Evelyne Höhme-Serke - inklusive menschenrechte.

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Evelyne Höhme-Serke - inklusive menschenrechte.
Betrifft Kinder 10-11/05
Vom Pappmonster zur Sprachförderung
Hortkinder, Eltern, Erzieherinnen und dazwischen ein Monster:
Im Kita-Garten wird mit einem Fest ein erwachsenengroßes Pappmonster feierlich zum Spielen freigegeben. Monatelang haben die
Hortkinder an diesem Monster gebaut.
Ein kunstpädagogisches Projekt?
Das auch, sagen die Mitarbeiterinnen der Kita Arche Noah in Eberswalde. Aber vor allem ist das Monster das Ergebnis eines
Sprachprojekts: Ziel war es, im sozialen Brennpunkt die sprachliche Ausdrucksfähigkeit der Kinder zu fördern. Wie fördert man mit
Pappfigurenbau Sprache? Und was hat das alles mit Demokratie zu tun?
Evelyne Höhme-Serke stellt ein ungewöhnliches Praxisprojekt zur Sprachförderung /1/ vor.
Z1 Kinder mit Sprachproblemen? Kita mit Sprachproblemen!
Viele Kinder der Eberswalder Kita „Arche Noah“ sprechen wortkarg und einsilbig, weisen Sprachförderbedarf auf: Diesen Eindruck
hatten die Mitarbeiterinnen des Hortes schon länger. Als sie zu Beginn des Sprachprojektes, unterstützt durch zwei
Praxisbegleiterinnen, das Sprachverhalten der Kinder systematisch untersuchten, bestätigte sich ihre Alltagswahrnehmung schnell.
Aufschlussreicher jedoch war die Erkenntnis, dass Sprechen im Alltag der Einrichtung auch gar keine große Rolle zu spielen schien: Die
Hortkinder bevorzugten Aktivitäten, bei denen sie wenig kommunizieren mussten. Sie spielten zum Beispiel gern Spiele allein. Vor
allem aber beobachteten die Praxisbegleiterinnen, dass die Erzieherinnen selbst den Kindern wenig Raum zur sprachlichen Entfaltung
gaben. Ihre Kommunikation mit den Kindern war eher einseitig, sie beschränkte sich zum großen Teil auf Anordnungen: Seid mal
bitte leise! Immer wieder am Nachmittag, etwa beim Essen oder beim Hausaufgaben machen, wurden die Kinder angehalten, nicht
zu viel und nicht zu laut zu sprechen.
Den Erzieherinnen wurde schnell bewusst: Nur wenn wir unser eigenes Sprachverhalten ändern, können wir eine offene und
anregende Gestaltung der sprachlichen Atmosphäre in der Kita erreichen.
Z1 Etwas zu sagen haben
Wer nicht gut sprechen kann, hat nichts zu sagen: Mit unserem Projekt zur Förderung der Sprachkompetenz wollten wir gleichzeitig
Erfahrungen von gelebter Demokratie vermitteln. Wir gehen davon aus, dass Kinder demokratisches Verhalten lernen, indem sie
erleben: Meine Gefühle und meine Meinungen sind wichtig. Ich werde beachtet und geachtet. Ich habe Rechte. Ich gehöre dazu. Ich
habe Einfluss auf das, was um mich herum geschieht. Kinder lernen am besten sprechen, wenn sie etwas zu sagen haben. Und so
versteht es sich von selbst, dass wir uns ausdrücklich gegen ein formales Sprachtraining aussprechen.
Unsere Intention ist es, durch neue und vielfältige Formen des Miteinander-Arbeitens Sprachanlässe zu schaffen, die den Kindern
Wege aus ihrer Spracharmut öffnen. Der Ansatz ist: Sprachliche Kompetenz entwickelt sich in Alltagssituationen, in denen
miteinander gesprochen wird. Wenn Kinder in gemeinschaftliche Aktivitäten eingebunden sind, die für sie von hohem Interesse sind,
ist ihre Motivation zu sprechen, hoch. Ansatzpunkt für Sprachförderung muss also die Lebenswirklichkeit der Kinder sein: Ihre
Interessen und Bedürfnisse sollen in den Aktivitäten, die wir fördern, großen Raum haben. Sie müssen etwas tun können, was ihnen
wichtig ist.
Z1Kinderbedürfnisse versus Erwachsenen-Geschmack?
Was ist unseren Hortkindern gerade wichtig? Unsere Beobachtungen und Gespräche mit den Kindern bestätigten, was die
Erzieherinnen längst wussten, aber ungern akzeptierten: Fast ihre ganze freie Zeit verbrachten die Kinder damit, leidenschaftlich mit
„Yu-Gi-Oh!“-Karten zu spielen. (Für Ahnungslose: Es handelt sich hierbei um ein strategisches Spiel mit Karten, mit dem
Monsterduelle ausgetragen werden.) Den Erzieherinnen waren das Spiel und dessen Spielregeln ziemlich fremd. Bisher hatten sie eher
versucht, die Kinder von allzu viel „Yu-Gi-Oh!“-Spiel abzuhalten: Zuviel Gewalt und Kampf! Zu kommerziell! Pädagogisch wertlos!
Die Bedürfnisse von Kindern konsequent in den Mittelpunkt zu stellen, heißt auch, eigene Bewertungsmaßstäbe zurückzustellen. Die
Erzieherinnen beschlossen, sich der Yu-Gi-Oh!-Frage aktiv zu stellen: Wie funktioniert das Spiel? Was fasziniert die Kinder daran?
Überrascht waren die Erwachsenen vor allem von der intellektuellen Leistung, die dieses Spiel erforderte. Die große Faszination der
Kinder, das zeigte sich im Gespräch, ging von den fantastischen Figuren aus. Und schnell entstand die Idee: Wollen wir gemeinsam
ein solches Phantasiemonster bauen? Die Hortkinder fanden die Idee gut und waren einverstanden.
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Betrifft Kinder 10-11/05
Z1 Macher haben viel zu besprechen
Wer ist „Macher“ beim Projekt, wer ist „Unterstützer“? Gerade bei größeren Bauprojekten überkommt Erwachsene nicht selten der
Feuereifer, das Heft des Handeln in die Hand zu nehmen und dabei die Kinder unversehens in die Rolle des Helfers zu drängen: Malt
das mal an! Den Erzieherinnen der Arche Noah war es deshalb von Anfang an wichtig, sich aus allen Planungs- und Bauphasen so
weit wie irgendwie möglich herauszuhalten.
Das war eine neue Lernerfahrung: In den Kinderbesprechungen nicht den eigenen Senf dazugeben, sondern sich auf die Rolle der
Moderatorin zu beschränken: Kommen alle Kinder zu Wort? Praktisch bedeutet das vor allem: Zurückhaltung üben, sich selbst
bremsen, warten können. Es war ausschlaggebend für den Erfolg des Projekts, den Kindern ausreichend Zeit und Raum zu geben, ihre
Ideen selbst zu entwickeln, sie zu vertreten und sich auf Vorschläge zu einigen.
Zurückhaltung alleine genügte nicht: Die Kinder waren es stellenweise einfach nicht gewohnt, ihre Erfahrung, Wünsche und
Phantasien in die Planung einfließen zu lassen und reagierten verunsichert. Wichtig war es also, den Kindern Struktur zu geben, in
deren Rahmen ihre Ideenbildung vorangetrieben wurde. So schlugen die Erzieherinnen den Kindern vor, ihre Modelle für das Monster
aufzumalen. Zuerst versuchten diese die Figuren der Spielkarten direkt zu imitieren. Deshalb beschlossen die Erzieherinnen in einem
zweiten Schritt, den Kindern anzubieten, ein Modell aus Knete zu formen. Das plastische Gestalten mit einem anderen Material half
den Hortkindern, sich von den vorgegebenen Figuren zu lösen. Dabei kam es darauf an, ihnen alle künstlerischen Freiheiten zu lassen
und auf Kommentare und Bewertungen zu verzichten.
Schreib doch auf, wie du dir das vorstellst! Zum Planungsprozess gehörte, die Vorschläge der Kinder auf Plakatbahnen und auf Karten
zu visualisieren. Auch hier galt: Nicht die Erzieherinnen, sondern die Kinder nehmen diese Aufgabe in die Hand! Dabei wurde
ausdrücklich die Rechtschreibung nicht korrigiert, um die Kinder nicht zu entmutigen in ihrem Eifer, die Sache voran zu bringen,
Probleme zu lösen und Vorschläge auszuhandeln.
Z1 Planen und Bauen als Sprachanlass
Berichten, erklären, fragen: In einem Großprojekt wie unserem ergeben sich unterschiedlichste Sprachanlässe fast zwangsläufig. Zum
Beispiel beim Beschaffen von wichtigen Materialien und Werkzeugen: Holzleisten, Farben, Nägel und Schrauben mussten die Kinder
einkaufen, Kartons in der Nachbarschaft zusammen sammeln. Dazu holten sie selbstständig in Telefongesprächen vom Baumarkt
Informationen ein. Für die Kostenübernahme der Materialien mussten sie mit dem Projektbüro in Kontakt treten, was für sie
bedeutete, auf den Anrufbeantworter einen sinnvollen Text zu sprechen, was immerhin zwei Anläufe erforderte.
Die notwendigen Werkzeuge trug ein Junge aus dem Verwandtenkreis zusammen. Dazu musste er der Familie von den Aktivitäten
erzählen und sie von der Herausgabe der Werkzeuge überzeugen. Beim Bauen der Figur arbeiteten die Kinder immer wieder neue
Ideen ein, auf die sie sich in der Gruppe einigen mussten. Es gab viele unterschiedliche Anlässe, bei denen die Kinder ihre sprachlichen
Kompetenzen erproben und erweitern konnten.
Auch beim Bau selbst: Wer ist dran mit Arbeiten? Im Monster-Bau-Raum konnte nur eine begrenzte Zahl von Kindern in dem Raum
gleichzeitig arbeiten. Die Auswahl des Verfahrens für eine Lösung war ein langwieriger Abstimmungsprozess unter den Kindern. Das
Ergebnis war für die Erwachsenen überraschend einfach: Abgestimmt wurde nach dem Spiel „Papier-Stein-Schere“ und von den
Kindern strikt eingehalten.
Oft fragten die Kinder die Erwachsenen, wie es weitergehen solle: Welche Seiten darf ich bemalen? Dürfen wir zu zweit arbeiten? Die
Orientierung an die Erwachsenen zeigte uns, dass die Kinder im Alltag bisher wenige Erfahrungen damit gemacht hatten, eigene
Entscheidungen zu treffen. Ein Lernprozess für die Erzieherinnen war es also, ihre Rolle als zentrale Anlaufstelle für Fragen aller Art
aufzugeben: Frage besser die anderen Kinder! Sprecht euch untereinander ab!
Immer wieder diskutierten die Erzieherinnen und Praxisbegleiterinnen die Frage der Freiwilligkeit eines solchen Projekts: Was tun,
wenn die Kinder, die eine solche situationsbezogene Sprachförderung am nötigsten hätten, nicht mehr mitmachen wollen? Eine
Pflicht-Teilnahme vertrüge sich schlecht mit der Intention des Projektes. In der Praxis war nur selten eine gezielte Ermunterung nötig.
Z1 Resümee: Sprechen ist soziales Handeln
Das Projekt – auf Kinderbedürfnisse und Kinderaktivität aufbauend – kam an. Das zeigte sich auch darin, dass unsere ursprüngliche
Befürchtung, zu wenige Kinder würden mitmachen oder die üblichen Kinder sich entziehen, nicht eingetreten ist. Einige Kinder – auch
einige darunter, die längere Zeit brauchten, um ihren Zugang zu den Projektaktivitäten zu finden – sind bis zum Schluss dabei
geblieben, und das war immerhin ein halbes Jahr!
Unser Resümee war: Die Planungs- und Bauphasen des Pappmonsters waren ein gut geeignetes Lernfeld für die sprachliche
Ausdrucksfähigkeit der Kinder. Und gewiss auch ein Lernfeld für professionelles Sprachverhalten der Pädagoginnen! Die Erzieherinnen
gewöhnten sich an, Äußerungen der Kinder stehen zu lassen, und so wurden die Kinder nach und nach freier, sich zu äußern.
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Betrifft Kinder 10-11/05
Dadurch, dass die Kinder selbst entscheiden konnten, in welcher Weise sie sich einbrachten, kamen weitere vielfältige Kompetenzen
zutage, die bislang verdeckt waren: Eigene Vorstellungen entwickeln, zuhören und abwarten können, konzentriert bei der Sache
bleiben. Fördernd für das Selbstbewusstsein war, dass die Kinder alle Freiheiten hatten, das Werkzeug zu benutzen und sich darin
auszuprobieren.
Offensichtlich wurde in jeder Situation, wie eng Sprach- und Sozialverhalten zusammen gehören: So lernten die Kinder nicht nur,
anderen gegenüber zu argumentieren, den anderen ihre Ideen und Vorschläge verständlich darzulegen und Lösungsvorschläge zu
diskutieren. Sie lernten auch, andere ausreden zu lassen, unterschiedliche Standpunkte auszuhandeln, Kompromisse einzugehen und
sich bei Bedarf auf Regeln zu einigen. Sie lernten, andere an die Reihe kommen zu lassen, gegebenenfalls sich hinten anzustellen. Sie
lernten auch, geduldig zu erklären, wenn ein Kind neu hingekommen war, etwas nicht verstanden hatte oder nicht wusste, wie es mit
dem Bohrer umgehen soll.
Eine Erzieherin fasste es im Auswertungsgespräch so zusammen: „Es war auffallend, wie produktiv und sachlich die Kinder plötzlich
ihre Vorschläge einbringen und vergleichen konnten! Sie sind intensiv miteinander ins Gespräch gekommen und waren im Vergleich
zur letzten Planungssitzung besser in der Lage, einander zuzuhören und ausreden zu lassen. Ich vermute, dass dies damit
zusammenhängt, dass die Kinder erleben, es gibt genug Zeit und Raum dafür, und dass sie dazu ermutigt werden, miteinander zu
reden!“
Das Projekt war gleichzeitig ein Versuch, mit Lehrerinnen der Schule, die die Kinder besuchen, intensiver zu kooperieren. Die Erzieherinnen
stellten zum Beispiel den Deutschlehrerinnen der Schule das Projekt vor, die Lehrerinnen waren sehr interessiert. Eine bot sich an, an den
„Sprachnachmittagen“ in den Hort zu kommen, um die Erzieherinnen zu entlasten und gleichzeitig mehr über die Entwicklung des Projektes und
der Kinder zu erfahren. Das im Hort entstandene Dokumentationsbuch der Kinder wurde im Unterricht eingesetzt und von den Kindern im
Unterricht fortgeschrieben. Nach einem dreiviertel Jahr schon stellten die Lehrerinnen fest, dass die Kinder wesentlich aktiver am Unterricht
teilnahmen und ihre sprachliche Ausdrucksfähigkeit sich verbessert hatte.
Evelyne Höhme-Serke ist Leiterin des Projektes „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ und Mitglied des Instituts für den
Situationsansatz (ISTA).
Kasten
Z2 Das Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“
Seit 2002 nimmt die Kita „Arche Noah“ in Eberswalde am Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ teil.1 Im Projekt werden pädagogische
Praxis und sich daraus ergebende Bildungsqualität auf den Prüfstand gestellt und neue Methoden und Vorgehensweisen entwickelt.
Die zentrale Fragestellung dabei ist: Welche Erfahrungen und Lebensumstände brauchen Kinder, um das demokratische Zusammenleben in dieser
Gesellschaft aktiv mitgestalten und für sich nutzen zu können?
Demokratie verstehen wir im Projektzusammenhang vorrangig als Alltagskultur. Wir sind uns bewusst, dass Demokratie kein statischer Zustand ist, der
einmal erworben wird und der dann als gesichert gilt. Demokratie ist ein Prozess, der nie abgeschlossen sein wird.
Demokratie ist auch nicht etwas, was wir Kindern beibringen können: Voraussetzung für demokratisches Verhalten von Kindern ist, dass sie ein Gefühl für
sich selbst entwickeln. Sie müssen sich ihrer Bedürfnisse und Interessen bewusst werden. Sie müssen davon überzeugt sein, selbst wirksam sein zu können.
Selbst wirksam sein – wie müssen Pädagogen arbeiten, um Kindern dieses Erlebnis zu verschaffen?
Den Kindern muss spürbar werden, dass ihre individuelle Lebenssituation wahrgenommen und berücksichtigt wird. Sie müssen sich beteiligt fühlen, in der
Gestaltung des Alltagslebens wie an den Themen und Zielen der Bildungsarbeit. Die Erzieherinnen müssen also dafür sorgen, dass die Kindertagesstätte ein
Ort der Lernanregungen, des Forschens und Experimentierens ist/ wird. Sie müssen lernen, mehr zu begleiten und weniger zu leiten, damit die Kinder ihr
eigenes Wirken spüren und nicht das der Erwachsenen.
In der Arbeit im Projekt „Demokratie leben“ haben sich die Erzieherinnen in einen gemeinsamen Prozess des Lernens und der Veränderungen begeben. In
einer zirkulären Abfolge von Erfahrung und Erkenntnis hinterfragen sie die pädagogische Praxis, erproben neue Ansätze und reflektieren diese wieder. Dabei
werden sie von den Praxisbegleiterinnen des Projektteams begleitet und unterstützt.
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/1/ Das Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ wird von der niederländischen Bernard van Leer-Stiftung und der Lindenstiftung für
vorschulische Erziehung finanziert. Träger des Projektes sind das Institut für den Situationsansatz (ISTA) an der Internationalen Akademie für innovative
Pädagogik, Psychologie und Ökonomie (INA) gGmbH und die RAA (Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule) in Berlin.
Die Erzieherinnen der Kita „Arche Noah“ in Eberswalde sind Marianne Gerngroß und Britta Schuhmacher. Die Praxisbegleiterin des Projektteams
Sabine Beyersdorff wurde von der Praktikantin Julia Möller und von Sascha Wenzel, der u.a. das Instrumentarium für die Sprachstandsanalyse
entwickelte, unterstützt. Die Kinder des Hortes gingen in die 1. bis 4. Klasse.
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