Moral Hazard in der gesetzlichen
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Moral Hazard in der gesetzlichen
Meusch • Moral Hazard in der gesetzlichen Krankenversicherung ISBN 978-3-8329-6799-4 33 Beiträge zum Gesundheitsmanagement Andreas Meusch Moral Hazard in der gesetzlichen Krankenversicherung in politikwissenschaftlicher Perspektive Nomos 33 http://www.nomos-shop.de/13842 Beiträge zum Gesundheitsmanagement Herausgeber: Prof. Dr. rer. oec. Norbert Klusen Andreas Meusch Band 33 http://www.nomos-shop.de/13842 Andreas Meusch Moral Hazard in der gesetzlichen Krankenversicherung in politikwissenschaftlicher Perspektive Nomos http://www.nomos-shop.de/13842 Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs 1 der Universität Paderborn gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Chemnitz, Techn. Univ., Diss., 2011 ISBN 978-3-8329-6799-4 1. Auflage 2011 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. http://www.nomos-shop.de/13842 Inhaltsverzeichnis 1.! Einleitung 25! 2.! Untersuchungsgegenstand 33! 1.1! Problemstellung 1.2! Methodisches Vorgehen 2.1! 2.2! 2.3! 2.4! 2.5! 2.6! Definition Moral Hazard Exkurs: Zu den Risiken der Erweiterungen von Definitionen Objekt der Analyse: Das System der gesetzlichen Krankenversicherung Kritik des ökonomischen Ansatzes von Moral Hazard Ist Moral Hazard also ein ideologisches Konstrukt oder Realität? Ziele des Systems „gesetzliche Krankenversicherung“ 2.6.1! Zugang zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung 2.6.2! Sozialer Ausgleich 2.6.3! Exkurs: Inwieweit orientiert sich die vorliegende Arbeit an den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts? 2.6.4! Wirtschaftlichkeit der Versorgung 2.6.5! Wettbewerb 2.6.6! Beschäftigungs- und Standortsicherung 2.6.7! Begrenzung der Lohnnebenkosten 3.! Theoretische Grundlagen 3.1! 3.2! 3.3! 3.4! Systemtheorie Principal-Agent-Theorie Governance-Forschung Konstitutionelle Ökonomik 4.! Reformen in der Gesundheitspolitik 4.1! Die Megatrends im deutschen Gesundheitswesen 4.2! Ein zusätzliches Paradigma: Kostendämpfung 4.3! Gesundheitsreformen seit 1977 im Überblick 5.! Moral-Hazard-Anreize für Versicherte 5.1! Moral Hazard von Versicherten in der volkswirtschaftlichen Literatur 5.2! Lässt sich Moral Hazard über ökonomische Anreize relevant beeinflussen? 5.3! Maßnahmen gegen Moral Hazard von Versicherten im deutschen Gesundheitssystem 5.3.1! Leistungsausschluss 25! 29! 34! 39! 40! 41! 42! 46! 46! 47! 49! 50! 52! 53! 55! 57! 57! 63! 67! 69! 71! 71! 78! 94! 111! 111! 112! 116! 117! 13 http://www.nomos-shop.de/13842 5.3.2! Patientenquittungen 5.3.3! Kostenerstattung statt Sachleistung 5.3.4! Eigenbeteiligungen der Versicherten 5.3.4.1! Praxisgebühr 5.3.4.2! Zuzahlungen 5.3.4.3! Selbstbehalte 5.3.4.4! Festzuschüsse 5.3.4.5! Zwischenfazit 5.3.5! Hausarztzentrierte Versorgung 5.4! Fazit 6.! Moral-Hazard-Anreize für Ärzte 6.1! Rollendefinition der Ärzte und Moral Hazard 6.1.1! Professionelle Dominanz 6.1.2! Der „Halbgott in Weiß“: Der paternalistische Ansatz nach Parsons 6.1.3! Exkurs: Mythos und Arztrolle 6.1.4! „Säkularisierung der Arztrolle“: ‚Informed consent‘ als Basis der Arzt-Patienten-Beziehung 6.1.5! Der Arzt als Dienstleister für den selbstbestimmten und informierten Patienten 6.1.6! Der Arzt als Maximierer seines Nutzens: Der Ansatz der klassischen volkswirtschaftlichen Theorie 6.1.7! Die Gleichzeitigkeit inkompatibler Rollenmuster 6.1.8! Auswirkungen der unterschiedlichen Rollenmuster auf MoralHazard-Verhalten 6.2! Anreize zu Moral-Hazard-Verhalten gegenüber dem Patienten 6.2.1! Informationsasymmetrien als Kern von Moral-Hazard-Anreizen 6.2.2! Auswirkungen unterschiedlicher Rollenmuster der Ärzte auf Patientenverhalten und Moral Hazard 6.2.3! Zwischenfazit 6.3! Fehlerkultur 6.3.1! Allgemeine Symptome für Defizite in der Fehlerkultur 6.3.2! Defizite in der Fehlerkultur bei der Arzneimittelversorgung 6.3.3! Defizite in der Fehlerkultur bei der Einhaltung von Hygienevorschriften 6.3.4! Disease Mongering 6.3.5! Maßnahmen zur Verbesserung der Fehlerkultur 6.4! Maßnahmen zur Verminderung von Anreizen zu Moral-HazardVerhalten von Ärzten gegenüber Patienten 6.4.1! Information und Transparenz 6.4.1.1! Informationsasymmetrie als Kommunikationsproblem zwischen Arzt und Patient 6.4.1.2! Maßnahmen zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Arzt und Patient 14 122! 127! 132! 132! 135! 147! 149! 150! 151! 156! 159! 159! 161! 163! 167! 170! 172! 173! 174! 177! 180! 180! 184! 185! 186! 186! 188! 193! 198! 201! 206! 206! 207! 209! http://www.nomos-shop.de/13842 6.4.1.3! Public Reporting 6.5! Anreize zu Moral-Hazard-Verhalten gegenüber Krankenkassen 6.5.1! Angebotsinduzierte Nachfrage als Moral-Hazard-Problem 6.5.1.1! Das Vergütungssystem 6.5.1.2! Budgetierungen 6.5.2! Abrechnungs- und Prüfverfahren 6.5.2.1! Abrechnungsprüfung 6.5.2.2! Wirtschaftlichkeitsprüfungen 6.5.3! Medizinischer Dienst der Krankenversicherung (MDK) 6.5.3.1! Aufgaben des Medizinischen Dienstes 6.5.3.2! Die Praxis der Arbeit der MDKen 6.6! Moral Hazard in der akutstationären Versorgung 6.6.1! Effizienzreserven im Krankenhaus 6.6.2! Das Vergütungssystem im Krankenhaus 6.6.2.1! Landesbasisfallwert 6.6.2.2! Auswirkungen des DRG-Systems 6.6.3! Besonderheiten der Aufgabenwahrnehmung der MDKen bei der stationären Versorgung 6.6.4! „Fangprämien“ 6.6.5! Zwischenfazit 6.7! Fazit 7.! Moral-Hazard-Anreize für Krankenkassen 7.1! Krankenkassen als mittelbare Staatsverwaltung 7.2! Risikoselektion 7.2.1! Risikoselektion innerhalb einer Solidargemeinschaft? 7.2.2! Risikoselektion als Systemfrage 7.3! Ex-ante Moral Hazard 7.4! Ex-post Moral Hazard 7.5! Risikostrukturausgleich (RSA) 7.5.1! Entwicklung und Funktionsweise des RSA 7.5.2! Anreizwirkungen der RSA-Regelungen 7.5.2.1! Disease-Management-Programme 7.5.2.2! Morbi-RSA 7.5.2.3! Exkurs: Umverteilung zwischen Bundesländern durch den RSA und zweigeteilte Aufsichten über Krankenkassen 7.5.2.4! Zwischenfazit 7.5.3! Fazit 8.! Steuerung der Arzneimittelversorgung 8.1! Relevante Faktoren, die die Kostendynamik im deutschen Arzneimittelmarkt beeinflussen 8.1.1! Kosten, Mengen, Preise 212! 214! 215! 217! 225! 233! 234! 236! 241! 241! 243! 244! 245! 247! 248! 251! 256! 258! 262! 262! 269! 271! 276! 277! 280! 282! 286! 289! 291! 304! 304! 312! 318! 322! 324! 327! 327! 329! 15 http://www.nomos-shop.de/13842 8.1.2! Bedeutung der „Strukturkomponente“ 8.2! Normative Steuerung der Arzneimittelversorgung in der GKV 8.3! „Marktliche“ Steuerung der Arzneimittelversorgung 8.3.1! Eintritt in den Markt der gesetzlichen Krankenversicherung 8.3.1.1! Marktzugang ohne staatliche Preisregulierung 8.3.1.2! Optionen zur Regelung des GKV-Marktzugangs 8.3.2! Vertriebskanäle für Medikamente 8.3.2.1! Bedeutung der niedergelassenen Ärzte bei der Durchsetzung von Preisen von Arzneimitteln 8.3.2.2! Medikamentenversorgung durch Krankenhäuser 8.3.2.3! Apotheken 8.3.2.4! Patienten 8.3.3! Fachinformationen zu Arzneimitteln 8.3.3.1! Publication bias 8.3.3.2! Anwendungsbeobachtungen 8.4! Fazit 332! 336! 339! 340! 344! 351! 366! 9.1! 9.2! 9.3! 9.4! 402! 406! 408! 413! 414! 9.! Struktureller Moral Hazard 367! 370! 373! 374! 386! 386! 393! 396! 401! Moral Hazard als Problem komplexer adaptiver Systeme Rentseeking als Komplexitätsproblem Verschiebebahnhöfe / versicherungsfremde Leistungen Träger des Morbiditätsrisikos 9.4.1! Tragen des Morbiditätsrisikos durch die Ärzte 9.4.1.1! Funktionsweise der mit befreiender Wirkung gezahlten Kopfpauschale 9.4.1.2! Steuerungswirkungen 9.4.2! Zwischenfazit 9.4.3! Tragen des Morbiditätsrisikos durch die Krankenkassen 9.4.3.1! Die Änderungen durch das GKV-WSG: EuroGebührenordnung und Regelleistungsvolumina 9.4.3.2! Steuerungswirkungen 9.4.4! Zwischenfazit 9.5! Transparenz im Gesundheitssystem 9.5.1! Intransparenz als Systemproblem 9.5.2! Die Arbeit der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung 9.6! Sektorierung der Versorgung 9.7! Fazit 421! 422! 423! 424! 424! 427! 428! 434! 11.! Literaturverzeichnis 443! 10.! Schlussbetrachtungen 12.! Der Autor 16 414! 417! 419! 421! 435! 507! http://www.nomos-shop.de/13842 1. Einleitung Das deutsche Gesundheitswesen gilt als „stark reformresistent“1, geprägt durch „Schwerfälligkeit und Immobilismus“2. Seine Binnenstruktur wirkt als „ausgesprochener Blockadefaktor“3 und es herrscht eine „im internationalen Vergleich auffallende Strukturkonstanz“4. Die politikwissenschaftliche Analyse zeichnet ein sehr skeptisches Bild der Reformierbarkeit eines gesellschaftlichen Teilsystems, das Reformen in immer kürzeren Abständen erlebt. Da auch für die Zukunft weitere Reformen sehr wahrscheinlich sind, sind Analysen notwendig, die Ansatzpunkte für die Überwindung der Reformblockaden liefern. Die vorliegende Arbeit will dazu einen Beitrag leisten. 1.1 Problemstellung Was ist nur im deutschen Gesundheitswesen los? Ein Blick in die Schlagzeilen der Medien lässt Sorge um seine Zukunftsfähigkeit aufkommen: • „Dicke Menschen bedrohen Versicherungssystem“5 • „Bürokratie-Irrsinn! Krankenkassen verschwenden Millionen“6 • „Das aktuelle Gesundheitssystem ist für die Betroffenen nicht mehr durchschaubar, bietet für die Akteure keine Zukunftsperspektive mehr und ist für die politischen Verantwortlichen letztlich auch nicht mehr steuerbar.“7 1 2 3 4 5 6 7 Rosewitz, Bernd, Douglas Webber (1990): Reformversuche und Reformblockaden im deutschen Gesundheitswesen, Frankfurt am Main, New York, S. 295. Rosewitz, Bernd, Douglas Webber (1990): Reformversuche und Reformblockaden im deutschen Gesundheitswesen, Frankfurt am Main, New York, S. 317. Döhler, Marian; Manow, Philip (1995): Staatliche Reformpolitik und die Rolle der Verbände im Gesundheitssektor. In: Mayntz, Renate; Scharpf, Fritz W. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. Frankfurt am Main, S. 140–168, S. 141. Döhler, Marian; Manow, Philip (1995): Staatliche Reformpolitik und die Rolle der Verbände im Gesundheitssektor. In: Mayntz, Renate; Scharpf, Fritz W. (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. Frankfurt am Main, S. 140–168, S. 142. Deutsche Presse Agentur (dpa) (2009): Dicke Menschen bedrohen Versicherungssystem. 11.09.2009. Kautz, Hanno (2008): Bürokratie-Irrsinn! Krankenkassen verschwenden Millionen. BILD.de. Online verfügbar unter http://www.bild.de, zuletzt geprüft am 12.09.2009. NAV Virchow Bund (Hg.) (2009): Individuelle Vielfalt statt staatlicher Bevormundung. Online verfügbar unter http://www.nav-virchowbund.de, zuletzt geprüft am 11.09.2009. Das Zitat findet sich wortgleich in: Mißlbeck, Angela (2009): Verbände fordern Wende in der Gesundheitspolitik. In: Ärzte Zeitung, 11.09.2009. Online verfügbar unter http://www.aerztezeitung.de, zuletzt geprüft am 11.09.2009. 25 http://www.nomos-shop.de/13842 „Schmiergeld an Ärzte bleibt straffrei“8 „Der verkaufte Patient“9 „Der Patient als Fleischplatte“10 „»Endlich!«, dachte Richard, als er im Sommer 2006 erfuhr, dass er sich mit HIV angesteckt hatte. »Ich war froh, erleichtert, glücklich, euphorisch«, erinnert er sich an den Moment nach der Diagnose. Jahrelang hatte er russisches Roulette gespielt, bewusst versucht, sich anzustecken.“11 • „Damit weist das „Solidarsystem“ des Sozialstaates – das Gesundheitswesen bildet hier einen rasant wachsenden Teil – typische Merkmale eines spekulativen Systems auf.“12 • • • • Die Zitate lassen sich nicht als überhitzte Medienkampagnen oder Wahlkampfgetöse abtun. Der Verlust des Vertrauens in das Gesundheitswesen und in die Problemlösungskompetenz der Akteure ist längst eine politisch relevante Größe: „Das Vertrauen der Bevölkerung in die Reform und die Kompetenzlösungsfähigkeit der Politik erodiert, nur noch 18 Prozent der Bevölkerung waren im Januar 2007 der Überzeugung, die Gesundheitspolitik geht in die richtige Richtung. 2001 waren es immerhin noch 27 Prozent.“13 Reformen werden nicht mehr als Schritt zur Verbesserung wahrgenommen, sondern als Teil des Problems perzipiert wie die Reaktionen auf die jüngste Gesundheitsreform, das sogenannte Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) zeigen: „Belogen und ausgetrickst“ betitelt der Spiegel seinen Beitrag zur Verabschiedung der Reform im Deutschen Bundestag am 2. Februar 2007.14 Vom gleichen Ereignis berichtet der Branchendienst gid unter der Überschrift „Schwarzer Freitag“ und sieht darin einen „doppelten Tiefpunkt in der deutschen parlamentarischen Nachkriegsgeschichte“.15 Vertreter der Jungen Union und Andrea Nahles hatten noch nie so viel Gemeinsamkeit wie in der Einschätzung: Keine Reform 8 9 10 11 12 13 14 15 26 Ohne Autor (2009): Schmiergeld an Ärzte bleibt straffrei – 200 Ermittlungsverfahren eingestellt. Spiegel online. Online verfügbar unter http://www.spiegel.de, zuletzt geprüft am 12.09.2009. Mihm, Andreas (2009): Der verkaufte Patient. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.2009. Online verfügbar unter http://www.faz.net, zuletzt geprüft am 01.09.2010. Buß, Christian (2009): TV-Dokumentation: Der Patient als Fleischplatte. Spiegel online. Online verfügbar unter http://www.spiegel.de, zuletzt aktualisiert am 31.08.2009, zuletzt geprüft am 05.09.2009. Gunkel, Christoph (2009): Absichtliche HIV-Infektionen: Eine Art von Todessehnsucht. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.04.2009. Online verfügbar unter http://www.faz.net, zuletzt geprüft am 26.08.09. Held, Gerd (2008): Der Gesundheitsfonds wird teuer. In: Die Welt, 01.10. 2008. Online verfügbar unter http://debatte.welt.de, zuletzt geprüft am 11.09.2009. Forsa (2007): Die Bürger und die Gesundheitsreform: Wahrnehmung und Einschätzungen, P090.8 01/07. Der Spiegel vom 29.01.2007. Gid, Nr. 5 vom 5. Februar 2007, S. 5. http://www.nomos-shop.de/13842 wäre besser gewesen.16.Claus Leggewie, Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität, stellt fest: „Die seit drei Jahrzehnten unter Beweis gestellte Unfähigkeit, die chronische Arbeitsmarktkrise zu bewältigen oder auch nur noch medial zu managen, und halbe Sachen wie Gesundheits- und Föderalismusreformen beschleunigen den Entzug politischer Unterstützung.“17 „Ein solcher Vertrauensverlust in die Politik ist beispiellos.“ Das Zitat stammt aus dem Fazit eines Aufsatzes, den der Autor 2007 zusammen mit Professor Klusen geschrieben hatte.18 Darin wurde unter anderem festgestellt: „Es herrscht Ratlosigkeit: Von Forsa befragt, begreifen 88 Prozent der Arbeiter nicht mehr, was die Regierung in der Gesundheitspolitik will. Angestellten, Selbstständigen oder Beamten geht es kaum besser: 74 Prozent begreifen es nicht mehr19. Überraschenderweise unterscheidet sich das Unverständnis bei Anhängern der Linkspartei (77 Prozent) nicht gravierend von dem der Anhänger von CDU/CSU (73 Prozent). Beide werden von Grünen und SPD noch übertroffen, von denen 79 Prozent nicht mehr verstehen, was die Regierung will.20 Besonders auffällig: 86 Prozent sprechen der Regierung ab, mit der Gesundheitsreform ein klares Ziel zu verfolgen, und zeigen sich überzeugt, dass es sich eher um ein Hick-Hack zwischen den Parteien ohne erkennbares Konzept handelt.“21 „Die Kritik an der konkreten Gesundheitsreform ändert aber nichts daran, dass die Reformbereitschaft der Bürger insgesamt erhalten bleibt. Der breiten Mehrheit (92 Prozent), die sich für teilweise oder sogar grundlegende Reformen ausspricht, stehen nur sieben Prozent gegenüber, die alles beim Alten belassen wollen.“22 „Trotz zunehmender Kritik am Gesundheitssystem verfügt das Solidarprinzip als Grundpfeiler der gesetzlichen Krankenversicherung über ungebrochenen Rückhalt in der Bevölkerung: Mit 74 Prozent bewertete es im September 2006 die große Mehrheit der Bürger als ‚gut‘ oder sogar ‚sehr gut‘ und signalisierte damit den Wunsch, an diesem Leitgedanken festzuhalten. In dieser Haltung sind sich auch die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen weitgehend einig.“23 16 17 18 19 20 21 22 23 Zit. n.: Der Spiegel vom 29.01.2007. Leggewie, Claus (2007): Nachzügler Ost?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 28.01.2007, S. 13. Klusen, Norbert; Meusch, Andreas (2007): Das GKV-WSG: ein Projekt zur Förderung der Politikverdrossenheit?, in: Ulrich, Volker; Ried Walter (Hrsg.): Effizienz, Qualität und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen. Theorie und Politik öffentlichen Handelns, insbesondere in der Krankenversicherung. Festschrift zum 65. Geburtstag von Eberhard Wille, Baden-Baden, S. 965–984. Forsa (2007): Die Bürger und die Gesundheitsreform: Wahrnehmung und Einschätzungen, P090.4 01/07. Forsa (2007): Die Bürger und die Gesundheitsreform: Wahrnehmung und Einschätzungen, P090.5 01/07. Forsa (2007): Die Bürger und die Gesundheitsreform: Wahrnehmung und Einschätzungen, P090.7 01/07. Institut für Demoskopie, Allensbach (Hrsg.), Veränderungen des Reformklimas. Zusammenfassung der Studie ist unter www.ifd-allensbach.de verfügbar. Forsa (2007):Die Bürger und die Gesundheitsreform: Wahrnehmung und Einschätzungen, P6689/17247: Danach finden den Solidaritätsgedanken noch immer 74 Prozent sehr gut oder gut (September 2006) gegenüber 78 Prozent im Juni 2004. 27 http://www.nomos-shop.de/13842 Reformbereitschaft und Zustimmung zu den Grundlagen des bestehenden Systems auf der einen Seite und Ratlosigkeit, Unverständnis und Ablehnung konkreter Maßnahmen wie des Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) andererseits: Wie passt das zusammen? Woran liegt es, und vor allem: Wo liegen Ansätze, diese politisch wie volkswirtschaftlich bedenkliche Situation zu überwinden? Die hier vorliegende Arbeit richtet dabei den Fokus auf Fragen, die sich mit den Problemen des „Moral Hazard“ verbinden. Der Autor ist auf diese Probleme zuerst im Rahmen einer Beschäftigung mit den Grundlinien der Sozialpolitik Mitte der 90er Jahre aufmerksam geworden.24 Außerdem hat er sich im Rahmen seiner Beschäftigung mit den Auswirkungen des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs auf die Wirkmechaniken im deutschen Gesundheitswesen bereits mit der Thematik auseinandergesetzt25. Darin ist er zu folgender Einschätzung gelangt: „Wer am konsequentesten auf Moral verzichtet und hemmungslos sich über Moral-HazardStrategien optimiert, wird der Gewinner dieses Systems sein. Die Kombination von MRSA und Fonds wird so für einige die sozialstaatliche Variante des ‚enrichissez vous!‘“26 In der polemischen Zuspitzung dieses Textes steckt die Hypothese, dass die Steuerungseffekte des Morbi-RSA wegen Anreizwirkungen zu Moral-HazardVerhalten anders wirken als vom Gesetzgeber intendiert. Damit begann ein Prozess des Nachdenkens über das Verständnis von Moral Hazard im deutschen Gesundheitswesen und die Frage, an welchen Stellen im System es weitere Beispiele dafür gibt. Die Hypothese des Textes ist eine Neufokussierung der Diskussion um Moral Hazard: Die Verantwortung dafür, dass Menschen ihr Eigeninteresse höher bewerten als das Gesamtinteresse und deshalb gegen Letzteres verstoßen, wird nicht dem Individuum zugemessen, sondern auf der politischen Systemebene angesiedelt. Die hier formulierte Hypothese lautet: Es sind die vom Gesetzgeber geschaffenen Strukturen, die verantwortlich sind, und nur sekundär die Individuen, die sich so verhalten, wie die Anreize gesetzt sind. Dahinter steht normativ das Konzept, dass der Gesetzgeber gehalten ist, Normen so auszugestalten, dass es nicht attraktiv gemacht werden darf, das Eigeninteresse über das Systeminteresse zu stellen. 24 25 26 28 Meusch, Andreas (1994): Sozialpolitische Zeitenwende, in: Die politische Meinung, Nr. 300, 11/1994 sowie in: Meusch, Andreas (2002): Und der Zukunft abgewandt. Sozialpolitik in der Ära Kohl, Hamburg, S. 25–35. Meusch, Andreas (2007): Die Moral-Hazard-Spirale. Wie die Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich die Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung ruiniert. In: Implicon plus 10/2007, S. 1-9.; Meusch, Andreas (2008): Konsequente Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich: Warum der geplante M-RSA den wirklich Kranken schadet, in: Recht und Politik im Gesundheitswesen, H. 1, S. 15–19. Meusch, Andreas (2008): Konsequente Morbiditätsorientierung im Risikostrukturausgleich: Warum der geplante M-RSA den wirklich Kranken schadet, in: Recht und Politik im Gesundheitswesen, H. 1, S. 15–19, S. 19. http://www.nomos-shop.de/13842 Daraus ergeben sich zwei Arten von Moral Hazard: • Individueller Moral Hazard: Der Normgeber (der Gesetzgeber, die Versicherung) hat adäquate Regelungen, Kontroll- und Sanktionsmechanismen entwickelt, um zu verhindern, dass der Eigennutz der Individuen das Systeminteresse gefährdet. Dennoch gibt es Individuen (natürliche oder juristische), die sich in Einzelfällen zulasten des Gesamtsystems optimieren, unter billigender Inkaufnahme, sanktioniert zu werden. • Struktureller Moral Hazard: Der Normgeber hat zwar das Systeminteresse formuliert, aber einzelne Bestimmungen so ausgestaltet bzw. mit keinen oder so schwachen Sanktionsmechanismen versehen, dass adverse Steuerungswirkungen eine hohe Wahrscheinlichkeit haben. Moral Hazard ist keine juristische Kategorie und soll gerade nicht mit einer solchen wie Betrug verwechselt werden. Aber genau so wie im Einzelfall es deutsche Gerichte beschäftigt, ob ein individuelles Verhalten Betrug oder „nur“ Moral Hazard ist, so sollte es die Politikwissenschaft interessieren, wenn gesetzliche Regelungen zwar nicht „offensichtlich fehlsam“27 im justiziablen Sinne sind, aber dennoch zu relevanten Fehlentwicklungen in der politischen Steuerung eines politischen Subsystems, hier des Gesundheitswesens, führen. Die Betrachtung der Anreizwirkungen von gesetzlichen Regelungen zur Krankenversicherung für Individuen wie Patienten, Versicherte und Ärzte ist dabei die Grundlage der Analyse. Allerdings stehen hier nicht volkswirtschaftliche Modelle im Mittelpunkt, sondern empirisch in der deutschen Versorgungsrealität beobachtbare Phänomene. Auf dieser Basis wird schließlich betrachtet, wie der Gesetzgeber selbst mit bestimmten Regelungen für das Gesamtsystem der gesetzlichen Krankenversicherung adverse Steuerungswirkungen auslöst. 1.2 Methodisches Vorgehen Die Grundannahme dieser Arbeit ist, dass die Theorie von Moral Hazard durch die Methodik der Wirtschaftswissenschaften geprägt ist und diese bei einer Vielzahl von Fragestellungen an die Grenzen dessen kommt, was sie erklären kann. Die Arbeit stellt deshalb den Versuch dar, über andere methodische Ansätze zu wirklichkeitsnäheren Problembeschreibungen zu kommen und damit auch die 27 Bundesverfassungsgericht: Urteil vom 18. Juli 2005, Aktenzeichen 2 BvF 2/01, Rz 129: „Im Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz der Freiheit des Einzelnen und den Anforderungen einer sozialstaatlichen Ordnung hat der Gesetzgeber eine weite Gestaltungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers anzuerkennen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind (vgl. BVerfGE 44, 70 <89 f.>; 89, 365 <376>; 103, 172 <185>).“ 29 http://www.nomos-shop.de/13842 Chancen für Problemlösungen zu verbessern. Dieser Suchprozess setzt auf einen Dialog der Methoden: „Wir werden kaum umhin können, immer wieder neu entscheiden zu müssen, ob die Annahmen einer speziellen Theorie für die spezielle Fragestellung hinreichend relevant sind oder nicht. Dogmatismus ist bequemer, aber kaum besser.“28 Paul Watzlawik kann deshalb als geistiger Vater für diese Form des methodischen Vorgehens angesehen werden: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“29 Der Autor betrachtet die ökonomischen Erklärungen analog zum Hammer-Nagel-Problem. Es ist völlig unbestritten, dass der Hammer als wichtiges Werkzeug in jeden Handwerkerkasten gehört, wie die Erklärungsmuster der Ökonomie unverzichtbar in der Toolbox zur Erklärung und Lösung von Problemen im Gesundheitswesen sind. Wie man sich aber kopfschüttelnd von einem Handwerker abwendet, der mit seinem Hammer Löcher „bohrt“, so sollte man es auch von Erklärungsmustern tun, die jedes Problem im Gesundheitswesen in das Prokrustesbett der Ökonomie stecken. Erkenntnisgewinn durch Perspektivwechsel ist der Ansatz, der in dieser Arbeit verfolgt wird. Die Vielfalt der Perspektiven ist zwangsläufig, denn die Komplexität der Probleme im Gesundheitswesen muss eine Entsprechung in der Komplexität des methodischen Herangehens haben. So sind neben den ökonomischen Erklärungsmustern von Moral Hazard auch die rechtlichen Faktoren und ihre Entwicklung von Bedeutung. Auch eine politikwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gesundheitswesen wird ohne Einbeziehung medizinischer Studien wichtige Aspekte der Realität kaum abbilden können. Gerade in der Synopsis, in der Zusammenschau dieser Aspekte versucht die Arbeit, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Damit die Vielfalt der Perspektiven beherrschbar bleibt, wird die Arbeit auf die Paraphrasierung von als gesichert geltenden Erkenntnissen dort verzichten, wo sie keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprechen. So ist es in Fachkreisen unstreitig, dass die fehlende Verzahnung der verschiedenen Sektoren im Gesundheitswesen Kosten und Qualitätsdefizite zur Folge hat. Von der Dimension der Problematik müsste dieses Thema mit den größten Teilaspekt dieser Arbeit darstellen. Es gibt dazu aber eine gesicherte Literaturlage, der Neues hinzuzufügen schwierig ist. Deshalb soll dem Thema nur so viel Aufmerksamkeit zugebilligt werden, wie neue politikwissenschaftlich relevante Erkenntnisse gewonnen werden können. Breiterem Raum wird deshalb Fragestellungen gegeben, die durch das mosaikartige Zusammensetzen verschiedener Aspekte neue Einsichten 28 29 30 Pies, Ingo; Leschke, Martin (2001): Oliver Williamsons Organisationsökonomik. Tübingen, S. 234. Zit. n.: Mörtenhummer, Monika; Mörtenhummer, Harald (Hg.) (2008): Zitate im Management. Das Beste von top-Performern und Genies aus 2000 Jahren Weltwirtschaft. Wien, S. 97. http://www.nomos-shop.de/13842 versprechen, wie z. B. der Frage nach der Bedeutung von Rollenmustern zur Entstehung von Moral Hazard. Zusammenfassend lässt sich der Ansatz in Anlehnung an die philosophische Erkenntnis „Plato amicus, sed magis amica veritas30“ wie folgt beschreiben: Scientia oeconomiae amica, sed magis amicae problema soluta.31. 30 31 Enskat, Rainer (Hg.) (1998): Amicus Plato magis amica veritas. Festschrift für Wolfgang Wieland zum 65. Geburtstag. Berlin. „Platon ist (zwar) ein Freund, der bessere Freund ist aber die Wahrheit“ Die Wirtschaftswissenschaft ist (zwar) ein Freund, die besseren Freunde sind aber gelöste Probleme. 31