Das Foul im Wandel der Zeit

Transcription

Das Foul im Wandel der Zeit
Franz Beckenbauer: „Die Spiele gegen Werder Bremen werde ich nie vergessen. Wegen
Horst-Dieter Höttges uns Sepp Piontek. Wir nannten sie nur die „Mörder-Brüder“. Wer
gegen die antreten musste, war noch nicht richtig auf dem Platz und hatte schon blaue
Flecken. Sie grätschten von hinten, von der Seite, ganz nach dem Motto: „Wenn wir den Ball
treffen, auch gut. Aber es muss nicht sein!“
Jupp Tenhagen:„Früher gab es keine Verletzungen, da gab es nur glatte Brüche!“
Das Foul im Wandel der Zeit
Bis Mitte der sechziger Jahre durfte beim Fußball nicht ausgewechselt werden. Der Trainer
schickte seine Mannschaft mit den mahnenden Worten auf das Feld: „Männer, und denkt
daran, wir spielen lieber gegen zehn als gegen elf!“
Das war die Blütezeit der Knochenbrecher und Blutgrätscher. Für sie bestand der Sinn des
Spieles darin, das vorzeitige Karriereende des Gegenspielers einzuleiten. Die stets auf
Beschönigung bedachte Reporterzunft fand dafür die Formulierung: „Sie schonen weder sich
noch den Gegner!“
Hatte es in dieser Zeit einen Spieler erwischt, so musste er bis zum Ende durchhalten, auch
wenn sein Bein eine unnatürliche Abwinkelung aufwies. Der „Heilungsprozess“ wurde
notfalls mit Cortison „beschleunigt“.
Dann durfte zwar ausgewechselt werden, aber die Jagd der Grobtechniker auf die
Feintechniker ging weiter. Die Goicoecheas gegen die Maradonas. Jede Mannschaft hatte so
einen, der beim Training gegen einen Betonpfeiler treten musste, während die anderen
Runden liefen. Der sollte dann den gegnerischen „Spielmacher ausschalten“!
Dann drang das Fernsehen immer weiter auf das Spielfeld vor. Inzwischen verfolgen zahllose
Kameras im Stadion das Spielgeschehen und sezieren jede Szene. Und so hat sich
mittlerweile eine international anerkannte neue Foulkultur entwickelt!
Nach einem Foul, das dem gezielten Versuch einer Amputation des Unterschenkels sehr nahe
kommt, wälzt sich der Spieler der Quergestreiften mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem
Rasen. Die Aufmerksamkeit im Stadion richtet sich auf den längsgestreiften Übeltäter.
Dieser freilich zieht in Richtung Kamera eine fassungslose Unschuldsmine und unterstreicht
dies durch die Geste, mit den Händen das Runde des Balles anzudeuten, was so viel heißt wie,
schade, dass der Ball nicht in der Nähe war. Die nachfolgende gelbe Karte durch den
Schiedsrichter wird wirksam mit einem Kopfschütteln in Richtung Trainer und Tribüne
begleitet und entsetzt in die Hand vor die Stirn geschlagen, dabei wird leicht in die Knie
gegangen. Und zum guten Schluss wird auch die Hand aufrecht gestellt und mit dem Finger
hin und her gewedelt, was so viel bedeuten soll: Die 80 000 im Stadion haben es alle falsch
gesehen.
Nun schlägt die Stunde der Rächer, der Torhüter der Quergestreiften nimmt 70 Meter Anlauf,
um den Bösewicht schubsen zu können. Er schafft es auch, obwohl er inzwischen ganz schön
außer Atem ist, laufen ist eben nicht sein Ding! Der Geschubste nimmt die Einladung gerne
an und stürzt blitzartig auf das satte Grün. Dabei wälzt er sich dermaßen herzerweichend, dass
das Herbeirufen des Notarztwagens dringend geboten scheint.
(Zur Ausbildung der Fußballprofis gehört inzwischen nämlich mindestens ein Semester an der
Schauspielschule, besser wären zwei oder gar ein Abschluss.)
Mittlerweile sind die Mannschaften fast vollzählig am Ort des Geschehens versammelt, die
Anheizer und die Beschwichtiger beider Seiten halten sich etwa die Waage. Ab und zu fällt
einer zu Boden und schreit.
Mittendrin der Schiri, der durch das Zücken von gelben und roten Karten Ordnung in das
Chaos zu bringen versucht. An der Seitenlinie beschimpfen sich die beiden Trainer auf das
Unflätigste, mühsam durch den 4. Offiziellen von Handgreiflichkeiten abgehalten.
Aus dem Fan-Block der Quergestreiften werden Raketen auf den Block der Längsgestreiften
geschossen, die schießen zurück. Der Stadionsprecher mahnt die Kombattanten wegen der zu
erwartenden Geldstrafe überaus höflich, das Abschießen von Feuerwerkskörpern bitteschön
zu unterlassen. Keiner hört hin.
Nun geht das Spiel weiter, aber die Atmosphäre ist aufgeheizt. Bei nächster Gelegenheit
drückt ein Quergestreifter seinem Gegenspieler die Stollen in den Spann, um gleich danach
beschwörend die Hände zu heben: „Entschuldigung, ich habe dir aus Versehen auf den Fuß
getreten.“ Dieses Foul ist deswegen so hinterhältig, weil der Vorsatz nur schwer
nachzuweisen ist. Die Häufigkeit und Perfektion lässt darauf schließen, dass eine erfolgreiche
Jugendarbeit dahinter steckt. Wieder Geschubse und Getue. Handgemenge, Kartenausgabe.
Nach Toren steht es 0:0, nach Fouls 18 zu 17 für die Quergestreiften.
Irgendwie geht es nun doch weiter, jetzt sind die Längsgestreiften wieder dran. Beim Kopfball
versetzt der Innenverteidiger dem Stürmer einen Ellbogencheck, der darauf gerichtet ist, beim
Gegner die Zahnreihe zu lichten oder wenigstens sein Jochbein zu zertrümmern. Dabei hat
sich der Übeltäter bereits vor dem Hochspringen orientiert, wo der Kopf des Gegners
vermutlich sein wird, damit die Bewegung wirkungsvoll zu Ende geführt werden kann.
Sinnvollerweise unterstützt er die Aktion dadurch, dass er danach selbst mit einem Aufschrei
zusammenbricht. Der Schiedsrichter ist bei der Täter – Opferbewertung überfordert, weil auch
der Stürmer mit seinen Armen in der Luft herumgefuchtelt hat. Wieder Trainerausrastung,
Spielerempörung, Zuschauererhebung.
Noch sieben Minuten, immer noch 0:0. Plötzlich funktioniert die Abseitsfalle nicht, ein
Stürmer strebt auf das Tor zu, ein Abwehrkettenhund hetzt hinterher. Als er nah genug dran
ist, kreuzt er hinten die Bahn des Stürmers, touchiert kaum erkennbar dessen linkes Bein, das
sich mit dem rechten verhakt. Der Stürmer fällt kläglich auf die Klappe. Wieder Tumult.
Unschuldsbeteuerungen, Schuldzuweisungen, Handgemenge. Es steht 19:18.
Noch drei Minuten. Wieder geht einer zu Boden, sein Gegenspieler tut so, als wolle er über
den Gestürzten rüberspringen und tritt dabei „volle Lotte“ auf dessen Hand. Der Getroffene
krümmt sich vor Schmerzen, der Täter schwört Stein und Bein, das sei keine Absicht und
versucht zum Beweis, dem Opfer aufzuhelfen. Es steht 19:19.
Eine Minute Nachspielzeit. Immer noch 0:0 .
Eckball! Letzte Chance. Im Strafraum herrscht Hochbetrieb! Der Ball fliegt rein. Ein
quergestreifter Angreifer greift an das Trikot des Gegners und krallt sich daran fest, lässt sich
dann mit einem Schmerzensschrei auf in den Gegner fallen und schreit „Foul! Elfmeter!“
Der gestürzte Gegenspieler hatte freilich dasselbe Textilvergehen versucht, nur andersrum,
und schreit im Fallen: „Schwalbe! Gelbe Karte!“ Mehrere andere stürzen ebenfalls. Geschrei,
Gezeter, Gejammer.
Da die Schuldfrage besonders unübersichtlich ist, behilft sich der Reporter mit der
Einordnung als „internationale Härte“. Der Schiedsrichter pfeift das Spiel entnervt 15
Sekunden zu früh ab. Er muss durch die Ordner in Sicherheit gebracht werden und kann das
Stadion erst vier Stunden nach dem Spiel durch einen Seitenausgang als Putzfrau verkleidet
wieder verlassen.