B Gedichtinterpretation

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B Gedichtinterpretation
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J. v. Eichendorff: Nachts
Im Unterschied zum Drama oder Prosatext ist ein Gedicht häufig nicht
sehr umfangreich, was schon darauf hinweist, dass du sehr genau auf
die einzelnen Wörter achten musst. Sie können, öfter als in anderen
Gattungen, bildliche oder symbolische Bedeutung haben.
Gedichte sind, wie jeder Text, konstruiert. Das bedeutet, dass der
Verfasser alle Wörter ganz bewusst einsetzt. Achte auf jedes Wort,
seinen Rhythmus, seine Bedeutung und seine Funktion. Fasse deine
Beobachtungen schließlich zu einem Gesamtbild zusammen.
Bei Klassenarbeiten sollst du meistens ein Gedicht interpretieren oder
zwei Gedichttexte interpretierend miteinander vergleichen. Auf jeden
Fall handelt es sich nicht um Ausschnitte, sondern um komplette Texte.
Sie sind immer so gewählt, dass du deine Kenntnisse einbringen
kannst. Achte also gut darauf, welche Texte du mit der Klasse im
Unterricht liest – in der Prüfung ist das Gedicht vielleicht ganz ähnlich
strukturiert (hinsichtlich Autor, Thema, Motiv, Aussage, Aufbau etc.).
Bei Gedichtvergleichen geht es häufig um zwei Beispiele aus
unterschiedlichen Epochen (zum Beispiel ein Gedicht aus der Epoche
der Romantik und ein modernes Gedicht). Die zweite Möglichkeit
besteht darin, dass du zwei Gedichte zu einem bestimmten Thema /
Motiv miteinander vergleichen sollst.
Lass dir bei einer Gedichtinterpretation ausreichend Zeit zum
mehrmaligen Lesen des Textes. Markiere dabei auffällige Stellen, die
für die Interpretation wichtig sein könnten, etwa eine bestimmte
Wortwahl, Reime und Rhythmen. Füge deine Beobachtungen
anschließend zu einem Bild zusammen und bringe sie in eine logische
Reihenfolge. Deine Notizen sind dann der rote Faden bei der
Ausformulierung des Aufsatzes.
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1 J. v. Eichendorff: Nachts
1. Lies das folgende Gedicht von Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)
laut vor und markiere in jeder Verszeile die Hebungen durch
Akzente. Beispiele: Hébungen, Akzénte.
Nachts
Ich stehe in Waldesschatten
Wie an des Lebens Rand,
Die Länder wie dämmernde Matten
Der Strom wie ein silbern Band.
5
Von fern nur schlagen die Glocken
Über die Wälder herein,
Ein Reh hebt den Kopf erschrocken
Und schlummert gleich wieder ein.
Der Wald aber rühret die Wipfel
10
Im Traum von der Felsenwand.
Denn der Herr geht über die Gipfel
Und segnet das stille Land.
2. Die Verse des Eichendorff-Gedichts sind regelmäßig gebaut; der
Text ist in drei Strophen aufgeteilt. Woran erinnert dich diese Form?
Schreibe deinen Vorschlag auf die Zeilen und begründe ihn kurz.
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3. Notiere weitere Merkmale bezüglich der Gedichtform auf ein Blatt
Papier.
4. Die Sprache des Gedichts: Welche lyrischen Mittel verwendet der
Autor? Schreibe deine Beobachtungen auf die Zeilen.
5. Welche Aussagen stecken bildlich in den einzelnen Strophen?
Schreibe auf die Zeilen.
Strophe 1
Strophe 2
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1 J. v. Eichendorff: Nachts
Strophe 3
6. Was kannst du als Fazit über die Entsprechung von Form, Sprache
und Aussage des Eichendorff-Gedichts feststellen?
7. Schau dir die folgende Aufgabenstellung an und formuliere dann
mit Hilfe deiner Stichpunkte aus den vorherigen Übungen einen
zusammenhängenden Text. Schreibe deinen Vorschlag auf ein Blatt
Papier.
Interpretiere das Gedicht „Nachts“ von Joseph von Eichendorff. Prüfe
dabei, inwieweit Form, Sprache und Aussage einander entsprechen.
Hier noch ein Tipp: Für Eichendorff ist im nächtlichen Wald die
Anwesenheit Gottes erlebbar. Der Wald lässt sich von der Zivilisation
nicht stören; in dieser idyllischen Landschaft kann das lyrische Ich in
Ruhe über Leben und Tod nachdenken.
Der Schlüssel zum Verständnis dieses Gedichts ist das religiöse Erlebnis.
Du könntest also von der Aussage ausgehen und die Untersuchungen
zu Form und Sprache hieran anschließen.
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J. Ringelnatz: Stille Straße
8. Lies das 1933 erschienene Gedicht „Stille Straße“ von Joachim
Ringelnatz (1883 – 1934) mehrmals aufmerksam durch.
Stille Straße
Nachts. – Straße. – Fragen Sie nicht wo und wann.
Auch gleich vorausgesagt, dass nichts geschah. –
Da stand ein unscheinbarer, älterer Mann,
Der unverwandt nach einem Fenster sah.
5
Vielleicht war er – ich hatte leider Zeit –
Ein Lump, ein Trunkener oder ein Idiot –
Doch es schlägt niemals eine Möglichkeit
Die andere tot.
Wenn solch ein Anblick uns sechs-, siebenmal
10
Um einen Häuserblock spazieren treibt,
Zu sehen, wie der Mann dort stehen bleibt;
Vielleicht sind wir dann nur sentimental.
Aber dem Einsamen ist Stilles nah,
Wenn er das Laute nicht bezahlen kann. –
15
Da stand ein unscheinbarer, älterer Mann,
Der unverwandt nach einem Fenster sah.
9. Interpretiere das Gedicht „Stille Straße“. Prüfe dabei, inwieweit
Form, Sprache und Aussage einander entsprechen. Schreibe einen
kompletten Aufsatz mit Einleitung, Hauptteil und Schluss.
Der Autor verwendet kein bestimmtes Versmaß. Man spricht in solchen
Fällen von freien Rhythmen.
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H. Hesse: Im Nebel
10. Lies das 1914 erschienene Gedicht „Im Nebel“ von Hermann Hesse
(1877 – 1962) mehrmals aufmerksam durch.
Im Nebel
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
5
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als mein Leben noch licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
10
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
15
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
Die Aufgabenstellungen zu diesem Gedicht findest du auf der
folgenden Seite.
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11. Beantworte die folgenden Fragen so ausführlich wie möglich in
einem zusammenhängenden Aufsatz und begründe deine Meinung
anhand von Beispielen.
a) Visualisiere das Gedicht „Im Nebel“ in deinen Gedanken und stelle dir
vor, du wärst in dieser Landschaft. Wie sieht diese Landschaft aus? Wie
würdest du dich fühlen? Was würdest du denken? Was würdest du
tun?
b) Fasse den Inhalt des Gedichts mit eigenen Worten zusammen.
Vergleiche den Textinhalt mit deinem Bild und beschreibe, ob du im
Gedicht ähnliche Gedanken wie bei deiner Visualisierung findest.
Welche Unterschiede gibt es?
c) Gedichte über Jahreszeiten sind niemals nur Gedichte über die Natur,
sondern sie geben häufig Lebensgefühle der Menschen wieder.
Welches Lebensgefühl wird in Hesses Gedicht vor allem deutlich?
Könnte ein Prosatext – wie zum Beispiel eine Erzählung oder ein
Sachtext – die gleiche Wirkung erzielen wie ein Gedicht?
Achte auf die Formulierung der Aufgabenstellung ganz oben bei
Übung 11. Sie verrät dir, dass du einen zusammenhängenden Aufsatz
schreiben sollst. Außerdem soll dein Text mehr sein als nur eine
Gedichtanalyse. Es wird von dir erwartet, dass du dich auf die
Gedanken und Gefühle der im Gedicht beschriebenen Herbstlandschaft
einlässt und die darauf abgestimmten Fragestellungen so ausführlich
wie möglich beantwortest.
Vergiss nicht, dass die Textanalyse grundsätzlich aus Einleitung,
Hauptteil und Schluss besteht:
• Die Einleitung soll den Titel des Textes, den Namen des Autors, das
Erscheinungsdatum sowie einen kurzen Satz zum Thema enthalten.
• Der Hauptteil gibt die Gliederung deines Aufsatzes wieder. Dabei ist
es wichtig, Überleitungen von einer Aufgabe zur nächsten zu
formulieren.
• Der Schluss ergibt sich häufig durch die letzte Aufgabenstellung.
Ansonsten hast du die Möglichkeit zur Stellungnahme. Auf alle
Fälle musst du deine Meinung begründen und deinen Aufsatz
dadurch abrunden.
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A. Gryphius: Morgen Sonnet
12. Lies das 1646 erschienene Gedicht „Morgen Sonnet“ von Andreas
Gryphius (1616–1664) mehrmals aufmerksam durch.
Morgen Sonnet
DIe ewig-helle Schaar wil nun ihr Licht verschlissen /
Diane steht erblaßt; die Morgenrötte lacht
Den grauen Himmel an / der sanffte Wind erwacht /
Vnd reitzt das Federvolck / den neuen Tag zu grüssen.
5
Das Leben diser Welt / eilt schon die Welt zu küssen /
Vnd steckt sein Haupt empor / man siht der Stralen Pracht
Nun blinckern auff der See: O dreymal höchste Macht
Erleuchte den / der sich itzt beugt vor deinen Füssen!
Vertreib die dicke Nacht / die meine Seel umbgibt /
10
Die Schmertzen Finsternüß / die Hertz und Geist betrübt /
Erquicke mein Gemütt / und stärcke mein Vertrauen.
Gib / daß ich disen Tag / in deinem Dinst allein
Zubring: und wenn mein End’ und jener Tag bricht ein
Daß ich dich / meine Sonn / mein Licht mög ewig schauen.
Das Gedicht ist ein Sonett. Das Sonett ist sehr regelmäßig gebaut; seine
vierzehn Verse bestehen gewöhnlich aus Jamben. Es hat vier Strophen:
Die ersten beiden bestehen aus vier Versen und werden deshalb
Quartette genannt, die beiden letzten haben drei Verse und heißen
Terzette. Dabei sind die Terzette gewöhnlich durch die Reime
miteinander verbunden. In Sonetten geben die Quartette und die
Terzette oft je ein Bild. Hier werden zwei Bilder entworfen: die
Stimmung bei Sonnenaufgang (Vers 1 bis 7) und das Morgengebet des
lyrischen Ichs (Vers 7 bis 14).
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13. Beschreibe den inhaltlichen Aufbau des Gedichts und ordne es
einem Gedichttyp zu. Schreibe deinen Vorschlag auf ein Blatt Papier.
14. Analysiere Satz- und Versbau sowie die sprachlichen Mittel des
Gedichts. Beziehe den Titel in deine Analyse mit ein. Schreibe
deinen Vorschlag auf ein Blatt Papier.
Das Versmaß ist ein Jambus. Auf eine unbetonte folgt eine betonte
Silbe (= steigender Rhythmus).
Beispielvers:
DIe ewig-helle Schaar wil nun ihr Licht verschlissen =
uú|uú|uú|uú|uú|uú|u–
Die Wörter ewig und helle werden auf der ersten und verschlissen auf
der zweiten Silbe betont. Von diesen Wörtern aus kannst du den
Rhythmus aufschlüsseln.
Wenn der Dichter – z. B. durch Satzzeichen – Sprechpausen innerhalb
der Verse vorschreibt, so spricht man von einer Zäsur. Geht der Satz
über das Versende hinaus und verbindet zwei Verse miteinander,
spricht man vom Enjambement. Sind mehrere Verse durch
Enjambements miteinander verbunden, spricht man vom Hakenstil.
Worterklärungen:
Vers 1: verschlissen = verschließen
Vers 2: Diane = antike Mondgöttin
Vers 8: itzt = jetzt
15. Erörtere, inwieweit es dir sinnvoll erscheint, das Gedicht „Morgen
Sonnet“ von Andreas Gryphius in einem Deutschbuch für die zehnte
Klasse abzudrucken. Schreibe deinen Vorschlag auf ein Blatt Papier.
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