Krafttraining ist kein Sport

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Krafttraining ist kein Sport
Fit in den Sommer
«Krafttraining ist kein Sport»
Werner Kieser ist der Vater des Krafttrainings. Im Gespräch mit dem Drogistenstern
verrät er, warum sein Konzept niemals mehrheitsfähig werden wird, warum Krafttraining
seine Leidenschaft ist und wie er die Evolution austrickst.
Text Felix Epper Foto Michael Schoch
Natürlich trainiert er auch immer noch. Werner
Kieser, Selfmademan, 75, Unternehmer, kommt, ein
Handtuch locker über der Schulter, mit federndem
Schritt in sein Büro im sechsten Stock des CubusPrime-Tower im Zürcher Industriequartier. «Ich habe
mit 25 Jahren mein Hobby zum Beruf gemacht», sagt
Kieser lachend. «Ich kann gar nicht in Rente gehen,
weil ich nie gezwungen war zu arbeiten.» Die
Kräftigung des Körpers ist seine Leidenschaft und
Berufung. Schnell ist man in den Bann seiner Worte
gezogen.
Mit Aufbau dem Abbau trotzen
Doch besser als graue Theorie ist die konkrete
Anschauung, und so nimmt uns Herr Kieser mit auf
eine kleine Tour. Das Studio, eines von sieben in der
Schweiz, liegt eine Etage tiefer. Wenn Werner Kieser
dort Gewichte stemmt, lässt sich keiner der Trainierenden in seiner Konzentration stören. «Sie zahlen
und müssen dann hart arbeiten. Mein Konzept widerspricht eigentlich jedem sogenannten gesunden
Menschenverstand und wird so nie mehrheitsfähig
werden.» Das sagt er fast ohne Bedauern. Werner
Kieser, der einst vom Magazin «Der Spiegel» als «Todfeind der Orthopäden» bezeichnet wurde, der die
Wartezimmer leerfegen würde, ist sicher nicht altersmüde geworden. Ein wenig altersmild aber vielleicht
schon.
Zwei bis drei Trainingseinheiten pro Woche zu
etwa 30 Minuten absolvieren die Kunden von KieserTraining. Der Raum ist schmucklos. Maschine reiht
sich an Maschine. Jede ist konzipiert zum Training
ganz bestimmter Muskeln und Muskelgruppen.
Trainiert wird jeweils bis zur lokalen Erschöpfung.
Das Training umfasst den ganzen Körper. Ebenso
wichtig ist die Erholungszeit. Mindestens zwei Tage
müssen zwischen den Trainingseinheiten liegen.
Sonst droht Kraftverlust durch Übertraining. «Krafttraining ist kein Sport», sagt Kieser. «Sport ist
Verbrauch von Kraft. Bei uns betreiben Sie Aufbau
von Kraft. Während der Dauer unseres Gesprächs
gehen Abertausende von Zellen in unserem Körper
zugrunde. Gleichzeitig werden Abertausende aufgebaut. Diesen Prozess nennt man Leben. In der Jugend
überwiegen die Aufbauprozesse – wir wachsen. Im
Alter überwiegen die Abbauprozesse – wir sterben.
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Mit Krafttraining stimulieren Sie die Aufbauprozesse
und bleiben deshalb länger ‹jung›.»
Der Mensch ist eine Maschine
Viele sind misstrauisch gegenüber den Maschinen.
Werner Kieser pflegt den Skeptikern dann jeweils zu
sagen: «Sie selbst funktionieren wie eine Maschine.
Sie sind eine Maschine. Unser Bewegungsapparat
funktioniert ganz simpel. Zug und Gegenzug der
Muskulatur. Wie ein Schiffssteuer.» Nicht alle lassen
sich so schnell überzeugen. Ist ein Vitaparcours im
Wald an der frischen Luft und das Training dort mit
dem eigenen Körpergewicht nicht viel gesünder als
ein Training in einer Betonhalle? Warum sollte ich
ins Studio?
«Die Frage könnte ebenso lauten: Wozu muss ich
ins Röntgeninstitut? Kann ich das nicht auch mit
einer Taschenlampe machen? Die moderne Trainingstechnologie macht das Training nicht nur effizienter,
sondern ermöglicht das Training von Muskeln, die
mit Vitaparcours oder sonstigen Aktivitäten nur unzureichend oder gar nicht erreicht werden. Beispiele:
Rotatorenmanschetten, Beckenboden, autochthone
Rückenmuskeln und so weiter. Das sind aber Muskeln,
deren Zustand für Ihren Bewegungsapparat und Ihre
Gesundheit sehr wichtig ist.»
Die neueste Maschine ist für die Stärkung des
Beckenbodens. «Nicht nur die Frauen trainieren diesen. Auch die Männer merken irgendwann, dass die
Beckenbodenmuskulatur essenziell ist, wenn Prostatabeschwerden oder erste Zeichen von Inkontinenz sich
bemerkbar machen – oder erektile Dysfunktion.»
Grundsätzlich ist zu sagen: Mehr Frauen als Männer
trainieren bei Kieser, so zeigt es die Statistik, und das
Publikum ist älter als in anderen Fitnesszentren. Der
durchschnittliche Kieser-Kunde ist gut gebildet, meist
mit höherem Schulabschluss. Mit den Worten des
Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Bei
Kieser trainieren aufgeklärte Menschen, «aus Einsicht
in die Notwendigkeit».
Sollte man mit der Aufklärung nicht schon in der
Schule ansetzen? «Viele Leiden, die wir haben, müssten nicht sein, wenn wir von klein auf den Bewegungsapparat aufbauen und warten würden. Das
macht man nicht an den Schulen. Schulturnen war
und ist eine Katastrophe. Immer noch ist es leistungsDROGISTENSTERN 6–7/16
Werner Kieser (75) ist gelernter
Schreiner. Mit 18 verletzte
er sich beim Boxen und kam so
zum Krafttraining. Mit 26
eröffnete er sein erstes Fitnessstudio in Zürich, die Geräte
entwickelte und baute er selber.
Heute hat Kieser 143 Studios
in sieben Ländern, sieben davon
in der Schweiz.
www.kieser-training.ch
orientiert und nicht strukturorientiert. Ob Breitenoder Leistungssport: Wir produzieren muskuläre
Dysbalancen.» Werner Kieser erzählt aus den Zeiten
seines ersten Studios vor über 40 Jahren und seinen
Versuchen, Krafttraining an einer Schule im Kanton
Zürich zu etablieren. «Sobald die Behörden ins Spiel
kamen, lief die Idee ins Leere. Aufgrund dieser und
vieler anderer Erfahrungen misstraut er den Behörden, Experten und Fachausschüssen und arbeitet lieber direkt mit den Leuten. «Nicht die Ärzte kamen zu
mir, sondern die Patienten.»
Die Interessen der Evolution
Nicht nur die Institutionen sind ihm ein Dorn im
Auge. Vieles, was unter dem Schlagwort «Ganzheitlichkeit» zeitgeistig daherkomme, gehört auf seine
Liste mit «Unwörtern». Wellness, Modetrends und
esoterische Heilsversprechen lenkten nur vom Wesentlichen, der Stärkung der Muskeln ab. Was Nahrungszusätze angeht, so hat er seine Meinung in den letzten Jahren aber geändert. «Kieser-Training verkauft
weiterhin keine Zusätze, wie das alle anderen Fitnessstudios tun. Wir sind also keine Konkurrenz zu den
Drogisten. Neue Studien zeigen aber, dass es sinnvoll
sein kann, Kreatin, am besten kombiniert mit
Magnesium, einzunehmen, da die körperliche Eigenproduktion von Kreatin ab dem 40. Altersjahr schwindet. Und grundsätzlich sollte der Eiweissanteil in der
Ernährung erhöht werden zulasten der Kohlenhydrate.
Das beste Protein ist das Molke-Protein. Und trinken
Sie genug Wasser, aber nicht fünf Liter, zwei bis drei
Liter genügen pro Tag.»
In einem der Bücher von Werner Kieser steht der
bemerkenswerte Satz: «Wir schonen unsere Alten zu
Tode.» Was meint er zum Stichwort Alter? «Die
Evolution hat kein ‹Interesse› daran, dass wir älter als
etwa 25 werden. Denn dann haben wir unsere Gene
weitergegeben und unseren ‹Zweck› im Sinne der
Evolution erfüllt. Durch das Training und die damit
stimulierten Aufbauprozesse gelingt es mir und allen
Alten, die trainieren, die Evolution etwas ‹auszutricksen›. Mit anderen Worten: Ich habe da und dort
die typischen kleinen Wehwehchen fortgeschrittenen
Alters – aber sie kümmern mich wenig, weil mich
meine Muskeln noch immer sicher durchs Leben
tragen.»
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