig 1910.
Th. Zöckler, Jesu Lehren im Thomasevangelium, Nag Hammadi and Manichaean Studies 47,
Leiden, Boston, Köln 1999.
Kurzvita
Förster, Dr. Niclas, geb. 1967, Projektleiter im Rahmen des Emmy Noether-Programms der
Deutschen Forschungsgemeinschaft am Institutum Judaicum Delitzschianum der Universität
Münster; Wohnort: Hann. Münden