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KULTUR
DONNERSTAG, 21. SEPTEMBER 2006
DVD: KILLER-THRILLER
Unerbittliches Räderwerk
FRITZ LANG Zu Beginn ärgert sich ein
Obstverkäufer darüber, dass in seinem Geschäft ein Polizist jeden Tag
einen Apfel mitlaufen lässt, dann
sieht er, wie ein Gesetzeshüter im
Büro eines Staatsanwalts auch eine
Frucht stibitzt. Mit einer Komödie indes hat Fritz Lang in seinem zweiten
amerikanischen Film nichts im Sinn.
Henry Fonda ist in «You Only Live
Once» («Gehetzt», Arthaus) ein
Kleinkrimineller, der sich nach der
Entlassung aus dem Gefängnis redlich um ein anständiges Leben
bemüht. Nicht nur falsche Freunde
aus dem Knast, sondern auch brave
Kleinbürger durchkreuzen diese
Absicht. Inhaltlich rigoros wie eine
griechische Tragödie und formal gnadenlos präzis wie ein helvetisches
Uhrwerk beschreibt Lang, wie der
sprichwörtliche Fluch der bösen Tat
eine fatale Eigendynamik entwickelt
und Intoleranz und Vorurteile mehr
als ein Leben vernichten.
Eisenhower-Ära
Bis zu 120 Kilo tragen die indonesischen Schwefelträger auf Ost-Java in ihren Bambuskörben.
ZVG
Wahre Helden der Arbeit
Körperliche Schwerstarbeit als filmisches Spektakel: «Workingman’s Death» von Michael Glawogger
Der österreichische Filmemacher taucht ein in die Welt
illegaler Minen in der Ukraine,
eines Schlachthofs in Nigeria,
eines Stahlwerks in China. Er
besucht Schwefelträger auf
Java und Arbeiter in Pakistan.
Verschwindet die körperliche
Schwerstarbeit? Hier erlebt
man sie in ihrer ganzen widersprüchlichen Sinnlichkeit.
THOMAS ALLENBACH
Glawogger den Bogen von der industriellen Pionierzeit der 1930erJahre zur postindustriellen Welt
von heute, in der schwere körperliche Arbeit für viele geradezu exotisch geworden ist. «Stirbt die Arbeiterklasse aus? Verschwindet die
körperliche Schwerstarbeit, oder
wird sie nur unsichtbar? Wo ist sie
im 21. Jahrhundert noch zu finden?»: Das sind für den 47-Jährigen
die Fragen, die ihn zu seinem Film
motivierten. Der Titel scheint darauf auch schon eine Antwort zu
geben.
Stachanows Erben
Jubelbilder der sowjetischen Propanda stehen am Anfang des
Films. In einer mitreissend montierten Sequenz erinnert Michael
Glawogger an den mit allen filmischen Manipulationskünsten betriebenen Kult um den Arbeiterhelden Alexei Stachanow. Ans
Ende von «Workingman’s Death»
stellt er das Bild des ehemaligen
Hüttenwerks Duisburg-Metternich im deutschen Ruhrgebiet. Die
stillgelegte Industrieanlage ist
heute ein Freizeitpark. Hier treffen
sich Teenager zum Schmusen. Am
Abend sorgt die Installation eines
britischen Lichtkünstlers für Atmosphäre.
In seinem geografischen und
historischen Panorama-Film mit
essayistischem Anspruch schlägt
«Mit Stachanow kann man uns
nicht vergleichen. Unser Enthusiasmus kommt vom Willen zu überleben. Wenn du nicht arbeitest,
dann wirst du einfach erfrieren.»
Ganz und gar illusionslos sieht ein
ukrainischer Minenarbeiter in
Stachanows Heimat sein Verhältnis zum ideologisch instrumentalisierten Arbeiterhelden. Zusammen mit andern Männern baut er
Kohle in illegalen Minen ab. Das
einst blühende Industriegebiet im
Donetsk-Becken ist tot, das Stachanow-Denkmal, zu dessen Füssen noch heute die Brautpaare einen Blumenstrauss legen, steht in
einer industriellen Wüste. Wenn
die Männer in die nur knapp einen
halben Meter hohen Gänge kriechen und bäuchlings unter Le-
bensgefahr mit Hammer und
Meissel Kohle abbauen, ist die Kamera so nah dabei, dass einem
beim blossen Zuschauen die Luft
wegbleibt. Die Minen könnten jederzeit einbrechen – man nennt sie
nicht ohne Grund Mausefallen.
Löwen und Geister
Stachanows Erben sind Gefangene eines traurigen Schicksals.
Für Glawogger aber sind sie – und
das meint er nicht etwa ironisch –
«Helden». So nennt er das erste der
«5 Bilder zur Arbeit im 21. Jahrhundert», wie sein Film im Unteritel
heisst. Von der Ukraine switcht
Glawogger nach Ost-Java, zum
Kawa Ijen, einem Vulkan, in dessen
Krater Schwefel abgebaut wird.
Aus den Rauchschwaden tauchen
hier, Geistern ähnlich, die Träger
auf. Bis zu 120 Kilo schwere Lasten
tragen die oft erstaunlich zierlichen Männer in ihren Bambuskörben von der «Küche» am Boden des
Kraters zur Wägestation. Auf dem
Weg unterhalten sie sich über Nutten und philosophieren über Bon
Jovi, manchmal werden sie von
Touristen fotografiert, denen sie
Souvenirs verkaufen. Am Schluss
werfen sie ihre Körbe in die Bäume.
Von den «Geistern» in Indonesien geht die Filmreise weiter zu den
«Löwen» in der nigerianischen
Stadt Port Harcourt. Die Kamera
stürzt sich von den poetischen
Höhen in die infernalische Welt eines Schlachthofs unter freiem
Himmel, das Gelb des Schwefels
wird vom Rot des Blutes verdrängt.
Ziegen und Kühe werden reihenweise mit einem Säbelhieb getötet,
über brennenden Pneus werden
die Tiere geröstet, Haut, Kopf, Beine, Innereien verkauft, in Autos
verladen. Das ist ein Schauplatz,
wie man ihn im Kino noch nicht
gesehen hat.
In grösstem Kontrast zu den
«Höllenbildern» von Port Harcourt
steht das vergleichsweise lichte,
ruhige vierte Kapitel, «Brüder». Es
spielt im pakistanischen Gaddani,
wo Muslime mit einfachen Hilfsmitteln gigantische Tanker zerlegen. Letzte Station sind die Stahlwerke in Anshan, China. «Man
kann das Heute nicht mit dem Gestern vergleichen», sagt einer der
Arbeiter. «Die Technik ist viel fortschrittlicher. Heute braucht man
nicht mehr so viel Muskelkraft.
Heute braucht es mehr Wissen.»
Schrecklich attraktiv
Die Welt ist in den Filmen von
Michael
Glawogger
beides,
schrecklich und attraktiv. Wie in
«Megacities» (1998), der vom
Überleben in den Grossstädten erzählte, gibt es auch in «Workingman’s Death» wieder diese Bilder,
die zugleich abstossend und anziehend sind. Wie hypnotisiert starrt
Glawogger wieder auf die letzten
Zuckungen sterbender Tiere, und
wieder macht er daraus Tableaus
von überwältigender Kraft. Die Bilder sind von solcher Wucht, dass
sie die Fragen des Films vergessen
lassen.
Glawogger ist mehr an filmischer Wirkung als an Informationen und Antworten interessiert,
sein sinfonisch gebauter Film (Musik: John Zorn) eher impressionistisch als analytisch. Er transformiert eine Welt, in der Menschen
zu einem Hungerlohn und unter
Todesgefahren arbeiten müssen,
in spektakuläre Bilder, denen man
sich nicht entziehen kann. Voyeuristisch aber ist er nicht. Glawogger
ist ein einfühlsamer Beobachter,
das Verhältnis von Arbeit und Bild
reflektiert er mehrmals. Er verfolgt
keine ideologischen Ziele und
zeigt, was die Propaganda-Filme
verhehlten: Gefahr,
Schweiss,
Mühsal, Elend; er zeigt die Not der
Arbeiter, aber auch ihren Stolz –
kurz: Er zeigt körperliche Arbeit in
ihrer ganzen, widersprüchlichen
und eben auch attraktiven Sinnlichkeit. Man erlebt mit, was mit ihr
verloren geht. Aber auch, was
durch den technischen Fortschritt
gewonnen wird.
[i] DER FILM läuft in Bern im Kellerkino. Am Samstag, 19 Uhr, Vorstellung in Anwesenheit des Regisseurs.
Schönheit und Werktreue
Das Übersetzerhaus Looren feierte sein einjähriges Bestehen
Prominenz von nah und fern
fand sich im ehemaligen
Bauernhof des legendären
Berner Verlegers Albert Züst
im zürcherischen Wernetshausen ein, wo seit Herbst
2005 das erste Übersetzerhaus
der Schweiz in Betrieb ist.
C H A R L E S L I N S M AY E R
Wer die Liste der Gäste studiert, die
bisher unter der Obhut von Gabriela Stöckli eines der zwölf Zimmer
bewohnten, stellt fest, dass das
Haus inzwischen zu einem veritablen internationalen Vermittlungsstützpunkt geworden ist. Da
wurde Starobinski ins Bulgarische,
Walser ins Georgische, Habermas
ins Schwedische, Zaimoglu ins Slowenische übersetzt, und bis hin
zum Isländischen und Norwegischen geben sich die Sprachen der
Welt munter ihr Stelldichein.
Gegenwärtig ist mit der
St. Gallerin Erica Engeler auch
erstmals eine Schweizerin zu
Gast. Für «dtv zweisprachig»
übersetzt die in Argentinien geborene Autorin Kurzgeschichten
aus Lateinamerika.
Man könne sich wundervoll
konzentrieren in der klösterlichen
Abgeschiedenheit des Looren, erklärt sie. Auch tue einem die wohlwollende, gute Stimmung des
Hauses und die Möglichkeit des
Austausches mit Kollegen gut in einem Metier, das sonst eher verein-
samend wirke. Erstaunt ist sie einzig darüber, dass nicht mehr
Schweizer Kollegen das Angebot
nutzten.
Übersetzen für das HLS
Rundum schweizerisch war zumindest die Präsentation, mit der
der Looren das einjährige Bestehen feierte. Chefredaktor Marco
Jorio stellte mit seiner Crew das
HLS, das «Historische Lexikon der
Schweiz», vor. Mit je 13 Bänden in
deutscher, französischer und italienischer und zwei in rätoromanischer Sprache ist das bis 2014 fertig
zu stellende Riesenwerk zugleich
das grösste Übersetzungsvorhaben der Schweiz.
Über 100 eigens herangebildete
Fachleute arbeiten daran, die über
36 000 Artikel zu übersetzen, was
nach den Darlegungen von Lucienne Hubler und Martin Kuder
zu einer eigentlichen binnenländischen Übersetzungskultur geführt
hat. Und was am überraschendsten ist: Oft ist die Übersetzung exakter als das Original, weil der
Übersetzer beim Autor nachfragen
musste, was der eigentlich habe sagen wollen!
Im Looren werden allerdings
auch künftig keine HLS-Übersetzungen entstehen. Aber die Arbeit,
die da im Dienste des Buches geleistet wird, steht vor der gleichen
Herausforderung, wie sie Marco
Jorio mit einem (genderspezifisch
problematischen) Zitat von DanteÜbersetzer Ernst Bertram umschrieb: «Übersetzungen sind wie
Frauen. Sind sie schön, sind sie
nicht treu, sind sie treu, sind sie
nicht schön.»
Sukkurs aus Bern
Der Erfolg, der sich laut Stiftungspräsidentin Anne Marie
Wells schon nach einem Jahr abzeichnet und der unter anderem
auch dazu geführt hat, dass sogar
die Stadt Bern, am Jubiläum vertreten durch Christoph Reichenau, Unterstützung zugesagt
hat – dieser Erfolg dürfte wohl
nicht zuletzt darauf beruhen, dass
es in der beruhigend-idyllischen
Atmosphäre über dem Zürichsee
offenbar leichter als sonstwo
möglich ist, sprachliche Schönheit mit Werktreue in Einklang zu
bringen.
FRANK SINATRA Ob er wirklich das
Vorbild war für den Schauspieler,
für den in Coppolas «Der Pate»
Gangster einen Pferdekopf ins Bett
eines Produzenten legen, damit er
ein Hollywoodengagement bekommt, darüber streiten sich die
Fans von Frank Sinatra heute noch.
Klar ist Sinatras Rolle im 1954
schwarzweiss gedrehten Thriller
«Suddenly» (Medienvertrieb
Buchholz): «Ohne Waffe bin ich
nichts», gesteht er als eiskalter
Auftragskiller John Baron, der sich
mit zwei Begleitern im Haus eines
pensionierten Geheimagenten einnistet, um den amerikanischen
Präsidenten zu ermorden. Regisseur
Lewis Allen inszenierte den stellenweise unfreiwilligen komischen Mix
aus «The Jackal» und «The Desperate Hourse» im typischen Tonfall
der Eisenhower-Ära: Um den
Attentäter zu stoppen, greifen auch
eine pazifistische Soldatenwitwe
und ihr minderjähriger Sohn zur
Waffe.
Takt der Maschinenpistole
CHARLES BRONSON Er war bereits
47 Jahre alt, als ihm mit dem
Auftritt als Mundharmonika spielender Rächer in Sergio Leones
«Spiel mir das Lied vom Tod» der
Durchbruch gelang. Zu den raren
Produktionen, in denen Charles
Bronson zuvor eine Hauptrolle zugeschanzt wurde, gehört der 1958
vom legendären B-Movie-Mogul
Samuel Z. Arkoff produzierte
Gangsterfilm «Machine Gun
Kelly» (Direct Video Distribution).
Als Bankräuber George Kelly wird
Bronson von einer ebenso schönen
wie skrupellosen Frau zu seinen kriminellen Taten getrieben. Nicht die
Recherchierarbeit der Polizei, sondern die übersteigerte Angst vor
dem Tod lässt diesen Ganoven scheitern. Bemerkenswert in diesem
Streifen, der zu den besten Regiearbeiten von Roger Corman gehört
und nur als Import-DVD erhältlich
ist, der Soundtrack Gerald Frieds,
bei dem die Maschinenpistole den
Takt des Schlagzeugs bestimmt.
Ungastliches New York
ALLEN BARON «Wenn die Glocken
klingen, denkt keiner an Mord», räsonniert Frankie Bono bei der Ankunft in New York. Dem wortkargen
Mann in «Blast of Silence»
(«Explosion des Schweigens», Alamode/Max Music & Vision), der ausgerechnet in der Weihnachtszeit einen Mafiagangster umbringen soll,
ist jeder zwischenmenschliche Kontakt zuwider. Nur kurz keimt ein
Hoffnungspflänzchen, als Frankie
bei der Vorbereitung des Anschlags
seiner früheren Geliebten begegnet. Eindrücklich wie die zum Teil
heimlich gefilmten Aufnahmen von
New York, das hier als Stadt von seltener Ungastlichkeit geschildert
wird, ist in diesem 1961 von Hauptdarsteller Allen Baron selber inszenierten Film-noir-Juwel der zynische
Off-Kommentar, gesprochen von
Lionel Stander, dem Kneipenwirt
aus «Spiel mir das Lied vom Tod».
Andreas Berger

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