Bildsprache in Viscontis Verfilmung von „Der Tod in Venedig“

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Bildsprache in Viscontis Verfilmung von „Der Tod in Venedig“
Bildsprache in Viscontis Verfilmung
von „Der Tod in Venedig“
- Mareile Krömer / Eva-Maria Redeker -
Inhaltsverzeichnis:
Seite
I Einleitung
2
II Hauptteil
3
2.
Bildsprache in Film und Buch
3
2.1
Einführung der Terminologie ‘Bildsprache ‘
5
2.1.1 Das Bild
2.1.2 Die Komposition
2.1.3 Nähe-Distanz-Relation
2.1.4 Kameraperspektive und -führung
5
6
7
8
2.2
2.3
3.
Analyse ausgewählter Schlüsselszenen im Film 9
2.2.1 Ankunft in Venedig
2.2.2 Erstes Wahrnehmen von Tadzio
2.2.3 Die ‚Erdbeer-Szene‘
2.2.4 Die ‚Sterbe-Szene‘ am Strand
9
14
18
21
Divergenzen Romanvorlage - Film
25
Der Regisseur Visconti und die Rezeption seines Werkes
3.1
3.2
Beweggründe Viscontis und seine
Auffassung über Literaturverfilmung
Kritik und Rezension
30
30
31
III Fazit
36
IV Literaturverzeichnis
37
I. Einleitung
Mit unserer Arbeit "Bildsprache in Viscontis Verfilmung von Thomas Manns ‘Der
Tod in Venedig’" werden wir unter dem Aspekt der Bildsprache untersuchen, inwieweit Literaturverfilmungen ein ernstzunehmendes Abbild ihrer Vorlage sein
können oder ein eigenständiges Werk bilden.
Die Art und Weise sich mit Literatur auseinanderzusetzen, hat sich durch technische Neuerungen und neue Wege der Kommunikation verändert. So ist es für den
Schulunterricht unabdingbar, visuelle Medien wie z.B. den Film, d. h. im Deutschunterricht Literaturverfilmungen, einzusetzen. Die Schüler von heute sind es nicht
mehr gewohnt, Informationen nur durch das Lesen und das Unterrichtsgespräch
aufzunehmen, was auch im veränderten Freizeitverhalten begründet ist. Somit muß
sich die Lehrperson auf alternative Methoden der Lernstoffvermittlung konzentrieren, um den Schüler zu erreichen.
Im folgenden werden wir zunächst die unterschiedlichen Arten von Bildsprache
nach ihrer Medienzugehörigkeit definieren und darstellen, um Bewertungskriterien
für Viscontis Verfilmung zu erlangen. Anschließend werden wir anhand ausgewählter Schlüsselszenen des Filmes die präsentierte Bildsprache beschreiben,
erläutern und analysieren und die Divergenzen bezogen auf die Novelle anführen.
Im zweiten Teil unserer Hausarbeit gehen wir auf die Beweggründe für die Verfilmung und die Auffassung von Literaturverfilmungen Viscontis ein, um dann die
Rezeption und Kritik seines Werkes darzustellen und in Beziehung miteinander zu
setzen.
Am Ende unserer Hausarbeit werden wir uns nochmals die Frage stellen, ob und
inwiefern Literaturverfilmungen sinnvoll an sich beziehungsweise für den Deutschunterricht sind.
2
II. Hauptteil
2. Bildsprache in Film und Buch
Wenn wir die Art und Weise unterscheiden, auf die die beiden Medien Film und
Buch Bilder produzieren, dann stellt man fest, daß ein Buch aus Zeichen, Silben,
Wörtern und Sätzen besteht, während ein Film aus Einstellungen, Szenen und Sequenzen zusammengesetzt ist.
Während des Lesens wird die Schrift vom Leser entschlüsselt und den Worten
eine Bedeutung zugeordnet. Dafür muß er die Decodierung der Zeichen, also das
Lesen beherrschen und mit Hilfe des Erlernten und der Erfahrung einen Sinn für
sich konstituieren, also vor seinem inneren Auge ein Bild entstehen lassen.1
Der Film besitzt keine Zeichenebene, sondern sendet optische und akustische
Reize an den Zuschauer. Er sieht und hört, was der Regisseur ihm vermitteln
möchte. Jedoch benötigt auch hier der Rezipient einen Erfahrungshorizont, damit
er die gezeigten, also vorgegebenen Bilder verstehen und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen kann. Die Entschlüsselung wird dem Leser vom Regisseur
abgenommen.
Dies läßt sich an folgendem Beispiel erläutern:
„[...], betrachtete
Verb
er
Pers.pro.
(prüfend ansehen)
(= Aschenbach)
gequälten
Blickes
Part.Perf.
Substantiv
(seelische und
(Erkenntnis d.
körperliche Schmerzen)
An-
schauen)
sein
Spiegelbild.“ 2
Poss.Pro.
Substantiv
(ihm zugehörig)
(seitenverkehrtes Abbild
von Aschenbach)
1
vgl. Wessendorf, Stephan: Thomas Mann verfilmt . In: Schriften zur Europa- und Deutschlandforschung
Band 5. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 1998. Seite 22.
2
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1999. 56.
Auflage. Seite 81
3
1. Ebene: Der Text liefert das „signifiant“, das Lautbild, dem eine Bedeutung zugeordnet werden muß.
2. Ebene: Der Leser konstituiert selber das „signifié“.3
Der Leser wird aufgefordert, beide Ebenen zu durchlaufen, bevor er die Bedeutung des Geschriebenen verarbeiten kann.
In dieser Sequenz wird die Vorlage von Thomas Mann verbildlicht. Es gibt keinen
Erzähler, der die Situation beschreibt. Dirk Bogarde alias Gustav von Aschenbach
sitzt vor dem Spiegel und läßt sich verjüngen. Durch seine Mimik erfährt der Zuschauer, daß der Protagonist von seinem Abbild im Spiegel entsetzt ist. Die von
Thomas Mann beschriebene Qual, die Aschenbach bei seinem Anblick erleidet,
wird von dem Schauspieler visuell umgesetzt.4
Während im Buch lediglich die „signifiant“-Ebene, das heißt das Lautbild, vorhanden ist, beinhaltet der Film bereits die „signifié“- Ebene, das heißt das inhaltliche
Konzept. Daraus können wir schließen, daß Viscontis Verfilmung, wie jede Literaturverfilmung, lediglich nur eine mögliche Interpretation sein kann.
Beide Medien wollen eine Geschichte erzählen, besitzen also die „histoireEbene“5. Sprache hat endlos viele Möglichkeiten, diese Geschichten zu erzählen,
da die Ausdrucksmöglichkeiten im Text auf der „discours-Ebene“6 unbegrenzt
sind. Nicht mit sprachlichen Mitteln, sondern mit der Kamera, dem gewählten Format, der Nähe-Distanz-Relation und der Rahmen- und Bildgestaltung kann auch
der Film auf endlos viele Weisen eine Handlung darstellen.
Während im Roman das Lesetempo selbst bestimmbar ist und somit auch die
Bildsprache des Autors in unterschiedlichsten Tempi und Weisen individuell rezipiert werden kann, ist die Zeitstruktur für den Zuschauer im Film vorgegeben. Somit bleibt ihm nur die vom Regisseur vorgegebene Zeit, die Bildsprache des Films
aufzunehmen.
3
vgl. Fromkin & Rodman: An Introduction to Language. Orlando/ Fort Worth: Harcourt Brace, 1993, 5.
Auflage. Seite 35.
4
Sequenzierungsangabe: Rolle 3, Sequenz 36 (Im Friseursalon)
5
Wessendorf, Stephan: Thomas Mann verfilmt . Seite 18.
6
ebd. Seite 18.
4
2.1 Einführung der Terminologie ‘Bildsprache ‘ im Film
Wie bereits im Vergleich von Bildsprache im Film und im Roman erwähnt, ist auch
das Medium Film in der Lage, durch technische Aspekte immer neue, individuelle
Darstellungsmöglichkeiten zu schaffen (discours-Ebene). Die Variablen sind die
Gestaltung des Bildes und dessen Komposition, die Einstellung bezüglich der Nähe-Distanz-Beziehung und die Kameraperspektive und deren Führung. Auch wenn
man diese technischen Elemente beschreiben kann, so muß sich der Analysierende immer bewußt sein, daß er sich lediglich an den Film annähern kann, ihn
aber nie durch Worte vollständig beschreiben wird, da die Wirkung des Films auf
die Sinne und das Unbewußte nicht rational beschrieben werden kann. Und gerade das ist das Besondere am Film. Das Ziel der Filmanalyse ist es also,
„über die ästhetische Strukturen von Filmen (...) Einsichten und Erkenntnisse
sprachlich zu formulieren, um sie auf diese Weise bewußt zu machen“ 7.
Während es verschiedene Analyserichtungen8 gibt, entschieden wir uns dafür, den
Film hermeneutisch, also auf sein Bedeutungs- und Sinnpotential9 hin zu untersuchen. Dazu wählen wir zwei der insgesamt sechs Zugriffe aus, mit denen wir das
vorliegende Material untersuchen wollen: Den strukturalistischen und den genrespezifischen Zugriff. Weitere Möglichkeiten wären der biographische, literar- oder
filmhistorische, der soziologische und der psychologische Zugriff10. Sicherlich
werden einige dieser Aspekte auch in unsere Arbeit mit einfließen, aber der
Schwerpunkt sollte auf den beiden erstgenannten liegen.
2.1.1 Das Bild
Das Ziel jedes Bildes ist es, die Realität so naturgetreu wie möglich abzubilden,
um die Illusion zu steigern. Das gilt für die Photographie als auch für den Film. Im
7
Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart/Weimar:Verlag Metzler, 1996, 2. überarbeitete Auflage. Seite 27.
8
ebd. Seite 29.
9
vgl. ebd. Seite 32.
5
Vergleich ist der Film jedoch noch realer, da er nicht nur Momentaufnahmen, sondern auch ganze Handlungsabläufe darstellen kann.
Ein Bild setzt sich zusammen aus dem Rahmen und dem Format. Ein Rahmen
lenkt die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf das im Bild liegende. Es sammelt
das Interesse und konzentriert es auf die Mitte. Dabei muß der Rahmen nicht sofort sichtbar sein, sondern kann das Bild auch nur von zwei oder drei Seiten umschließen. Mögliche Rahmen könnten die Aufnahme durch ein Fenster sein, so
daß der Fensterrahmen auch das Bild der Kamera umschließt. Des weiteren kann
eine Szene durch eine offenstehende Tür, oder durch ein Schlüsselloch gefilmt
werden oder Balken und Säulen grenzen die Bildfläche ein. Die im Bild enthaltenen Elemente erlangen Wert und besondere Aufmerksamkeit oftmals erst durch
den „frame“11. Das Format ist durch die Industrie größtenteils vorgegeben, jedoch
läßt sich über das heute sehr verbreitete Breitwandformat sagen, daß durch dieses Panoramaaufnahmen betont werden und insgesamt eine Monumentalisierung
der Umgebung erfolgt, so daß die Figuren häufig nur in Anschnitten zu sehen sind
und der Zuschauer aufgefordert ist, durch hin- und hergucken den Film zu erfassen.
Vom Normalformat spricht man, wenn das Seitenverhältnis 4:3 ist. Dieses Maß,
welches Visconti für seine Verfilmung von ‘Morte a Venezia’ nutzt, verbreitete sich
in den zwanziger Jahren und wurde später von der „Academy of Motion Picture
Arts and Sciences zum Standard erklärt“12.
2.1.2 Die Komposition
Wenn man von der Komposition eines Bildes spricht, dann wird der Bildaufbau
zunächst von Interesse sein. Denn nicht wie bei einem normalen Bild, bei dem die
Bildmitte aus dem Schnittpunkt der Bilddiagonalen ermittelt werden kann, liegt die
Bildmitte beim Film leicht über diesem Schnittpunkt und wird deshalb „optische
Mitte“13 genannt. Elemente, die in dieser optischen Mitte sind, erscheinen für den
Zuschauer gut im Bild plaziert zu sein. Strukturiert wird das Bild durch Linien, For10
vgl. Faulstich, Werner : Die Filminterpretation. Göttingen,1988. In: Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, Seite 29.
11
Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 47.
12
Monaco, James: Film verstehen. Reinbek, 1980. In: Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 47.
13
Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 51.
6
men und Flächen. Während harte Linien männlich wirken, erwecken weiche und
kurvige Linien den Eindruck von Weiblichkeit.14 Lange, horizontale Linien geben
dem Zuschauer das Gefühl von Ausgeglichenheit, wogegen gegeneinander gesetzte, diagonale Linien für Konflikt und Aktion stehen.
Zu den Formen ist zu sagen, daß man von Positiv- und Negativformen spricht, wobei abgebildete Menschen und Gegenstände als Positivform, und deren Zwischenräume als Negativform bezeichnet werden. Daraus ergibt sich auch die Flächenstruktur, die grob in hell und dunkel einzuteilen ist. Wenig strukturierte Flächen
stehen vielteilig gegliederten, kleinen Flächen gegenüber und entsprechen hier der
Wirkung von harten und weichen Linien und signalisieren Stabilität bzw. Instabilität.
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß wenn ein Bild komponiert wird, bestimmt werden kann, wohin der Blick des Zuschauers gelenkt werden soll, inwieweit das Bild ausgeglichen oder unausgeglichen und unruhig wirkt und sogar, wie
die sozialen Verhältnisse bezüglich Hierarchien, Konflikte oder Nähe und Distanz
bestellt sind.
2.1.3 Nähe-Distanz-Relation
Die Distanz zwischen dem Standpunkt der Kamera und dem Abgebildeten, also
die Relation von Zuschauerbild und dem Gezeigten, wird grob in drei Gruppen
aufgeteilt:
1. Totale (long shots)
2. Normal (medium shots)
3. Groß (close up)
Während long shots oftmals Landschaftsaufnahmen zeigen und damit eher einführenden Charakter haben, werden bei medium shots meist die Handlungen der
Protagonisten und deren Interaktion im Hauptaugenmerk liegen. Bei close ups ist
die Kamera so dicht bei der gezeigten Person, daß sich anhand der Mimik und
Gestik Charaktereigenschaften, innere Vorgänge und Gefühle zeigen lassen. Mit
dieser Kameratechnik können die Erzählperspektiven ähnlich wie im Roman gestaltet werden.
14
vgl. ebd. Seite 51.
7
Eine genauere Unterteilung wurde zur Untersuchung der Szenen gewählt:
1. (a) Weit (extreme long shot); (b) Totale (long shot)
2. (a) Halbtotale (long shot); (b) Halbnah (medium shot)
3. (a) Nah (medium close up oder close shot); (b) Groß (close up oder head and
shoulder close up); (c) Ganz Groß oder Detail (choker close up);
(d)Amerikanisch (der für die Handlung entscheidende Bildausschnitt wird gezeigt).15/16
2.1.4 Kameraperspektive und -führung
Die Kameraperspektive ist in drei mögliche Sichten aufzuteilen: die Normalsicht,
bei der sich die Kamera in Augenhöhe (eye-level angle) befindet, die Aufsicht,
bei der wir uns als Zuschauer in der Vogelperspektive (high angle) aufhalten, und
die Untersicht, bei der der Zuschauer den Eindruck hat, in der Froschperspektive
(low angle) der Handlung zu folgen.
Die Kamerabewegung unterstützt das Empfinden, mitten im Geschehen zu sein,
indem sie sich im Schwenk (panning) bei unverändertem Standpunkt um die horizontale, vertikale oder diagonale Achse bewegt, so daß der Zuschauer sich
scheinbar im Raum umschaut. Eine weitere mögliche Kamerabewegung ist die
Fahrt (travelling), bei der der Zuschauer sich auf einem Fortbewegungsmittel
wähnt, welches beispielsweise neben dem Protagonisten oder entlang einer
Landschaft fährt, fliegt oder geht. Die Richtungen der Bewegung sind dabei entscheidend, denn läuft die Bewegung parallel zur Bildfläche, dann ist die Handlung
weiterhin für den Zuschauer distanziert, wogegen dieser involviert wird, sobald die
Handlungs- und Bildachse aufeinandertreffen. Kommt das Geschehen scheinbar
auf den Rezipienten zu, so läuft die Bewegung deckungsgleich mit der Bildachse
des Zuschauers. Wird der Zuschauer frontal angesprochen, dann wird die Abge-
15
vgl. ebd. Seite 58f.
vgl. Katz, Steven: Die richtige Einstellung. Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 1998.
Seite 169ff.
16
8
schlossenheit des fiktionalen Raumes überwunden und die beiden Welten scheinen übergangslos ineinander zu laufen17.
2.2 Analyse ausgewählter Schlüsselszenen im Film
Die nun folgende Auswahl der im Film für uns interessanten Schlüsselszenen werden mit den im Buch vorhandenen Passagen verglichen. Manche Szenen werden
in der Literaturvorlage wesentlich länger und ausführlicher, andere wiederum wesentlich kürzer und ‘unbedeutender’ als im Film erscheinen. Ursachen dieser Diskrepanz werden wir nicht nur in diesem Kapitel, sondern auch in den folgenden
Kapiteln untersuchen und analysieren.
Vom Film ausgehend haben wir uns für fünf Schlüsselszenen entschieden, die wir
unter dem Aspekt der Bildsprache behandeln werden:
2.2.1 Ankunft in Venedig (Rolle 1, Sequenz 02, Seite 23-26)18
2.2.2 Erstes Wahrnehmen Tadzios (Rolle 1, Sequenz 07, Seite 32-33)
2.2.3 Die ‘Erdbeer - Szene’ ( Rolle 2, Sequenz 12, Seite 39-40)
2.2.4 Die ‘Sterbe - Szene’ am Strand (Rolle 4, Sequenz 41 , Seite 85-87)
2.2.1 Ankunft in Venedig
Viscontis Verfilmung beginnt mit der Anfahrt und Ankunft in Venedig. Die ersten
Bilder bestehen aus blau-grauen Farben, impressionistisch und mystisch gehalten.
Die wenig strukturierte Fläche mit weichen Linien drückt scheinbare Ruhe aus, die
anschließend durch Bewegung unterbrochen wird. Aus tiefstem Nebel heraus
schwenkt die Kamera nach links, wo sich wärmeres Licht befindet. Die unbelebt
erscheinende Natur wird durch die helleren Farben im linken Bildabschnitt verdrängt. Die Dichte des Nebels verringert sich und eine Rauchschwade zieht von
17
vgl. Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse. Seite 63.
Die in Klammern stehenden Informationen beziehen sich erstens auf die Sequenzierungsliste in Wolff,
Jürgen: Literaturverfilmungen. Band 2: Materialien und Dokumente. Stuttgart (1983-84); und zweitens auf
die Seitenzahlen in Thomas Manns: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen.
18
9
links nach rechts durch das Bild. Die Einhaltung der Leserichtung und Kameraführung von links nach rechts ist für Werke in unserem Kulturkreis dominant.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Kameraeinstellung Weit, im sogenannten extreme
long shot wird der Zuschauer mit Hilfe des Landschaftsblickes eingestimmt und
vorbereitet, während eine Distanz gewahrt wird. Diese Distanz bleibt auch bestehen, als das Boot im Mittelgrund parallel zur Bildfläche vorbeifährt. Das Schiff ist
offensichtlich für den Passagiertransport verantwortlich und bricht somit als Stellvertreter für den Menschen und die Zivilisation das Landschaftsbild auf. Bug und
Backbord sind klar zu erkennen, da die Kamera vom extreme long shot in den
long shot, die Totale, wechselt. Auf dem vorderen Teil des Schiffes ist eine Art
Überdachung angebracht, die die Passagiere vor dem Wetter schützen soll. Die
Bewegungslinie ist jetzt nicht mehr parallel zur Bildfläche, sondern mit der Bildachse des Zuschauers deckungsgleich. Damit setzt Handlung ein. Die Sonne ist noch
nicht zu sehen, jedoch treten die ersten Sonnenstrahlen hervor. Es scheint noch
recht früh am Morgen zu sein, der Sonnenaufgang ist nur hinter den Wolken zu erkennen. Nachdem das Boot durch den linken Vordergrund aus dem Bild verschwindet, wird ein Schnitt gemacht und Professor Gustav von Aschenbach in der
Halbtotale gezeigt. Er sitzt in einem ausgedienten Armstuhl. Es ist offensichtlich
kalt auf dem Schiff, denn der Protagonist trägt Mantel, Schal, Hut und Handschuhe,
und hat zudem noch eine Decke über den Beinen. Abgesehen von dem eher im
Hintergrund agierenden Matrosen erscheint diese Kameraeinstellung wie ein fotografisches Bild. Diese Einstellung wird durch viele horizontale und vertikale Linien
gerahmt. Aschenbach selbst ist Mittelpunkt dieser Einstellung und befindet sich in
der optischen Mitte. Nach wenigen Sekunden wird er mit Hilfe des Zooms bis in
den medium close up herangeholt. Das Bild wird von Aschenbachs Gesicht ausgefüllt. Gesichtszüge und seine Mimik werden noch klarer und intensiver. Es ist zu
bemerken, daß, obwohl es ein stehendes Bild ist, Bewegung minimaler Art vorhanden ist, wie zum Beispiel das durch den Wind erzeugte Umblättern des Buches, das Aschenbach in der Hand hält, oder Aschenbachs Kopfschütteln.
Als nächstes werden Sandbänke vor Venedig steuerbord im Vorbeifahren gezeigt. Durch die Kamerafahrt hat der Zuschauer den Eindruck, diese aus Aschenbachs Perspektive wahrzunehmen. Daraufhin erfolgt ein Schnitt und eine befes10
tigte Küste mit Gebäuden erscheint am linken Bildrand. Es folgt ein Kameraschwenk und der Zuschauer erhält einen Gesamteindruck von einem der drei
Schiffswege nach Venedig. Im unteren Vordergrund ist die Überdachung des
Schiffes zu erkennen. Bisher hielt die Kamera den eye-level angle ein, nun wählt
Visconti den Standort des Kapitäns für die Kamerapositionierung. Es folgt ein
Kameraschnitt von Weit in die Einstellung Groß, dem head and shoulder close
up.
Aschenbach erscheint in seinem Stuhl zusammengekauert und in sich gekehrt. Es
scheint, als stützten seine Hände den Kopf. Mit erschöpfter Miene schließt er
mehrmals die Augen und sinkt mehrmals in sich zusammen. In einem Schnitt in die
Totale wird ein Bild Venedigs vom Boot aus aufgenommen gezeigt. Während die
untere Hälfte vom Wasser und den vom Boot erzeugten Wellen eingenommen
wird, kann man im rechten Mittel- und Hintergrund klar die ersten Anlegestellen
Venedigs in dunklen Farben erkennen. Der linke Hintergrund ist als Kontrast verschwommen und von Dunst umgeben und zeigt den Turm des Markusplatzes.
Damit wird das noch fern scheinende, aber erreichbare Ziel des Reisenden ausgedrückt. Ein Schnitt zurück in den head and shoulder close up zeigt, wie Aschenbach wach wird, sich ein wenig aufrichtet und tief durchatmet. In der Totalen
wird ein letztes Mal das Boot gezeigt, wie es in den Hafen einfährt. Der Rauch
scheint dabei dem Schiff vorauszueilen. Es fährt in den Hafen von Venedig ein und
die bis dahin untermalte Musik wird von der Schiffssirene und dem venezianischen
Treiben an Land abgelöst.
Vergleicht man nun den Film mit seiner literarischen Vorlage, dann sollte vorab
erwähnt sein, daß Visconti die ersten zwei Kapitel der Literaturvorlage nicht umsetzt, jedoch die Informationen zum Teil verwertet.
Diese Auslassung wird Thema des Kapitels „Divergenzen Romanvorlage - Film“
sein.
Auch wird der erste Teil des dritten Kapitels der Romanvorlage ignoriert. Weder
der Entschluß nach Venedig zu fahren, noch die Zeit in München, und die Vorbereitungen, die Aschenberg vor seiner Abreise erledigt, werden im Film thematisiert.
11
„Mehrere Geschäfte weltlicher und literarischer Natur hielten den Reiselustigen
noch etwa zwei Wochen in München zurück.“19
Zudem wird auch in keiner Weise sein ursprüngliches Ziel erwähnt. Bevor der
Schriftsteller Aschenbach, der im Film als Komponist dargestellt wird, nach Venedig fährt, bezieht er sein Landhaus, welches sich auf einer Insel nahe der istrischen
Küste befindet.
Aschenbachs Unwohlsein und Bewußtsein, noch nicht den Ort seiner Bestimmung
gefunden zu haben wird dem Zuschauer vorenthalten.
Abreise und Überfahrt werden von Visconti massiv gekürzt, so daß man vom Film
ausgehend erst ab folgender Passage die beiden Werke miteinander vergleichen
kann:
„Der Himmel war grau, der Wind feucht. Hafen und Inseln waren zurückgeblieben,
und rasch verlor sich aus dem dunstigen Gesichtskreise alles Land. Flocken von
Kohlenstaub gingen, gedunsen von Nässe, auf das gewaschene Deck nieder, das
nicht trocknen wollte. Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus,
da es zu regnen begann.“ 20
Diese Bilder werden dem Zuschauer indirekt vermittelt. Allerdings ist die Überdachung schon aufgespannt. Man weiß also nicht, warum es aufgebaut wurde, da es
im Film auch nicht regnet. Zwar sieht der Zuschauer den grauen Dunst und die
feuchte Luft, doch wird der eigentliche Grund, daß es zuvor geregnet hat, vorenthalten. Ebenso erfährt der Zuschauer nichts von den Kohlenstaubflocken.
Der Zuschauer wird in die Handlung eingeführt, indem das offene Meer, dann das
Boot und seine Überdachung mit der Kamera aufgenommen wird. Es gibt keinen
auktorialen Erzähler, der Passagen aus der Romanvorlage passend zu den Bildeinstellungen liest.
Der folgende Satz ist Visconti in seiner Umsetzung hervorragend gelungen. Gemeint ist damit die Bildeinstellung, wie Aschenbach in seinem Stuhl ruht.
19
20
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 20.
ebd. Seite 23.
12
„In seinem Mantel geschlossen, ein Buch im Schoße, ruhte der Reisende, und die
Stunden verrannen ihm unversehens.“21
Hier stellt Visconti erstmalig seinen Protagonisten Aschenbach vor. Er zeichnet ihn
so, wie er ihn sieht. In dieser Aufnahme wird visuell mit der Untermalung der Musik
wesentlich mehr ausgedrückt, als in der Literaturvorlage an dieser Stelle steht.
Dieser Kunstgriff ist nötig, da es der Anfang des Filmes ist, während diese Szene
im Roman im dritten Kapitel steht. Visconti greift auf vorherige Passagen des Buches zurück, wie zum Beispiel die Beschreibung Aschenbachs.22 Aschenbachs
Sehnsucht, Hoffnung und Suche nach dem Fremdartigen werden in dieser Szene
durch die Musik in Verbindung mit den Bildern eingeführt.
Die folgenden Zeilen des Buches sind in recht ungenauen Bildern umgesetzt worden. Aschenbachs Gedanken wie zum Beispiel über den greisen Geck werden in
keiner Weise dargestellt. Das Dach, wie im Buch beschrieben, wird auch nicht
abgenommen.
„Unter der trüben Kuppel des Himmels dehnte sich rings die ungeheure Scheibe
des öden Meeres. Aber im leeren, im ungegliederten Raume fehlt unserem Sinn
auch das Maß der Zeit, und wir dämmern im Ungemessenen.“23
Diese Zeilen beweisen die Grenzen einer Literaturverfilmung. Zwar ist der Himmel
wie eine Kuppel, das Meer als öde, der Raum ungegliedert dargestellt, doch ist
fraglich, ob der Zuschauer diese Bilder bewußt wahrnimmt, oder sie passiv, nicht
analysierend hinnimmt. Der ‚wir‘-Bezug kann im Film nicht nachvollzogen werden.
Der letzte zitierte Satz ist nicht filmisch umgesetzt worden.
Wiederum sind Szenen von Visconti ausgelassen worden.24 Das nächste Bild,
das der Film aus dem Buch umsetzt, ist die flache Küste, die zur Rechten auftaucht. Es ist eine gelungene Einstellung, da der Zuschauer das Gefühl hat, vom
Boot aus zu schauen. Auch Thomas Mann kreiert diese Perspektive:
„Da tauchte zur Rechten die flache Küste auf, [...]“25
21
ebd. Seite 23.
ebd. Seite 19.
23
ebd. Seite 24.
24
ebd. Seite 24.
25
ebd. Seite 24.
22
13
Das Landschaftsbild von Visconti wird allerdings durch Sandbänke und vereinzelt
wandernde Menschen verfeinert, während Mann von Fischerbooten schreibt, die
das Meer beleben. Visconti schmückt die Fahrt zum Hafen aus. „Armselige Behausungen“26 werden mit der Kamera nicht eingefangen, statt dessen venezianische Gebäude und von weitem ein Kirchenturm.
Auch die Schiffssirene, die die Musik ablöst, wird von Mann nicht genannt. Der im
Film wichtige Einschnitt ist im Buch in dieser Weise nicht vorhanden.
Mann hingegen inszeniert den Kontrast von Reise und Ankunft, offenes Meer und
Stadt, indem er auf den folgenden Seiten das Treiben an Land und Venedig beschreibt.27
2.2.2 Erstes Wahrnehmen Tadzios
In der nun folgenden Szene sieht Aschenbach zum ersten Mal Tadzio.
Nachdem sich Aschenbach am Abend seiner Ankunft in die Eingangshalle begeben hatte, um auf das Abendessen zu warten, nimmt er sich eine deutsche Zeitung
und setzt sich hin.
Aschenbach wird, wie bereits aus der ersten Szene bekannt, im head and shoulder close up gezeigt. Er überfliegt das Blatt und blickt etwas ermüdet auf. Seine
Augen blicken sich um, offensichtlich schaut er durch den Raum und sieht sich die
Menschen an. Sein Blick konzentriert sich auf einen Punkt. Mit einem Schnitt sieht
der Zuschauer, was Aschenbach im Moment beobachtet. Ihm ist eine gegenüber
sitzende Familie aufgefallen. Die Kamera schwenkt von links nach rechts, die Kameraeinstellung ist auf Nah, so daß wir die Personen von der Mitte des Oberkörpers an aufwärts sehen können. Unser Blick wird über ein Mädchen, dann eine
ältere Dame, zwei weitere Mädchen und dann einen Jungen geführt, der sich
später als Tadzio herausstellen soll. In diesem Augenblick endet auch die Musik
für einen Moment. Tadzio wird in Nah fokussiert, so daß es einem Portrait gleicht.
Er hält den Blick gesenkt, erwidert Aschenbachs Blick nicht und stützt seinen Kopf
ähnlich wie in Rodins Denkerhaltung auf. Im Hintergrund befinden sich Mosaik26
27
ebd. Seite 25.
ebd. Seite 25 ff.
14
fenster aus Steinglas. Das farbige Glas korrespondiert zu Tadzios blauen Augen
und seinem roten Mund und unterstreichen den Gemäldecharakter dieser Einstellung. Es folgt ein Kameraschnitt auf Aschenbach im close shot. Im ersten Moment
scheint er wie versteinert, dann aber wendet er sich seiner Zeitung wieder zu und
die Musik setzt erneut ein. Nach einem weiteren Schnitt werden die Musiker portraitiert. In der Halbtotalen schwenkt die Kamera über die Musiker. Wieder erfolgt
ein Schnitt auf Aschenbach im head and shoulder close up. Er legt die Zeitung ab
und schaut auf einen Punkt in eye-level, vermutlich in Tadzios Richtung. Tadzio
selbst wird nicht gezeigt. Aschenbergs Augen sind auf einen Punkt fixiert, während
er sich am Kinn kratzt. Es folgt ein Schnitt auf Tadzio wieder in Nah. Durch den
Wechsel von Einstellungen zwischen Aschenbach und Tadzio soll betont werden,
daß Aschenbach in Tadzios Richtung schaut. Von ihm ausgehend schwenkt die
Kamera langsam 180 Grad von links nach rechts und zeigt einen weiten Teil der
Gesellschaft, die sich in der Halle befindet.
Der Raum ist erfüllt von Blumen, echte in großen hellblauen, schimmernden Vasen
und künstliche an der Kleidung und den überdimensional großen und sehr ausgefallenen Hüten der Damen. Die Farben scheinen nicht aufeinander abgestimmt, zu
viele verschiedene treffen aufeinander. Die Einrichtung des Raumes ist dunkel und
von Holz und Leder dominiert. Visconti hat hier durch den Setdesign die Idee der
Dekadenz und der fin-de-ciècle Stimmung durch Farben und Opulenz der Ausstattung unterstrichen.
Der Halbkreis des Schwenks schließt bei Aschenbach. Nur kurz verweilt die Kamera in Nah, worauf sie sich bald mit Hilfe des Zooms scheinbar entfernt bis in die
Halbtotale. Ein Diener, im Bildhintergrund auftauchend, weist auf Englisch darauf
hin, daß das Essen angerichtet sei. Viele der Hotelbewohner stehen auf und bewegen sich zum Speisesaal. Nicht so Aschenbach, der weiterhin Tadzio und dessen Familie beobachtet. Die Kamera schwenkt weiterhin im Walzertakt in einem
Halbkreis, von rechts nach links und von links nach rechts. Dieser Schwenk ist
durch einen Schnitt unterbrochen und bleibt konstant in der Totalen. Dabei ist der
Standort und Ausgangswinkel verschoben worden, denn nicht mehr in Augenhöhe,
sondern in der leichten Aufsicht wird dieser Schwenk vollzogen. Anschließend
nach einem Schnitt ist das Bild auf Aschenbach in Nah gerichtet, schnell folgt ein
15
Schnitt auf Tadzio in Nah, der Zoom öffnet sich und der Zuschauer scheint zurückzutreten; der Junge bleibt trotzdem Mittelpunkt des Bildes. Die Kamera entfernt
sich soweit von ihm, daß der Zuschauer zum ersten Mal erkennen kann, wie nah
Aschenbach an Tadzio sitzt, daß zwischen den beiden nur ein Gang und ein Tisch
im rechten Mittelgrund steht (Totale). Aschenbach selbst wird von hinten im unteren, rechten Vordergrund und Tadzio im oberen, linken Bildrand gezeigt, so daß
sich eine Diagonale ziehen ließe, die von links oben nach rechts unten verlaufen
würde. Eine abfallende Linie, die vielleicht für die Jugend oben und das Alter unten
steht, für Gesundheit und Kraft auf der einen und Krankheit und Schwäche auf der
anderen Seite. Sie könnte aber auch für Naivität und Weisheit stehen, für das Dionysische und das Appolinische. Während die Kamera in der Totalen bleibt, gehen
Gäste von links nach rechts durchs Bild, doch Aschenbach und Tadzio behalten
weiterhin durch Blicke diese diagonale Linie zwischen sich bei.
Auch in der Romanvorlage findet sich die Stelle, daß Aschenbach in die Halle
geht:
„Er nahm sich eine Zeitung vom Tische, ließ sich in einem Ledersessel nieder und
betrachtete die Gesellschaft, [...]“28
Diese Situation, wie Aschenbach die Zeitung überfliegt und sich eher als Beobachter verhält, ist treffend umgesetzt worden. Der zweite Teil des Satzes wird ignoriert, was allerdings eine logische Konsequenz ist, da dieser auf Informationen
basiert, die von vornherein weggelassen worden sind.29
Mann schreibt im folgenden Absatz über „eine Gruppe halb und kaum Erwachsener, unter der Obhut einer Erzieherin oder Gesellschafterin“ 30. Diese Beobachtungen erscheinen aus Aschenbachs Sicht. Visconti setzt diese Perspektive mit seiner Kamera um. Dann wiederum schreibt Mann von Aschenbach und distanziert
sich somit von seinem Protagonisten. Visconti versucht diese Distanz ebenfalls zu
erzeugen, indem er Aschenbach und Tadzio in einem Bild am Ende der Szene
zeigt.
28
29
ebd. Seite 32.
ebd. Seite 32.
16
Wilson bezeichnet diese Technik in der Literaturvorlage sowie im Film als „mixed
narration“, die Visconti eine Doppelperspektive, nämlich die der Sympathie und
der Ironie, ermöglicht.31 Während Mann diese Erzählperspektiven durch Worte
erreicht, nutzt Visconti die Kamera.
Die Beschreibungen und Umschreibungen der Kinder und vor allen Dingen Tadzios, die sich auf fast zwei Seiten32 erstrecken, werden im Film nur durch die Personen selbst wiedergegeben. Tadzio wird somit als schöner Junge dargestellt. Aschenbergs Gedanken werden dabei außer Acht gelassen. Der Zuschauer erfährt
nur, daß der Jüngling die ganze Aufmerksamkeit Aschenbachs erlangt. Der Kellner, der auf Englisch die Meldung macht, daß das Essen fertig sei, wird in Viscontis Verfilmung szenisch umgesetzt. Auch daß die Kinder mit ihrer Gouvernante in
der Halle bleiben, während die Gäste - bis auf Aschenbach, der die Gruppe beobachtet - in den Speisesaal gehen, ist mit Manns Vorlage kongruent.
Folgende Beobachtungen bezüglich Tadzios Erscheinung werden in dieser
Schlüsselszene in der Literaturvorlage gemacht:
n „ein langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren“ 33
n „vollkommen schön“ 34
n „Sein Anlitz, bleich und anmutig verschlossen, von honigfarbenem Haar umringelt, mit der gerade abfallenden Nase, dem lieblichen Munde, dem Ausdruck
von holdem und göttlichem Ernst, erinnerte an griechische Bildwerke aus edelster Zeit, und bei reinster Vollendung der Form war es von [so] einmalig persönlichem Reiz, [...]“35
n Weichheit und Zärtlichkeit36
n englisches Matrosenkostüm [...]37
n Haltung von lässigem Anstand 38
n Haut wie Elfenbein39
30
ebd. Seite 32.
vgl. Wilson, Michael: Art is ambiguous. The Zoom in Death in Venice. In: Literature-Fim Quaterly 26
(1998). Heft 2. Seite 154-155.
32
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 32-33.
33
ebd. Seite 32.
34
ebd. Seite 32.
35
ebd. Seite 32.
36
ebd. Seite 33.
37
ebd. Seite 33.
38
ebd. Seite 33.
39
ebd. Seite 33.
31
17
Aschenbachs Reaktion auf Tadzio ist ebenfalls nur durch schauspielerische Leistungen Bogardes (Mimik und Gestik) sichtbar. Seine Gedanken und Vermutungen
bleiben dem Zuschauer somit verschlossen; die Gefühle, wie zum Beispiel das
Erstaunen40 und Schaudern41 werden vermittelt.
2.2.3 Die ‚Erdbeerszene‘
Die folgende Szene spielt am Strand. In der Totalen wird ein two-shot von Jasciu
und Tadzio von hinten gezeigt, wie die beiden, im Badeanzug und mit Hüten, Arm
in Arm den Strand entlang gehen. Die Kamera schwenkt dabei vom Stativ aus mit
der Bewegung der beiden mit und ahmt somit zum wiederholten Male die Rolle
und Sichtweise des Beobachters (Aschenbach?) nach. Ein Schnitt erfolgt, worauf
wir Aschenbach vor einer Strandhütte sitzend sehen. Durch die Kamera in Halbnah kann man sehen, daß er, während alle eher leger gekleidet ist, einen weißen
Anzug mit schwarzer Weste trägt und sehr aufrecht an seinem Tischchen sitzt und
arbeitet. Vor ihm liegen Papierbögen, Mappen und eine Zeitung. Die im Hintergrund zu sehende Strandhütte und deren Türrahmen und Kanten betonen die
Strenge und Konsequenz, mit der Aschenbach selbst hier am Strand seine Haltung bewahrt. Er schaut kurz von seiner Arbeit auf, dann wieder runter um dann
gleich wieder aufzublicken, als habe er etwas Interessantes entdeckt. Ein Schnitt
auf Jasciu und Tadzio, diesmal von Vorne (Halbnah), zeigt, was wohl seinen Blick
gefesselt hat. Deutlich fallen in dieser Szene die angedeuteten Genitalien der beiden Jungen auf, die am unteren Bildrand, jedoch noch deutlich und beabsichtigt im
Bild zu erkennen sind. Galerstein deutet diese Symbolik als Zeichen für Potenz
und jugendliche Kraft, wenn sie schreibt
„Another recurrent image ist Tadzio‘s budding genitals. His youth - the potency
symbolized by youth and genitals - is seen in contrast to Aschenbach‘s age and
therefore presumed impotence.“42
40
ebd. Seite 32.
ebd. Seite 32.
42
Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti‘s ‚Death in Venice‘. In: Literature-Film Quarterly
13 (1985). Heft 1. Seite 31.
18
41
Tadzio und Jasciu führen ein Gespräch43 in polnisch (in der Vorlage nicht beschrieben). Die Kamera folgt dabei wieder von einem Stativ aus der Bewegung
der Jungen. Da sie der Kamera näherkommen und die Aufnahme der beiden bis
in den head and shoulder close up geht, scheint es, als gingen sie an ihrem Beobachter vorbei. Jasciu küßt Tadzio auf die Wange, worauf ein sofortiger Schnitt
auf Aschenbach in Halbnah erfolgt. Wie vorher sitzt er an seinem Schreibtisch,
jedoch sind seine Hände angespannt und ein leicht erstauntes, aber auch beschämtes Lächeln bildet sich um seinen Mund, während er die Augenbrauen in
scheinbarem Erstaunen hochzieht. Es scheint, als habe er etwas gesehen, daß er
nicht hätte sehen dürfen. Der Kuß, der auch in der Novelle genannt wird44, wühlt ihn
innerlich auf.
„Aschenbach war versucht ihm mit dem Finger zu drohen. [...]“45
Er faßt sich mit leerem Blick an die Lippen und während der Zoom bis auf Groß
heranfährt, blickt sich Aschenbach wie ein ertappter Voyeur verstohlen um. Noch
einmal lächelt er leicht beschämt und blickt sich um.
Es erfolgt ein Schnitt auf eine Leinwand und einen Arm, der einen Stift/Pinsel hält
(Amerikanische Kameraeinstellung). Von dort aus öffnet sich der Zoom, der Zuschauer scheint zurückzutreten und es folgt ein Schwenk von links nach rechts über
die Menschen am Strand. Auffallend sind, wie bereits im Saal, die vielen Hüte, die
von den Frauen und Mädchen getragen werden. Ebenso fällt auf, daß Aschenbach
der einzige am Strand ist, der allein ist. Während große Gruppen aus verschiedenen Ländern (betont durch Kleidung und Sprache) am Strand direkt im Sand lagern, sitzt Aschenbach alleine auf dem sauberen, sandfreien Steg vor der Hütte.
Es folgt wiederum ein Schnitt auf Aschenbach vor seiner Hütte in der Halbtotalen,
er hat Erdbeeren auf seinem Tisch liegen, die durch ihre Farbe im Bild deutlich
hervorstechen. Während im Buch der Kauf und das Essen dieser unmittelbar nebeneinander stehen, sind diese beiden Handlungen im Film getrennt voneinander
43
„Erinnerst du dich daran, als ich das letzte Mal auf dich gewartet habe und du nicht gekommen bist, weil
du die Verabredung vergessen hast? Ich habe mit Chris gesprochen und er hat mir gesagt, daß der Ausflug, den er nach Murano gemacht hat, fabelhaft war ... Es scheint, daß dort kleine unbewohnte Inselchen
sind ... Sehen wir sie uns eines Tages an?“
(Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ’Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Aachen:
Shaker, 1994. Seite 101)
44
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 40.
45
ebd. Seite 40.
19
und bilden einen szenischen Rahmen. Bei unveränderter Kameraeinstellung sehen
wir Aschenbach um den Tisch gehen, sich eine Erdbeere nehmen und sich mit
einem deutlich zu hörenden Seufzer in den Liegestuhl setzen. Im medium close
shot, der gewählt wurde, um einen Schwerpunkt auf Aschenbachs Mimik und Gestik zu legen, sieht der Zuschauer, wie Aschenbach sich zunächst seine Erdbeere
genau anschaut, die er mit spitzen Fingern hält, vermutlich aus Angst, sich schmutzig zu machen. Er atmet einmal tief und hörbar auf und leckt sich mit der Zunge
über die Lippen, um dann herzhaft in die Erdbeere zu beißen. Nachdem er sie
verzehrt hat, läßt er das Grün achtlos fallen. Wichtiger ist ihm, daß er seine Finger
nicht schmutzig macht, und deshalb greift er sofort zum Taschentuch und wischt
sich die Spuren der Früchte von den Lippen.
Mit einem Schnitt auf eine andere Gruppe am Strand verlassen wir Aschenbach
mit seinen Erdbeeren und hören den Erdbeerverkäufer auf italienisch weiterhin
seine Ware anbieten. In Detaileinstellung sehen wir die Schürze des Verkäufers,
die weiß ist und mit roten Flecken übersät ist. Ein alter Mann, in amerikanischer
Einstellung ist lediglich sein Gesicht von der Seite und die Schürze des Verkäufers
im Hintergrund zu sehen, warnt auf Englisch: „Oh, no, Darling. It’s very dangerous It’s hot weather and you shouldn’t eat fresh fruit - only cooked vegetables.“ Diese
Warnung wird durch den erhobenen Zeigefinger intensiviert. Sein weißer Bart und
das Monokel machen ihn zu der Figur des Weisen, dessen Warnung, obwohl Aschenbach auch diese Familie beobachtet haben mag, zu spät kommt.
In der Novelle ist die Warnung des weißhaarigen, englischen Gentlemans, der auf
die Gefahr zu erkranken hinweist, nicht vorhanden. In beiden Werken symbolisiert
die Erdbeere den Tod bzw. erweist sich als Todesbote.
„What Mann refers to as ‘great luscious dead-ripe fruit’ are shown as little too red,
a little too ripe, just on the verge of rottenness, like Aschenbach himself and
Europe itself.“46
Eine weitere Interpretation bezüglich der Erdbeere wird von Béatrice Delassalle
vorgenommen:
46
Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti’s ‘Death in Venice’. Seite30
20
„Sie ist das Sinnbild der Weltlust, mit ihr beginnt sich der innere Wandel in Aschenbach zu vollziehen: Es zählen nicht mehr Kunst und Intellekt, mit zunehmenden Interesse an dem undurchsichtigen polnischen Knaben hat er Freude an der
Welt, am ‘Leben’, an der Sinneslust.“47
Delassalles Interpretation scheint im Widerspruch zu Galersteins stehen, jedoch
können auch beide zutreffend sein. Die Erdbeere als doppeldeutiges Symbol.
Visconti hat die Tragfähigkeit dieser Szene gesehen und sie für seine Interpretation genutzt und ausgebaut.
2.2.4 Die ‚Sterbe-Szene‘ am Strand
Die Kamera zeigt in einem von rechts nach links geführtem Schwenk eine Gruppe
von vier Personen in Strandkörben sitzen, von denen eine Frau mit starrem Blick
ein Lied in fremder Sprache singt. Die Personen sind in Nahaufnahme gezeigt und
wirken verlassen, da sie ins Leere blicken. In einem Schnitt in die Totale sieht man
durch einen Schwenk von rechts nach links den gesamten Strand, der zum ersten
Mal im Film verlassen ist, da nur zwei Mädchen spielen und ein paar Erwachsene
in einem Grüppchen zusammenstehen. Die Kamera scheint an dem Strandboy
hängenzubleiben und folgt aus unveränderter Perspektive seinem Weg, wie er von
Aschenbach vom Steg abholt und ihm seine Hilfe anbietet. Bereits hier sieht man
die Erschöpfung Aschenbachs, da er nur mühsam laufen kann und ein Bein nachzieht. Es folgt ein Schnitt in die Halbtotale, so daß der mittlerweile schwer erkrankte Aschenbach und der stützende Strandboy ganz zu sehen sind. Aschenbach schickt den Boy einen Stuhl holen und setzt sich in einen Sonnenstuhl. Die
Kamera bleibt in der Nahaufnahme und konzentriert sich auf von Aschenbach, der,
vom Friseur fratzenhaft aufgeschminkt, im Stuhl sitzt. Das Lied der Frau endet.
Nach einem Schnitt werden Tadzio und sein Freund gezeigt, die sich in den Sand
setzen. Es scheint aus Aschenbachs Perspektive gefilmt zu sein, denn die Jungen
sind in der Totalen aufgenommen und mit leichter Aufsicht. Die beiden raufen sich,
wobei Tadzio gegenüber seinem Freund der eindeutig Schwächere ist. Ein Schnitt
zu Aschenbach im head and shoulder close up zeigt ihn aufgebracht und besorgt.
Die Farbe seines Haares läuft am Gesicht hinunter. Aschenbach kämpft mit sich,
47
Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ’Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 102
21
versucht aufzustehen, sinkt im Stuhl zusammen, wird sehr kurzatmig, zittert und
beobachtet (durch einen schnellen Schnitt auf Tadzio deutlich gemacht) wie Tadzio, von seinem Freund verärgert, ins Wasser geht und in die Ferne schaut. In der
Totalen sehen wir das mit Weichzeichner romantisch anmutende Bild, wie Tadzio
sich nach Aschenbach umsieht und mit seinem linken Arm gen Himmel zeigt. Ein
Schnitt auf Aschenbach in Großaufnahme zeigt, daß er versucht, noch einmal aufzustehen, Tadzio seinen Arm zitternd entgegenstreckt. Doch diese Anstrengung ist
für ihn zuviel. Aschenbach stirbt. Nochmals sehen wir fast gemäldegleich, wie Tadzio in der Totalen im Meer steht, während weit hinten am Horizont ein Boot zu sehen ist. Im rechten Vordergrund des Bildes steht eine große, alte Kamera, die dem
Ganzen etwas Verlassenes verleiht. Diese Einstellung rahmt Viscontis Film, da sie
an die erste Szene (Anreise) seiner Verfilmung anschließt. Auch hier findet der
Zuschauer wenige Strukturen und Linien im Bild, die wieder eine vermeindliche
Ruhe ausstrahlen. In der Totalen auf den Strand geschnitten sehen wir zwei Venezianer, die zum Stuhl kommen und den mittlerweile grotesk aussehenden Aschenbach vom Strand wegtragen. Die Kamera folgt im Schwenk dem Toten und der
Abspann erscheint auf der Linken.
In seiner Novelle beschreibt Mann den Strand als „einst so farbig belebten, nun
fast verlassenen Lustort“, auf dem „Herbstlichkeit und Überlebtheit“ liegt48. Visconti
setzt diese von Mann kreierte Atmosphäre um, indem er zwei Frauen in Szene
setzt, die in der Literaturvorlage nicht beschrieben werden. Die ältere der beiden
Damen singt auf italienisch ein Lied, welches ähnliche Melancholie wie durch
Manns Worte auslöst. Unterstützt wird dies durch die Kamera, die die Frauen in
der Nahaufnahme und den Strand in der Halbtotalen zeigt. Der im Buch von Mann
beschriebene „scheinbar herrenlose photographische Apparat“ wird von Visconti
mit der Kamera festgehalten. So wie von Mann beschrieben, das heißt mit
schwarzem Tuch und dreibeinigem Stativ, steht der Apparat nicht unweit vom
Wasser. Der Zuschauer, genauso wie der Leser, wundert sich, warum sie herrenlos ist. Kälte und Wind sind im Film durch das Flattern der Kleiderstoffe und durch
die eher nicht scheinende Sonne ausgedrückt. Die Luft ist gräulich gefärbt.
48
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 85.
22
Der Szenenaufbau ist nichts desto trotz anders: Während Mann ‘nur’ schreibt, daß
Aschenbach zum Meere gegangen sei, filmt Visconti seinen Protagonisten, wie er
zum Strand geht. Dabei wird dem Zuschauer gezeigt, wie schwach Aschenbach
auf den Beinen ist. Ein Strandarbeiter kommt ihm zu Hilfe und stützt ihn. In der Literaturvorlage wird der Leser in dieser Szene nicht in dieser Weise auf Aschenbachs Zusammenbruch vorbereitet.
„[...] eine Decke über den Knien, etwa in der Mitte zwischen dem Meer und der
Reihe der Strandhütten in seinem Liegestuhl ruhend, sah Aschenbach ihm noch
einmal zu.“49
Nur durch die beiden Wörter noch einmal erfährt der Leser, daß es wahrscheinlich
das letzte Mal ist, daß Aschenbach Tadzio beobachtet. Anschließend wird in der
Novelle der Kampf, in dem wie im Film Tadzio der Unterlegene ist, beschrieben.
Während im Film Aschenbach Tadzio zu Hilfe kommen möchte, aber nicht kann,
da seine Kräfte ihn verlassen, steht in der Literaturvorlage folgendes:
„Entsetzt wollte Aschenbach zur Rettung aufspringen, als der Gewalttätige endlich
sein Opfer freigab.“
Visconti dramatisiert und steigert an dieser Stelle Aschenbachs somatisches Leiden immens. Vom gestützt - werden über das aufstehen - wollen bis hin zum abschließenden Zusammenbruch und Tod.
Wie im Film so auch in der Novelle geht Tadzio die reuevollen Bitten und Rufe überhörend zum Wasser. Aschenbach wird als der Schauende beschrieben, welcher „der Bewegung des draußen Schreitenden“ 50 verfolgt. Aschenbachs Haupt
hebt sich noch einmal und sinkt dann auf die Brust. Mann schreibt anschließend,
daß aber nur sein Körper „[...] den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen
Schlummers zeigte“51. Tadzio, der mit den Füßen im Wasser steht, streckt seinen
linken Arm aus. In der Literaturvorlage steht:
49
ebd. Seite 86.
ebd. Seite 87.
51
ebd. Seite 87.
50
23
„Ihm war aber, als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Veheißungsvoll - Ungeheure. Und wie so oft, machte er sich auf, ihm
zu folgen.“52
Die Gedanken Aschenbachs und der Kommentar des auktorialen Erzählers werden nicht umgesetzt. Visconti läßt Tadzio im Wasser stehen, und zeigt, wie Aschenbach weggetragen wird. Seine auffallend unwirkliche Maske ermöglicht dem
Zuschauer die Annahme, daß es nur Aschenbachs äußere Hülle ist, die weggetragen wird, während seine Seele oder Geist schon entschwunden ist. Zudem ermöglicht die in Aschenbachs Gesicht zerlaufene Farbe dem Zuschauer die Möglichkeit, Aschenbachs Verjüngen im Nachhinein zu belächeln.
An dieser Stelle ist der Film zu Ende. Im Buch wird Aschenbach noch aufs Zimmer
gebracht. Und aus auktorialer Erzählperspektive beendet Mann mit beißender Ironie die Novelle:
„Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tod.“53
Eine Beschreibung der letzten Filmszene gibt Delassalle:
„Tadzio, der von Jasciu in der Schlußszene in den Schmutz geworfen wird, erhebt
sich, geht ins Meer und verliert sich im Licht. Aschenbach erkennt, daß die Schönheit wesenlos ist, daß sie auf das Weite verweist, das Nicht-Greifbare, das Haben
und Nicht-Haben zugleich - seit jeher das Elend aller Sterblichen.“54
Diese Filminterpretation käme der Schlußszene im Buch recht nahe, doch ist es zu
bezweifeln, ob der Zuschauer - ohne das Buch gelesen zu haben - die letzte Filmpassage so entschlüsseln kann.
Galerstein bemerkt zum Schluß des Films, daß die Kamera wesentlich länger Aschenbachs toten Körper fokussiert, als man von Manns Beschreibung her erwarten könnte.55 Visconti hat in dieser Strandszene generell größeres Augenmerk auf
52
ebd. Seite 87.
ebd. Seite 87.
54
Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ’Tod in Venedig‘ - Übersetzung oder Neuschöpfung .Seite 87.
55
Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti’s ‘Death in Venice’. Seite 33.
53
24
Aschenbach gelegt, um durch die Mimik des Protagonisten die Atmosphäre dieser Situation wiederzuspiegeln. Weiterhin schreibt sie:
„Visconti also makes the viewer aware of the visions of sand, sea, sky - all coming
together at the ocean’s edge. Aschenbach we have known from the beginning, is
morally on the edge of an abyss. The sea represents that abyss. It is appropriate
that he dies on the beach, not in the plague-ridden streets of Venice, his last vision
that of Tadzio beckoning him to the water’s edge.“56
2.1.3 Divergenzen Romanvorlage - Film
Die erste auffallende Divergenz ist die Kürzung des Titels zu „Tod in Venedig“,
welche einen bestimmten Tod ausschließt und ihn vielmehr allgemeingültig werden
läßt. Somit ist mit dem Titel nicht nur Aschenbachs Tod vorhergesagt, sondern
auch das Sterben der Stadt Venedig, das Sterben der Epoche (fin-de-ciècle) und
das der Kultur der Bourgeoisie57.
Wie schon in den vorherigen Kapiteln erwähnt, stellt Visconti die ersten zwei Kapitel szenisch nicht dar, allerdings nutzt er Informationen aus diesen wie zum Beispiel die äußerliche Beschreibung Aschenbachs (S. 19). Vermutlich sind diese
Auslassungen geschehen, um einen zu häufigen Ortswechsel zu vermeiden. Es
steht außer Frage, daß sich Visconti ausschließlich dem Ort Venedig widmen
wollte. Aschenbachs Biographie, die dem Leser nahegebracht wird, wird im Film
nicht widergespiegelt. Allerdings erfahren wir durch sein Verhalten gegenüber
dem Hotelier, daß er eine gesellschaftliche Position innehaben muß. Die Friedhofsszene in München im ersten Kapitel fehlt, und somit auch die Verbindung zwischen München und Venedig durch die ‘Totenstraße’58. Das von Aschenbach gewählte Zuhause ist im Film nicht präsent, nur in den Rückblicken gewinnt der Zuschauer einen Eindruck davon.
Die im zweiten Kapitel ausführlich beschriebene Biographie Aschenbachs wird
von Mann in ironisch-mitfühlendem Ton gehalten und hier erfährt der Leser auch,
56
ebd. Seite 33
vgl. Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis‘Tod in Venedig’-Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 8.
58
vgl. ebd. Seite 10.
25
57
daß Aschenbachs sinnliches Blut von seiner Mutter stammt und andere Vorfahren
Richter und Offiziere im Dienste des Königs waren (Preußentum)59.
Die im dritten Kapitel beschriebene Ruhelosigkeit und Unschlüssigkeit über das
Ziel der Reise wird im Film nicht erwähnt, vielmehr bekommt der Zuschauer den
Eindruck, daß Venedig im vorhinein als Reiseziel feststand.
Weitere Kürzungen wurden im Film vor allen Dingen bezüglich der Gespräche über Kunst vorgenommen, so daß diese nur noch in Rückblenden fragmentartig
angedeutet werden.
„So ist die große Auseinandersetzung, die sich anhand des platonischen PhaidonDialogs über die Kunst, die Schönheit, die Pflicht und die Leidenschaft durch die
ganze Novelle zieht, und die nietzscheanische Polarität von Dionysischem und
Appollinischem in der Kunst diskutiert, zu kurzen, unglücklich chargierten Rückblenden verkümmert, welche das Bewußtsein Aschenbachs wie versprengte Gewissensreste durchziehen.“60
Auch inhaltlich werden die inneren Monologe Aschenbachs aus der Literaturvorlage verändert.
„Die kunsttheoretischen Positionen, die Gustav Aschenbach im Film vertritt, entstammen weder der Novelle, noch der Biographie Mahlers, sondern Thomas
Manns Musikerroman ‘Doktor Faustus’.“61
Im Film gibt es insgesamt zehn Inserts, die durch die Flash-Back-Technik eingeführt werden. Diese bei Delassalle aufgelisteten Szenen62 sind in dieser Weise
von Visconti neu erschaffen worden. So argumentiert Delassalle, daß die Inserts
als notwendige Kompensation der Reduktionen unverzichtbar seien. Ohne Inserts
sei dem Zuschauer Aschenbachs Vergangenheit nicht bekannt und dessen Krise
nicht verständlich.
Eine weitere formale Divergenz findet sich in Aschenbachs Familienstatus. Während der im Buch beschriebene Schriftsteller erfolgreich, mit Adelstiteln versehen,
59
vgl. ebd. Seite 12.
Schlappner, Michael (und andere): Luchino Visconti. Reihe Film 4. München: Carl Hanser Verlag, 1975.
Seite 118.
61
Wolff, Jürgen: Der Tod in Venedig. In: Literaturverfilmungen - Materialien. Seite 1.
62
Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’- Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 24.
60
26
Witwer ist und eine verheiratete Tochter hat, wird Achenbach im Film als gescheiterter Komponist und Professor gezeichnet, dessen Tochter gestorben ist.
Bezüglich der Erzählperspektiven lassen sich ebenfalls Divergenzen feststellen. In
der Novelle sind es zwei Erzählebenen (personal und auktorial), die zwar auch von
Visconti umzusetzen versucht worden sind, was ihm jedoch nicht völlig gelungen
ist. Die Erzählperspektiven des Films können nur durch Kameraführung und Zoom
nachgeahmt werden.
„The Zoom, then, performs a due function in the film. On one level it represents the
free, indirect narration of Mann’s novel, which allows an alternately sympathetic
and ironic view of the protagonist. The aesthetics of the zoom, moreover, from it’s
isolating depth of field to it’s constant, musical motion, reflect aspects of Aschenbach’s character - even when they undermine his own professed beliefs.“63
Der Zoom und die zahlreichen Schwenks der Kamera erfüllen über ihre eigenliche
Aufgabe hinaus aber noch ein weiteres Ziel. Durch ihre Technik, von einem Punkt,
dem Stativ, die umgebende Umwelt zu betrachten, ahmen sie Aschenbach selbst
nach, seine Art, den Blick schweifen zu lassen und dabei passiv und in sicherem
Abstand zu bleiben.
Des weiteren kombiniert Visconti in dem vorliegenden Film Totalen mit Nahaufnahmen und ahmt somit Manns Wechsel zwischen objektivem, auktorialem Erzähler und subjektivem, personalen Erzähler nach. Gut sichtbar wird dies in der
zweiten von uns beschriebenen Szene, wie Wilson berichtet:
„This fusion of distanced, ‚third-person‘ observation and intimate, ‚first-person‘
interiority even occurs within the same shot. (...) In the first part of the scene, several medium close-ups of Aschenbach, looking offscreen left, establish a pattern of
looks from Gustav‘s perspective. Then we see this shot: starting on a close-up of
Tadzio, which we presume to be Gustav‘s optical point-of view, the camera zooms
out to a long shot that reveals Aschenbach himself, looking at Tadzio. What started
as a subjective view becomes, at the moment Gustav appears in the shot, objective.“64
Eine Folge der mangelnden Möglichkeit im Film, beide Perspektiven mit all ihren
Facetten nachzuahmen, führt dazu, daß die Ironie im Film nicht dieselbe Dimensi-
63
64
Wilson, Michael: Art is ambiguous. The Zoom in ‘Death in Venice’. Seite 156.
ebd. Seite 154.
27
on besitzt wie in der Novelle. Sie verflacht, und ein Belächeln Aschenbachs fällt
dem Zuschauer schwer. Von der Lippe beanstandet das Fehlen dieser, weil dadurch der Zuschauer, der die Novelle gelesen hat,
„(...) is now forced to witness and experience Aschenbach’s disintegration without
the ironic distance and softening mediation of Mann’s prose“65.
Visconti selbst meint, daß die Mannsche Ironie durchaus umgesetzt worden sei,
indem er den Protagonisten als eine Art Marionette erscheinen lasse.66
Galerstein sieht das Problem der Verfilmung von Literatur und somit auch von Erzählperspektiven als ein generelles an. Sie räumt ein, daß derjenige, der die Novelle nicht gelesen hat, keinen wirklichen Zugang zu Aschenbachs Gedankenwelt
wie bei Mann bekommen kann. Eine Inszenierung scheint ihrer Meinung nach nicht
leistbar zu sein und dementsprechend fordert sie, daß:
„[...] the film must use its unique visual qualities to depict the world in which Aschenbach moves and then becomes paralyzed - the decadent Europe of the years
preceding the First World War.67
Eine weitere Divergenz zum Film ist, daß in der Romanvorlage dem Leser immer
ein Zeitgerüst vermittelt wird, z.B.
„...eine Stunde verging...“68, „..als er zurückkehrte, schien es schon an der Zeit, sich
umzukleiden...“69, „...am folgenden Tage...“70, „...er verbrachte zwei Stunden...“71,
„nun lenkte Tag für Tag...“72, „...selbigen Tages noch, abends, nach dem Dinner...“73, „...einige Tage später...“74.
Im Film hingegen verschwimmt dieses - es werden keine expliziten Einblendungen
dem Zuschauer als Verständnishilfe angeboten, das heißt nur die Abfolge der
65
von der Lippe, George B.: Death in Venice in Literature and Film. Six 20th-Century-Versions. In: Mosaic
32/1, 1999. Seite 48.
66
vgl. Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 9.
67
Galerstein, Carolyn: Images of Decadence in Visconti’s ‘Death in Venice’. Seite 29.
68
Mann, Thomas: Der Tod in Venedig und andere Erzählungen. Seite 25.
69
ebd. Seite 31.
70
ebd. Seite 35.
71
ebd. Seite 42.
72
ebd. Seite 49.
73
ebd. Seite 68.
28
Handlungen und durch äußerliche Anzeichen erkennbare Tageszeiten lassen auf
eine Zeitleiste schließen.
Auch bei der Figur des Tadzio sind Divergenzen zu finden. Während Tadzio in
Manns Novelle als unschuldig, fern und unerreichbar dargestellt wird und es ausgeschlossen ist, daß eine Annäherung stattfinden könnte, entwickelt sich Tadzio
bei Visconti zum Objekt der Begierde und sogar zum Provokateur.
„Visconti certainly accepts the first meaning of being seductive, indeed overbalances it by making Tadzio - whom Mann represents as clearly innocent until forced to
acknowledge Aschenbach’s attention - the obvious seducer.“75
In der Novelle ist es ferner nicht möglich, Tadzios Reaktion auf die Blicke und das
Verhalten Aschenbachs zu erkennen, da die Perspektive beschränkt ist. Jedoch
ist im Film deutlich ein Erwidern Tadzios zu bemerken - er schaut zurück.
„That Aschenbach is victim rather than opportunist is indicated by the repeated
insinuating glances which Tadzio directs towards him.“76
Wiehe beschreibt Tadzio als einen „[...] of many attractive young men whose presence in the film implies a hothouse flowering“, der somit weder naiv noch zerbrechlich scheint.77
Auch bei Aschenbach sind offensichtliche Änderungen zu bemerken, wenn man
die Medien miteinander vergleicht, denn aus dem Schriftsteller wird der Komponist, was die biographischen Züge Mahlers verstärken läßt. Auch autobiographische Züge Viscontis sind zu finden, die logischerweise ebenso eine Neuschöpfung darstellen, die nach Delassalle als Eitelkeit des Regisseurs hinzunehmen
seien.78
74
ebd. Seite 85.
Wiehe, Roger I.: Of Art and Death. Film and Fiction Versions of ‘Death in Venice’. In: Literature-Film
Quarterly, 16 (1988). Heft 3. Seite 212.
76
ebd. Seite 214.
77
ebd. Seite 214.
78
Delassale, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 160.
75
29
3. Der Regisseur Visconti und die Rezeption seines Werkes
3.1 Der Regisseur Luchino Visconti
und seine Verbindung zur literarischen Vorlage
Visconti hat ein sehr enges Verhältnis zu Deutschland, welches zum einen durch
seine Freundschaften zu dem Komponisten Hans Werner Hentze und Horst Paul
Bohrmann und zum anderen in seinen deutschen Vorfahren begründet ist. Er ist
begeistert von der deutschen und auch österreichischen Kultur und ihren Vertretern
Wagner, Zweig und Goethe. Den wohl größten Einfluß auf ihn hat jedoch Thomas
Mann. In einem Interview sagt er:
„After Goethe I love Thomas Mann. In one way or another, all my films are dipped in
Mann.“79
Belegen läßt sich das anhand der Verfilmungen, die von Mann beeinflußt sind,
denn nicht nur zwei Adaptionen werden von Visconti geschaffen, sondern auch
Werke von Mann wie „Joseph und seine Brüder“ oder „die Buddenbrooks“ werden
als Inspirationsquelle für andere Filme verwendet.
(„Mario und der Zauberer“ wird 1930 als Ballettphantasie gespielt; „Tod in Venedig“ wird als Film 1970 veröffentlicht; eine Adaption von „Der Zauberberg“ wird
1972 angefangen, aber nicht zu Ende gebracht.)
Aschenbach ist jedoch nicht nur eine Figur Manns, sondern entspricht in seiner
Problematik dem immer wiederkehrenden Thema des Betrugs bei Visconti.
„...caught in the mesh of their past, dissatisfied with their present and unable to
assume responsibility for the future.(...) Many of them would like to free themselves
of all responsibility, find a quiet pool of rest beyond the relentless stream of time.
(...) But no one can escape that inexorable flux: what has passed cannot be regained (...)“ 80
Doch auch deutlich autobiographische Züge Viscontis lassen sich bei Gustav von
Aschenbach finden. Das zunehmende Alter und die mangelnde Möglichkeit, Vater
79
Bacon, Henry: Visconti - Explorations of Beauty and Decay. Cambridge: Cambridge University Press,
1998. Seite 140.
30
zu werden (Visconti war homosexuell) sind Themen, die seine letzten vier Filme,
also auch Morte a Venezia betreffen.
„Like Visconti himself, the male characters of his films do not fail as fathers; as a
rule they fail in becoming fathers. (...)“81.
Zwar ist Aschenbach Vater geworden, jedoch erfahren wir durch Rückblenden,
daß seine Tochter verstorben ist. Als Kompensation für die Vaterrolle werden in
Viscontis Filmen Charaktere gezeigt, die
„seek comfort by escaping into the spheres of art or mad exaggeration of the ego,
as if to regain at least symbolically the ground they have lost.“82
Die Folge davon ist, wie bei Aschenbach selbst deutlich zu sehen: „(...) they enter
into an even deeper solitude.“83.
Wie Viscontis Verhältnis zu Literaturverfilmungen allgemein ist, läßt sich allein
durch die hohe Anzahl seiner Adaptionen belegen. Jedoch folgt er nicht den Ansichten einiger Kritiker, die die größte Kunst der Adaption in der Auswahl, Kürzung
und Betonung einzelner Episoden der Vorlage sehen. Er widerspricht ihnen mit
seinem Werk Il Gattopardo (Der Leopard, 1962) , in dem er sehr eng an der literarischen Vorlage bleibt. Jedoch gibt es ebenso Werke wie Senso, die die Vorlage
lediglich als Ausgangspunkt der Verfilmung nehmen84. Bei Morte a Venezia, dem
ersten modernen Klassiker, der von ihm verfilmt wird, geht er jedoch nach der
Leitidee vor, die „specificity of the original within the specificity of the cinema“85
darzustellen.
3.2 Kritik und Rezeption
Sowohl in der Rezeption der Novelle „Der Tod in Venedig“, als auch in der Rezeption des Films „Tod in Venedig“ gibt es die unterschiedlichsten Lager.
80
ebd. Seite 2.
ebd. Seite 192.
82
ebd. Seite 192.
83
ebd. Seite 192.
84
vgl. ebd. Seite 1996f.
81
31
Thomas Mann und Homosexualität sind stark in Zusammenhang mit der Rezeptionsgeschichte der Novelle zu bringen. Ein Großteil der Rezensenten läßt das
Thema Homosexualität jedoch gänzlich unerwähnt oder hebt nur den funktionalen,
beziehungsweise symbolischen Charakter hervor. So vertreten einige die Meinung, daß ein Knabe statt eines Mädchens zum Stilmittel der Verfremdung diene.
Homosexuell ausgewiesene Kritiker haben ein besonderes Interesse daran.86
Entrüstung und Liberalität - so betitelt Böhm die an sich sehr antihomosexuell gesinnte frühe Rezeption der Novelle.
Er teilt die Rezensenten in drei Gruppen ein:
1. die vorbehaltlos Begeisterten (zu denen auch zum Teil die Verwandtschaftsund Freundesrezensionen gehören)
2. die mit Einschränkung Begeisterten (die Manns Kälte beanstanden, aber seinen meisterhaften Stil bewundern)
3. die, die teils das Sujet, teils den Stil anprangern und verreißen.87
Böhm analysiert weiterhin, daß es zwei Tendenzen innerhalb der einzelnen Rezensentengruppen gibt: Zum einen, daß ein Rezensent, der sich vom Sujet abgestoßen fühlt, ein härteres Gesamturteil fällt. Zum anderen, daß ein Rezensent, dessen
Begeisterung für Manns Stil hoch ist, eher dazu bereit ist, das Sujet zu ‘übersehen’
oder es in irgendeiner Weise zu verharmlosen, indem er es zum Beispiel
‘symbolisch’ deutet.88
Eine der frühen Interpretationen ist von dem Psychoanalytiker Hans Sachs (1914),
der ‘den Tod’ thematisiert. Er stellt fest, daß Thomas Mann das Todes-Thema
ganz neuartig gebraucht, daß der Tod selbst zum Thema werde, das heißt, daß er
Held der Erzählung sei. Dieses Thema habe auch ein Gegenthema, die Liebe,
welche sich zum Schluß der Novelle zu seiner mächtigsten Entfaltung steigere.89
Sachs lobt weiterhin, daß Homosexualität zum ersten Mal nicht als Perversion,
Entartung oder psychologisches Kuriosum geschildert sei, sondern als natürliche
und selbstverständliche Regung.90
85
ebd. Seite 197.
vgl. Böhm, Karl Werner: Zwischen Selbstzucht und Verlangen - Thomas Mann und das Stigma Homosexualität, Würzburg: Königshausen und Neumann, 1991. Seite 17.
87
ebd. Seite 17.
88
vgl. ebd. Seite 18.
89
Widmaier-Haag, S.: Es war ein Lächeln des Narziß. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 1999.
Seite 79.
90
ebd. Seite 80.
32
86
Visconti hat in seiner Verfilmung von Manns ‘Der Tod in Venedig’ offenkundig eine
ähnliche Sichtweise angenommen. Tadzio wird als agierendes Liebes- und Lustobjekt gezeigt.
Obwohl Delassalle in ihrer Arbeit "Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung" auf die unterschiedlichsten Abweichungen des Films
von der literarischen Vorlage hinweist, bewertet sie Viscontis Film insgesamt noch
als Abbild der Novelle. Die im Film vorgenommenen Veränderungen nimmt sie als
medienbedingt hin. Sie sieht Visconti als Übersetzer, der seinen Freiraum voll
ausgeschöpft hat und dessen Intention eine abgeleitete bleibt.91
Golo Mann bemängelt an der Filmversion, daß Aschenbach von Beginn an keine
Autorität besitzt, der Charakter also nicht ganz geglückt sei. Positiv zu verzeichnen
seien die (sehr wichtigen) Nebenfiguren, die ihre Rolle ausgezeichnet gespielt
haben. Trotz seiner Begeisterung distanziert sich Golo Mann und sagt, daß Buch
und Film zwei ganz verschiedene Medien seien, die Verfilmung aber dazu beitragen könne, daß das Buch mehr gelesen werde - auf jeden Fall nicht weniger.92
Schlappner schreibt in seinem Artikel Morte a Venezia (1970):
„Viscontis ‚Tod in Venedig‘ ist weniger der Ausdruck eines gefaßten Abschieds
(wie es Il Gattopardo war) als die Geschichte eines physischen, psychischen und
moralischen Verfalls dem ein großbürgerlicher Künstler, abgeschnitten vom Volk,
das ihn verachtet, und unbeachtet von der Bourgeoisie, in deren Lebenssphäre er
sich aufhält, zu Beginn des Jahrhunderts, im fin-de-siècle sich aussetzt.“93
Diese Akzentsetzung entspricht nicht der Literaturvorlage. Wie es Sachs schon
1914 in seinem Aufsatz schreibt: der Tod ist der eigentliche Held. Visconti hingegen setzt nur das in Bilder um, was zum Bild des zusammenbrechenden und gescheiterten, gehemmten und verklemmten Künstlers paßt.
Joachim Günther argumentiert ähnlich wie Golo Mann, daß man ohne den Film von
Visconti das Buch wohl nicht wieder gelesen hätte. Kritikpunkte sind die Anleihen
aus Mahlers Musik. Zwar käme wohl ein Film ohne Musik nicht aus, doch hat
91
Delassalle, Béatrice: Luchino Viscontis ‘Tod in Venedig’ - Übersetzung oder Neuschöpfung. Seite 162
ebd. Seite 162
93
Schlappner, Michael und andere: Luchino Visconti. Seite 120.
92
33
„[...] das unendlich retournierende Adagietto der fünften Symphonie [hat] zuviel
Naivität, Klage, Gefühl, Unfreiheit, um zu der Prosa des Buches, zum Aristokratismus seiner Hauptfigur zu passen.“94
Günthers Rezension, die er ein Jahr nach dem Erscheinen des Films veröffentlicht,
kritisiert weiterhin die Vorbereitung auf den Tod, welcher ursprünglich nicht somatische Gründe innehatte und die Rückblenden, welche seiner Meinung nach ein
Vakuum ausfüllen. Ebenso weigert Günther sich gegen eine homoerotische Auslegung; hier dagegen seine:
„Im reifen, überreifen Mann, der zur Höhe seiner Selbstreflexion und Wortproduktivität gelangt ist, erscheint solch emphatisch - naiv erlebter Eros von innen her ungedeckt, als naive Annahme des Gefühls ohne Reflexion unwahrscheinlich.“95
Er schließt seine Rezension mit folgendem Lob:
„Ein unsterbliches Werk, ein lange nachwirkender Film, die beste Thomas-MannVerfilmung, die es bisher gegeben hat.“96
George B. von der Lippe bezieht sich in seiner Kritik auf Feedbacks der internationalen Presse von 1971, in der unter anderem Vincent Canby Viscontis Verfilmung als „an elegant bore full of rather lovely things on the periphery“ 97 bezeichnet.
Stuart Byron hingegen sieht Viscontis Werk als einen Meilenstein der Literaturverfilmung, da es auf beispiellose Weise „gay oppression and liberation“ 98 thematisiere.
David Glassco kritisiert genau diesen Aspekt in seinem Aufsatz ‘Films Out of
Books: Bergmann, Visconti, and Mann’ (1983):
“A deep and resonant desire for beauty is translated into a repressed homosexual’s desire for a young boy“ 99.
94
Günther, Joachim: Der Tod in Venedig - Randbemerkungen zu Film und Buch, In: Neue Deutsche Hefte,
Jahrgang 18, Heft 4. Berlin 1971. Seite 89.
95
ebd. Seite 93.
96
ebd. Seite 98 f.
97
von der Lippe, George B.:Death in Venice in Literature and Film: Six 20th-Century-Versions. Seite 47.
98
ebd. Seite 47f.
99
ebd. Seite 47.
34
Allein anhand der Schärfe einiger Kritiken am Film wird deutlich, daß Visconti
durch seine Verfilmung den Disput, wie Manns Novelle zu verstehen sei, erneut
provoziert und steigert. Am deutlichsten kann man dies an Jeoffrey Wagners
Standpunkt erkennen:
„The real difficulty is the appearance of Bogarde, looking like an absent-minded
professor who is in reality a lecherous fag....this happens because Visconti has no
time to insinuate Tadzio into Aschenbach’s consciousness as deftly and delicately
as does the original author. Visualizing has made everything too explicit and quoting Paul Zimmermann, 'he [Aschenbach] and the boy exchange lengthy glances,
whose explicitness turns Aschenbach into a foolish dirty old man, and the boy into
into a pretty little tease'.“100
100
Wagner, Geoffrey: The novel and the cinema. In: Visconti - explorations of beauty and decay.Bacon,
Henry. Seite 161f.
35
III Fazit
Geht man von dem Aspekt der Bildsprache aus, so schneidet der Film Morte a
Venezia in seiner Gesamtbewertung gut ab, da Visconti offensichtlich versucht
hat, die Bildsprache der Novelle in die des Films umzusetzen. In den von uns untersuchten Schlüsselszenen konnten wir feststellen, daß Visconti die Literaturvorlage als Regieanweisung verstanden hat. An den Stellen, an denen die Bildsprache des Films nicht ausreicht, greift er auf akustische Hilfsmittel, das heißt die Musik und wörtliche Zitate, zurück. Seine Methode, durch Flashbacks die Reduktionen zu kompensieren, scheitert jedoch - sie wirken unserer Meinung nach fehlplaziert und unbeholfen. Weitere Kritikpunkte, die wir durch unsere Arbeit entschlüsselt haben, sind folgende:
1. Aschenbachs körperlicher Verfall ist im Film zum Hauptmotiv aufgestiegen.
2. Tadzio wird nicht nur als schöner Jüngling, sondern als Provokateur und Lustobjekt gezeichnet.
3. Die Betonung des homosexuellen statt des distanziert schwärmenden für die
Schönheit lassen nur noch eine Interpretation zu.
4. Obwohl Visconti versucht hat, die mixed narration durch Kamera, Zoom und
Aschenbachs Darstellung als Marionette nachzuahmen, ist dem Zuschauer die
Doppelperspektive nur geringfügig bewußt (erst bei genauerer Analyse).
5. Die Musik kann nicht die Gedanken- und Gefühlswelt Aschenbachs ersetzen
und führt zu einer Schwere, die jegliche Ironie ersticken läßt.
Nichtsdestotrotz ist seine Verfilmung ein literarischer Genuß, und läßt man die
Fragwürdigkeit seiner Interpretation außen vor, dann kann man sich Delassalles
Meinung anschließen und es als ein Abbild Thomas Manns ‘Der Tod in Venedig’
bezeichnen. Unter dem Vorbehalt, daß jede Verfilmung eine Interpretation eines
Textes ist, ganz gleich, wie textnah der Regisseur gearbeitet hat, ist der literarische Film ein durchaus lohnendes Projekt des Deutschunterrichts, sofern man den
Film nicht nur kommentarlos abspielt, sondern ihn auch unter genrespezifischen
Kriterien untersucht.
36
IV. Literaturverzeichnis:
Primärliteratur:
Mann, Thomas:
Der Tod in Venedig und andere Erzählungen,
Frankfurt am Main: Fischer Verlag 1999, 56. Auflage.
Visconti, Luchino:
Der Tod in Venedig, Warner Home Video
GmbH, 1998.
Sekundärliteratur:
Bacon, Henry:
Visconti - Exploration of Beauty and Decay,
Cambridge: Cambridge University Press 1998.
Böhm, Karl W.:
Zwischen Selbstzucht und Verlangen - Thomas Mann und
das Stigma Homosexualität. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte Band 2. Würzburg: Königshausen und Neumann
Verlag, 1991.
Delassalle, Béatrice: Luchino Visconti‘s ‚Tod in Venedig‘ - Übersetzung oder
Neuschöpfung. Aachen: Shaker Verlag, 1994.
Fromkin / Rodman: An introduction to language. Orlano/Fort Worth:
Harcourt Brace, 1993, 5. Auflage.
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In: Literature - Film Quarterly 13 (1985). Heft 1.
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Joachim (Hrsg.), Jahrgang 18, Heft 4 (1971).
Hickethier, Knut:
Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart: Verlag J.B.
37
Metzler 1996, 2. Auflage.
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Katz, Steven D.:
Die richtige Einstellung, Frankfurt am Main:
Verlag Zweitausendeins 1998.
Koopmann, Helmut (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Krömer
Verlag, 2. Auflage 1995.
Miccichè, Lino:
Morte a venezia di Luchino Visconti. Bologna: Cappelli
Editore, 1971.
Paech, Joachim:
Literatur und Film. Stuttgart; Weimar: Metzler, 1997, 2.
überarbeitete Auflage.
Reed, T. J.:
Thomas Mann ‚Der Tod in Venedig‘. Texte, Materialien,
Kommentar. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH,
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Schlappner, M. und andere: Luchino Visconti, in: Reihe Film 4,
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von der Lippe, George B.: Death in Venice in Literature and Film: Six 20thCentury Versions. In: Mosaic 32/1 (March 1999).
Wessendorf, Stephan: Thomas Mann verfilmt. In: Schriften zur Europa- und
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Widmaier-Haag, S.: Es war das Lächeln des Narziß. Würzburg: Verlag
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Königshausen und Neumann, 1999.
Wiehe, Roger E.:
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Wolff, Jürgen:
Literaturverfilmungen. Band 2: Materialien und Dokumente.
Stuttgart, 1983-84.
39

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