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1 „Mann“, sagte Kevin, „die Eichen hier sind riesig.“ Dean hielt die Hand an die Stirn, um seine Augen gegen das Sonnenlicht abzuschirmen. „Dabei sehen sie gar nicht aus wie Eichen – eher wie uralte Mammutbäume, wie die aus Jurassic Park.“ „Kevin, Dean! Kommt, wir sehen uns das Herrenhaus an!“ Die Stimme ihrer Mutter ließ die beiden Knaben kurz in die Richtung blicken, aus der sie kam, dann wandten sie dem großen weißen Haus mit den mächtigen Säulen wieder den Rücken zu. „Interessiert dich diese alte Hütte?“ fragte Kevin und ließ den Blick über die weite grüne Wiese schweifen, die sich vor unendlich weit auszudehnen schien. „Nicht die Bohne. Zeig mal her, was gibt’s denn hier noch so zu sehen?“ Mit diesen Worten riss Dean seinem jüngeren Bruder die Touristenkarte aus der Hand und klappte sie auf. „Mal seh’n“, sagte er und betrachtete das Blatt Papier, auf dem in großen, grünen Lettern „Oak Alley Plantage“ geschrieben war. „Wir befinden uns hier, beim Herrenhaus.“ Dean zeigte mit dem Finger auf das kleine ebenfalls grün eingezeichnete Haus, dann hob er seinen Kopf und blickte durch die großen, alten Eichen hindurch. „Dort drüben liegt der ehemalige Friedhof.“ „Wer ist dort begraben?“, fragte Kevin. Er war zwölf Jahre alt und nur zwei Jahre jünger als sein Bruder. Gerade am Anfang der Pubertät konnten aber zwei Jahre eine ganze Menge sein, und Dean rollte als Reaktion auf die Frage seines Bruders mit den Augen. „Mann, Kevin“, sagte er. „Was glaubst du denn, wer? Bestimmt nicht der Hausherr und seine Frau.“ „Die Sklaven?“ Kevin starrte in die Richtung, in die sein großer Bruder geblickt hatte, konnte aber nirgendwo Grabsteine oder Kreuze sehen. „Natürlich die Sklaven. Deshalb sind dort auch keine Grabsteine. Die wurden wahrscheinlich einfach unter die Erde gelegt und fertig.“ „Bäh“, sagte Kevin. „Das ist ja langweilig. Was gibt’s sonst noch?“ „Kevin, Dean!“ Ihre Mutter wurde langsam ungeduldig. Sie stand im Schatten des großen Hauses, wo eine Frau in blauem Kleid und mit einer seltsamen Frisur bereits angefangen hatte, Geschichten über das Haus und seine Entstehung vor 150 Jahren zu erzählen. „Kommt endlich, die Führung fängt bereits an!“ Die Plantage „Nee Mum, wir kommen nicht mit!“, rief Dean. „Wir bleiben an der Sonne und warten hier draußen auf euch!“ „Okay, aber stellt nichts an!“ „Mum!“, rief Kevin, „Du kannst uns trotzdem mit ins Gästebuch eintragen!“ Die Mutter nickte, dann drehte sie sich um und versank zusammen mit ihrer Schwester in der Welt des 19. Jahrhunderts. „Also“, sagte Dean und wandte sich wieder der Karte zu. „Es gibt einen Souvenirladen, ein Kaffeehaus, den Friedhof, die ehemaligen Zuckerfelder, das Küchengebäude, die Sklavenhütten, den Wasserbr…“ „Die Sklavenhütten?“ Kevin machte große Augen. „Du meinst die Räume, in denen die Sklaven gewohnt haben, als sie hier gearbeitet haben?“ „Na ja, gewohnt…sie haben zumindest dort drinnen geschlafen. Sehen wir’s uns einfach an!“ „Yeah!“ 2 Fünf Minuten später befanden sich Dean und Kevin Procter am östlichen Ende des riesigen Anwesens der Oak Alley Plantage. Sie hatten sich über den Touristenpfad von ihrer Mutter und ihrer Tante und dem schlossartigen alten Herrenhaus entfernt, waren am Souvenirladen vorbeigekommen und hatten das Kaffeehäuschen passiert. Nun standen sie am Ende des Fußweges, berührten mit ihren Händen die Absperrung und blickten über die Wiese auf die acht bis zehn kleinen, teilweise verfallenen Hütten. Sie waren komplett aus Holz erbaut und standen im Schatten der riesigen Eichen, die wie mächtige Götterstatuen empor ragten und alles andere klein und nichtig erscheinen ließen. „Dort haben sie also gewohnt!“, sagte Kevin. „Geschlafen, Kevin, geschlafen.“ Dean wandte den Blick nicht von den Hütten ab, während er zu seinem Bruder sprach. „Die haben tagsüber so schwer am Zuckerfeld geschuftet, dass sie abends nur noch hundemüde ins Bett fielen. Und dabei war die Arbeit vielleicht noch gar nicht getan – einige von ihnen mussten abends noch zusätzlich im Herrenhaus schuften.“ Kevin sah zu seinem Bruder auf, der gute zehn Zentimeter größer war als er. „Woher weißt du das alles, Dean?“ © 2005 Markus Böhme Seite 2 Die Plantage „Hab’ auf der Fahrt hierher den Führer gelesen. Solltest du auch mal tun, kleiner Stinker. Lesen kannst du ja bereits.“ „Ha ha.“ „Was meinst du, gehen wir ’rüber?“ „Wie ’rüber? Zu den Hütten?“ „Nein, zur Mama. Natürlich zu den Hütten.“ Dean warf einen Blick über die Schulter. Es war Mittag, vielleicht halb eins, und die meisten Touristen, die nicht gerade an einer Führung durchs Herrenhaus teilnahmen, befanden sich im Café und stopften irgendwelche Snacks in sich hinein. Außerdem zählte der Mai noch zur Vorsaison – die großen Massen an Touristen würden erst mit Anfang der Sommerferien hier her, an den südlichsten Zipfel des Mississippi kommen. „Kein Mensch zu sehen“, sagte Dean. „Komm!“ Mit diesen Worten schwang er ein Bein über die Absperrung, die aus nicht mehr als einem simplen Seil bestand, und befand sich einen Augeblick später bereits auf der anderen Seite. „Mach’ schon!“ Kevin stellte sich etwas ungeschickter an, schaffte es aber schließlich auch von dem gepflasterten Gehweg auf die weiche, grüne Wiese. Dann liefen sie beide über die Wiese, in die Arme der gewaltigen Eichen, direkt auf die alten Hütten der Sklaven zu. 3 Dean wagte es natürlich als erster – als älterer Bruder hatte man eine gewisse Verantwortung, ein gewisses Klischee, dem man gerecht werden musste, und somit einen Ruf zu verlieren. Innerlich zögernd, nach außen hin aber fest entschlossen betrat er eine der hinteren Hütten des kleinen Sklavendorfes. Das alte Holz knarrte unter dem Gewicht des Vierzehnjährigen. „Wie ist es?“ fragte Kevin ungeduldig von hinten. „Sag schon, siehst du was?“ „Es stinkt!“ Dean machte einen Schritt nach vorne, wobei der Boden krächzte, als wäre er hundert Jahre alt. Einen kurzen Augenblick später erinnerte Dean sich daran, dass die Hütten tatsächlich hundert und sogar noch mehr Jahre alt waren. „Es stinkt nach Lack. Die haben hier alles wasserfest lackiert, jede Wette!“ Dean drehte sich um. „Willst du nicht endlich ’reinkommen?“ Dann betrat auch Kevin die Hütte. © 2005 Markus Böhme Seite 3 Die Plantage Es war dunkler hier drin, wenn auch nicht komplett finster. Die Wände hatten faustgroße Löcher, und auch von den Dachschindeln fehlten einige, wodurch das Sonnenlicht die Hüttenluft zerschnitt wie Laserstrahlen. Die Hütte war größer als sie von außen ausgesehen hatte – dreißig Quadratmeter schätzte Kevin, verließ sich aber nicht darauf, dass er es richtig einschätzen konnte. Es war jedenfalls groß. Aus mehreren Brettern zusammengenagelte Gestelle befanden sich auf beiden Seiten der Hütten, dazwischen war so etwas wie ein Gang entstanden. „Das müssen die Betten gewesen sein“, sagte Dean. „Hier haben sie geschlafen.“ „Mann, wie viel Betten sind denn das?“, fragte Kevin und begann zu zählen, doch es war unmöglich zu sagen, da die meisten Bretter bereits fehlten und die Betten nur noch vereinzelt als solche zu erkennen waren. „Dort!“ Dean zeigte mit dem Finger in den hinteren Teil der Hütte. Kevin konnte nichts erkennen, doch Dean hatte sich bereits auf den Weg über die morschen Dielen in den hinteren Hüttenteil gemacht. „Komm mit!“ Die Nike-Schuhe der beiden Brüder hinterließen Abdrücke im Staub des Bodens und ließen das Holz unter sich knarren und knacksen. Kevin folgte Dean nach hinten, und nach etwa zehn Schritten war ihre Reise beendet. Jetzt konnte auch er sehen, was Dean nach hinten gelockt hatte – ein Kasten, eine Art Kommode, die an der hinteren Wand der Hütte angebracht war. „Hier haben die Sklaven wohl ihre Sachen verstaut!“, sagte Dean und langte nach einem Griff, der zu einer Art Schublade gehört. Der Griff fühlte sich warm an, und sehr morsch, dennoch zog Dean daran und war erstaunt, wie leicht sich die Schublade öffnen ließ. Die Kommode wackelte etwas hin und her, und Dean fragte sich, ob man von außen wohl sah, dass die ganze Hütte schwankte. „Und? Was ist darin?“ Kevin trat an Dean heran und sie blickten zusammen in die Schublade hinein: sie war leer. „Mensch ist das langweilig!“, sagte er und entfernte sich wieder von der Kommode. Dean schob die Lade wieder hinein. „Was hast du denn gedacht? Dass wir Schmuck von Sklaven finden?“ Er musste lachen. Dean vernahm ein lautes Knacksen, dann schrie sein Bruder auf: „Auuuuuuu!“ Blitzartig drehte er sich um. „Kevin!“ © 2005 Markus Böhme Seite 4 Die Plantage „Scheiße!“, sagte Kevin. „Ich bin eingebrochen!“ Er war mit seinem rechten Fuß wahrscheinlich auf ein extrem schwaches Holzstück getreten, das unter seinem Gewicht nachgegeben hatte. Jetzt steckte er bis zum Knöchel in dem kleinen Loch und stützte sich mit den Händen an den Bettgestellen links und rechts ab. „Pass auf!“, sagte Dean und kam ihm hinterher. „Nicht bewegen, sonst ziehst du dir nur einen Holzsplitter ein!“ „Hab ich schon, glaub’ ich.“ Kevin atmete laut aus. „Hilf mir da ’raus!“ „Schon dabei!“ Dean kniete sich hinter Kevin nieder und betrachtete das Loch. Er erinnerte sich daran, im Touristenführer gelesen zu haben, dass die Siedler hier im südlichen Mississippidelta ihre Hütten und Häuser auf Holzbänken errichten mussten, da der Untergrund weich war und großteils aus Schlamm und Sumpfland bestand. Deshalb hatten sogar die Sklaven hier doppelte Dielen gehabt. Der Turnschuh seines Bruders steckte nun unter der Diele, und das abgesplitterte Holz drohte sich bei jeder noch so kleinen Bewegung in den weißen Wollsocken zu bohren. Dean fasste in das Loch, umschloss das Ende des abgesplitterten Brettes mit seiner Faust und zog daran so fest er konnte. „Auuuuuuaaa!“, schrie Kevin, dann brach das morsche Holzstück gänzlich ab und Dean fiel nach hinten. „Pssssssssst!“, sagte er. „Sei leise, Mann! Du kannst deinen Fuß jetzt rausziehen.“ Kevin tat wie ihm geheißen, und mit einem vorsichtigen Ruck konnte er seinen Fuß befreien. Er drehte sich augenblicklich zu Dean um. „Danke, Dean! Du hast mich befreit!“ Aber Dean hörte ihn nicht. Er kniete vor dem Loch, das Kevins Schuh in den Boden gerissen hatte, und starrte in die Dunkelheit hinab. „Was…?“ fragte Kevin, dann ging auch er in die Knie und versuchte zu erkennen, was seinen Bruder dermaßen faszinierte. „Kevin…“ Dean kniff seine Augen zusammen und führte sein Gesicht noch weiter an das Loch heran. „Da unten ist etwas.“ © 2005 Markus Böhme Seite 5 Die Plantage 4 „Was zum Teufel ist das?“, fragte Kevin seinen großen Bruder, der am morschen Holzboden der alten Sklavenhütte kniete und ein kleines, hölzernes Ding in den Händen hielt. „Sieht aus wie eine Schatulle oder so was.“ Dean hielt das Ding an sein Ohr und schüttelte es. „Mach es auf!“ „Bin schon dabei“, sagte Dean und stellte das Ding, das zu groß für ein Schmuckkästchen, aber zu klein für eine Kiste war, vor sich auf den Boden. Es war aus schlichtem Holz, das heller war, als das der Dielen und der Hütte, und hatte keinerlei Verzierungen oder Schlösser. Es war mit einem simplen Verschluss versehen, der mit einer Fingerbewegung geöffnet werden konnte. Kevin stand auf und trat über das Loch im Boden zu seinem Bruder hinüber, während Dean das Kästchen öffnete. Geräuschlos löste sich der Deckel von der Schatulle, und zum Vorschein kam ein kleines viereckiges Ding, das Dean erst beim zweiten Hinsehen erkannte. „Das ist ein Buch“, sagt er und griff danach. Kevin sah staunend zu. Es war tatsächlich ein Buch. Der Einband bestand aus einem weichen, unförmigen Material. Baumrinde, war das erste Wort, das Kevin dazu einfiel. Dean strich mit der Hand darüber. In der kleinen Schatulle war es vor Staub geschützt gewesen, und anscheinend auch vor Feuchtigkeit, denn das Buch war trocken und spröde. „Der Einband zerfällt fast“, sagte Dean. „Mach es auf!“ Kevin blickte abwechselnd auf das Buch und auf seinen Bruder. Vorsichtig öffnete Dean den Einband. „Mann, das ist sicher hundert Jahre alt!“ Die erste Seite innerhalb des Einbands war bereits gänzlich voll geschrieben. Vollgekritzelt, besserte Dean seinen eigenen Gedanken aus. Die Schrift war mit einer dunklen Flüssigkeit geschrieben worden – vielleicht Tinte, vielleicht aber auch Sirup oder Harz, oder sogar Blut. Dean konnte es unmöglich sagen. „Was steht da?“, fragte Kevin und beugte sich weiter zu seinem Bruder herüber, um einen besseren Blick auf die Seite zu erlangen. © 2005 Markus Böhme Seite 6 Die Plantage „Ich kann’s nur schwer lesen.“ Dean kniff seine Augen zusammen und hielt das Buch weiter nach oben, bis das Sonnenlicht, das durch die Löcher in der Hütte fiel, es aufhellte. „Mein Name ist Anthony Isaac Leandré, und was folgt, ist meine Geschichte“, las Dean. „Geil!“, rief Kevin. „Ist das geil!“ „Pssssssssst!“ Dean hatte seinen Zeigefinger auf seine Lippen gepresst. „Sei leise, du Idiot. Willst du, dass die Plantagen-Aufsicht uns hier findet?“ Kevin fuhr zusammen. „Nein“, sagte er. „Lies weiter!“ „Ich versuch’s.“ 5 „Es ist nicht nur meine Geschichte – hauptsächlich ist es die Geschichte der Oak Alley Plantage und ihres schrecklichen Niedergangs, damals im Juli 1848. Drei Jahre sind es nun her, seit Mr. und Mrs. Dellatour und fast alle ihrer Angestellten ums Leben gekommen waren. Und es ist noch nicht vorbei. Ich schreibe dies hier, weil ich weiß, dass er zurückkommen wird. Es ist nicht mehr viel Zeit. Ich spüre, dass er schon auf dem Weg hierher ist, dass er näher ist, als es mir lieb ist, und dass er kommen wird, um zu vollenden, was er damals vor drei Jahren begonnen hat. Doch ich möchte von vorne beginnen und die Ereignisse in der Reihenfolge schildern, in der sie sich zugetragen haben.“ 6 Dean blätterte die Seite um. „Mann, das ist ja aufregend!“, sagte Kevin im Flüsterton. „Die Schrift ist gar nicht so schwer zu entziffern, wie ich angenommen habe. Nur das Papier ist etwas brüchig.“ „Komm schon, lies weiter!“ © 2005 Markus Böhme Seite 7 Die Plantage 7 „Ich kam 1840 auf die Oak Alley, nachdem man mich in New Orleans für einen Spottpreis an den Höchstbietenden verkauft hatte. Ich war damals schon Mitte Dreißig und brachte nicht mehr das ein, was ein fünfzehn oder zwanzigjähriger Neger gebracht hätte. Mein Käufer aber schien zufrieden zu sein, und ich wurde mit vier weiteren Sklaven von New Orleans mit dem Schaufelraddampfer zur Plantage gebracht. Natchez, stand in großen, roten Buchstaben auf dem Rumpf des Schiffes. Soweit ich weiß, fährt die Natchez auch heute noch zwischen New Orleans und Memphis den Fluss auf und ab. Die Fahrt dauerte nur ein paar Stunden, aber ich erinnere mich noch gut daran – es war die bisher einzige Mississippifahrt meines Lebens. Der Mann, der mich und die vier anderen Neger gekauft hatte, war Spanier. Er hieß Fernando und schien ein äußerst höflicher Mensch zu sein. Er beschimpfte uns nicht als Schwarze, wie die Marktschreier am French Market, sondern bezeichnete uns als das, was wir waren – Neger. Die Natchez legte in der Nähe von Vacherie an – von dort aus waren es nur ein paar hundert Meter bis zur Oak Alley – dem Ort, an dem ich die folgenden dreizehn Jahre verbringen würde – bis zum heutigen Tag habe ich die Plantage nicht wieder verlassen. Ich habe das Bild noch vor mir, als ich mit gefesselten Händen neben den anderen Sklaven vor Senior Fernando den kleinen Hügel überquerte, und von dort aus die Oak Alley in all ihrer Pracht zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Ein großes Eisentor stellt den Eingang des Anwesens dar, dahinter folgt eine lange Reihe von großen Eichen, die links und rechts zu einer Allee angeordnet sind und den Weg zum Herrenhaus markieren. Am Ende des Weges steht das Haus – weiß, mit mächtigen Säulen, die einen gewaltigen Balkon tragen. Das Gebäude schimmerte in der Abendsonne und erschien mir in diesem Moment mehr als ein Schloss, als ein Herrenhaus. Es war überwältigend. Doch ich schreibe diese Zeilen hier nicht, um die Schönheit von Oak Alley festzuhalten, sondern um einen Weg zu finden, diese traurige Geschichte in die Welt hinaus zu tragen. Die Geschichte in all ihrer Wahrheit. Ich hatte mich schnell eingelebt, und war verblüfft, wie man hier im Süden mit uns Negern umging. Wir hatten unsere Arbeit zu verrichten, was meist bedeutete, © 2005 Markus Böhme Seite 8 Die Plantage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang am Feld zu arbeiten. Doch wir wurden nicht an unseren Leistungen gemessen, wie ich das mein Leben lang gewohnt war – auf Oak Alley bekamen alle gleichviel zu Essen, egal, wie viel Zuckerrohre wir geschnitten hatten. Auch unsere Unterkünfte waren in Ordnung – wir hatten ein Dach über dem Kopf, das uns vor Hagel und Donnerschlag schützte, und nur sehr selten wurde einer von uns krank. Hygiene war etwas, dass unsere Herren groß schrieben – wir durften wir uns jeden Abend mit frischem Wasser reinigen. Der höchste Herr und Besitzer von Oak Alley war Mr. Jacques Telesphor Dellatour. Ihm bekam ich in den ersten Jahren sehr selten zu Gesicht. Ebenso seine künftige Gemahlin, Ms. Celina Pilic, die 1843, drei Jahre nach meiner Ankunft, zu Mrs. Celina Dellatour wurde. Auch sie sah ich anfangs besonders selten. Mein Aufseher war Aguedo Rodriguez, ein Kreole, also ein spanischfranzösischer Mischling aus den Sümpfen. Er behandelte uns Neger hart, aber gerecht, und ich hatte in all den Jahren Feldarbeit nie ein Problem mit ihm. Dann gab es Herve Gaishlain, ein Franzose, der von 1841 bis 48 den Küchenchef mimte, und zwei weitere Küchenangestellte. Senior Iago Fernando war Wirtschafter und persönlicher Berater von Mr. Dellatour – er war es, der immer wieder nach New Orleans reiste, um Ausschau nach neuen, billigen Sklaven zu halten. Innerhalb des Hauses gab es noch mindestens fünf weitere Angestellte, allesamt weiß, entweder Spanier oder Franzosen. Die Kreolen wurden hauptsächlich als Feldaufseher eingesetzt, und waren selbst eher Sklaven als Angestellte. Vier Jahre schuftete ich ausschließlich auf dem Feld und ab dem Winter 1844 zusätzlich im Herrenhaus, wobei ich jeden Donnerstagabend frei hatte. Ich half meist dabei, kleinere Hausmeisterarbeiten zu erledigen, manchmal kehrte ich einfach nur die Veranda, oder schlichtete Mr. Dellatours neue Bücher in seine wandhohen Regale ein. ‚Kannst du lesen, Anthony?’, fragte er mich einmal, als er mich dabei ertappte, wie ich ein Buch besonders lange anstarrte, bevor ich es ins Regal stellte. ‚Ja, Sir’, sagte ich. Ich hatte es vor Jahren für meine damalige Herrin lernen müssen. Sie war alt und schwach, und als ihre Augen ihr das Sehen verwehrten, schickte sie mich zum Leseunterricht, um ihr vorlesen zu können. Sie war eine harte, oft gemeine Herrin, aber dass sie mich Lesen lernen ließ, danke ich ihr bis heute. Ich könnte das hier nicht verfassen, wäre sie nicht gewesen. © 2005 Markus Böhme Seite 9 Die Plantage ‚Das ist gut Anthony, sehr gut. Hast du schon einmal eines davon gelesen?’, fragte Mr. Dellatour und deutete auf die Bücher. ‚Nein, Sir, das habe ich leider nicht.’ ‚Und würdest du gerne eines davon lesen?’ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kannte Mr. Dellatour erst ein paar Monate – eben, seitdem ich im Haus arbeitete – und war mir über seine Güte und sein Streben, selbst aus uns Sklaven bessere Leute zu machen, und unser Leben ebenfalls lebenswerter zu gestalten, nicht bewusst. Meine ehemalige Herrin hatte mir nicht einmal erlaubt, mit meinen schwarzen Händen das Buch anzugreifen, aus dem ich ihr vorlas. Ich musste weiße Handschuhe tragen. ‚Ja, Sir, das würde ich liebend gerne.’ Dellatour lächelte. ‚Dann kannst du dir eines aussuchen. Ich erwarte es in zwei Wochen zurück. Und ich erwarte mir eine Meinung darüber.’ Dann verließ er den Raum, und ließ mich mit etwa zweihundert Büchern alleine. Von nun an las ich zwei Bücher im Monat – meistens morgens, vor der Arbeit, oder in der Pause zwischen der Feld- und der Hausarbeit. Ich war auf dem besten Wege, ein gebildeter Neger zu werden. Ein paar Monate später, im Frühjahr 1845, wurde mir die höchste Ehre erteilt, die ein Sklave auf Oak Alley erfahren konnte: ich durfte mich während des Abendessens im Speisesaal der Herren aufhalten. Dort betätigte ich eine Kurbel in der Ecke des Raumes, die ein großes Tuch über dem Tisch hin und her bewegte, das den Speisenden zur Kühlung dienen sollte. Dies war so ziemlich die beste Arbeit auf der Plantage – es war weitaus angenehmer, im kühlen Speisesaal den Gesprächen der hohen Herren zu lauschen, als auf dem Feld in der prallen Sonne Zuckerrohre zu schneiden. Außerdem brachte es weitere Vorteile: durch die jahrelange Anwesenheit im Speisesaal der Herren haben sich meine Sprachkenntnisse deutlich verbessert. Manchmal wurde ich bereits von den anderen Sklaven dumm angesehen, wenn ich während einer Unterhaltung auf Englisch Ausdrücke gebrauchte, die keiner von ihnen verstand. Durch die Tätigkeit im Speisesaal erfuhr ich 1848 auch erstmals von dem Mann, der bald auf Oak Alley zu Besuch kommen sollte. Ich erinnere mich noch gut an die Worte von Mrs. Dellatour: ‚Jacques, mein Liebster, du sprachst neulich von einem Gast, der uns bald besuchen würde.’ © 2005 Markus Böhme Seite 10 Die Plantage Sie sagte es, während sie das zarte Fleisch mit ihrem Silberbesteck zerteilte. Ich selbst saß in der Ecke und kurbelte. Normalerweise hatten die Sklaven mit dem Rücken zu den speisenden Herren zu stehen, Mr. und Mrs. Dellatour aber legten keinen Wert auf derart unsinnige Regeln, und so saß ich auf einem kleinen Schemel und tat meine Arbeit. ‚Durchaus, Schatz, durchaus.’ Mr. Dellatour tupfte sich die Mundwinkel mit seiner weißen Serviette ab. Er blickte kurz zu Senior Fernando, der neben ihm saß, und wandte sich dann wieder seiner Frau zu. ‚Es ist weniger ein gebetener Gast als ein erduldeter. Iago hat mich nach seiner Rückkehr aus Baton Rouge darüber informiert, dass der Staat Louisiana dieses Jahr erstmals Kontrolleure auf die Plantagen schickt, um sie zu inspizieren.’ ‚Inspizieren?’ Mrs. Dellatour kümmerte sich normalerweise weder um die Plantage selbst, noch um irgendwelche wirtschaftlichen Dinge, und so tippe ich, dass ihr Interesse geheuchelt war. ‚Mit inspizieren meine ich, dass Senior Santos, so heißt der gute Mann, sich die Plantage hier genauestens ansehen wird. Er wird kontrollieren, ob die Zuckerrohre in Ordnung sind, ob die Werkzeuge was taugen, ob die Unterkünfte der Sklaven angemessen sind. Nicht zuletzt wird er prüfen, ob das im Vorjahr von uns abgegebene Steuergeld in passender Relation zu den geernteten Rohren steht.’ Als ich am selben Abend auf meiner Pritsche in der Hütte lag, dachte ich darüber nach, was ich gehört hatte: ein Staats-Inspektor aus der Hauptstadt würde kommen, und er würde einige Tage bleiben, um sich unsere Arbeit anzusehen. Ich hatte zwar keine Ahnung von Wirtschaft und noch weniger von gesetzlichen Regelungen (für uns Neger existierte so etwas gar nicht), dachte aber, dass wir Sklaven nichts zu befürchten hatten. Und so ging das Leben weiter seinen langsamen, müden Gang unter der heißen Julisonne des Südens. Bis zu jenem Tage, als Senior Santos aus Baton Rouge auf Oak Alley eintraf. 8 Es war ein unendlich heißer Nachmittag auf dem Zuckerfeld, was die Arbeit erschwerte, da die Haut vom Schweiß schlüpfrig war, und das Messer einem leicht aus der Hand gleiten konnte. Für mich war bereits um vier Uhr nachmittags Schluss © 2005 Markus Böhme Seite 11 Die Plantage mit der Feldarbeit, da Mr. Dellatour den Sklaven zwei Stunden Pause zwischen Feldund Hausarbeit gewährte. Diese beiden Stunden konnte ich nicht ganz so gestalten, wie ich das wollte, da mindestens fünfundvierzig Minuten dafür draufgingen, mich zu reinigen, dann zum Herrenhaus zu gehen und das Hausgewand anzuziehen, zumindest hatte ich aber eine gute Stunde für mich selbst. In meiner Hütte waren zwölf Sklaven untergebracht, und glücklicherweise war ich der einzige davon, der auch Hausarbeit verrichten durfte. Marijo, mein Bettnachbar, hatte vor Jahren auch im Hause gearbeitet, wurde dann aber wegen Schlamperei entlassen und wieder zur Feldarbeit verdonnert. Meist nutzte ich meine freie Stunde in der Hütte um zu lesen oder zu beten. Im Hochsommer geschah es auch oft genug, dass ich vor Erschöpfung kurz einnickte. Als ich an jenem Nachmittag vom Feld kam, wollte ich zuerst Naobi in ihrer Hütte besuchen. Sie war schon seit vier Jahren eine der Haussklavinen der Dellatours, wurde aber seit einigen Wochen von der Arbeit verschont – sie war im vierten Monat schwanger. Der Vater war Haiduro, einer der fleißigsten Männer auf der ganzen Plantage und einer der liebenswertesten Freunde, die ich besaß. Die Dellatours befürworteten Beziehungen und Schwangerschaften innerhalb der Sklaven, und ich wusste auch warum, dafür hatte ich bereits zuviel gelesen: Es hielt die Männer ruhig, und bewahrte sie vor Aufständen und Meutereien. Man überlegte es sich zweimal, einen todbringenden Aufstand zu starten, wenn man Frau und Kinder zu verlieren hatte. ‚Hallo Naobi!’ sagte ich, als ich durch die Türe ihrer Hütte trat. Das Mädchen – sie war erst zweiundzwanzig – lag auf ihrer Pritsche und nähte. ‚Anthony!’ Sie lächelte. ‚Es freut mich, dass du mich besuchst! Die Arbeit heute schon beendet?’ ‚Jawohl’, sagte ich. ‚Wie geht es dir?’ ‚Ich kann nicht klagen.’ Naobi legte das Nähzeug beiseite und streichelte mit beiden Händen über ihren großen Bauch. ‚Das Kleine ist schon sehr lebendig. Ich kann es spüren!’ ‚Liebe Grüße von Haiduro’, bestellte ich ihr. ‚Er sagt, es könnte heute etwas länger dauern. Die Sonne steht hoch, und sie macht keine Anstalten, unter zu gehen.’ © 2005 Markus Böhme Seite 12 Die Plantage ‚Ja’, sagte sie. ‚Juli und August sind am schlimmsten. Aber ich bin ohnehin nicht alleine.’ Wir unterhielten uns einige Minuten, und ich brachte ihr einen Krug frisches Wasser vom Brunnen. Als ich ging, warf sie mir ein Lächeln zu. ‚Haiduro und ich – wir werden das Kind nach dir taufen! Anthony. Oder Antonia. Je nachdem.’ ‚Das freut mich, Naobi.’ Es war das letzte Mal, dass ich das Mädchen lächeln sah. Ich hatte gerade meine Hütte erreicht, als die große Messingglocke zu läuten begann, die hinter dem Herrenhaus im Garten stand, und durch ein Seil vom Balkon des Hauses bedient werden konnte. Ihr Läuten konnte zweierlei bedeuten – entweder es bedeutete Alarm, was am helllichten Nachmittag in all den Jahren noch nie der Fall gewesen war, oder aber die Glocke hieß einen Besucher willkommen. Ich hob meinen Kopf und blickte in Richtung der Allee. Da sich die Sklavenhütten hinter dem Haus befanden, konnte ich nicht den ganzen Weg vom Eisentor des Grundstückes bis zur Türe des Hauses einsehen, aber ich konnte zwischen den Bäumen zumindest das Wichtigste mitverfolgen. Und tatsächlich – obwohl mein Blick vom Schweiß getrübt war konnte ich die beiden weißen Empfangsdamen erkennen, Clarice und Madonne, die seit mehreren Jahren Mr. Dellatour dienten. In ihrer Mitte ging eine weitere Person, ein Mann. Er trug einen weißen Anzug, Leinen, vermutete ich, und obwohl ich sein Gesicht auf diese Distanz nicht erkennen konnte, strahlte der Mann eine gewisse Seriosität aus, eine Kälte, die mich trotz der Julihitze erschaudern ließ – wahrscheinlich, dachte ich, weil ich wusste, dass er ein Mann des Staates war, ein Kontrolleur. Heute weiß ich es besser. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirne, betrat die Holzhütte und legte mich auf meine Pritsche. Über eine Stunde lag ich da, doch ich fand weder Schlaf noch Ruhe. Obwohl ich keinen Grund dazu hatte, über den Gast meiner Herren nachzudenken, konnten sich meine Gedanken nicht von dem Mann im weißen Anzug lösen. Sein Anblick hatte tief in mir eine seltsame Unruhe ausgelöst. Eine Unruhe, die mich seit diesem Tage beherrscht und bis heute nie wieder losgelassen hat. © 2005 Markus Böhme Seite 13 Die Plantage 9 Später an jenem Tag wartete ich in der Ecke des Speisesaales darauf, dass meine Herren und ihr Gast zu Tische kamen. Ich konnte ihre Stimmen schon von draußen vernehmen – sie standen auf der Veranda und tranken etwas Kühles, wahrscheinlich weißen Rum. Die Zeit war vorangeschritten, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Speisen aus der kleinen Küche, die sich aus Sicherheitsgründen nicht im Haus befand, herangetragen wurden. ‚Bitte sehr, Senior Santos’, sagte Mr. Dellatour von draußen, dann ging die große Holztüre auf, und für einen kurzen Moment konnte ich dem ungebetenen Gast direkt in die Augen sehen. Er hatte schwarzes Haar, und – wie für einen Spanier üblich – eine dunkle, gelbliche Haut. Seine Augen waren dunkel, nein, sie waren schwarz, tiefschwarz. Immer noch, oder schon wieder, trug er den hellweißen Anzug, der einen morbiden Kontrast zu seinem restlichen Äußeren bildete. ‚Danke sehr’, sagte Senior Santos, und ich senkte meinen Blick. Es gilt als unhöflich, als Sklave den Leuten in die Augen zu sehen. Mr. Dellatour schritt neben Senior Santos her, ihnen folgten Iago Fernando und Celina Dellatour. ‚Bitte, nehmen Sie Platz.’ Mr. Dellatour rückte selbst den Stuhl vom Tische weg und bot ihn seinem Gast an. Er selbst setzte sich zusammen mit Senior Fernando auf die gegenüberliegende Seite, und Celina Dellatour leistete Santos auf dessen Tischseite Gesellschaft. Ich selbst machte mich daran, die Kurbel zu bedienen. Wenig später tanzten dann auch die restlichen Angestellten um den Tisch herum und bewirteten die Herren und ihren Gast mit Eiswasser, Wein, Rum und den herrlichsten Speisen, an die sich mein lädierter Verstand erinnern kann. Schildkrötensuppe war unter den Gerichten, Rindersteaks, Krokodilfleisch, auf Eis servierter Kaviar und Seelachs, dazu Weißbrot und Salate. ‚Wo gedenken Sie, Senior Santos, mit ihrer Arbeit zu beginnen?’, fragte Mrs. Dellatour und führte ihre Gabel mit dem zarten Rinderfleisch zu ihrem Mund. Ihr Ehemann und Senior Fernando lächelten. ‚Schätzchen“, sagte Dellatour, ‚Senior Fernando wird selbstverständlich auf den Feldern beginnen.’ Und plötzlich veränderte sich das Essen. © 2005 Markus Böhme Seite 14 Die Plantage Zuerst dachte ich, ich wäre es gewesen, der zuviel weißen Rum getrunken hatte, und nicht meine Herren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sah, was dort im Brotkörbchen lag. Das war kein Weißbrot. Vielmehr sah es aus wie Vogelköpfe. ‚Nein, Sir’, sagte Santos trocken. ‚Durchaus nicht.’ Ich kniff meine Augen zusammen und schüttelte meinen Kopf, in der Hoffnung, dass mir die lange Arbeit am Feld und die gleißende Sonne nicht wohl bekommen waren und mir mein Verstand nur einen Streich gespielt hatte. Doch als ich die Augen wieder öffnete, waren die Vogelköpfe nicht verschwunden – leere Augenhöhlen starrten aus gefiederten, von den Rümpfen getrennten Häuptern aus dem Brotkorb heraus. Das Rindersteak, das ich Sekunden vorher noch auf dem Teller von Celina Dellatour gesehen hatte, hatte sich in einen Haufen schwarzer, lebendiger Käfer verwandelt, die kreuz und quer über den Tisch liefen. Der schwarze Kaviar in der Eisschüssel schien sich ebenfalls zu bewegen – dann erkannte ich dass es gar keine Fischeier waren, sondern kleine, schwarze Spinnen, die sich in der Schüssel tummelten. ‚Meine Arbeit, werte Gastgeber, hat bereits begonnen, als ich zwischen den prächtigen Eichen dort draußen durch das Eisentor schritt.’ Mrs. Dellatour spießte einen der Käfer auf ihrer Gabel auf, und Senior Fernando trank aus seinem Weinglas einen Saft, der mich an dünnflüssigen Kot erinnerte. Die braune Flüssigkeit rann ihm übers Kinn hinunter und befleckte die Tischdecke. Er schien es nicht zu merken, und auch die anderen taten, als hätte alles seine Richtigkeit. ‚Von diesem Zeitpunkt an, habe ich zu beobachten begonnen, und ich werde erst wieder damit aufhören, wenn ich das Tor zum zweiten Mal passieren werde.’ Mr. Dellatour nickte, dann nahm er einen Löffel aus der Kaviarschüssel und führte ihn zum Mund. Ich glaube, ich habe kurz aufgehört, die Kurbel zu bedienen, als ich sah, wie er Dutzende der schwarzen Spinnen verschlang, und einige von ihnen den Weg aus seinem Mund fanden und über seine Wangen in sein Haar flohen. Senior Santos griff in den Brotkorb und biss herzhaft in einen der angefaulten Vogelköpfe. Das Geräusch der Schädelknochen, die zwischen Santos’ Zähnen zermalmt wurden, verfolgt mich noch heute in meinen Träumen. © 2005 Markus Böhme Seite 15 Die Plantage Eine der Angestellten kam zum Tisch und schenkte weißen Rum nach. Nur, dass es kein Rum war, sondern eine trübe, grünliche Flüssigkeit, die ich nicht zu definieren wagte. War ich denn völlig übergeschnappt? Es musste so sein, denn offenbar war ich der einzige, der statt Rindersteaks Käfer, statt Wein Durchfall und statt Kaviar lebendige Spinnen sah. Die Angestellte verzog keine Miene, als einer der riesigen Käfer ihren Arm nach oben krabbelte. Ich kann heute nicht mehr genau sagen, was mir damals durch den Kopf gegangen ist, aber ich vermutete, dass ich einen Sonnenstich, oder ein grässliches Fieber eingefangen hatte. Ich wandte mein Gesicht vom Tische ab und versuchte für den restlichen Abend die Wand anzustarren, während ich weiterhin die Kurbel betätigte, um den Herrschaften eine angenehme Abkühlung zu verschaffen. Eine halbe Stunde später hatten sie fertig gespeist, und ich wagte einen kurzen Blick auf den Tisch. Keine Käfer zu sehen. In den hohen Gläsern befand sich roter Wein, in den kleineren war weißer Rum. Das Brotkörbchen beherbergte Weißbrot, oder das, was davon übrig war, und in der Eisschüssel befanden sich noch die Reste des Kaviars. Ich atmete auf, und mir fielen mehrere Steine vom Herzen. Ich hatte mir wirklich alles nur eingebildet. Ich lächelte in mich hinein, froh darüber, dass ich doch nicht verrückt war und kein tödliches Fieber hatte. Die Herren und ihr Gast blieben noch über eine Stunde. Sie sprachen zuerst über den Bundesstaat, über Baton Rouge und über Abraham Lincoln. Später, als sie bereits alle vom Wein und vom weißen Rum benebelt waren, sprachen sie sogar in meiner Anwesenheit laut und offen über die Sklavenaufstände, und über einen möglichen Krieg zwischen den Yankees und ihnen. Ich für meinen Teil verließ den Speisesaal gegen neun, wechselte mein Gewand, nahm eine Kleinigkeit zu mir und legte mich danach schlafen. Doch lange sollte der Schlaf nicht währen. <Ende der Leseprobe> © 2005 Markus Böhme Seite 16