Kehlmann: Die Vermessung der Welt

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Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage
Literaturklub Sindelfingen
12. Dezember 2011
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Die Autorin
Anna Katharina Hahn ist 1970 in Ruit (Kreis Esslingen) geboren und vermutlich im (früher)
„roten“ Stuttgarter Vorort Rohracker aufgewachsen. Dort jedenfalls besucht sie die Grundschule und macht 1990 in Stuttgart-Mitte, am Königin-Katharina-Stift, Abitur. Dann studiert
sie in Hamburg Germanistik, Anglistik und Volkskunde. 1995 schließt sie mit dem Magister
ab, ist bis 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bibel-Archiv und arbeitet in
der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Hamburg. Sie veröffentlicht wissenschaftliche Texte und zwei Bände mit Erzählungen: Sommerloch (2000) und Kavaliersdelikt (2004). Mit ihrer Familie lebt sie derzeit in Stuttgart.1
2004 nimmt sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. 2010 erhält sie den
Roswitha-Preis, die bedeutendste deutsche Literaturauszeichnung für Frauen, benannt
nach Hroswitha von Gandersheim. Diese Stiftsdame hat im 10. Jahrhundert gelebt und gilt
als die erste deutsche Dichterin. Den Roswitha-Preis hat die Stadt Bad Gandersheim 1973
gestiftet, zunächst als Gedenk-Medaille, die im Rahmen der Frankfurter Buchmesse überreicht wurde. Seit 1998 ist die Preisübergabe in der Stadt Bad Gandersheim. Er geht nicht
nur an schriftstellerisch, sondern auch an wissenschaftlich tätige Frauen aus ganz Europa.
Die Bedingung lautet: Der Forschungsgegenstand muss einen inhaltlichen Bezug zu
Roswithas Lebenswerk haben. Neben der Literatur sind das Philosophie oder Musiktheorie oder Mathematik. Zu den Autorinnen, die den Preis erhalten haben, gehören Marie Luise Kaschnitz, Hilde Domin und Ilse Aichinger. Auch Herta Müller, Julia Franck und Cornelia Funke wurden geehrt.2 Bei Anna Katharina Hahn weist die Jury auf ihre Gabe hin, „eleganten Stil, Sarkasmus und Empathie“ zu vereinen.
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Der Roman und die Stadt
Der Roman „Kürzere Tage“ ist 2009 erschienen. Er spielt in Stuttgart. Die Stadt bildet keine beliebige geografische Kulisse, sondern ist eng mit der Romanhandlung verflochten.
Die genannten Orte lassen sich auf dem Stadtplan nachweisen, mit Ausnahme der
„Hauptstraße“, der Constantinstraße. Die Viertel, Straßen und Plätze der Stadt dienen der
sozialen Differenzierung der Personen. Pointiert gesagt. Die Wohnlage definiert die gesellschaftliche Position. Von einer Romanfigur heißt es, sie wolle die Stationen seines Erfolges auf dem Stadtplan sichtbar machen (69)3. Das Ziel ist der Killesberg oder die Gegend um die Uhlandshöhe (70). Leonie, eine der vier Hauptpersonen, bezeichnet Stuttgart
als eine Stadt, die trotz aller Anstrengungen nie Metropole sein wird und deshalb einen
gewissen behäbigen Frieden atmet (69). Leonie bescheinigt Stuttgart Unansehnlichkeit.
Dennoch hat sie Lieblingsplätze: den Bopserwald, das Eiscafé Pinguin am Eugensplatz
und den Trümmerberg Monte Scherbelino (68). Eine andere Person des Romans, Tobias
aus Tübingen, unterzieht Stuttgart einer Architekturkritik:
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http://lesekreis.org/2010/09/11/literatur-stuttgart-kurzere-tage-von-anna-katharina-hahn/
http://de.wikipedia.org/wiki/Roswitha-Preis
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Die Angabe der Seitenzahlen folgt der Taschenbuchausgabe des Romans „Kürzere Tage“ von Anna Katharina Hahn,
erschienen 2010 bei Suhrkamp in Frankfurt am Main
2
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T 1 der Krieg hat [Stuttgart] das schöne Gesicht genommen. So eine Art Facelifting. Jetzt
ist sie bloß noch praktisch, man kann leicht mit dem Auto durchfahren. Auf Straßen, die
eigentlich von den Nazis geplant wurden. Und alle neuen Häuser sehen wie Würfel aus,
Betonwürfel in jeder denkbaren Farbe und Form, winzige Kästen und hochaufgetürmte, in
den vielfältigsten Abstufungen gestapelte Kisten. Aber dazwischen steht plötzlich etwas
Altes, wie vergessene Dekoration, ein Sandsteinhaus mit Schnörkelfassade, ein Schloß,
ein Kirchturm. (177)
Der Roman hat 14 Kapitel. Sie sind mit den Namen der vier Hauptpersonen überschrieben: Judith, Leonie, Luise und Marco. Häufiger genannt werden auch die von Judith und
Leonie wegen ihrer Tapferkeit bewunderte Hanna und ihr asthmakranker Sohn Mattis sowie Nazim, ein türkischer Ladenbesitzer. Die Geschichte spielt Ende Oktober, kurz vor
Halloween, wenn die Tage kürzer werden. In dieser knappen Zeitspanne verknüpfen sich
die Schicksale der Hauptpersonen. Die Oktoberhandlung steht im Präsens. Judith, Leonie,
Luise und Marco haben ihre eigenen Vorgeschichten; sie werden in die Gegenwartshandlung eingefügt. Erzählzeit ist dann das Präteritum.
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Judith
Judith Rapp heißt eigentlich Jutta und ist eine geborene Seysollf. Sie stammt aus Kirchheim/Teck und hat zwei verheiratete Schwestern. Von außen wirkt sie wie eine unberührbare Madonnenschönheit (38). Ihre Innenwelt ist weniger heilig. Schon in den ersten Zeilen wird sie (auf der Gegenwartsebene) als Süchtige eingeführt: Das Verlangen nach einer
Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag.
(7) Sie macht einen inbrünstigen Lungenzug und wartet auf die beruhigende Wirkung des
Nikotins. Es fallen die Wörter Gier und Laster. Judiths Aschenbecher wird mit dem Spritzbesteck einer Drogensüchtigen verglichen. Später erfahren wir von ihrer Tablettenabhängigkeit.
Judith ist anfangs dreißig und mit Klaus verheiratet. Sie haben zwei Kinder, den fünfjährigen Uli und den dreijährigen Kilian. Die Familie wohnt in der Constantinstraße 153 (41),
wo es braungelbe Sandsteinhäuser mit grauen Schieferdächern gibt. Den Namen dieser
schönen und auch ruhigen Straße sucht man auf dem Stuttgarter Stadtplan vergebens.
Trotzdem kann man sie lokalisieren: In der Nähe liegen, heißt es, das Olgaeck und die
vielbefahrene Olgastraße (82). Das passt auf die Alexanderstraße. Es ist ein bürgerliches
Viertel, das Lehenviertel (69).
Vorher hat Judith im Osten Stuttgarts gewohnt, in der Hackstraße. Die gibt es tatsächlich.
Sie zweigt am Zeppelingymnasium, am Stöckach, von der nach Bad Cannstatt führenden
Neckarstraße ab und mündet beim Gaskessel in die Wangener Straße. Die Hackstraße ist
ein Spiegelbild von Judiths chaotischer Studentenzeit. Während ihrer einsamen Tage als
Hausfrau erinnert sie sich …
T 2 an die morgendlichen Straßenbahnfahrten zur Uni, quer durch den Stuttgarter Osten,
vorbei am Gaskessel, der wie ein riesiges Michelinmännchen aus schwarzen Scheiben
zusammengesetzt im Talkessel hockte, umgeben von den Baukastenelementen der Industrieanlagen. Jeden Morgen fuhr Judith vom Schlachthof bis zur Keplerstraße, vorbei an
Saunapuffs, türkischen Gemüse- und Juweliergeschäften, dem Karl-Olga-Krankenhaus.
Sie passierte den Bergfriedhof im Schutz grau verputzter Mauern, hinter denen dunkle
2
Bäume emporragten wie auf einem Böcklin-Gemälde4, kroatische, griechische und serbische Restaurants, Tanzschuppen und Änderungsschneidereien, das Arbeitsamt am
Stöckach, Tankstellen, Discounter und die lange Schräge der Werastraße, die aus ihren
Niederungen ins Gerichtsviertel hinaufführt. (18)
Der Stuttgarter Osten, der hier mit düsteren Bildern beschrieben wird (Gaskessel, Industrieanlagen, grau verputzte Mauern, dunkle Bäume wie bei Böcklin) ist eine Arbeitergegend. Nicht umsonst spielt hier der 1985 veröffentlichte Stuttgart-Roman des Edelkommunisten Manfred Esser, „Ostend“. Im Westen Stuttgarts, vor allem in den Halbhöhenlagen,
wohnten und wohnen die Wohlhabenderen.
Ehemann Klaus bezeichnet die schwierige Lebensphase seiner Gattin im Stuttgarter Osten mit dem Wort Hackstraßenmist. Judith studiert damals Kunstgeschichte und betätigt
sich als wissenschaftliche Hilfskraft. Nach außen gibt sie sich souverän, in Wirklichkeit
leidet sie unter großen Ängsten; man könnte es Todesangst nennen. Von daher rühren die
Süchte, das Rauchen, die Tablettenabhängigkeit. Im Rückblick charakterisiert sie sich
selbstkritisch als pailettenbesticktes, Döner kotzendes Hackstraßenflittchen (203). Ihre
Magisterarbeit soll sie über Otto Dix‘ altmeisterliche Tafelbilder schreiben – ein weiterer
Hinweis auf die Todesproblematik. Eigentlich mag sie Dix nicht, nur sein Bild der Tänzerin
Anita Berber gefällt ihr; es wurde gemalt nach einer Skandalfrau des beginnenden 20.
Jahrhunderts.5 Judith findet Anita Berber deshalb so attraktiv, weil sie verkörpert, was ihr
selbst fehlt: Selbstvertrauen und Souveränität im Auftreten; cool wie Anita Berber heißt es
einmal (205). Durch die Magisterarbeit, die sie übrigens nie vollendet, fühlt sie sich psychisch permanent unter Druck gesetzt. Sie kommt sich vor wie begraben (Todesbild),
schläft schlecht, bleibt morgens lange im Bett und sitzt manchmal weinend unter dem
Schreibtisch. Erst abends steht sie auf, zieht ihre Lederhose an, besprüht sich mit dem
Parfüm „Opium“ und trifft Sören, ihre Daueraffäre (10). Er will Arzt werden und geht mit
Judith wenig einfühlsam um. Ihre Versagensängste steigern sich. Sie bekommt das Beruhigungsmittel Tavor verschrieben, das man bei Angst- und Panikattacken gibt, und wird
davon abhängig. Tavor verschafft Judith zeitweilige Angstfreiheit. Aber, heißt es im Text,
Leider reichte die verordnete Dosis nicht aus, um Judith langfristig zu erlösen (14). Ein
doppelbödiger Satz mit einem mehrdeutigen Verb: erlösen. Als sie „ganz unten“ ist, bricht
sie aus. Sie verlässt die Wohnung in der Hackstraße und läuft in die Constantinstraße. Es
ist eine Flucht vor der Wissenschaft und aus dem missglückten Praktikum in der Galerie
Dr. Fenchel. Und es ist ein Männerwechsel: von Sören zu Klaus. Dieser Aus- und Aufbruch geschieht an einem sonnigen Septembernachmittag (38). Judith, im hellblauen Pullover, angetan mit Samtjackett und Pumps (42), setzt sich auf einen schludrig gepackten
Karton vor das Haus, in dem Klaus wohnt, und wartet auf ihn. Dabei fühlt sie sich wie eine
Prolobraut, die vor ihrem Schläger ins Frauenhaus flüchtet (39).
T 3 Judith hatte nicht viel aus der Hackstraße mitgenommen: ihren alten Stoffaffen, das
chinesische Teeservice, Morgenrock, Kosmetika, ein paar Kriminalromane, Kafka, Anne
Sexton6, Hermann Lenz7 und auch der Mörike waren pedantisch in alte Stuttgarter Nach4
Schweizer Maler: 1827 – 1901; bekannt ist vor allem „Die Toteninsel“.
1899 – 1928; sie war die Tochter eines Violinvirtuosen und einer Kabarettistin und wurde durch ihre Kleidung und
Auftritte berühmt.
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1928 – 1974 (Suizid); amerikanische Lyrikerin, war mehrfach in psychiatrischer Behandlung
7
1913 – 1998; deutscher Schriftsteller, hat in Stuttgart und München gelebt; bekannt die Eugen-Rapp-Romane
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richten gewickelt und in zwei Kartons versenkt worden, während Leitzordner, Karteikästen
und Notebook auf dem Schreibtisch zurückgeblieben waren […] Sie packte ein Baumwollnachthemd, Jeans und ihr einziges Paar Turnschuhe ein. Minis in Lackoptik, Nietengürtel,
T-Shirts mit Drachen und Madonnen und ein Haufen stilettbewehrter Schuhe für alle Jahreszeiten blieben im Schrank. (42f).
Leider beginnt der Ausschnitt mit einem Grammatikfehler – ihren alten Stoffaffen – oder
geschieht der Satzbruch absichtlich? Hermann Lenz ist der Verfasser einiger in Stuttgart
spielender Romane. Er. Kafka und auch Eduard Mörike sind Autoren, bei denen Innenwelt
und Außenwelt nicht im Einklang sind; insofern passen sie zu Judiths Lebenssituation.
Auch der Name Anne Sexton verweist auf diese Problematik; sie führte ein Leben am Abgrund. Anita Berber bleibt zurück, auch das Material für die wissenschaftliche Arbeit und
die Mode-Utensilien ihres bisherigen Lebens lässt sie in der Hackstraße. Während sie auf
Klaus wartet, wird Judith von der im gleichen Haus wohnenden Luise Posselt freundlich
angesprochen. Ihr gaukelt sie vor, Klaus zu lieben, von ihm schwanger zu sein und ihn
demnächst heiraten zu wollen. Diese Erfindungen, man könnte auch sagen: Lügen, bilden
die Grundlage für Judiths Wechsel des sozialen Bezugssystems, ihre Verwandlung in die
Constantinstraßen-Judith (44). Das neue Leben wird auf einer Täuschung aufgebaut.
Auch Leonie bekommt später eine gefälschte Lebensgeschichte vorgesetzt. Frau Posselt
ist von Judiths Flunkereien beeindruckt und lässt sie in die Wohnung von Klaus. Der hat
früher auch in der Hackstraße gewohnt, eine Etage tiefer: ein breitschultriger, gedrungener
Mann mit dichten hellen Locken und einem gutmütigen Gesichtsausdruck (39). Er ist gelernter Ingenieur, hat über Verbrennungsmotoren promoviert und sich dann habilitiert. Er
findet: An der Uni ist es doch einfach entspannter als in der Wirtschaft. (40). Diese Einstellung kann Judith naturgemäß nicht teilen. In der Hackstraße hat er Interesse für sie bekundet, ohne allerdings auf Gegenliebe zu stoßen. Nun macht sie sich an ihn heran, und
zwar mit Erfolg.
Der Umzug ändert nicht alles. Judith macht einen Entzug, bleibt aber weiterhin tablettenabhängig. Die Pillen versteckt sie. Bei reduzierter Tavordosis (83) wird sie schwanger. Als
Mutter gibt sie sich verantwortungsbewusst, lässt sich von der Waldorf-Pädagogik überzeugen und will auf dieser Grundlage ihre Kinder frei von Süchten (15) erziehen. Die Familie hat keinen Fernsehapparat und verzichtet auf die von Steiner verpönte Kartoffel8.
Dafür spielen Dinkel, Weizenschrot, Haferflocken (17) sowie Kräutertees eine wichtige
Rolle. Das Haus hat einen Hinterhof, ein idyllisches Gärtle von etwa 200 qm Größe. Dort
fühlt sich Judith geborgen. Als die Kinder im Gebüsch eine halbleere Wodkaflasche finden,
reagiert sie panisch; die Ordnung ist gestört. Selbst den spontanen Besuch von Leonie
empfindet sie als Bedrohung. Das System „Judith und Familie“ ist zerbrechlich. Sie hat
den Bruch mit der Hackstraße nicht richtig vollzogen. Sören geistert weiter in ihrem Kopf
herum. Sie weiß, er würde das unanständige Schafsglück der Bürgerlichen (99) verachten.
T 4 Ihr Horizont ist nicht höher als der Rand einer Müslischale. Blind für die Verwerfungen
der Welt. Kindersoldaten reißen in Namibia Frauen die Gedärme raus, während du dir
Sorgen machst, ob dein Kind vielleicht Hammerzehen hat. Und die Chinesen bauen Geländewagen und feinmechanische Instrumente für ein Zehntel des hiesigen Preises, während Meeresspiegel und Gesundheitskosten steigen. (99)
8
Sie beeinträchtige das Denken und mache schlechte Träume, so die Begründung.
4
Von den vier Hauptpersonen ist Judith die literarisch gebildetste. Als sie Luise Posselt mit
ihren verklebten weißen Haaren sieht, denkt sie an eine Gedichtzeile. Sie überlegt. Wachtel, Fasan, durchs Erlenholz kam sie gestrichen, die Schnepfe nämlich. Benn-Zeilen und
Versfetzen aus Ulrichs Bilderbuch „Vogeluhr“ gehen gleichzeitig durch ihren Kopf. (36) Bei
der Benn-Zeile fehlt zwar ein Wörtchen, „entlang“, dennoch wird deutlich: Judith ist literarisch bewandert. Das schützt sie nicht vor einer neuen Krise. Die bricht aus, als ihr im
Olgahospital (Olgäle) Sören, der Stationsarzt Dr. Sören Rönne, zufällig über den Weg
läuft. Dorthin hat sie Hanna und deren Sohn Mattis wegen eines akuten Anfalls chauffiert.
Die Kinder ließ sie im Garten zurück, unter der Obhut Luise Posselts. Nun wartet sie auf
Sören, dem sie offenbar hörig ist, raucht heftig und denkt über ihre nachlassende Schönheit nach:
T 5 Sie fragt sich, wie Sören wohl reagieren wird, auf ihren Körper mit den silbernen Rißspuren unter dem Bauchnabel, den gesackten Brüsten, dem zarten violetten Netz der Besenreiser an Oberschenkeln und Knöcheln? (206) […] Was will ich sein? Vogelscheuche,
Hausfrau, Klausfrau, Mama, breikochend, hinternwischend und fliesenscheuernd? Oder
lieber wieder hinaustreten aus dem warmen Mief, hinaus auf die neonweiß umstrahlten
Eisgipfel der Hackstraßenlandschaft, wo Wodka und Tequila in klaren Strömen fließen, wo
immer künstlich beleuchtete Nacht herrscht und der Tag im Dämmer heruntergelassener
Rolläden verschlafen wird? (207)
Eine Frau zwischen Waldorf-Bürgerlichkeit und Anita-Berber-Existenz. Der Rückfall in das
Hackstraßenleben droht, findet aber nicht statt. Sören hat keine Lust. Er beschimpft sie als
Öko-Tussi, macht ein paar giftige Bemerkungen über Klaus und verschwindet. Sie geht
zurück ins Lehen-Viertel. Es hat sich gezeigt: Ihre Sicherheit ist brüchig. Aus der fürsorglichen Mutter kann jederzeit eine tablettensüchtige Schlampe (210) werden. Sie stellt sich
als Lösung (?) ein drittes Kind vor, ein Mädchen mit Namen Rike. Es könnte die heile Welt
stabilisieren. Der Name Rike spielt auf Mörikes Text „Häusliche Szene“ an. Er lässt darin
ein Lehrerehepaar in Hexametern über die Essigproduktion des Mannes streiten. Die junge Rike ist dabei ihrem älteren Gatten verbal deutlich überlegen.
4
Leonie
Leonie ist ebenfalls anfangs dreißig und fällt durch ihre roten Haare auf. Sie wohnt im
Haus Judith gegenüber. Ihre Mutter kommt aus dem Sudetenland. Der Vater verdient gut
als Wirtschaftsprüfer. Aufgewachsen ist Leonie in einem Reihenhaus in Feuerbach, also
einer eher bürgerlichen Gegend. Sie wurde katholisch erzogen und war Ministrantin. Als
protestantischer Leser ist man ein wenig irritiert, wie unkritisch sie beim Halloween-Fest
des Kinderbauernhofs „Bei den Zaunkönigen“ mitmacht. Eher schon versteht man, warum
sie, die Katholikin, so lange die evangelische Kirche von Heumaden gemieden hat. In diesem abgelegenen Vorort hat Leonie mit ihrem Mann Simon und den Töchtern Lisa, fünf,
und Felicia, zwei, bis zum August gewohnt. Leonie arbeitet in der Kommunikationsabteilung einer mittelständischen Bank (33). Studiert hat sie nie gern. Die Welt außerhalb der
Uni, in der Dinge schnell vollendet und neue begonnen wurden, in der man nicht mit Ehre
und guten Worten bezahlt wurde, war ihr von Anfang an sympathisch. (33) Sie liest Fachliteratur, findet fiktionale Texte langweilig, liebt aber TV-Soaps. In jeder Nachrichtensendung findet sie eine Bedrohung für sich und die Familie.
In der Constantinstraße sucht Leonie Kontakte. Das ist wegen der häufigen beruflich bedingten Abwesenheit schwierig. Gelegentlich findet sie Trost im Rotwein. Als Erziehende
5
wirkt sie etwas überfordert. Der folgende Ausschnitt mag das belegen. Die Szene spielt
beim Halloween-Fest im „Haus der Zaunkönige“:
T 6 Lisas Stimme kippt. Jetzt rollen auch Tränen über die geschminkten Bäckchen, der
Unterkiefer ist vorgeschoben, die Mundwinkel herabgezogen. Sie stampft mit dem Fuß auf
und umklammert Leonies Hand. „Ich will da rein. Du sollst mitkommen.“ Felicia hat sich
selbständig gemacht und versucht sich an Leonie vorbei ins Innere des Schuppens zu
drängeln. Leonie blockiert den Durchgang, indem sie das rechte Bein wie eine Schranke
vorstreckt. Die Zweijährige fängt an, wütend zu brüllen, und tritt mit den klobigen Winterstiefeln mit aller Kraft zu. Hinter ihnen grummeln ungeduldig die Älteren. Lisa schluchzt
jetzt lauter und wiederholt ständig denselben Satz: „Du mußt mitkommen!“ […] Leonie
schwitzt, spürt die Hitze auf Hals und Backen, ein Schweißtropfen rollt unter dem dicken
Pullover die Wirbelsäule hinab, das Kitzeln ist unerträglich. „Verdammt, Feli, hör auf, das
tut weh!“ Sie geht in die Hocke und packt die Kleine an der Kapuze, bevor sie ins Innere
des Schuppens entschlüpfen kann. Der Kopf wird zurückgerissen, die kleinen Füße treten
ins Leere. Leonie faßt sie um den Leib und spürt, daß sie fester als nötig zupackt. In diesem Moment kann sie verstehen, daß es Leute gibt, die zuschlagen. (57f)
Katharina Hahn kann genau erzählen. Lisas und Felicias Wutattacken wirken realistisch
(Unterkiefer vorgeschoben, Mundwinkel herabgezogen, das Aufstampfen). Die Reaktion
der Mutter ist detailgenau: die Hitze auf Hals und Backe, das vom rollenden Schweißtropfen ausgelöste Kitzeln. Treffend der Satz: Sie spürt, daß sie fester als nötig zupackt.
Mit Simon ist Leonie seit zehn Jahren zusammen. Beide haben in einem Gymnasium an
der Schillerstraße (28), also dem Königin-Katharina-Stift, ihr Abitur abgelegt. Simon ist der
klassische Aufsteiger:
T 7 Der uneheliche Sohn einer Parfümerieverkäuferin aus dem Hohenlohischen hatte den
wütenden Wunsch, Geld zu verdienen, der ihn schon zu Schulzeiten härter und entschlossener gemacht hatte als die Kids aus Leonies Milieu. Hier plante man bestenfalls bis zum
Zivildienst oder zur nächsten Interrailtour. Nur wenn sie streiten und sich im Gebrüll voneinander entfernen, wenn er ihren Arm packt, daß man den Abdruck seiner Finger noch
Stunden später sehen kann, und sie mit Worten beschimpft, die so ordinär sind wie der
abgasschwarze Betonklotz an der Hauptverkehrsader der „Schwabenbronx“, wo er aufgewachsen ist, spürt sie, daß Simon nie ganz zu ihr gehören wird. (28)
Auch hier fällt wieder der enge Bezug zur Stuttgarter Geografie auf. „Schwaben-Bronx“
nannte man die Gegend zwischen Marienplatz und Heslach, als der B-14-Tunnel noch
nicht gebaut war. Auch diese Ecke der Stadt galt als Arbeitergegend. Simon wächst in einem von Abgasen geschwärzten Hochhaus auf. Sein Verhältnis zur Mutter ist eng. Das
kleinbürgerliche Milieu prägt seine Sprache; Leonie nennt das Heslacher Proletensprüche
(78). Sein Umgang mit Frauen ist eher rau. Leonie leidet unter der zunehmenden (nicht
nur beruflich bedingten) Abwesenheit Simons. Die wird zum Problem, als sie eine Einladung ihrer Tübinger Freundin Conny erhält. Sie fährt allein zu deren Party und gerät in die
Fänge von Tobias. Der will mit ihr über Literatur reden, obwohl sie beteuert, nie zu lesen.
Sie sprechen über Julio Cortázar9. Es fallen Sätze, die man auf den Roman „Kürzere Tage“ beziehen kann:
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1914 – 1984; einer der bedeutendsten Schriftsteller der neofantastischen Literatur. Seine Texte bewegen sich im
Grenzbereich zwischen Realität und Fiktion, daher ordnet man ihn dem Surrealismus zu.
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T 8 Bei Cortázar bekommt die Wirklichkeit Risse wie unter einem verborgenen Druck.
Menschen und Monster existieren nebeneinander. Oft schreibt er über Kinder, wie sie
spielen, sich verkleiden, eine Ameisenfarm bauen. Ein Mann verwandelt sich in einen
Molch, einen Axolotl. Delia, eine moderne Hexe aus einem Wohnblock, tötet ihren Verlobten mit Verzweiflung und vergifteten Pralinen. (175f)
Risse in der Wirklichkeit, Druck auf die Menschen, Monster (Halloween), sich verkleidende
Kinder, ein sich verändernder Mann (Simon), eine Frau, die ihren Mann mit Verzweiflung
vergiftet, das sind Bilder, die auf den Roman passen. Zwischen Leonie und Tobias geschieht in der Tübinger Nacht nichts Bemerkenswertes. Trotzdem ist sie nach der Rückkehr völlig von der Rolle. Sie herrscht die Kinder barsch an, attackiert Simon, den Proleten
aus Heslach, und denkt an diese Delia aus Buenos Aires, die ihrem Marion tödliche Süßigkeiten anbietet (187): Literatur in der Literatur. Leonie will, so scheint es, aus der Enge
ihres Frauenlebens ausbrechen. Aber es bleibt bei der kurzen Wut. Wenige Minuten später, auf der gemeinsamen Suche nach den plötzlich verschwundenen Kindern, ist der Riss
zwischen den Gatten scheinbar wieder gekittet. Scheinbar oder tatsächlich? Das bleibt
offen.
5
Luise
Luise und Wenzel Posselt und ihr Hund Schlamper bewohnen das Erdgeschoss des gleichen Hauses, in dem auch Judiths Familie wohnt. Wenzel ist ein Sudetendeutscher, ein
„böhmischer“ Flüchtling. Er galt und gilt immer noch als schöner Mann. Früher war er Lehrer, im Ruhestand verfasst er Artikel für das Reichenberger Heimatbuch. Ab und zu gönnt
er sich einen Cognac oder eine Flasche Rotwein.
Luises Gegenwartsgeschichte beginnt an einem Oktobermorgen um 6.30 Uhr. Wenzel
scheint noch zu schlafen, doch er ist schon entschlafen, was Luise erst später merkt. Um
halb sieben liegt sie wach neben ihm und hängt ihren Gedanken nach. Betrachten wir eine
Stelle im ersten Abschnitt des Luise-Kapitels:
T 9 Wenzels Gesicht bleibt verborgen, nur sein Haarschopf lugt hervor, ein schönes, bläuliches Weiß, nicht dieses Zahngelb, das den Schopf der meisten Männer seines Alters
verfärbt. Bei dieser Farbe muß Luise an die Hauer der Wilhelma-Elefanten denken. Wenzels Haar hat sie schon immer gerne gezaust und sich erschrocken, als sie plötzlich weiße
Fäden darin fand. Zuerst verlangte er, sie solle sie ausreißen. Eitel war er schon immer
gewesen. Dann gab er auf, viel früher als sie, die noch vor zehn Jahren beim Friseur
Sprenger in der Pelargusstraße10 „Kastanienbraun“ verlangt hat. (133)
Diese Zeilen sind typisch für die assoziative Erzählweise Hahns – hier geht es um die
Haare des Ehepaars – und das Springen zwischen den Zeitebenen. Betrachten wir die
Sätze mit „grammatischem“ Blick. Es beginnt in der Erzählgegenwart (Präsens: bleibt verborgen, lugt hervor, verfärbt) und dem Bewundern des schöne[n], bläuliche[n] Weiß von
Wenzels Haar. Nun wechselt der Text in eine Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinreicht: Mit dem Zausen von Wenzels Haar hat Luise schon immer ihre Zuneigung gezeigt
(Zeitform: Perfekt). Dann rutscht sie in die Vorgeschichte, in die Zeit, als sie … Fäden darin fand (Präteritum). Der darauf folgende Satz (Eitel war er schon immer gewesen) verweist in die Zeit vor der Vergangenheit, daher das Plusquamperfekt. Schließlich springt die
Geschichte wieder zurück in die Zeit vor der Gegenwart und damit (grammatisch) ins Per10
Die Pelargus liegt bei der Markuskirche und ist eine Querstraße der Filderstraße, die auf die Olgastraße mündet.
7
fekt: Luise hat sich noch vor zehn Jahren, also länger als Wenzel, die Haare färben lassen.
Luise stammt aus Uhlbach. Sie ist mindestens 80 Jahre alt und gebrechlich. Der Körper, in
dem sie leben muß, ist ein baufälliges Haus geworden, unansehnlich und verwohnt. (145)
Ihr Kopf ist voll von Gedichten; sie kann aus Balladen zitieren, aus Bürgers „Lenore“ und
Schillers „Bürgschaft“. Obwohl sie nur mäßig fromm ist, kennt sie religiöse Texte, den
Psalm 23, Zeilen aus dem Gesangbuch. Ihre Erinnerungen (das alte Zeugs) sind geprägt
von der Schinderei (137) im Elternhaus:
T 10 Ein ewiger Kreislauf des Schuftens, der nur durch die Sonntagvormittage unterbrochen wurde. Sonntags, wenn man bei der Predigt vor Langeweile verging. Und am Montag
ging es von Sonnenaufgang an weiter, gnadenlos, als ob sie es sich mit Fleiß ausdachten:
Träuble zupfen, den widerlichen weißen Schaum vom Sauerkrautfaß abschöpfen, Hühnerstall ausmisten. Wie sie das gehaßt hatte, das Gegacker, den Mist, der kalkig und beißend roch, die kotigen, warmen Eier, die die Tiere pickend verteidigten. (137)
Die schwäbische Wendung Mit Fleiß bedeutet „absichtlich“. Mit Vokabeln wie Gsälz, herumfahrende (herumliegende) Hosen, ein gotziges (einziges) Elend, lommelig (wenig straff)
bekommt Luise schwäbisches Kolorit. Ihr Lebensziel war es, aus dem bäuerlichen Milieu
von Uhlbach herauszukommen und Städterin zu werden. Nationalsozialistische Parolen
haben sich in ihr Denken auf Dauer eingenistet. Während der NS-Zeit ist sie mit dem SSMann Eugen befreundet und hat keine Probleme damit, ihr den Pelzmantel einer Jüdin zu
beschaffen. Das Schildchen Helene Seligmann, Stuttgart-West, (140) entfernt sie. Die Juden sollten doch nach Amerika gehen, um dort ihre krummen Geschäfte zu machen. Eugen ist bei Stalingrad gefallen. Viele Nächte hatten sie nicht zusammen gehabt. (145) Luise erlebt den Krieg im Bunker, die Zerstörung der Stadt spiegelt ihre eigene Zerstörung:
T 11 Ihrem Stuttgart glaubte doch jetzt keiner mehr, daß es mal zu den schönsten Städten
des Landes gehört hatte. Kaputtgart, zerschlagen und ruiniert […] Auch ihr Körper, selbst
ihr Gesicht, waren, ganz ähnlich dieser Stadt [Unterstreichung H.], völlig verändert, ausgemergelt, mager, schmutzig und dabei froh, nicht völlig ausradiert worden zu sein. (146)
Nach dem Krieg arbeitet Luise wieder in der Buchhaltung der Schogladfabrik. Es dürfte
sich um „Waldbaur“ in der Rotebühlstraße handeln. Da gibt es 1945 zwar keine Schmelztafeln mehr, keine Vollmilch rund in der Dose mit dem Eichelhäher, keine Katzenzungen.
Aber dafür Puddingpulver und Sirup aus Kastanien. (158) Sie ernährt sich von Trockenobst, Brot und Brennnesseln, kocht mit Bucheckernöl und wäscht sich mit kaltem Wasser
im Zinkeimer (160). Im August 45 lernt sie Wenzel kennen. Er wohnt in der Nähe ihres
Arbeitsplatzes, in der Johannesstraße. Sie heiraten am 9.9.1946, so steht es auf dem
Ring, den Luise dem Toten abzieht. Zu Wenzels Familie gehört die Schwägerin Traudl,
von der sie böhmisch zu kochen lernt und die an einem Schlaganfall stirbt. Schwager
Erich mag Linsen mit Saiten und Spätzle. Auch er ist schon tot (Bauchspeicheldrüsenkrebs). Ihre Tochter Bruni hat ein gutes Verhältnis zu den alten Leuten und kümmert sich
manchmal um sie.
Ohne fremde Hilfe wäscht Luise den toten Wenzel und richtet den Leichnam liebevoll her.
Das hat sie schon in ihrer Jugend gemacht, bei der Nachbarin und der Großmutter, der
Näne (Schweizerdeutsch). Es ist ein Ritual, verbunden mit einem langen Selbstgespräch,
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in dem sich intime Erinnerungen mit Gebeten und Liedversen mischen. Am Schluss betrachtet sie das Ergebnis ihrer Mühe:
T 12 Er sieht gut aus. Die schwarzen Schuhe sind spiegelblank geputzt, die rotblau gestreifte Krawatte schimmert auf der Brust. Und dazu das weiße Hemd. Sein Hut liegt auf
dem Kopfkissen. Die Hände hat sie ihm gefaltet und einen Rosenkranz darumgeschlungen. Die Füße zeigen zur Tür, das Gesangbuch steckt unter den Fersen. Es ist sein „Gotteslob“, das evangelische würde er nicht wollen. Wenzel ist frisch rasiert, hat seine Zähne
drin, den Cognaclappen über den Augen, das Haar mit Birkenwasser ordentlich zur Seite
gekämmt […] Auf dem Nachttisch brennen zwei Kerzen. Alles ist richtig. (168)
Die Szene mit dem toten Wenzel wirkt nicht makaber, sondern hat etwas Berührendes.
Eine Frau schmückt den Leichnam ihres Mannes nach den ihr bekannten „Vorschriften“
und nimmt dabei Abschied von dem Toten. Sie nimmt auf seinen Glauben Rücksicht (Gesangbuch) und auf seine Würde (die Zähne, das ordentlich gekämmte Haar). Luise, die
auf Judith wie eine schmuddelige Alte wirkt und sich über Juden und Migranten abfällig
äußert, hat auch eine andere, humane Seite.
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Marco
Marco Knopp bildet die Kontrastfigur im Quartett der Hauptpersonen: männlich, 13 Jahre
alt, unterschichtig. Er wohnt nicht in der bürgerlichen Constantinstraße, sondern wenige
hundert Meter entfernt, am Olgaeck, in einem schon etwas mitgenommenen Hochhaus.
Der Kontrast wird auch hier im Stadtbild verankert. Man spürt ihn deutlich, wenn man den
Bereich zu Fuß erkundet. Auch in seiner Sprache unterscheidet sich Marco von den andern. Pubertäre, sexistische Sprüche, Vokabeln wie Wichser, Spasti oder Knoblauchfresser gehen ihm leicht über die Lippen. Er wirkt nach außen frech und bösartig. Dabei hat er
durchaus noch kindliche Züge. Er mag den TV-Trickfilmhelden Schwammkopf (Sponge
Bob) und Nutella-Brote. Bei seinem Überfall, von dem noch die Rede sein wird, kommt er
sich vor wie ein Megamonster, ein Dino mit riesigen Krallenfüßen (217). Er ist nicht dumm,
sondern wirkt reflektiert. Seine Gedanken, heißt es, poltern durch seinen Schädel wie nasse Fetzen, die in der Waschmaschine im Kreis rumfliegen (114). Die Gegenwartshandlung
beginnt damit, dass Marco die kleine Wohnung (35 qm) betritt:
T 13 Marco […] riecht sofort, daß er nicht da ist. Sein Atem wird ruhiger, und sein Puls
wechselt aus dem Maschinengewehrtakt in einen gemäßigteren Schlag. Das süßliche
Zeugs, das er sich literweise draufknallt, hängt zwar noch in der Luft, hat die Wohnung
völlig durchseucht, aber der Geruch ist nicht frisch, nicht vermischt mit der Körperwärme
dieses ständig schwitzenden, von Gebäudereinigung und Muckibude aufgeheizten Kadavers. (105)
Marco hasst „ihn“, den Mann, von dem die Rede ist. Es handelt sich um Achim, den
Freund seiner Mutter Anita. Auf ihn reagiert er körperlich auffällig (hoher Puls) und sprachlich aggressiv: Die Wohnung ist durchseucht von dem süßlichen Zeugs, das Achim sich
draufknallt. Achim schwitzt stark, sein Kadaver ist ständig aufgeheizt. In seiner Wut versaut Marco die von Achim gründlich geputzte Küche und füllt die Flasche mit dem süßlichen Zeugs, das Achim trinkt, mit Urin auf. Marcos Wut ist eine Folge der Demütigungen
durch Achim. Auch schlägt er ihn oft. Mutter Anita scheint ihrem Sohn ebenfalls wenig Liebe entgegenzubringen. Es ist also kein Wunder, dass Marco aus dieser dumpfen Atmo-
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sphäre heraus will: Wenn sie nach Hause kommen […] wird er längst weg sein, über alle
Berge. (109)
Schon im dritten Abschnitt des Kapitels erfahren wir die Vorgeschichte. Marcos leiblicher
Vater, der Tobi, wird heute in Marbach nur der Elektro-Breining genannt (108f). Der damals 17-Jährige hat die 16-jährige Anita geschwängert und dann verlassen. Die junge Alleinerziehende lässt sich gehen, hängt ständig vor der Glotze, wird immer dicker. Marco ist
ein schwieriges Kind; er schläft nicht durch, ist häufig krank, kann mit 15 Monaten noch
nicht laufen, spricht kaum, wird ewig nicht sauber. Als dieser Mini-Marco neun ist, erhöht
Anita ihre Attraktivität, indem sie abnimmt und lässt sich mit Eino aus Estland ein. Der
macht sich bald aus Heimweh davon. Nun bringt sie Achim nach Hause. Marco hält Achim
und Anita für dumm. Er fühlt sich den beiden überlegen. Seinen Verstand muss er vom
Vater geerbt haben.
Marco plant seine Flucht sorgfältig. Ein erster Ausbruchsversuch vor ein paar Jahren zur
Großmutter nach Marbach ist gescheitert. Achim hat ihn wieder eingefangen. Nun packt er
die Sache professioneller an. Er will zu Eino nach Estland. Der hat einen Zettel mit Anschrift zurückgelassen und gesagt, sie sollten nachkommen. Er hat Marco gut behandelt.
Einmal sind sie zur Brache von Stuttgart 21 gegangen, haben ein Kaninchen gefangen,
gebraten und verspeist, ein Männervergnügen, das Marco beeindruckt hat. Er weiß, für die
Flucht braucht er Geld, und er weiß auch, wo er es holen wird: beim Gemüsehändler Nazim. Ihm ist klar, dass dies nur mit Gewalt geht. So denkt er sich eine Raubgeschichte
aus, wie man sie im Fernsehen sieht. Er bewaffnet sich mit Achims echt wirkender Spielzeugpistole und nimmt Waschbenzin mit. Vermummt betritt er Nazims Laden, bedroht den
Inhaber und die Kunden, darunter Leonie und ihren Mann. Er zückt die Pistole, verlangt
Geld, bekommt es auch. Dann zündet er mit der Feuerzeugpistole den Laden an und
flieht.
T 14 Er stand schnaufend auf der Olgastraße. Gegenüber waren die Erdgeschoßfenster
rot erleuchtet. Er sah die Umrisse der nackten Frauen, die sich träge hinter den Scheiben
bewegten wie Fische im Aquarium. Daneben war der Holzzaun, hinter dem der Spielplatz
liegt, der mit den riesigen bemalten Holzstufen, die runter auf den Mozartplatz führen. Anita war früher mit Mini-Marco ab und zu hingegangen […] Er erinnerte sich an ihr lachendes Gesicht und ihre winkenden Hände. (221f)
Hier verknüpfen sich – auch wieder räumlich – zwei Zeitebenen, die in der Erinnerung verklärte Vergangenheit (Marco als glückliches Kind mit seiner lachenden Mutter auf dem
Spielplatz) und die brutale Gegenwart (Flucht nach einem Raubüberfall durch das von
Prostituierten geprägte Bohnenviertel). Mit dem Bus 43 und der Straßenbahn kommt er
zum Hauptbahnhof. Wo soll er hin? Er entscheidet sich schließlich für den ICE nach Berlin-Ost, Abfahrt 18.51 Uhr. Von dort aus müsste er nach Estland kommen, denkt er. Ob
Marco die Flucht gelingt, bleibt offen.
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Verknüpfung
Sowohl Judiths als auch Leonies Lebenskrisen führen zu Ausbruchsversuchen. Judith wäre fast zu ihrer alten Liebe Sören zurückgekehrt, wenn er sie denn gewollt hätte. Leonie
hätte sich in Tübingen fast mit Tobias eingelassen. Beide Ausbruchversuche ergeben sich
eher zufällig, beide scheitern insofern, als die jungen Frauen wieder in den Schoß ihrer
Familie zurückkehren. Luise Posselts Krise besteht in einem doppelten Verlust: Sie hat
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ihre Lebenskraft verloren, was Judith und Leonie erst bevorsteht. Und sie verliert ihren
Mann tatsächlich, während Judith und Leonie mit dem Verlust nur „spielen“. Marcos 13jähriges Leben war bisher eine einzige Krise. Es kann nur besser werden. Luise hat das
Leben und seine Krisen so gut wie hinter sich. Sie akzeptiert es, wie es ist. Eine Familie
hat sie nie gehabt, Kinder sind ihr versagt geblieben. Marco kommt aus einer gestörten
Familie. Er hat das Leben noch vor sich und die Chance, sich aus seiner Misere zu befreien. Die ergreift er. Die Familien von Judith und Leonie wirken äußerlich bürgerlich und
heil, sind aber vom Zerbrechen bedroht. Der Ausbruch ist vielleicht nur aufgeschoben.
Die vier Hauptpersonen sind zunächst voneinander getrennt, werden aber mit der Zeit
miteinander verknüpft. Sie nehmen sich gegenseitig wahr, bewerten das Aussehen, Verhalten und Auftreten der jeweils anderen. Die wechselnde Figurenperspektive erlaubt es,
die Personen mal von innen, mal von außen zu zeigen. Die erste Begegnung findet sich
bereits auf der zweiten Seite. Judith tritt ans Fenster:
T 15 Ein Mädchen in Ulis Alter wippt auf dem gegenüberliegenden Bordstein, unruhig wie
ein Vogel. Ihr Gesicht ist weiß geschminkt, ein grelles Kopftuch verbirgt das Haar, in einer
Hand hält sie einen kleinen Besen. Sie wendet den Kopf zur geöffneten Eingangstür des
Nachbarhauses und brüllt: „Mama, Feli, schneller!“ (8)
Judith sieht gegenüber das Kind von Leonie, der neuen Nachbarin. Das Mädchen ist als
Hexe verkleidet und geschminkt. Wie bei allen Personen dieses Romans besteht auch bei
dieser Kleinen eine Diskrepanz zwischen Außendarstellung und Innenwelt. Selbst die bewunderte Hanna erweist sich am Ende nicht als die tapfere Mutter, sondern als Rabenmutter, die ihren Sohn gesundheitlich ruiniert hat.
Marco wird von den andern besonders häufig und sehr negativ wahrgenommen. Im 2. Kapitel tritt er zum ersten Mal auf, in Halloween-Verkleidung. Auch er ist also ein Vermummter. Er gibt sich verbal aggressiv, was Leonis Tochter Lisa ziemlich beeindruckt. Luise
Posselt ist wütend auf die wüsten Kerle vom Kinderbauernhof, zu denen auch Marco gehört. Sie nennt sie verwahrlostes Gesindel, Türken, Albaner, Griechen, das ganze Pack
(136). Am Todestag Wenzels haben sie ihr ein rohes Ei gegen das Fenster geworfen. Judiths Bild von Luise ist zwiespältig: Sie ekelt sich vor ihr, der Geruch von Schweiß und
schmutziger Unterwäsche (37) stößt sie ab. Andererseits fühlt sie sich ihr verpflichtet. Leonie, die Judith gegenüber wohnt, gönnt sich manchmal den heimlichen Anblick der heiligen Familie, wie sie die Nachbarn nennt (76). Vor allem die Wohlerzogenheit der Knaben,
die Schönheit der Mutter und die aktive Mithilfe des Mannes nimmt sie neidisch wahr. Eingeladen wird sie von Judith nicht. Die will ihre Idylle (und sich) schützen. Daher taucht Leonie eines Tages unangekündigt im Gärtle Judiths auf. Bei dieser Begegnung wird deutlich, dass beide Frauen Fassadenbilder voneinander haben. Judith findet Leonie nämlich
normal. Hinter dieser glatten Stirn gibt es keinen Tavor-Nebel […] Sie kann in den Spiegel
schauen, ohne daß ihr eine Verliererin entgegenglotzt. (97) Dass dies eine falsche Sicht
der Dinge ist, zeigt sich spätestens bei der Episode von Leonies Tübinger Seitensprung
und deren Folgen.
Im letzten Teil des Romans drängen sich die Ereignisse. Die Handlungsstränge verlaufen
zeitlich fast parallel zueinander, werden aber nacheinander erzählt. Am Morgen von Wenzels Tod ist Judith im Garten und sieht das vom Ei verschmutzte Fenster der Posselts. Sie
putzt es und wundert sich, dass man die alten Leute nicht sieht. Davon, dass Herr Posselt
gestorben ist, weiß sie nichts. Hier wird besonders deutlich, was der Roman vermitteln will:
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Die Personen leben zwar auf engem Raum nebeneinander, aber sie wissen wenig voneinander. Die Bilder vom andern entsprechen nicht der Wirklichkeit. Während Judith putzt,
sich über die Nachlässigkeit von Luise Posselt wundert und ins Innere der Wohnung blickt,
ist Luise mit dem Waschen und Schmücken der Leiche ihres Mannes beschäftigt. Luise
wiederum sieht von innen zwar Judith, will sich ihr aber nicht zeigen. Die eine blickt von
außen nach innen, die andere von innen nach außen. Die eine sieht oder ahnt die andere,
aber sie erkennen sich nicht.
Am Schluss kommen alle zusammen. Leonie, noch durcheinander vom Tübinger Seitensprung, sieht Marco am Straßenrand stehen. Sein Kopf ist gesenkt; er scheint nachzudenken, unangreifbar, undurchdringlich. (181) Es ist eine halbe Stunde vor dem Überfall auf
Nazims Laden. Später, auf der Suche nach den verschwundenen Kindern, trifft sie Marco
dort wieder. Er bedroht sie mit der Pistole. Sie erkennt ihn, er erkennt sie: Ihr Gesicht war
echt hübsch, die Augen, der kleine Mund. Fast hätte er „Hallo“ gesagt (218).
Der Überfall steht für den Einbruch des Bösen in eine heile Welt; es ist etwas zerbrochen,
über die Menschen hereingebrochen. Auch Judith kommt auf dem Rückweg vom Olgahospital am Ort des Geschehens vorbei. Sie sieht Leonie auf dem Boden sitzen, ziemlich
derangiert, vom Notarzt umsorgt – das Bild eines Menschen in der Krise. Ihre beiden Buben und auch Leonies Töchter findet Judith vereint im Schlafzimmer von Posselts, neben
Wenzels Leiche. Dort wurden sie mit dem Tod konfrontiert, aus dem Paradies (213) vertrieben. Ihre heile Kinderwelt hat Risse bekommen. Alles ist brüchig geworden. Wie es mit
Judith, Leonie, Luise und Marco weitergeht, bleibt offen.
Fassung vom 13.12.2011
www.roland-haecker.de
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