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32 KULTUR DONNERSTAG, 21. SEPTEMBER 2006 DVD: KILLER-THRILLER Unerbittliches Räderwerk FRITZ LANG Zu Beginn ärgert sich ein Obstverkäufer darüber, dass in seinem Geschäft ein Polizist jeden Tag einen Apfel mitlaufen lässt, dann sieht er, wie ein Gesetzeshüter im Büro eines Staatsanwalts auch eine Frucht stibitzt. Mit einer Komödie indes hat Fritz Lang in seinem zweiten amerikanischen Film nichts im Sinn. Henry Fonda ist in «You Only Live Once» («Gehetzt», Arthaus) ein Kleinkrimineller, der sich nach der Entlassung aus dem Gefängnis redlich um ein anständiges Leben bemüht. Nicht nur falsche Freunde aus dem Knast, sondern auch brave Kleinbürger durchkreuzen diese Absicht. Inhaltlich rigoros wie eine griechische Tragödie und formal gnadenlos präzis wie ein helvetisches Uhrwerk beschreibt Lang, wie der sprichwörtliche Fluch der bösen Tat eine fatale Eigendynamik entwickelt und Intoleranz und Vorurteile mehr als ein Leben vernichten. Eisenhower-Ära Bis zu 120 Kilo tragen die indonesischen Schwefelträger auf Ost-Java in ihren Bambuskörben. ZVG Wahre Helden der Arbeit Körperliche Schwerstarbeit als filmisches Spektakel: «Workingman’s Death» von Michael Glawogger Der österreichische Filmemacher taucht ein in die Welt illegaler Minen in der Ukraine, eines Schlachthofs in Nigeria, eines Stahlwerks in China. Er besucht Schwefelträger auf Java und Arbeiter in Pakistan. Verschwindet die körperliche Schwerstarbeit? Hier erlebt man sie in ihrer ganzen widersprüchlichen Sinnlichkeit. THOMAS ALLENBACH Glawogger den Bogen von der industriellen Pionierzeit der 1930erJahre zur postindustriellen Welt von heute, in der schwere körperliche Arbeit für viele geradezu exotisch geworden ist. «Stirbt die Arbeiterklasse aus? Verschwindet die körperliche Schwerstarbeit, oder wird sie nur unsichtbar? Wo ist sie im 21. Jahrhundert noch zu finden?»: Das sind für den 47-Jährigen die Fragen, die ihn zu seinem Film motivierten. Der Titel scheint darauf auch schon eine Antwort zu geben. Stachanows Erben Jubelbilder der sowjetischen Propanda stehen am Anfang des Films. In einer mitreissend montierten Sequenz erinnert Michael Glawogger an den mit allen filmischen Manipulationskünsten betriebenen Kult um den Arbeiterhelden Alexei Stachanow. Ans Ende von «Workingman’s Death» stellt er das Bild des ehemaligen Hüttenwerks Duisburg-Metternich im deutschen Ruhrgebiet. Die stillgelegte Industrieanlage ist heute ein Freizeitpark. Hier treffen sich Teenager zum Schmusen. Am Abend sorgt die Installation eines britischen Lichtkünstlers für Atmosphäre. In seinem geografischen und historischen Panorama-Film mit essayistischem Anspruch schlägt «Mit Stachanow kann man uns nicht vergleichen. Unser Enthusiasmus kommt vom Willen zu überleben. Wenn du nicht arbeitest, dann wirst du einfach erfrieren.» Ganz und gar illusionslos sieht ein ukrainischer Minenarbeiter in Stachanows Heimat sein Verhältnis zum ideologisch instrumentalisierten Arbeiterhelden. Zusammen mit andern Männern baut er Kohle in illegalen Minen ab. Das einst blühende Industriegebiet im Donetsk-Becken ist tot, das Stachanow-Denkmal, zu dessen Füssen noch heute die Brautpaare einen Blumenstrauss legen, steht in einer industriellen Wüste. Wenn die Männer in die nur knapp einen halben Meter hohen Gänge kriechen und bäuchlings unter Le- bensgefahr mit Hammer und Meissel Kohle abbauen, ist die Kamera so nah dabei, dass einem beim blossen Zuschauen die Luft wegbleibt. Die Minen könnten jederzeit einbrechen – man nennt sie nicht ohne Grund Mausefallen. Löwen und Geister Stachanows Erben sind Gefangene eines traurigen Schicksals. Für Glawogger aber sind sie – und das meint er nicht etwa ironisch – «Helden». So nennt er das erste der «5 Bilder zur Arbeit im 21. Jahrhundert», wie sein Film im Unteritel heisst. Von der Ukraine switcht Glawogger nach Ost-Java, zum Kawa Ijen, einem Vulkan, in dessen Krater Schwefel abgebaut wird. Aus den Rauchschwaden tauchen hier, Geistern ähnlich, die Träger auf. Bis zu 120 Kilo schwere Lasten tragen die oft erstaunlich zierlichen Männer in ihren Bambuskörben von der «Küche» am Boden des Kraters zur Wägestation. Auf dem Weg unterhalten sie sich über Nutten und philosophieren über Bon Jovi, manchmal werden sie von Touristen fotografiert, denen sie Souvenirs verkaufen. Am Schluss werfen sie ihre Körbe in die Bäume. Von den «Geistern» in Indonesien geht die Filmreise weiter zu den «Löwen» in der nigerianischen Stadt Port Harcourt. Die Kamera stürzt sich von den poetischen Höhen in die infernalische Welt eines Schlachthofs unter freiem Himmel, das Gelb des Schwefels wird vom Rot des Blutes verdrängt. Ziegen und Kühe werden reihenweise mit einem Säbelhieb getötet, über brennenden Pneus werden die Tiere geröstet, Haut, Kopf, Beine, Innereien verkauft, in Autos verladen. Das ist ein Schauplatz, wie man ihn im Kino noch nicht gesehen hat. In grösstem Kontrast zu den «Höllenbildern» von Port Harcourt steht das vergleichsweise lichte, ruhige vierte Kapitel, «Brüder». Es spielt im pakistanischen Gaddani, wo Muslime mit einfachen Hilfsmitteln gigantische Tanker zerlegen. Letzte Station sind die Stahlwerke in Anshan, China. «Man kann das Heute nicht mit dem Gestern vergleichen», sagt einer der Arbeiter. «Die Technik ist viel fortschrittlicher. Heute braucht man nicht mehr so viel Muskelkraft. Heute braucht es mehr Wissen.» Schrecklich attraktiv Die Welt ist in den Filmen von Michael Glawogger beides, schrecklich und attraktiv. Wie in «Megacities» (1998), der vom Überleben in den Grossstädten erzählte, gibt es auch in «Workingman’s Death» wieder diese Bilder, die zugleich abstossend und anziehend sind. Wie hypnotisiert starrt Glawogger wieder auf die letzten Zuckungen sterbender Tiere, und wieder macht er daraus Tableaus von überwältigender Kraft. Die Bilder sind von solcher Wucht, dass sie die Fragen des Films vergessen lassen. Glawogger ist mehr an filmischer Wirkung als an Informationen und Antworten interessiert, sein sinfonisch gebauter Film (Musik: John Zorn) eher impressionistisch als analytisch. Er transformiert eine Welt, in der Menschen zu einem Hungerlohn und unter Todesgefahren arbeiten müssen, in spektakuläre Bilder, denen man sich nicht entziehen kann. Voyeuristisch aber ist er nicht. Glawogger ist ein einfühlsamer Beobachter, das Verhältnis von Arbeit und Bild reflektiert er mehrmals. Er verfolgt keine ideologischen Ziele und zeigt, was die Propaganda-Filme verhehlten: Gefahr, Schweiss, Mühsal, Elend; er zeigt die Not der Arbeiter, aber auch ihren Stolz – kurz: Er zeigt körperliche Arbeit in ihrer ganzen, widersprüchlichen und eben auch attraktiven Sinnlichkeit. Man erlebt mit, was mit ihr verloren geht. Aber auch, was durch den technischen Fortschritt gewonnen wird. [i] DER FILM läuft in Bern im Kellerkino. Am Samstag, 19 Uhr, Vorstellung in Anwesenheit des Regisseurs. Schönheit und Werktreue Das Übersetzerhaus Looren feierte sein einjähriges Bestehen Prominenz von nah und fern fand sich im ehemaligen Bauernhof des legendären Berner Verlegers Albert Züst im zürcherischen Wernetshausen ein, wo seit Herbst 2005 das erste Übersetzerhaus der Schweiz in Betrieb ist. C H A R L E S L I N S M AY E R Wer die Liste der Gäste studiert, die bisher unter der Obhut von Gabriela Stöckli eines der zwölf Zimmer bewohnten, stellt fest, dass das Haus inzwischen zu einem veritablen internationalen Vermittlungsstützpunkt geworden ist. Da wurde Starobinski ins Bulgarische, Walser ins Georgische, Habermas ins Schwedische, Zaimoglu ins Slowenische übersetzt, und bis hin zum Isländischen und Norwegischen geben sich die Sprachen der Welt munter ihr Stelldichein. Gegenwärtig ist mit der St. Gallerin Erica Engeler auch erstmals eine Schweizerin zu Gast. Für «dtv zweisprachig» übersetzt die in Argentinien geborene Autorin Kurzgeschichten aus Lateinamerika. Man könne sich wundervoll konzentrieren in der klösterlichen Abgeschiedenheit des Looren, erklärt sie. Auch tue einem die wohlwollende, gute Stimmung des Hauses und die Möglichkeit des Austausches mit Kollegen gut in einem Metier, das sonst eher verein- samend wirke. Erstaunt ist sie einzig darüber, dass nicht mehr Schweizer Kollegen das Angebot nutzten. Übersetzen für das HLS Rundum schweizerisch war zumindest die Präsentation, mit der der Looren das einjährige Bestehen feierte. Chefredaktor Marco Jorio stellte mit seiner Crew das HLS, das «Historische Lexikon der Schweiz», vor. Mit je 13 Bänden in deutscher, französischer und italienischer und zwei in rätoromanischer Sprache ist das bis 2014 fertig zu stellende Riesenwerk zugleich das grösste Übersetzungsvorhaben der Schweiz. Über 100 eigens herangebildete Fachleute arbeiten daran, die über 36 000 Artikel zu übersetzen, was nach den Darlegungen von Lucienne Hubler und Martin Kuder zu einer eigentlichen binnenländischen Übersetzungskultur geführt hat. Und was am überraschendsten ist: Oft ist die Übersetzung exakter als das Original, weil der Übersetzer beim Autor nachfragen musste, was der eigentlich habe sagen wollen! Im Looren werden allerdings auch künftig keine HLS-Übersetzungen entstehen. Aber die Arbeit, die da im Dienste des Buches geleistet wird, steht vor der gleichen Herausforderung, wie sie Marco Jorio mit einem (genderspezifisch problematischen) Zitat von DanteÜbersetzer Ernst Bertram umschrieb: «Übersetzungen sind wie Frauen. Sind sie schön, sind sie nicht treu, sind sie treu, sind sie nicht schön.» Sukkurs aus Bern Der Erfolg, der sich laut Stiftungspräsidentin Anne Marie Wells schon nach einem Jahr abzeichnet und der unter anderem auch dazu geführt hat, dass sogar die Stadt Bern, am Jubiläum vertreten durch Christoph Reichenau, Unterstützung zugesagt hat – dieser Erfolg dürfte wohl nicht zuletzt darauf beruhen, dass es in der beruhigend-idyllischen Atmosphäre über dem Zürichsee offenbar leichter als sonstwo möglich ist, sprachliche Schönheit mit Werktreue in Einklang zu bringen. FRANK SINATRA Ob er wirklich das Vorbild war für den Schauspieler, für den in Coppolas «Der Pate» Gangster einen Pferdekopf ins Bett eines Produzenten legen, damit er ein Hollywoodengagement bekommt, darüber streiten sich die Fans von Frank Sinatra heute noch. Klar ist Sinatras Rolle im 1954 schwarzweiss gedrehten Thriller «Suddenly» (Medienvertrieb Buchholz): «Ohne Waffe bin ich nichts», gesteht er als eiskalter Auftragskiller John Baron, der sich mit zwei Begleitern im Haus eines pensionierten Geheimagenten einnistet, um den amerikanischen Präsidenten zu ermorden. Regisseur Lewis Allen inszenierte den stellenweise unfreiwilligen komischen Mix aus «The Jackal» und «The Desperate Hourse» im typischen Tonfall der Eisenhower-Ära: Um den Attentäter zu stoppen, greifen auch eine pazifistische Soldatenwitwe und ihr minderjähriger Sohn zur Waffe. Takt der Maschinenpistole CHARLES BRONSON Er war bereits 47 Jahre alt, als ihm mit dem Auftritt als Mundharmonika spielender Rächer in Sergio Leones «Spiel mir das Lied vom Tod» der Durchbruch gelang. Zu den raren Produktionen, in denen Charles Bronson zuvor eine Hauptrolle zugeschanzt wurde, gehört der 1958 vom legendären B-Movie-Mogul Samuel Z. Arkoff produzierte Gangsterfilm «Machine Gun Kelly» (Direct Video Distribution). Als Bankräuber George Kelly wird Bronson von einer ebenso schönen wie skrupellosen Frau zu seinen kriminellen Taten getrieben. Nicht die Recherchierarbeit der Polizei, sondern die übersteigerte Angst vor dem Tod lässt diesen Ganoven scheitern. Bemerkenswert in diesem Streifen, der zu den besten Regiearbeiten von Roger Corman gehört und nur als Import-DVD erhältlich ist, der Soundtrack Gerald Frieds, bei dem die Maschinenpistole den Takt des Schlagzeugs bestimmt. Ungastliches New York ALLEN BARON «Wenn die Glocken klingen, denkt keiner an Mord», räsonniert Frankie Bono bei der Ankunft in New York. Dem wortkargen Mann in «Blast of Silence» («Explosion des Schweigens», Alamode/Max Music & Vision), der ausgerechnet in der Weihnachtszeit einen Mafiagangster umbringen soll, ist jeder zwischenmenschliche Kontakt zuwider. Nur kurz keimt ein Hoffnungspflänzchen, als Frankie bei der Vorbereitung des Anschlags seiner früheren Geliebten begegnet. Eindrücklich wie die zum Teil heimlich gefilmten Aufnahmen von New York, das hier als Stadt von seltener Ungastlichkeit geschildert wird, ist in diesem 1961 von Hauptdarsteller Allen Baron selber inszenierten Film-noir-Juwel der zynische Off-Kommentar, gesprochen von Lionel Stander, dem Kneipenwirt aus «Spiel mir das Lied vom Tod». Andreas Berger