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„Mann“, sagte Kevin, „die Eichen hier sind riesig.“
Dean hielt die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen das Sonnenlicht
abzuschirmen. „Dabei sehen sie gar nicht aus wie Eichen – eher wie uralte
Mammutbäume, wie die aus Jurassic Park.“
„Kevin, Dean! Kommt, wir sehen uns das Herrenhaus an!“ Die Stimme ihrer
Mutter ließ die beiden Knaben kurz in die Richtung blicken, aus der sie kam, dann
wandten sie dem großen weißen Haus mit den mächtigen Säulen wieder den
Rücken zu.
„Interessiert dich diese alte Hütte?“ fragte Kevin und ließ den Blick über die
weite grüne Wiese schweifen, die sich vor unendlich weit auszudehnen schien.
„Nicht die Bohne. Zeig mal her, was gibt’s denn hier noch so zu sehen?“ Mit
diesen Worten riss Dean seinem jüngeren Bruder die Touristenkarte aus der Hand
und klappte sie auf.
„Mal seh’n“, sagte er und betrachtete das Blatt Papier, auf dem in großen,
grünen Lettern „Oak Alley Plantage“ geschrieben war.
„Wir befinden uns hier, beim Herrenhaus.“ Dean zeigte mit dem Finger auf das
kleine ebenfalls grün eingezeichnete Haus, dann hob er seinen Kopf und blickte
durch die großen, alten Eichen hindurch. „Dort drüben liegt der ehemalige Friedhof.“
„Wer ist dort begraben?“, fragte Kevin. Er war zwölf Jahre alt und nur zwei
Jahre jünger als sein Bruder. Gerade am Anfang der Pubertät konnten aber zwei
Jahre eine ganze Menge sein, und Dean rollte als Reaktion auf die Frage seines
Bruders mit den Augen. „Mann, Kevin“, sagte er. „Was glaubst du denn, wer?
Bestimmt nicht der Hausherr und seine Frau.“
„Die Sklaven?“ Kevin starrte in die Richtung, in die sein großer Bruder geblickt
hatte, konnte aber nirgendwo Grabsteine oder Kreuze sehen.
„Natürlich die Sklaven. Deshalb sind dort auch keine Grabsteine. Die wurden
wahrscheinlich einfach unter die Erde gelegt und fertig.“
„Bäh“, sagte Kevin. „Das ist ja langweilig. Was gibt’s sonst noch?“
„Kevin, Dean!“ Ihre Mutter wurde langsam ungeduldig. Sie stand im Schatten
des großen Hauses, wo eine Frau in blauem Kleid und mit einer seltsamen Frisur
bereits angefangen hatte, Geschichten über das Haus und seine Entstehung vor 150
Jahren zu erzählen. „Kommt endlich, die Führung fängt bereits an!“
Die Plantage
„Nee Mum, wir kommen nicht mit!“, rief Dean. „Wir bleiben an der Sonne und
warten hier draußen auf euch!“
„Okay, aber stellt nichts an!“
„Mum!“, rief Kevin, „Du kannst uns trotzdem mit ins Gästebuch eintragen!“
Die Mutter nickte, dann drehte sie sich um und versank zusammen mit ihrer
Schwester in der Welt des 19. Jahrhunderts.
„Also“, sagte Dean und wandte sich wieder der Karte zu. „Es gibt einen
Souvenirladen, ein Kaffeehaus, den Friedhof, die ehemaligen Zuckerfelder, das
Küchengebäude, die Sklavenhütten, den Wasserbr…“
„Die Sklavenhütten?“ Kevin machte große Augen. „Du meinst die Räume, in
denen
die
Sklaven
gewohnt
haben,
als
sie
hier
gearbeitet
haben?“
„Na ja, gewohnt…sie haben zumindest dort drinnen geschlafen. Sehen wir’s
uns einfach an!“
„Yeah!“
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Fünf Minuten später befanden sich Dean und Kevin Procter am östlichen Ende des
riesigen Anwesens der Oak Alley Plantage. Sie hatten sich über den Touristenpfad
von ihrer Mutter und ihrer Tante und dem schlossartigen alten Herrenhaus entfernt,
waren am Souvenirladen vorbeigekommen und hatten das Kaffeehäuschen passiert.
Nun standen sie am Ende des Fußweges, berührten mit ihren Händen die
Absperrung und blickten über die Wiese auf die acht bis zehn kleinen, teilweise
verfallenen Hütten. Sie waren komplett aus Holz erbaut und standen im Schatten der
riesigen Eichen, die wie mächtige Götterstatuen empor ragten und alles andere klein
und nichtig erscheinen ließen.
„Dort haben sie also gewohnt!“, sagte Kevin.
„Geschlafen, Kevin, geschlafen.“ Dean wandte den Blick nicht von den Hütten
ab, während er zu seinem Bruder sprach. „Die haben tagsüber so schwer am
Zuckerfeld geschuftet, dass sie abends nur noch hundemüde ins Bett fielen. Und
dabei war die Arbeit vielleicht noch gar nicht getan – einige von ihnen mussten
abends noch zusätzlich im Herrenhaus schuften.“
Kevin sah zu seinem Bruder auf, der gute zehn Zentimeter größer war als er.
„Woher weißt du das alles, Dean?“
© 2005 Markus Böhme
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Die Plantage
„Hab’ auf der Fahrt hierher den Führer gelesen. Solltest du auch mal tun,
kleiner Stinker. Lesen kannst du ja bereits.“
„Ha ha.“
„Was meinst du, gehen wir ’rüber?“
„Wie ’rüber? Zu den Hütten?“
„Nein, zur Mama. Natürlich zu den Hütten.“ Dean warf einen Blick über die
Schulter. Es war Mittag, vielleicht halb eins, und die meisten Touristen, die nicht
gerade an einer Führung durchs Herrenhaus teilnahmen, befanden sich im Café und
stopften irgendwelche Snacks in sich hinein. Außerdem zählte der Mai noch zur
Vorsaison – die großen Massen an Touristen würden erst mit Anfang der
Sommerferien hier her, an den südlichsten Zipfel des Mississippi kommen.
„Kein Mensch zu sehen“, sagte Dean. „Komm!“
Mit diesen Worten schwang er ein Bein über die Absperrung, die aus nicht
mehr als einem simplen Seil bestand, und befand sich einen Augeblick später bereits
auf der anderen Seite. „Mach’ schon!“
Kevin stellte sich etwas ungeschickter an, schaffte es aber schließlich auch
von dem gepflasterten Gehweg auf die weiche, grüne Wiese.
Dann liefen sie beide über die Wiese, in die Arme der gewaltigen Eichen,
direkt auf die alten Hütten der Sklaven zu.
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Dean wagte es natürlich als erster – als älterer Bruder hatte man eine gewisse
Verantwortung, ein gewisses Klischee, dem man gerecht werden musste, und somit
einen Ruf zu verlieren. Innerlich zögernd, nach außen hin aber fest entschlossen
betrat er eine der hinteren Hütten des kleinen Sklavendorfes. Das alte Holz knarrte
unter dem Gewicht des Vierzehnjährigen.
„Wie ist es?“ fragte Kevin ungeduldig von hinten. „Sag schon, siehst du was?“
„Es stinkt!“ Dean machte einen Schritt nach vorne, wobei der Boden krächzte,
als wäre er hundert Jahre alt. Einen kurzen Augenblick später erinnerte Dean sich
daran, dass die Hütten tatsächlich hundert und sogar noch mehr Jahre alt waren. „Es
stinkt nach Lack. Die haben hier alles wasserfest lackiert, jede Wette!“
Dean drehte sich um. „Willst du nicht endlich ’reinkommen?“
Dann betrat auch Kevin die Hütte.
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Die Plantage
Es war dunkler hier drin, wenn auch nicht komplett finster. Die Wände hatten
faustgroße Löcher, und auch von den Dachschindeln fehlten einige, wodurch das
Sonnenlicht die Hüttenluft zerschnitt wie Laserstrahlen. Die Hütte war größer als sie
von außen ausgesehen hatte – dreißig Quadratmeter schätzte Kevin, verließ sich
aber nicht darauf, dass er es richtig einschätzen konnte. Es war jedenfalls groß. Aus
mehreren Brettern zusammengenagelte Gestelle befanden sich auf beiden Seiten
der Hütten, dazwischen war so etwas wie ein Gang entstanden.
„Das müssen die Betten gewesen sein“, sagte Dean. „Hier haben sie
geschlafen.“
„Mann, wie viel Betten sind denn das?“, fragte Kevin und begann zu zählen,
doch es war unmöglich zu sagen, da die meisten Bretter bereits fehlten und die
Betten nur noch vereinzelt als solche zu erkennen waren.
„Dort!“ Dean zeigte mit dem Finger in den hinteren Teil der Hütte. Kevin
konnte nichts erkennen, doch Dean hatte sich bereits auf den Weg über die
morschen Dielen in den hinteren Hüttenteil gemacht. „Komm mit!“
Die Nike-Schuhe der beiden Brüder hinterließen Abdrücke im Staub des
Bodens und ließen das Holz unter sich knarren und knacksen. Kevin folgte Dean
nach hinten, und nach etwa zehn Schritten war ihre Reise beendet. Jetzt konnte
auch er sehen, was Dean nach hinten gelockt hatte – ein Kasten, eine Art Kommode,
die an der hinteren Wand der Hütte angebracht war.
„Hier haben die Sklaven wohl ihre Sachen verstaut!“, sagte Dean und langte
nach einem Griff, der zu einer Art Schublade gehört. Der Griff fühlte sich warm an,
und sehr morsch, dennoch zog Dean daran und war erstaunt, wie leicht sich die
Schublade öffnen ließ. Die Kommode wackelte etwas hin und her, und Dean fragte
sich, ob man von außen wohl sah, dass die ganze Hütte schwankte.
„Und? Was ist darin?“ Kevin trat an Dean heran und sie blickten zusammen in
die Schublade hinein: sie war leer.
„Mensch ist das langweilig!“, sagte er und entfernte sich wieder von der
Kommode.
Dean schob die Lade wieder hinein. „Was hast du denn gedacht? Dass wir
Schmuck von Sklaven finden?“ Er musste lachen.
Dean vernahm ein lautes Knacksen, dann schrie sein Bruder auf: „Auuuuuuu!“
Blitzartig drehte er sich um. „Kevin!“
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Die Plantage
„Scheiße!“, sagte Kevin. „Ich bin eingebrochen!“ Er war mit seinem rechten
Fuß wahrscheinlich auf ein extrem schwaches Holzstück getreten, das unter seinem
Gewicht nachgegeben hatte. Jetzt steckte er bis zum Knöchel in dem kleinen Loch
und stützte sich mit den Händen an den Bettgestellen links und rechts ab.
„Pass auf!“, sagte Dean und kam ihm hinterher. „Nicht bewegen, sonst ziehst
du dir nur einen Holzsplitter ein!“
„Hab ich schon, glaub’ ich.“ Kevin atmete laut aus. „Hilf mir da ’raus!“
„Schon dabei!“ Dean kniete sich hinter Kevin nieder und betrachtete das Loch.
Er erinnerte sich daran, im Touristenführer gelesen zu haben, dass die Siedler hier
im südlichen Mississippidelta ihre Hütten und Häuser auf Holzbänken errichten
mussten, da der Untergrund weich war und großteils aus Schlamm und Sumpfland
bestand. Deshalb hatten sogar die Sklaven hier doppelte Dielen gehabt.
Der Turnschuh seines Bruders steckte nun unter der Diele, und das
abgesplitterte Holz drohte sich bei jeder noch so kleinen Bewegung in den weißen
Wollsocken zu bohren. Dean fasste in das Loch, umschloss das Ende des
abgesplitterten Brettes mit seiner Faust und zog daran so fest er konnte.
„Auuuuuuaaa!“, schrie Kevin, dann brach das morsche Holzstück gänzlich ab
und Dean fiel nach hinten.
„Pssssssssst!“, sagte er. „Sei leise, Mann! Du kannst deinen Fuß jetzt
rausziehen.“
Kevin tat wie ihm geheißen, und mit einem vorsichtigen Ruck konnte er seinen
Fuß befreien. Er drehte sich augenblicklich zu Dean um. „Danke, Dean! Du hast mich
befreit!“
Aber Dean hörte ihn nicht. Er kniete vor dem Loch, das Kevins Schuh in den
Boden gerissen hatte, und starrte in die Dunkelheit hinab.
„Was…?“ fragte Kevin, dann ging auch er in die Knie und versuchte zu
erkennen, was seinen Bruder dermaßen faszinierte.
„Kevin…“ Dean kniff seine Augen zusammen und führte sein Gesicht noch
weiter an das Loch heran. „Da unten ist etwas.“
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Die Plantage
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„Was zum Teufel ist das?“, fragte Kevin seinen großen Bruder, der am morschen
Holzboden der alten Sklavenhütte kniete und ein kleines, hölzernes Ding in den
Händen hielt.
„Sieht aus wie eine Schatulle oder so was.“ Dean hielt das Ding an sein Ohr
und schüttelte es.
„Mach es auf!“
„Bin schon dabei“, sagte Dean und stellte das Ding, das zu groß für ein
Schmuckkästchen, aber zu klein für eine Kiste war, vor sich auf den Boden. Es war
aus schlichtem Holz, das heller war, als das der Dielen und der Hütte, und hatte
keinerlei Verzierungen oder Schlösser. Es war mit einem simplen Verschluss
versehen, der mit einer Fingerbewegung geöffnet werden konnte.
Kevin stand auf und trat über das Loch im Boden zu seinem Bruder hinüber,
während Dean das Kästchen öffnete.
Geräuschlos löste sich der Deckel von der Schatulle, und zum Vorschein kam
ein kleines viereckiges Ding, das Dean erst beim zweiten Hinsehen erkannte.
„Das ist ein Buch“, sagt er und griff danach. Kevin sah staunend zu.
Es war tatsächlich ein Buch. Der Einband bestand aus einem weichen,
unförmigen Material. Baumrinde, war das erste Wort, das Kevin dazu einfiel.
Dean strich mit der Hand darüber. In der kleinen Schatulle war es vor Staub
geschützt gewesen, und anscheinend auch vor Feuchtigkeit, denn das Buch war
trocken und spröde.
„Der Einband zerfällt fast“, sagte Dean.
„Mach es auf!“ Kevin blickte abwechselnd auf das Buch und auf seinen
Bruder. Vorsichtig öffnete Dean den Einband.
„Mann, das ist sicher hundert Jahre alt!“
Die erste Seite innerhalb des Einbands war bereits gänzlich voll geschrieben.
Vollgekritzelt, besserte Dean seinen eigenen Gedanken aus. Die Schrift war mit einer
dunklen Flüssigkeit geschrieben worden – vielleicht Tinte, vielleicht aber auch Sirup
oder Harz, oder sogar Blut. Dean konnte es unmöglich sagen.
„Was steht da?“, fragte Kevin und beugte sich weiter zu seinem Bruder
herüber, um einen besseren Blick auf die Seite zu erlangen.
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Die Plantage
„Ich kann’s nur schwer lesen.“ Dean kniff seine Augen zusammen und hielt
das Buch weiter nach oben, bis das Sonnenlicht, das durch die Löcher in der Hütte
fiel, es aufhellte.
„Mein Name ist Anthony Isaac Leandré, und was folgt, ist meine Geschichte“,
las Dean.
„Geil!“, rief Kevin. „Ist das geil!“
„Pssssssssst!“ Dean hatte seinen Zeigefinger auf seine Lippen gepresst. „Sei
leise, du Idiot. Willst du, dass die Plantagen-Aufsicht uns hier findet?“
Kevin fuhr zusammen. „Nein“, sagte er. „Lies weiter!“
„Ich versuch’s.“
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„Es ist nicht nur meine Geschichte – hauptsächlich ist es die Geschichte der Oak
Alley Plantage und ihres schrecklichen Niedergangs, damals im Juli 1848. Drei Jahre
sind es nun her, seit Mr. und Mrs. Dellatour und fast alle ihrer Angestellten ums
Leben gekommen waren. Und es ist noch nicht vorbei.
Ich schreibe dies hier, weil ich weiß, dass er zurückkommen wird. Es ist nicht
mehr viel Zeit. Ich spüre, dass er schon auf dem Weg hierher ist, dass er näher ist,
als es mir lieb ist, und dass er kommen wird, um zu vollenden, was er damals vor
drei Jahren begonnen hat. Doch ich möchte von vorne beginnen und die Ereignisse
in der Reihenfolge schildern, in der sie sich zugetragen haben.“
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Dean blätterte die Seite um.
„Mann, das ist ja aufregend!“, sagte Kevin im Flüsterton.
„Die Schrift ist gar nicht so schwer zu entziffern, wie ich angenommen habe.
Nur das Papier ist etwas brüchig.“
„Komm schon, lies weiter!“
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Die Plantage
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„Ich kam 1840 auf die Oak Alley, nachdem man mich in New Orleans für einen
Spottpreis an den Höchstbietenden verkauft hatte. Ich war damals schon Mitte
Dreißig und brachte nicht mehr das ein, was ein fünfzehn oder zwanzigjähriger
Neger gebracht hätte. Mein Käufer aber schien zufrieden zu sein, und ich wurde mit
vier weiteren Sklaven von New Orleans mit dem Schaufelraddampfer zur Plantage
gebracht. Natchez, stand in großen, roten Buchstaben auf dem Rumpf des Schiffes.
Soweit ich weiß, fährt die Natchez auch heute noch zwischen New Orleans und
Memphis den Fluss auf und ab. Die Fahrt dauerte nur ein paar Stunden, aber ich
erinnere mich noch gut daran – es war die bisher einzige Mississippifahrt meines
Lebens.
Der Mann, der mich und die vier anderen Neger gekauft hatte, war Spanier. Er
hieß Fernando und schien ein äußerst höflicher Mensch zu sein. Er beschimpfte uns
nicht als Schwarze, wie die Marktschreier am French Market, sondern bezeichnete
uns als das, was wir waren – Neger.
Die Natchez legte in der Nähe von Vacherie an – von dort aus waren es nur
ein paar hundert Meter bis zur Oak Alley – dem Ort, an dem ich die folgenden
dreizehn Jahre verbringen würde – bis zum heutigen Tag habe ich die Plantage nicht
wieder verlassen.
Ich habe das Bild noch vor mir, als ich mit gefesselten Händen neben den
anderen Sklaven vor Senior Fernando den kleinen Hügel überquerte, und von dort
aus die Oak Alley in all ihrer Pracht zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Ein großes
Eisentor stellt den Eingang des Anwesens dar, dahinter folgt eine lange Reihe von
großen Eichen, die links und rechts zu einer Allee angeordnet sind und den Weg
zum Herrenhaus markieren. Am Ende des Weges steht das Haus – weiß, mit
mächtigen Säulen, die einen gewaltigen Balkon tragen. Das Gebäude schimmerte in
der Abendsonne und erschien mir in diesem Moment mehr als ein Schloss, als ein
Herrenhaus. Es war überwältigend.
Doch ich schreibe diese Zeilen hier nicht, um die Schönheit von Oak Alley
festzuhalten, sondern um einen Weg zu finden, diese traurige Geschichte in die Welt
hinaus zu tragen. Die Geschichte in all ihrer Wahrheit.
Ich hatte mich schnell eingelebt, und war verblüfft, wie man hier im Süden mit
uns Negern umging. Wir hatten unsere Arbeit zu verrichten, was meist bedeutete,
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Die Plantage
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang am Feld zu arbeiten. Doch wir wurden
nicht an unseren Leistungen gemessen, wie ich das mein Leben lang gewohnt war –
auf Oak Alley bekamen alle gleichviel zu Essen, egal, wie viel Zuckerrohre wir
geschnitten hatten. Auch unsere Unterkünfte waren in Ordnung – wir hatten ein Dach
über dem Kopf, das uns vor Hagel und Donnerschlag schützte, und nur sehr selten
wurde einer von uns krank. Hygiene war etwas, dass unsere Herren groß schrieben
– wir durften wir uns jeden Abend mit frischem Wasser reinigen.
Der höchste Herr und Besitzer von Oak Alley war Mr. Jacques Telesphor
Dellatour. Ihm bekam ich in den ersten Jahren sehr selten zu Gesicht. Ebenso seine
künftige Gemahlin, Ms. Celina Pilic, die 1843, drei Jahre nach meiner Ankunft, zu
Mrs. Celina Dellatour wurde. Auch sie sah ich anfangs besonders selten.
Mein Aufseher war Aguedo Rodriguez, ein Kreole, also ein spanischfranzösischer Mischling aus den Sümpfen. Er behandelte uns Neger hart, aber
gerecht, und ich hatte in all den Jahren Feldarbeit nie ein Problem mit ihm. Dann gab
es Herve Gaishlain, ein Franzose, der von 1841 bis 48 den Küchenchef mimte, und
zwei weitere Küchenangestellte. Senior Iago Fernando war Wirtschafter und
persönlicher Berater von Mr. Dellatour – er war es, der immer wieder nach New
Orleans reiste, um Ausschau nach neuen, billigen Sklaven zu halten.
Innerhalb des Hauses gab es noch mindestens fünf weitere Angestellte,
allesamt weiß, entweder Spanier oder Franzosen. Die Kreolen wurden hauptsächlich
als Feldaufseher eingesetzt, und waren selbst eher Sklaven als Angestellte.
Vier Jahre schuftete ich ausschließlich auf dem Feld und ab dem Winter 1844
zusätzlich im Herrenhaus, wobei ich jeden Donnerstagabend frei hatte. Ich half meist
dabei, kleinere Hausmeisterarbeiten zu erledigen, manchmal kehrte ich einfach nur
die Veranda, oder schlichtete Mr. Dellatours neue Bücher in seine wandhohen
Regale ein.
‚Kannst du lesen, Anthony?’, fragte er mich einmal, als er mich dabei ertappte,
wie ich ein Buch besonders lange anstarrte, bevor ich es ins Regal stellte.
‚Ja, Sir’, sagte ich. Ich hatte es vor Jahren für meine damalige Herrin lernen
müssen. Sie war alt und schwach, und als ihre Augen ihr das Sehen verwehrten,
schickte sie mich zum Leseunterricht, um ihr vorlesen zu können. Sie war eine harte,
oft gemeine Herrin, aber dass sie mich Lesen lernen ließ, danke ich ihr bis heute. Ich
könnte das hier nicht verfassen, wäre sie nicht gewesen.
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Die Plantage
‚Das ist gut Anthony, sehr gut. Hast du schon einmal eines davon gelesen?’,
fragte Mr. Dellatour und deutete auf die Bücher.
‚Nein, Sir, das habe ich leider nicht.’
‚Und würdest du gerne eines davon lesen?’
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kannte Mr. Dellatour erst ein paar Monate
– eben, seitdem ich im Haus arbeitete – und war mir über seine Güte und sein
Streben, selbst aus uns Sklaven bessere Leute zu machen, und unser Leben
ebenfalls lebenswerter zu gestalten, nicht bewusst. Meine ehemalige Herrin hatte mir
nicht einmal erlaubt, mit meinen schwarzen Händen das Buch anzugreifen, aus dem
ich ihr vorlas. Ich musste weiße Handschuhe tragen.
‚Ja, Sir, das würde ich liebend gerne.’
Dellatour lächelte. ‚Dann kannst du dir eines aussuchen. Ich erwarte es in
zwei Wochen zurück. Und ich erwarte mir eine Meinung darüber.’
Dann verließ er den Raum, und ließ mich mit etwa zweihundert Büchern
alleine.
Von nun an las ich zwei Bücher im Monat – meistens morgens, vor der Arbeit,
oder in der Pause zwischen der Feld- und der Hausarbeit. Ich war auf dem besten
Wege, ein gebildeter Neger zu werden.
Ein paar Monate später, im Frühjahr 1845, wurde mir die höchste Ehre erteilt,
die ein Sklave auf Oak Alley erfahren konnte: ich durfte mich während des
Abendessens im Speisesaal der Herren aufhalten. Dort betätigte ich eine Kurbel in
der Ecke des Raumes, die ein großes Tuch über dem Tisch hin und her bewegte,
das den Speisenden zur Kühlung dienen sollte. Dies war so ziemlich die beste Arbeit
auf der Plantage – es war weitaus angenehmer, im kühlen Speisesaal den
Gesprächen der hohen Herren zu lauschen, als auf dem Feld in der prallen Sonne
Zuckerrohre zu schneiden. Außerdem brachte es weitere Vorteile: durch die
jahrelange
Anwesenheit
im
Speisesaal
der
Herren
haben
sich
meine
Sprachkenntnisse deutlich verbessert. Manchmal wurde ich bereits von den anderen
Sklaven dumm angesehen, wenn ich während einer Unterhaltung auf Englisch
Ausdrücke gebrauchte, die keiner von ihnen verstand.
Durch die Tätigkeit im Speisesaal erfuhr ich 1848 auch erstmals von dem
Mann, der bald auf Oak Alley zu Besuch kommen sollte. Ich erinnere mich noch gut
an die Worte von Mrs. Dellatour: ‚Jacques, mein Liebster, du sprachst neulich von
einem Gast, der uns bald besuchen würde.’
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Die Plantage
Sie sagte es, während sie das zarte Fleisch mit ihrem Silberbesteck zerteilte.
Ich selbst saß in der Ecke und kurbelte. Normalerweise hatten die Sklaven mit dem
Rücken zu den speisenden Herren zu stehen, Mr. und Mrs. Dellatour aber legten
keinen Wert auf derart unsinnige Regeln, und so saß ich auf einem kleinen Schemel
und tat meine Arbeit.
‚Durchaus, Schatz, durchaus.’ Mr. Dellatour tupfte sich die Mundwinkel mit
seiner weißen Serviette ab. Er blickte kurz zu Senior Fernando, der neben ihm saß,
und wandte sich dann wieder seiner Frau zu.
‚Es ist weniger ein gebetener Gast als ein erduldeter. Iago hat mich nach
seiner Rückkehr aus Baton Rouge darüber informiert, dass der Staat Louisiana
dieses Jahr erstmals Kontrolleure auf die Plantagen schickt, um sie zu inspizieren.’
‚Inspizieren?’ Mrs. Dellatour kümmerte sich normalerweise weder um die
Plantage selbst, noch um irgendwelche wirtschaftlichen Dinge, und so tippe ich, dass
ihr Interesse geheuchelt war.
‚Mit inspizieren meine ich, dass Senior Santos, so heißt der gute Mann, sich
die Plantage hier genauestens ansehen wird. Er wird kontrollieren, ob die
Zuckerrohre in Ordnung sind, ob die Werkzeuge was taugen, ob die Unterkünfte der
Sklaven angemessen sind. Nicht zuletzt wird er prüfen, ob das im Vorjahr von uns
abgegebene Steuergeld in passender Relation zu den geernteten Rohren steht.’
Als ich am selben Abend auf meiner Pritsche in der Hütte lag, dachte ich
darüber nach, was ich gehört hatte: ein Staats-Inspektor aus der Hauptstadt würde
kommen, und er würde einige Tage bleiben, um sich unsere Arbeit anzusehen. Ich
hatte zwar keine Ahnung von Wirtschaft und noch weniger von gesetzlichen
Regelungen (für uns Neger existierte so etwas gar nicht), dachte aber, dass wir
Sklaven nichts zu befürchten hatten.
Und so ging das Leben weiter seinen langsamen, müden Gang unter der
heißen Julisonne des Südens. Bis zu jenem Tage, als Senior Santos aus Baton
Rouge auf Oak Alley eintraf.
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Es war ein unendlich heißer Nachmittag auf dem Zuckerfeld, was die Arbeit
erschwerte, da die Haut vom Schweiß schlüpfrig war, und das Messer einem leicht
aus der Hand gleiten konnte. Für mich war bereits um vier Uhr nachmittags Schluss
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Die Plantage
mit der Feldarbeit, da Mr. Dellatour den Sklaven zwei Stunden Pause zwischen Feldund Hausarbeit gewährte.
Diese beiden Stunden konnte ich nicht ganz so gestalten, wie ich das wollte,
da mindestens fünfundvierzig Minuten dafür draufgingen, mich zu reinigen, dann zum
Herrenhaus zu gehen und das Hausgewand anzuziehen, zumindest hatte ich aber
eine gute Stunde für mich selbst. In meiner Hütte waren zwölf Sklaven
untergebracht, und glücklicherweise war ich der einzige davon, der auch Hausarbeit
verrichten durfte. Marijo, mein Bettnachbar, hatte vor Jahren auch im Hause
gearbeitet, wurde dann aber wegen Schlamperei entlassen und wieder zur Feldarbeit
verdonnert.
Meist nutzte ich meine freie Stunde in der Hütte um zu lesen oder zu beten. Im
Hochsommer geschah es auch oft genug, dass ich vor Erschöpfung kurz einnickte.
Als ich an jenem Nachmittag vom Feld kam, wollte ich zuerst Naobi in ihrer
Hütte besuchen. Sie war schon seit vier Jahren eine der Haussklavinen der
Dellatours, wurde aber seit einigen Wochen von der Arbeit verschont – sie war im
vierten Monat schwanger. Der Vater war Haiduro, einer der fleißigsten Männer auf
der ganzen Plantage und einer der liebenswertesten Freunde, die ich besaß. Die
Dellatours befürworteten Beziehungen und Schwangerschaften innerhalb der
Sklaven, und ich wusste auch warum, dafür hatte ich bereits zuviel gelesen: Es hielt
die Männer ruhig, und bewahrte sie vor Aufständen und Meutereien. Man überlegte
es sich zweimal, einen todbringenden Aufstand zu starten, wenn man Frau und
Kinder zu verlieren hatte.
‚Hallo Naobi!’ sagte ich, als ich durch die Türe ihrer Hütte trat. Das Mädchen –
sie war erst zweiundzwanzig – lag auf ihrer Pritsche und nähte.
‚Anthony!’ Sie lächelte. ‚Es freut mich, dass du mich besuchst! Die Arbeit
heute schon beendet?’
‚Jawohl’, sagte ich. ‚Wie geht es dir?’
‚Ich kann nicht klagen.’ Naobi legte das Nähzeug beiseite und streichelte mit
beiden Händen über ihren großen Bauch. ‚Das Kleine ist schon sehr lebendig. Ich
kann es spüren!’
‚Liebe Grüße von Haiduro’, bestellte ich ihr. ‚Er sagt, es könnte heute etwas
länger dauern. Die Sonne steht hoch, und sie macht keine Anstalten, unter zu
gehen.’
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Die Plantage
‚Ja’, sagte sie. ‚Juli und August sind am schlimmsten. Aber ich bin ohnehin
nicht alleine.’
Wir unterhielten uns einige Minuten, und ich brachte ihr einen Krug frisches
Wasser vom Brunnen. Als ich ging, warf sie mir ein Lächeln zu. ‚Haiduro und ich –
wir werden das Kind nach dir taufen! Anthony. Oder Antonia. Je nachdem.’
‚Das freut mich, Naobi.’
Es war das letzte Mal, dass ich das Mädchen lächeln sah.
Ich hatte gerade meine Hütte erreicht, als die große Messingglocke zu läuten
begann, die hinter dem Herrenhaus im Garten stand, und durch ein Seil vom Balkon
des Hauses bedient werden konnte. Ihr Läuten konnte zweierlei bedeuten –
entweder es bedeutete Alarm, was am helllichten Nachmittag in all den Jahren noch
nie der Fall gewesen war, oder aber die Glocke hieß einen Besucher willkommen.
Ich hob meinen Kopf und blickte in Richtung der Allee. Da sich die
Sklavenhütten hinter dem Haus befanden, konnte ich nicht den ganzen Weg vom
Eisentor des Grundstückes bis zur Türe des Hauses einsehen, aber ich konnte
zwischen den Bäumen zumindest das Wichtigste mitverfolgen. Und tatsächlich –
obwohl mein Blick vom Schweiß getrübt war konnte ich die beiden weißen
Empfangsdamen erkennen, Clarice und Madonne, die seit mehreren Jahren Mr.
Dellatour dienten. In ihrer Mitte ging eine weitere Person, ein Mann. Er trug einen
weißen Anzug, Leinen, vermutete ich, und obwohl ich sein Gesicht auf diese Distanz
nicht erkennen konnte, strahlte der Mann eine gewisse Seriosität aus, eine Kälte, die
mich trotz der Julihitze erschaudern ließ – wahrscheinlich, dachte ich, weil ich
wusste, dass er ein Mann des Staates war, ein Kontrolleur. Heute weiß ich es
besser.
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirne, betrat die Holzhütte und legte
mich auf meine Pritsche. Über eine Stunde lag ich da, doch ich fand weder Schlaf
noch Ruhe. Obwohl ich keinen Grund dazu hatte, über den Gast meiner Herren
nachzudenken, konnten sich meine Gedanken nicht von dem Mann im weißen
Anzug lösen. Sein Anblick hatte tief in mir eine seltsame Unruhe ausgelöst.
Eine Unruhe, die mich seit diesem Tage beherrscht und bis heute nie wieder
losgelassen hat.
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Später an jenem Tag wartete ich in der Ecke des Speisesaales darauf, dass meine
Herren und ihr Gast zu Tische kamen. Ich konnte ihre Stimmen schon von draußen
vernehmen – sie standen auf der Veranda und tranken etwas Kühles, wahrscheinlich
weißen Rum. Die Zeit war vorangeschritten, und es konnte nicht mehr lange dauern,
bis die Speisen aus der kleinen Küche, die sich aus Sicherheitsgründen nicht im
Haus befand, herangetragen wurden.
‚Bitte sehr, Senior Santos’, sagte Mr. Dellatour von draußen, dann ging die
große Holztüre auf, und für einen kurzen Moment konnte ich dem ungebetenen Gast
direkt in die Augen sehen. Er hatte schwarzes Haar, und – wie für einen Spanier
üblich – eine dunkle, gelbliche Haut. Seine Augen waren dunkel, nein, sie waren
schwarz, tiefschwarz. Immer noch, oder schon wieder, trug er den hellweißen Anzug,
der einen morbiden Kontrast zu seinem restlichen Äußeren bildete.
‚Danke sehr’, sagte Senior Santos, und ich senkte meinen Blick. Es gilt als
unhöflich, als Sklave den Leuten in die Augen zu sehen.
Mr. Dellatour schritt neben Senior Santos her, ihnen folgten Iago Fernando
und Celina Dellatour.
‚Bitte, nehmen Sie Platz.’ Mr. Dellatour rückte selbst den Stuhl vom Tische
weg und bot ihn seinem Gast an. Er selbst setzte sich zusammen mit Senior
Fernando auf die gegenüberliegende Seite, und Celina Dellatour leistete Santos auf
dessen Tischseite Gesellschaft.
Ich selbst machte mich daran, die Kurbel zu bedienen. Wenig später tanzten
dann auch die restlichen Angestellten um den Tisch herum und bewirteten die
Herren und ihren Gast mit Eiswasser, Wein, Rum und den herrlichsten Speisen, an
die sich mein lädierter Verstand erinnern kann. Schildkrötensuppe war unter den
Gerichten, Rindersteaks, Krokodilfleisch, auf Eis servierter Kaviar und Seelachs,
dazu Weißbrot und Salate.
‚Wo gedenken Sie, Senior Santos, mit ihrer Arbeit zu beginnen?’, fragte Mrs.
Dellatour und führte ihre Gabel mit dem zarten Rinderfleisch zu ihrem Mund. Ihr
Ehemann und Senior Fernando lächelten. ‚Schätzchen“, sagte Dellatour, ‚Senior
Fernando wird selbstverständlich auf den Feldern beginnen.’
Und plötzlich veränderte sich das Essen.
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Zuerst dachte ich, ich wäre es gewesen, der zuviel weißen Rum getrunken
hatte, und nicht meine Herren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, was dort
im Brotkörbchen lag. Das war kein Weißbrot. Vielmehr sah es aus wie Vogelköpfe.
‚Nein, Sir’, sagte Santos trocken. ‚Durchaus nicht.’
Ich kniff meine Augen zusammen und schüttelte meinen Kopf, in der
Hoffnung, dass mir die lange Arbeit am Feld und die gleißende Sonne nicht wohl
bekommen waren und mir mein Verstand nur einen Streich gespielt hatte. Doch als
ich die Augen wieder öffnete, waren die Vogelköpfe nicht verschwunden – leere
Augenhöhlen starrten aus gefiederten, von den Rümpfen getrennten Häuptern aus
dem Brotkorb heraus.
Das Rindersteak, das ich Sekunden vorher noch auf dem Teller von Celina
Dellatour gesehen hatte, hatte sich in einen Haufen schwarzer, lebendiger Käfer
verwandelt, die kreuz und quer über den Tisch liefen. Der schwarze Kaviar in der
Eisschüssel schien sich ebenfalls zu bewegen – dann erkannte ich dass es gar keine
Fischeier waren, sondern kleine, schwarze Spinnen, die sich in der Schüssel
tummelten.
‚Meine Arbeit, werte Gastgeber, hat bereits begonnen, als ich zwischen den
prächtigen Eichen dort draußen durch das Eisentor schritt.’
Mrs. Dellatour spießte einen der Käfer auf ihrer Gabel auf, und Senior
Fernando trank aus seinem Weinglas einen Saft, der mich an dünnflüssigen Kot
erinnerte. Die braune Flüssigkeit rann ihm übers Kinn hinunter und befleckte die
Tischdecke. Er schien es nicht zu merken, und auch die anderen taten, als hätte
alles seine Richtigkeit.
‚Von diesem Zeitpunkt an, habe ich zu beobachten begonnen, und ich werde
erst wieder damit aufhören, wenn ich das Tor zum zweiten Mal passieren werde.’
Mr. Dellatour nickte, dann nahm er einen Löffel aus der Kaviarschüssel und
führte ihn zum Mund. Ich glaube, ich habe kurz aufgehört, die Kurbel zu bedienen,
als ich sah, wie er Dutzende der schwarzen Spinnen verschlang, und einige von
ihnen den Weg aus seinem Mund fanden und über seine Wangen in sein Haar
flohen.
Senior Santos griff in den Brotkorb und biss herzhaft in einen der angefaulten
Vogelköpfe. Das Geräusch der Schädelknochen, die zwischen Santos’ Zähnen
zermalmt wurden, verfolgt mich noch heute in meinen Träumen.
© 2005 Markus Böhme
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Die Plantage
Eine der Angestellten kam zum Tisch und schenkte weißen Rum nach. Nur,
dass es kein Rum war, sondern eine trübe, grünliche Flüssigkeit, die ich nicht zu
definieren wagte.
War ich denn völlig übergeschnappt? Es musste so sein, denn offenbar war
ich der einzige, der statt Rindersteaks Käfer, statt Wein Durchfall und statt Kaviar
lebendige Spinnen sah. Die Angestellte verzog keine Miene, als einer der riesigen
Käfer ihren Arm nach oben krabbelte. Ich kann heute nicht mehr genau sagen, was
mir damals durch den Kopf gegangen ist, aber ich vermutete, dass ich einen
Sonnenstich, oder ein grässliches Fieber eingefangen hatte. Ich wandte mein
Gesicht vom Tische ab und versuchte für den restlichen Abend die Wand
anzustarren, während ich weiterhin die Kurbel betätigte, um den Herrschaften eine
angenehme Abkühlung zu verschaffen.
Eine halbe Stunde später hatten sie fertig gespeist, und ich wagte einen
kurzen Blick auf den Tisch.
Keine Käfer zu sehen. In den hohen Gläsern befand sich roter Wein, in den
kleineren war weißer Rum. Das Brotkörbchen beherbergte Weißbrot, oder das, was
davon übrig war, und in der Eisschüssel befanden sich noch die Reste des Kaviars.
Ich atmete auf, und mir fielen mehrere Steine vom Herzen. Ich hatte mir wirklich alles
nur eingebildet.
Ich lächelte in mich hinein, froh darüber, dass ich doch nicht verrückt war und
kein tödliches Fieber hatte.
Die Herren und ihr Gast blieben noch über eine Stunde. Sie sprachen zuerst
über den Bundesstaat, über Baton Rouge und über Abraham Lincoln. Später, als sie
bereits alle vom Wein und vom weißen Rum benebelt waren, sprachen sie sogar in
meiner Anwesenheit laut und offen über die Sklavenaufstände, und über einen
möglichen Krieg zwischen den Yankees und ihnen.
Ich für meinen Teil verließ den Speisesaal gegen neun, wechselte mein
Gewand, nahm eine Kleinigkeit zu mir und legte mich danach schlafen.
Doch lange sollte der Schlaf nicht währen.
<Ende der Leseprobe>
© 2005 Markus Böhme
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