Wohlstandskrankheiten unserer Pferde
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Wohlstandskrankheiten unserer Pferde
Heike Bussang | Birgit van Damsen Wohlstandskrankheiten unserer Pferde 4 Inhalt Einleitung: Wohlgenährt ins Verderben? 6 Kapitel 1 | Vorbeugen ist die beste »Therapie« 9 Gründe für Gewichtszunahme 10 Überversorgung mit Kohlenhydraten 11 Fehleinschätzung der Arbeitsleistung 17 Überschätzter Energieverbrauch? 23 Verschiedene Energiebewertungen 24 Leichtfuttrige Rassen (Risikogruppen) 25 Mangel an Bewegung 28 Übergewicht feststellen 30 Wiegen 32 Body Condition Score (BCS): Der »Speck-Check« 34 Richtig Tasten und Schieben 37 Abspecken und Gewicht halten nach Plan 39 Norm- und Reduktionsdiät 40 Grünlandgestaltung und reduzierte Grasaufnahme 45 Wie viel Gras darf das Pferd fressen? 49 Depotfett abtrainieren 50 Mehr Bewegungsanreize über die Haltung 51 Kapitel 2 | Equines Metabolisches Syndrom (EMS) Ursachen Entwicklung des Equinen Metabolischen Syndroms Genetische Disposition 55 56 59 62 Unterschiedliche Stoffwechseltypen 64 Symptomatik Krankhaft gesteigerte Nahrungsaufnahme bei unkontrolliertem Futterüberangebot Hufrehe beim Equinen Metabolischen Syndrom Diagnose Therapie Fettdepots abbauen 65 68 69 70 76 81 Bewegung 81 Zuckerarme Ernährung 85 »Futterberater« darf sich jeder nennen 86 Inhalt Kapitel 3 | Equine Cushing Desease (ECD) Kapitel 4 | Diabetes mellitus 124 Diabetestypen Diabetes Typ 1 Diabetes Typ 2 Therapie 125 125 126 128 Kapitel 5 | Die sechs Typen der Wohlstandskrankheiten 131 Kapitel 6 | Hormonell bedingte Hufrehe 137 89 ECD-Ursachen 91 Die Rolle des Equinen Metabolischen Syndroms (EMS) bei der Cushing Desease 93 Symptomatik 95 Häufigkeit und zahlenmäßige Erfassung der Symptome 97 Diagnose 101 Dexamethason-Suppressionstest (DST) 102 TRH-Stimulationstest (ACTH) 103 Kombinierter DexamethasonSuppressions-/TRH-Stimulationstest 103 ACTH-Wert-Bestimmung 104 Therapie 108 Wirkstoff Pergolidmesilat 108 Weitere Therapiemöglichkeiten 115 Diagnose Zusammenhänge zwischen Hufrehe und Hufform Therapie Schmerz ist nicht gleich Schmerz Medikation Trilostan 115 Nicht-steroidale Entzündungshemmer 148 Bromocriptin-Mesylat 116 Blutgerinnungshemmer 149 Serotonin-Antagonisten 116 Homöopathika und Heilkräuter 150 Homöopathie Kräuterkuren Lichttherapie Ergänzende Maßnahmen Fütterung dem Krankheitsbild anpassen Haltung Angepasste Bewegung 116 117 119 120 122 122 123 Huftherapeutische und -orthopädische Maßnahmen 151 Kältetherapie 151 Sohlen-Strahl-Polster 155 Barhufbearbeitung 156 Preis, Dosierung und Dosisanpassung 109 Verabreichung und Vergabezeitpunkt 112 Kontroll- und Nachuntersuchungen 114 143 146 147 147 148 Rehebeschlag nach der Napoleonmethode 157 Maßnahmen in der Haltung, Fütterung und Hufpflege 162 Danksagung 165 Anhang 166 5 1. Vorbeugen ist die beste Therapie Vorbeugen ist die beste Therapie Kapitel 1 9 Gründe für Gewichtszunahme rikaner sowie leichtfuttrige Kaltblüter wie Finnpferde und schwere Warmblüter sind gefährdet. Da nicht verbrauchte Energie in Fettdepots eingelagert wird, sind Bewegungsdefizite ein weiterer Grund für die zunehmende Anzahl fetter Pferde. Speziell sogenannte Freizeitpferde werden vielfach nicht regelmäßig und ausreichend bewegt. Die Crux: Ausgerechnet die Vertreter der oben genannten Rassen stellen das Gros freizeitmäßig gerittener Pferde dar. Obendrein besitzen Pferde aus Kaltklimazonen, sogenannte Nordpferde, eine geringere Eigendynamik, um sich instinktiv vor dem Auskühlen zu schützen. Überversorgung mit Kohlenhydraten Kohlenhydrate dienen dem Pferd zur Energielieferung und sind von allen Nährstoffen am meisten verbreitet. Viele Futterpflanzen wie Gras und Getreide besitzen hohe Gehalte an Kohlenhydraten und ihr Aufbau ist schlicht: Die primitivsten Bausteine sind die Einfachzucker (Traubenzucker). Zwei Einfachzucker werden zu Zweifachzuckern (Malzzucker), drei Einfachzucker ergeben einen Dreifachzucker und so weiter. Kohlenhydrate, die aus sehr vielen Einfachzuckern bestehen, heißen Vielfachzucker (mehrere Hun- Tabelle 1: Kohlenhydrate, Vorkommen und Funktion in der Pflanze (in Anlehnung an »Kohlenhydrate« von Dr. med. vet. C. A. Bingold, Pferdeklinik Großostheim) Vorkommen Funktion in der Pflanze Glucose (Einfachzucker) Früchte, Honig Grundbaustein Fructose (Einfachzucker) Früchte, grüne Blätter, Honig, Zuckerrüben Grundbaustein Saccharose (Zweifachzucker) am stärksten vertretener Zucker in Pflanzen Grundbaustein Stärke (Mehrfachzucker) Samen, Früchte, Wurzeln; Langzeitenergiespeicher Speicherfunktion Fruktan (Mehrfachzucker) Wurzeln, Äste, Grashalme, Blätter; Energiezwischenspeicher Speicherfunktion Pektin (Mehrfachzucker) Stängel, Blüten, Blätter, Knollen, Wurzeln; Ballaststoff, Strukturelement Struktur/Gerüst Zellulose (Mehrfachzucker) am häufigsten verbreitetes Polysaccharid der Pflanzen; Strukturelement in allen Bestandteilen Struktur/Gerüst Lignin (dreidimensional vernetzte KohlenwasserstoffVerbindung) dient der Festigkeit von pflanzlichen Geweben; viel in überständigem Gras enthalten Struktur/Gerüst Kohlenhydrat 1 11 12 Gründe für Gewichtszunahme Der Zuckergehalt von Heu schwankt je nach Ausgangsmaterial erheblich. dert). Hierzu zählt die Stärke im Getreide, aber auch die Zellulose, die der Pflanze als Gerüstsubstanz dient. Ebenso sind Fruktan, Pektin und Lignin komplexere Gebilde aus mehreren oder vielen verknüpften Zuckereinheiten. In Tabelle 1 auf Seite 11 sind die wichtigsten und für Pferde maßgebenden Kohlenhydrate, ihr Vorkommen und ihre jeweilige Funktion in der Pflanze aufgeführt. Die in der Tabelle 1 aufgeführten Kohlenhydrate sind je nach ihrer Komplexität vom Pferd unterschiedlich verdaulich. Während die Einfachzucker leicht verdaut werden, sind die Energiespeicher schwerer verdaulich. Die Kohlenhydrate, die den Pflanzen als Strukturelemente dienen, sind schwer bis gar nicht verdaulich beziehungsweise nur mittels spezieller Darmbakterien. Eine der Faktoren für übermäßige Depotfetteinlagerungen sind Futtermittel, die zu hohe Kohlenhydratanteile besitzen. Leider finden sich auf den Beipackzetteln der Futtermittel im Unterschied zur Nahrung für uns Menschen keine Angaben über den prozentualen Anteil von Kohlen hydraten. Deshalb kann lediglich die Größe der verdaulichen Energie (Megajoule) einen Hinweis auf den Kohlenhydratanteil geben. Inzwischen ist man sich bei einigen Futtermitteln aber sicher, dass sie sehr hohe Anteile von Kohlenhydraten (Zucker, Stärke) beinhalten. Neben besonders kohlenhydrathaltigen Gräserarten wie Weidelgras und Wiesen schwingel sowie ihrer Produkte (Frischgras, Heu, Gras- und Heulagen) sind das vor allem Futtermittel wie Corn-Cob-Mix, Mischfutterarten (Fertigfutter/ Müsli) mit hohen Anteilen verdaulicher Energie (viel Melasse und Weizenkleie) sowie Getreide, aber auch Obst und Wurzelgemüse. Da besonders Zucker als Dickmacher gilt, werden einige Beispiele von Zuckergehalten in Futtermitteln vorgestellt: So hat ein Kilogramm Äpfel (= circa 6 Stück) 8–16 Prozent Fruchtzucker, also im Mittel 120 Gramm, ein Kilogramm Karotten 2 bis 6 Prozent Frucht- und Traubenzucker, im Mittel 40 Gramm. Ein Kilogramm Zuckerrüben (das entspricht etwa einer Rübe) besitzt bis 20 Prozent Frucht- und Traubenzucker, im Mittel 200 Gramm. Ein Kilogramm Heu hat einen Gesamtzuckergehalt (verschiedene Zuckerformen) von 10 bis 20 Prozent und darüber, also im Mittel 150 Gramm pro Kilogramm Trockensubstanz. Heu aus der Ernte 2011 hatte teilweise einen Zuckergehalt von 40 Prozent (= 400 Gramm Zucker; siehe hierzu die Anmerkungen im Abschnitt »Fehlein schätzung der Arbeitsleistung«). Der Gesamtzuckergehalt von Heu aus Heu wiesen, auf denen sogenannte »Hochzuckergräser« (HZG) wachsen, teilweise über 20 Prozent. Der Anteil von Fruktan wird etwa mit der Hälfte des Gesamtzuckergehalts angegeben. Der Gesamtzuckergehalt von Heu aus Magerwiesen Abspecken und Gewicht halten nach Plan kur in eine Klinik oder Praxis mit stationärer Abteilung verbracht werden, wo es unter tierärztlicher Kontrolle abspeckt und das nötige Training erhält. Grünlandgestaltung und reduzierte Grasaufnahme Wie bereits erwähnt hat sich die Grünlandgemeinschaft von Pferdeweiden und Heuwiesen in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert. Statt der mageren Gräser aus »Opas Zeiten« beherrschen jetzt überwiegend künstlich gezüchtete und energiereiche Zuckergräser aus den Biolabors der Saatgutkonzerne die Futtergrundlage unserer Pferde. Das hat neben mangelnder Bewegung allem Anschein nach zum dramatischen Anstieg der Wohlstandskrankheiten geführt. Aus diesem Grund ist nicht nur der Weidegang unbedingt einzuschränken, sondern es müssen auch Maßnahmen ergriffen werden, das Weideland pferdegerecht umzugestalten. 45 Welche Gräser, welches Saatgut? Bereits durch die Auswahl des Saatgutes für die An- und Nachsaat lassen sich wesentliche Risikofaktoren beschränken. Die höchsten Energiewerte enthalten Weidelgras, Rohr- und Wiesenschwingel. Mittlere Zuckergehalte weisen Wiesenrispe, Knaul- und Wiesenlieschgras auf, Rotschwingel sowie Wiesenfuchsschwanz besitzen niedrigere Energiewerte. Am wenigsten Energie haben kultivierte Wildgräser, die nicht durch Zucht verändert wurden und deren Saatgut mittlerweile auch auf dem Markt erhältlich ist (Adresse siehe Anhang). Vorsicht ist vor allem bei sogenanntem Reparatursaatgut geboten, das oft einen Weidel grasanteil von 80 Prozent aufweist. Auch energiereduzierte Saatgutmischungen können noch bis zu acht Prozent Weidelgras und bis zu 30 Prozent Rohr- und Wiesenschwingel enthalten. Die sieben wichtigsten Gräserarten absteigend nach ihrem Energiegehalt. Von links nach rechts: Deutsches Weidelgras, Wiesenschwingel, Wiesenrispe, Knaulgras, Wiesenlieschgras, Rotschwingel und Wiesenfuchsschwanz. 46 Abspecken und Gewicht halten nach Plan Fatales Fruktan ! Etwa die Hälfte des Gesamtzuckers besteht aus dem Mehrfachzucker Fruktan, den die Gräser als Energiespeicher für »schlechte Zeiten« (Verbiss, Dürre, Frost, Nährstoffmangel) nutzen. Fruktan macht aber nicht nur dick, sondern kann – im Übermaß aufgenommen – auch Hufrehe auslösen. Im Unterschied zu Reheschüben, die durch eine Hormonstörung (hoher Insulinspiegel, Insulinresistenz) bei EMS, ECD und Diabetes verursacht werden, entsteht die sogenannte Grasrehe durch hohe Fruktanwerte. Dabei gelangt der Vielfachzucker weitgehend unverdaut in den Dickdarm, wo er durch Übersäuerung des Darminhalts ein massenhaftes Absterben nützlicher Mikroben bewirkt. Die Folge: Es bilden sich körpereigene Gifte (Endotoxine), die über die Darmwand in den Blutkreislauf gelangen und in den fein verzweigten Kapillaren der Huflederhaut die Entzündung (Laminitis) auslösen. Gefährdet sind wiederum vor allem leichtfuttrige und dickleibige Pferde. Die Fruktankonzentrationen im Gras schwanken stark und sind abhängig von Temperatur, Sonneneinstrahlung, Tages- und Jahreszeit. Die höchsten Werte werden im Frühjahr und Herbst gemessen. Grafik 2 zeigt die jahreszeitlichen Messwerte im Durchschnitt. Hufreherisiko in Abhängigkeit vom Fruktangehalt in Gras und Heu Grafik 2: Jahreszeitliche Schwankungen der Fruktanwerte im Gras (Quelle: TiHo Hannover). 56 Equines Metabolisches Syndrom (EMS) Equines Metabolisches Syndrom (EMS) Das Equine Metabolische Syndrom ist eine Entgleisung des Stoffwechsels beim Pferd aufgrund einer Ungleichheit von Energiezufuhr (besonders Zucker) und Energieverwertung (mit Hilfe von Insulin). Dabei stammt der Begriff »metabolisch« aus dem Englischen metabolic, was mit »veränderlich«, den »Stoffwechsel betreffend« oder »stoffwechselbedingt« übersetzt wird. Und die Bezeichnung Syndrom geht aus dem Griechischen syn = zusammen mit und drómos = der Weg, der Lauf, also »zusammen mit dem Lauf« hervor. In der Medizin bedeutet Syndrom das gleichzeitige Vorliegen verschiedener Symptome (= Krankheitszeichen), deren ursächliche Zusammenhänge mehr oder weniger bekannt sind oder vermutet werden können. Ursprünglich stammt der Begriff Metabolisches Syndrom (MS) aus der Humanmedizin. Dort wird es auch als »tödliches Quartett« oder »Syndrom X« bezeichnet und heute sogar als Pandemie (= weltweite Epidemie ohne örtliche Beschränkung) eingeschätzt. Beim Menschen wird es als der entscheidende Risikofaktor für Herzerkrankungen angesehen und ist durch die vier Faktoren Fettleibigkeit, Bluthochdruck, veränderte Blutfettwerte und Insulinresistenz charakterisiert. Die Erkrankung entwickelt sich aus einem Lebensstil, der durch permanente Überernährung und Bewegungsmangel gekennzeichnet ist und betrifft einen hohen Anteil der in Industriestaaten lebenden Bevölkerung. Das Equine Metabolische Syndrom (EMS) des Pferdes verursacht jedoch keinen Herzinfarkt, sondern Depotfetteinlagerungen, Muskelschwäche und andere Körperschwächungen sowie die fatale Folgeerkrankung »Hufrehe« oder zumindest eine erhöhte Anfälligkeit für diese. Beim Durcheinandergeraten des Energie- beziehungsweise Zuckerstoffwechsels ist besonders das sich entwickelnde Fettgewebe von großer Bedeutung, welches kein untätiger Speicher ist, sondern eine äußerst aktive »Hormondrüse«. Denn die vom Depotfettgewebe in den Blutkreislauf abgegebenen Hormone sind verantwortlich für die jeweiligen Körperreaktionen beziehungsweise Folgeerkrankungen. Ursachen Die Hauptursache für die Entstehung des Equinen Metabolischen Syndroms sind die Ausbildung von Fettdepots durch übermäßige Zufuhr von Energie (in Form von Zucker) infolge einer Fehleinschätzung des Futterbedarfs durch den Besitzer, einer genetischen Disposition (= Veranlagung; gute Futterverwerter) und vor allem Bewegungsmangel. Anders als bei der »normalen« Fettleibigkeit bilden sich beim EMS speziell vermehrte Depotfetteinlagerungen am Mähnenkamm, an der Unterbrust, auf der Kruppe und am Übergang zum Schweifansatz sowie von den Schultern zum Rumpf. Aber auch der gesamte Rumpf wird mit einer erhöhten und flächigen Fetteinlagerung, die sich im Unterhautbindegewebe befindet, Ursachen 57 Typische Fettdepots beim EMS-Pferd. überzogen. Typisch ist auch eine vermehrte Fettansammlung über den Augen. Die Gifte großer Fettzellen Prinzipiell dienen Fettdepots dem Körper als Energiereserve in Zeiten großer Futterknappheit. Sind sie jedoch vergrößert, überschütten sie ihn mit Entzündungsstoffen. Ein erwachsener Mensch beispielsweise besitzt je nach Leibesumfang zwischen 40 und 120 Milliarden Fettzellen. Rechnet man dies auf ein Großpferd mit etwa 600 Kilogramm Lebendgewicht um, verfügt dieses zwischen 280 und 840 Milliarden Fettzellen. In jeder Zelle befindet sich ein »Öltröpfchen« als Energiespeicher für Notzeiten. Aber auch Hormone, Boten- und Entzündungsstoffe sowie viele weitere Substanzen werden im Fettgewebe produziert, aus Vorstufen zusammengesetzt oder umgebaut. Eine fette »Chemie fabrik«, deren Produkte nach neuen Erkenntnissen weitreichende Folgen für den gesamten Stoffwechsel haben. So konnten beim Menschen bis jetzt etwa 100 von Fettzellen gebildete Substanzen identifiziert werden. Viele von ihnen sind dafür bekannt, dass