das Klassische als Link zwischen Antike, Gegenwart und Zukunft
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das Klassische als Link zwischen Antike, Gegenwart und Zukunft
Das Klassische als Link zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Markus Janka Ich wurde von den Organisatoren der Wissenschaftstage freundlicherweise gebeten, an dieser Stelle Einblicke in Gebiete meiner derzeitigen Forschungen zu geben, die für das „Jahr der Geisteswissenschaft“ aufschlussreich sein könnten. Das will ich gerne tun. Doch da Forschung im engeren Sinn unweigerlich etwas „Exklusives“ hat, möchte ich meine Ausführungen in eine These verpacken, die womöglich Spannung erzeugen kann, weil sie auch Widerspruch hervorrufen mag: Wie Sie dem Titel dieses Vortrages entnehmen, will ich Ihnen „das Klassische als Link zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ schmackhaft machen. Dabei werde ich mich standesgemäß auf dasjenige „Klassische“ beschränken, das der Beschäftigung mit Sprache, Literatur und Kultur der Griechen und Römer den Ehrentitel „klassisch“ verlieh. Dieses Tun bezeichnen wir als „Philologie“. Wörtlich übersetzt heißt das „Liebe zum logos“, wobei logos notorisch vieldeutig ist: „Wort, Rede, Sprache, Sinn…“ kann es je nach Zusammenhang bedeuten. – Zeitgemäß könnte man „Philologie“ als „intensive Hinwendung zu und Erforschung von Texten und ihren Bestandteilen“ umschreiben. Die Relevanz des Studiums von „klassischen Texten“, also den literarischen Hervorbringungen der Griechen und Römer etwa von Homer bis Augustinus, habe ich mit dem Bild des „Link“ verdeutlicht. Per Mouseklick läßt uns eine solche Verknüpfung heute in Windeseile durch die Dateienwelt des „Internet“ sausen. Die elektronische Verweisungsstruktur des sachlich Zusammenhängenden ersetzt das Blättern und Nachschlagen bei Querverweisen innerhalb von herkömmlicher Schriftlichkeit in Buchform oder im Karteikasten. Das „Klassische“ möchte ich hier als „aktive Verknüpfung zwischen der Fülle des Überlieferungsgutes (der Tradition) und den geistig-kulturellen Bedürfnissen unserer Gegenwart und näheren Zukunft“ definieren. Die Wirkungsweise solcher Orientierungshilfe bei Zeitensprüngen will ich anhand von drei Gebieten meines Faches erläutern, die mir in Lehre und Forschung besonders ans Herz gewachsen sind: 1) Mythologie, 2) Drama und Theater, 3) Rhetorik. Am Anfang soll freilich eine arg verkürzte Besinnung auf den Begriff des Klassischen stehen. Zum Begriff des Klassischen: Genese und Wandlungen, Feinde und Retter Ein Radiosender, der sich mit dem klangvollen Namen „Klassik-Radio“ schmückt, präsentierte kürzlich folgende Musikstücke nacheinander als „Klassiker unterschiedlicher Art“: Tears in Heaven von Eric Clapton in einer neuen Instrumentalfassung und den Kaiserwalzer von Johann Strauß. Anderswo scheut man sich nicht, von „klassischen“ Gesichtszügen, „klassischem Design“, einer „klassischen“ Kaffeesorte oder „klassischer“ Nationalökonomie zu sprechen. Neben der perikleischen, der augusteischen und der Weimarer Klassik gibt es eine „Klassik des Mittelalters“; sogar von „Klassikern der Gegenwartsliteratur“ ist bisweilen die Rede. Diese schier inflationäre Anwendbarkeit der Bezeichnung „klassisch/Klassik(er)“ muß vor allem die Klassischen Philologen verdrießlich stimmen, sehen sie doch ihren schillernden Ehrentitel profaniert und damit von Abflachung, ja Sinnentleerung bedroht. Versuchen wir also, dem Begriff in der gebotenen Kürze auf den Grund zu gehen: Das lateinische Adjektiv classicus, a, um ist vom Substantiv classis, is (f) hergeleitet, das mit griech. klesis „Herbeirufung“ verwandt ist und wörtlich: „die zu einer Versammlung herbeizitierte Menge“ bedeutet. Das trifft den Nagel auf den Kopf bei der Schulklasse – classem ducere heißt „Klassenprimus sein“ –, die ja heute noch den Namen trägt, den die Römer ihr verpaßten. Diese konnten unter classes aber auch Heeres- wie Flottenabteilungen und die fünf Steuerklassen der römischen Bürgerschaft verstehen. Die im letztgenannten Bereich gebotene Möglichkeit der wertenden Abstufung greift schon Cicero auf, der bestimmte Philosophen im Vergleich mit Demokrit als „fünftklassig“ (quintae classis) zurücksetzt. Auf die Literatur wird dieses Denkmodell erstmals vom antiquarischen Buntschriftsteller Aulus Gellius (um 130-190 n. Chr.) übertragen, der eine klare Trennlinie zwischen „klassischen“ und „proletarischen“ Literaten zieht (classicus adsiduusque aliquis scriptor, non proletarius).1. Seine Wertungen sind selbstverständlich rein ästhetisch und nicht soziologisch gemeint. Wie fast alles in der römischen Kultur, so hat auch dieses kritische Verfahren eine griechische Vorgeschichte. Es geht auf die hellenistischen Urväter unserer Philologie zurück, die seit dem Ende des 3. Jh. v. Chr. in der gigantischen Bibliothek des Museions von Alexandria ihre literarische Überlieferung ordneten und pflegten. Sie durchsiebten gewissermaßen das Tradierte und nahmen nur die in ihren Augen höchstrangigen Autoren in sogenannte „Listen“ (pinakes) auf, deren „Blütenlese“ dann zur Richtschnur (zum „Kanon“) für Wissenschaft und Schulunterricht wurde. Das griechische Konzept mit dem lateinischen Namen hat in der Geistesgeschichte der westlichen Welt Karriere gemacht. Trotz gleichsam „konjunktureller“ Schwankungen blieb der Begriff des „Klassischen“ nicht nur, wie gezeigt, in der Alltagskultur lebendig. Er ist bis heute ein oft berufener Streitgegenstand der Philosophie (insbesondere der Ästhetik), aber auch der Literatur- und Kunstwissenschaft.2 Im Ringen um eine Definition des Klassischen sind nun zunächst uneigentliche, also übertragene Verwendungsweisen aufzuzeigen und vom Kern des Begriffs abzugrenzen. So ist etwa „klassisch“ als reine Hervorhebung des Typischen, Vortrefflichen und beispielhaft Gelungenen (in einem beliebigen Bereich) (zum Beispiel „Klassiker der Fernsehunterhaltung“) zu unspezifisch, als bloßer Epochenbegriff (wie „perikleische Klassik“, „Weimarer Klassik“ oder „Wiener Klassik“) zu pauschal, um tieferen Gehalt zu vermitteln. Immerhin verweisen die berühmten Epochengegensätze wie „Klassik-Romantik“ (Hegel) und „Klassik-Manierismus“ (Curtius) schon auf den Bereich der normativen Ästhetik, also einer „Schönheitslehre“, der es nicht allein um Beschreibung, sondern um Vorbildlichkeit geht. Weiter hilft uns hier die Vorstellung vom Klassischen als Terminus für „ästhetische Ideen“ im Sinne Immanuel Kants (1724-1804),3 durch deren Darstellung der geistvolle, geniale Dichter „der Einbildungskraft einen Schwung ... (zu geben vermag), mehr dabei ... zu denken, als sich in einem Begriffe, mithin in einem bestimmten Sprachausdrucke, zusammenfassen läßt“.4 Diese auf überzeitliche Wirkung von Kunstwerken gestützte Konzeption baut Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) weiter aus, indem er das „Klassische überhaupt“ mit dem „Begriff des Schönen“ als Harmonie von Inhalt und Form gleichsetzt: „Den Mittelpunkt der Kunst macht die zu freier Totalität in sich abgeschlossene Einigung des Inhalts und der ihm schlechthin angemessenen Gestalt aus. Diese mit dem Begriff des Schönen zusammenfallende Realität ... bringt erst die klassische Kunst zur Erscheinung. Denn die klassische Schönheit hat zu ihrem Inneren die freie, selbständige Bedeutung, d. i. nicht eine Bedeutung von irgend Etwas, sondern das sich selbst Bedeutende, und damit auch sich selber Deutende“.5 Hans Georg Gadamers (1900-2002) Interpretation 1 Gellius, Noctes Atticae 19,8,15. Diesem Problemkreis widme ich mich ausführlich im Methodenkapitel meiner Habilitationsmonographie, vgl. Markus Janka, Dialog der Tragiker. Liebe, Wahn und Erkenntnis in Sophokles’ Trachiniai und Euripides’ Hippolytos, München/Leipzig 2004 (BzA 207), S. 15-36. 3 Vgl. Heinz Otto Burger in: Ders. (Hg.), Begriffsbestimmung der Klassik und des Klassischen, Darmstadt 1972, S. IXf. 4 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft § 49. 5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 2. Bd.: Sämtliche Werke, hg. von Hermann Glockner, Bd. 13, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 3. 2 der berühmten Hegelsätze läuft darauf hinaus, das Klassische als das „letztlich für alle Epochen Verständliche und Bedeutsame“ zu umschreiben, als das, was „der jeweiligen Gegenwart etwas so sagt, als sei es eigens ihr gesagt“.6 In jüngeren Definitionen ist vom Klassischen als dem „Heraus-Ragenden in der Geschichte“ (Pascal Weitmann)7 oder von der Die vielfach so oder ähnlich vorgetragenen Einwände gegen die Kanonbildung reichen zwar für die vollständige Entwertung des herkömmlichen Klassikbegriffs nicht hin, doch schärfen sie das Bewußtsein für seine spezielle Problematik. Eine mit neuen Akzenten versehene Konzeption von ,Klassik‘ und vom ,Klassischen‘ scheint immer noch oder besser: inzwischen wieder akzeptabel. Die Kriterien müssen freilich griffiger sein als etwa „Epiphanie“ (Reinhardt) oder „Bild und Norm des Menschenlebens“ (Schadewaldt),12 um so dem Vorwurf der Beliebigkeit im Einsatz von wenig sachhaltigen Worthülsen zu begegnen. Wagen wir einen Definitionsversuch: Klassisch im engeren Sinne sind Werke (menschlichen Geistes), deren Fähigkeit zur epochenübergreifenden Fernwirkung in einer künstlerischen ,Vollendung‘ begründet liegt, deren Harmonie von Form und Gehalt, deren naturkräftige Stimmigkeit von Struktur und Aussage eine Botschaft zu elementaren Befindlichkeiten des Menschen vernehmbar durch die Zeiten trägt. Klassisch im weiteren Sinne sind Werke, die aufgrund ihrer überprüfbaren Meisterschaft in Form und Gehalt kanonisiert wurden und bei revivals in verschiedenen Rezeptionsepochen ihre Renaissancewürdigkeit und -fähigkeit unter Beweis gestellt haben. Erst über das Phänomen des ,Epochenstils‘ scheint mir die Bezeichnung ,klassisch‘ – mit unabweisbaren Vorbehalten und im Bewußtsein einer eher verallgemeinernden Verwendung – auf ganze Epochen, ja ,Nationalliteraturen‘ übertragbar: Ein Beispiel sei ausgeführt: Als ,klassisch‘ im weiteren Sinn kann die griechische Literatur der Antike gelten, da sie die im Wesen der Gattungen Epos, Lyrik und Drama liegenden Gestaltungsmöglichkeiten soweit ausschöpfte, daß sie die literarischen Genera zu einer gewissen Vollendung (telos), ja sogar über diese Vollendung hinaus führte und sie so, über die Vermittlung der Römer, für das Abendland mustergültig werden ließ. Nach diesem vielleicht etwas theoretischen „Vorbau“ wird es nun anschaulicher. Wir wollen nämlich das hier entwickelte Verständnis vom „Klassischen“ einer Probe auf Exempla unterziehen. Dabei lade ich Sie zu einem streiflichtartigen Blick auf drei meiner bevorzugten Forschungsgebiete ein, die je für sich und allemal zusammen genommen die bleibende Erstrangigkeit der griechisch-römischen Antike im Schatz unseres kulturellen Gedächtnisses beleuchten mögen: Es geht mir hier um 1) Mythologie, 2) Drama und 3) Rhetorik. 1) „Klassische Mythologie“: Beispiel Achill: Vom „besten“ zum „bestialischsten“ Achaier? Das Phänomen ist vielleicht ein wenig zu selbstverständlich und geläufig, als daß wir ihm mit dem Staunen begegneten, das es eigentlich verdiente. Die ungebrochene Lebendigkeit der antiken Mythen in unserer westlichen Welt hat noch jeder Krise der humanistischen Bildung, ja sogar der wiederholt beschworenen deutschen „Bildungskatastrophe“ oder „misere“13 getrotzt. Die Götter und Heroen Griechenlands und Roms erfreuen sich nach wie vor breitester Beliebtheit. Die einstmals faszinierend überlebensgroßen Mächte und furchteinflößenden Objekte kultischer Verehrung sind auch zweitausend Jahre nach der Dämmerung der paganen Religion jene „ewigen Menschen“ geblieben, die spätestens seit Homer zur Projektion und Reflexion des humanen Selbstverständnisses dienliche Muster abgeben. Sie sind gewissermaßen Archetypen geworden, die Urgeschichten des Menschseins so vernehmbar durch die Zeiten tragen, daß sie immer noch Gehör finden und sich jede Generation einen neuen Reim auf sie machen kann. 12 Vgl. Schadewaldt (wie Anm. 9), S. 28: „... die zeitgeborene Problematik der sophokleischen Tragik (konnte) als Bild und Norm des Menschenlebens hinüberwachsen ins Überzeitliche“. 13 Vgl. dazu jetzt wieder: Konrad Adam, Die deutsche Bildungsmisere: Pisa und die Folgen, Frankfurt am Main: Propyläen-Verl., 2002. Nehmen Sie zum Beispiel die Hauptfiguren der beiden epischen Monumente, mit denen Homer im 8. Jahrhundert v. Chr. die europäische Literatur inauguriert haben soll: den Achill der Ilias und den Odysseus des nach ihm benannten Mammutgedichtes. Letzterer, der weitgereiste Weltenbummler, Frauenheld, Tausendsassa, Intrigant, Entdecker, Forschungspionier, Intellektuelle und Überlebenskünstler, konnte sogar „als Archetyp des modernen Menschen ... und ... Hoffnungsträger auch für das neue Jahrtausend“ bezeichnet werden.14 Und wie die alten Griechen von Homer alles Lebensnotwendige gelernt haben sollen, so lernen wir nach wie vor an den homerischen Helden Facetten unseres Selbstverständnisses kennen. Die Rezeption der Odysseus-Figur jedenfalls ist eine gigantische Erfolgsgeschichte. Allein in den vergangenen zehn Jahren sind neue Theaterstücke (Botho Strauß’ Ithaka), Fernsehserien (die SAT 1-Odyssee), Comics, Übersetzungen und Hörfunkrhapsodien/Hörbücher (Christoph Martin) von so beeindruckender Qualität und Unterschiedlichkeit erschienen, daß man Odysseus ungeniert als Star des Multimediazeitalters feiern kann.15 Schwerer tun wir uns zweifellos mit dem archaischen Heldenbild des homerischen Achilleus. Und doch hat uns das Hollywood-Kino kürzlich eines Besseren belehrt. Wolfgang Petersen ist in seiner spektakulären Effektorgie Troy (Troia) mit Brad Pitt in der Rolle des Achill eine zeitgemäße und zeitgerechte Interpretation der homerischen Ilias gelungen. Gestatten Sie mir daher, ein wenig bei der Gestalt des Achilleus zu verweilen. Ob aus Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums, aus „studienrätlichen“ versiones Latinae in Lehrbüchern, aus Romanen, Comics, Übersetzungen oder gar aus der Originallektüre. Kaum jemand in den Reihen von Petersens Millionenpublikum setzte sich ohne Vorerwartungen vor die Leinwand oder das Fernsehgerät. Und auch in der heutigen Version vom trojanischen Krieg als einer imperialistischen Materialschlacht, in der die von den griechischen Potentaten seitens ihrer „orientalischen“ Gegner erlittenen Rechtsverletzungen nur die Vorwände für weiterreichende Expansionsgelüste abgeben, war ein recht „homerischer“ oder besser „iliadischer“ Achill zu erleben: ein zwiespältiger Held zwischen gerechtem Zorn, lyrischer Melancholie, großen Gefühlen und Killerinstinkt; ein Kriegsherr („warlord“), der auf den ersten Blick kaum zur Identifikationsfigur taugt, der vom zeitgenössischen Regisseur aber ähnlich wie vom archaischen Ependichter, dem „Erzähler“ oder „Narrator“ Homer, unbestreitbar als solche „aufgebaut“ wird. Wie läßt sich diese Kontinuität über die Jahrtausende erklären? Wir haben es anscheinend mit einem Paradox zu tun: Obwohl der Ilias-Dichter zu Recht als Gründervater der fiktionalen Literatur gilt, ist sein Protagonist doch so etwas wie eine historische Figur geworden. Er ist nämlich als so feste Größe in unserer Geistesgeschichte verankert, daß der mit seiner heroischen Persönlichkeit verbundene Komplex von Handlungen und Charaktereigenschaften stets appellabel bleibt, d. h. ohne größere Umstände abgerufen werden kann. Daher ist es um Achill auch anders bestellt als etwa um Maximus Decimus Meridius, den von Russell Crowe verkörperten „Gladiator“ Ridley Scotts, bei dem es sich um eine reine Kunstfigur handelt, die von den Autoren des Scripts frei erfunden und nach den historischen Gegebenheiten des 2. Jahrhunderts n. Chr. als geschichtlich mögliche Figur erst modelliert wurde.16 Der lange Schatten des homerischen Vorbilds legt sich 2) Klassisches Drama und seine Rezeption: Die unablässige Arbeit am tragischen Megatext „Dionysus Since 69“: So lautet der plakative Haupttitel eines fast druckfrischen Sammelbandes aus der Oxford University Press. In vier Sektionen widmen sich die Beiträger dem Thema der „griechischen Tragödie in der Morgenröte des dritten Jahrtausends“. Einen besseren Beweis für die ästhetische, künstlerische und wissenschaftliche Kontinuität des für Dionysos, den Gott von Wein, Weib und Waldschwärmerei, im noch vorklassischen Griechenland aus der Taufe gehobenen „Bocksgesangs“ – so die wörtliche Übersetzung von trag-oidia – könnte es kaum geben. Eine der Herausgeberinnen des erwähnten Bandes bringt diese erstaunliche Erkenntnis auf den folgenden Punkt: „In den vergangenen dreißig Jahren gab es mehr Aufführungen griechischer Tragödien als zu jedem beliebigen Zeitpunkt der griechisch-römischen Antike. In Übersetzungen, Adaptionen, Bühnenfassungen, Gesängen, Tänzen, Parodien, Verfilmungen und enactments (originalgetreuen historischen Rekonstruktionen) hat sich die schier magnetische Anziehungskraft erwiesen, welche die griechische Tragödie auf Autoren und Regisseure ausübt, die nach neuen Wegen suchen, um die Gesellschaft der Gegenwart mit Fragen zu konfrontieren und die Begrenzungen des Theaters zu sprengen. Die mythische, funktionsgestörte und konfliktbeladene Welt, wie sie sich in den archetypischen Stücken des Aischylos, Sophokles und Euripides darstellt, ist zu einem der wichtigsten kulturellen und ästhetischen Prismen geworden, durch das die wirkliche, funktionsgestörte und konfliktbeladene Welt des späten zwanzigsten und des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts ihr eigenes Bild gebrochen hat“.19 Die oben erwähnte Renaissancefähigkeit des Klassischen tritt hier als „Spiegelqualität“ oder „Prisma“ der eigenen Zeit in ein sehr pralles und vielschichtiges Leben. Jede(r) von Ihnen wird das bestätigen können. Nicht nur die Iphigenie in Tauris (nach Goethe), Medea (nach Euripides) und jüngst die Orestie des Aischylos – alles Projekte von Michael Bleiziffer am Theater Regensburg – belegen es. Ob Kammerspiele oder Stadttheater: Das griechische Drama lebt auf den Bühnen unserer Zeit weiter. Dies versteht sich keineswegs von selbst. Die Schauergeschichten der mythischen Frühzeit Griechenlands, die in einer unserem Empfinden recht fremden Form (mit ritualisiertem Chor und eigenwilligen, starren Bühnenkonventionen wie Masken und Theaterstiefeln) um die Gunst des Publikums im Athener Dionysostheater buhlten, reizten so manchen modernen Spötter zur Persiflage. Nehmen Sie nur den Berliner Theaterkritiker und Publizisten Alfred Kerr (1867-1948): „Die Griechen auf dem Theater sind aber stets fürchterlich. Wenn ich die Kerls nur ankommen seh (...) wird mir schwach. Schon die Kleidung. Der langsame Tritt. Und dann, statt zu sagen: ,Wie geht’s? Hübsches Wetter heut‘!‘ skandieren sie immer gleich etwa so: ,Sieh da! Sei mir gegrüßt! Mein Pimpokles! Willkommen hier im schattigen Gurkenhain! Beschirmen deinen Leib die großen Götter? Pickt dir ein Geier an der Leber lang? (...) Ich 19 Edith Hall in: Edith Hall/Fiona Mackintosh/Amanda Wrigley, Dionysus Since 69. Greek Tragedy at the Dawn of the Third Millennium, Oxford 2004, S. 2: „More Greek tragedy has been performed in the last thirty years than at any point in history since Greco-Roman antiquity. Translated, adapted, staged, sung, danced, parodied, filmed, enacted, Greek tragedy has proved magnetic to writers and directors searching for new ways in which to pose questions to contemporary society and to push back the boundaries of theatre. The mythical, dysfunctional, conflicted world portrayed in the archetypical plays of Aeschylus, Sophocles, and Euripides has become one of the most important cultural and aesthetic prisms through which the real, dysfunctional, conflicted world of the late twentieth- and early twenty-first centuries has refracted its own image“. weiß, du schlugest deinen Vater tot, nachdem er seinerseits die Schwester abstach (...) Sei mir gegrüßt!‘ So geht es immer bei diesem Volk; wir müssen es erdulden.“20 Doch trotz der vermeintlich manierierten Lebensferne Ihrer Sujets eignen sich die Stoffe aus dem Reservoir des „tragischen Megatextes der Griechen“ in ihrer durch die drei großen attischen Tragiker maßgeblich bestimmten Kunstform offenbar heutzutage mehr denn je als Raum der Reflexion über die Verwerfungen der eigenen Epoche, die sich an tragischen Urformen bespiegelt und damit wohl immer noch die von Aristoteles (384-322 v. Chr.) beschworene „kathartische“, also reinigende Wirkung im Sinne einer stellvertretenden Affektentladung erzielen mag. Die Klassizität der Tragödie möchte ich hier am Beispiel der auch durch die Psychoanalyse besonders prominenten Oedipus-Gestalt ein wenig erhellen. Sophokles’ Drama König Oidipus, etwa 428 v. Chr., also in den ersten Jahren des Peloponnesischen Krieges, entstanden, galt schon für den Poetologen Aristoteles als mustergültige Tragödie. Die neuzeitliche Ästhetik feiert das Stück als Paradebeispiel eines „analytischen Dramas“. Die übermenschlich grausige „Realität“, die sich im Schicksal der Hauptfigur niederschlägt, die vom Orakel unwissentlich zu Vatermord und folgender Mutterheirat mit anschließender inzestuöser eigener Vaterschaft verdammt ist, wird im Stück durch den Betroffenen selbst, den sprichwörtlichen Rätsellöser und fürsorglichen Intellektuellen Oidipus, ans Tageslicht gebracht. Dem dient eine Sequenz außergewöhnlich spannungsgeladener Konfrontationen vor dem Hintergrund einer scheinbar unrettbar verseuchten Stadt. Denn Oidipus’ bislang ungesühnter Makel hat das gesamte von ihm regierte Theben infiziert, wo nun alles Leben abzusterben droht. Der „tragische Tag“ ist also in jeder Hinsicht ein Moment höchst krisenhafter Zuspitzung. Sobald Oidipus die wahren Zusammenhänge durchschaut hat, erhängt sich seine Gattin und Mutter Iokaste, er selbst vollzieht eine spiegelnde Strafe und sticht sich mit der Gewandspange seiner Ehefrau die Augen aus, die zuviel gesehen haben, was sie niemals hätten sehen dürfen. Schuld der Vorväter und Sühne durch eine brutal entzauberte Lichtgestalt, all das im Bann gnadenloser Orakelsprüche – ist das der Stoff, aus dem Theater(alp)träume unserer Zeit gewirkt sind? Offenbar ja. Allein im vergangenen Jahrzehnt konnte ich persönlich eine Reihe von überaus ambitionierten Inszenierungen des Sophokleischen Stückes miterleben und analysieren, die mich ganz unmittelbar von der überzeitlichen Fernwirkung des Plots in seiner im fünften Jahrhundert geprägten Grundstruktur überzeugten. Kurz zu zwei Beispielen: Die Ulmer Inszenierung von KD Schmidt im Jahr 1994 trug den bezeichnenden Titel „Ödipus – Peststadt“. Sie lebte von einer ganz eigenwilligen Fallhöhe zwischen Chor und Kernhandlung. Sophokles’ Chor der ehrwürdigen thebanischen Greise, eine Art Senat der Polis, hat das Regietheater unserer Zeit in eine Gruppe von Pennern verwandelt, die in zerlumpten, schäbigen Anzügen und mit Plastiktüten in der Hand über die Bühne und durch den Zuschauerraum vagabundieren und die stark gekürzten Chorstrophen in Wechselrede artikulieren. Vor der Pause versammeln sie sich um ein Fernsehgerät, das den elektronischen „Müll“ wiedergibt, den das kommerzielle TV durch den Äther schickt. Mit dieser Welt des „ganz unten“ kontrastieren die Hauptbühne und die erhöhten Paraskenien (Seitenauftritte), die gewissermaßen an der Wand des ersten Stockwerkes angesiedelt sind. Dort entspinnt sich zwischen Schauspielern in rollenadäquaten, aber unantikischen Gewändern, die mit Ausnahme des blinden Sehers Teiresias unmaskiert bleiben, die packende Analysis der sophokleischen Handlung. Der griechische Theatertext wurde in eingängige, rhythmisierte deutsche Prosa neu übertragen. Solcherart ist es dem Regisseur gelungen, die unbändige destruktive Dynamik dieses Stückes in angemessene Gesten, Bewegungen, Stimmodulation und Geräuschkulissen umzusetzen, 20 Zitiert nach: Joachim Kaiser: Über-menschliches Leid macht un-menschlich. In: Süddeutsche Zeitung vom 9.2.1999 (Besprechung von Dieter Dorns Inszenierung der Euripideischen Hekabe an den Münchner Kammerspielen). ohne in hohle Pathetik zu verfallen. Daß der wissende Seher Teiresias sich zunächst mit Händen und Füßen dagegen sträubt, Oidipus in die finstere Lösung seines Lebensrätsels einzuweihen, wird etwa durch schier enervierende Stockschläge des Alten gegen eine Wellblechwand untermalt. Eine ganz ähnliche „Soundtechnik“ war bei einer avantgardistischen König Ödipus-Inszenierung des jungen litauischen Regisseurs Oskaras Korsunovas im Rahmen der Salzburger Festspiele 2002 zu beobachten.21 In dem überaus lautstarken, bewegten und bewegenden Projekt bildete ein Kinderspielplatz das tragische Terrain, die Akteure waren im Stil der alten griechischen Komödie grotesk maskiert – freilich nicht als Tiere, sondern als Monstergeburten. Damit wurde offenbar die Ritualisierung der attischen Tragödie in ein modernes Kommunikationsfeld übertragen. Überdies scheint ein Rekurs auf den Beginn des Sophokleischen Stückes vorzuliegen, in dessen erster Zeile sich „König Oidipus“ bereits zum pater patriae stilisiert und seine leidenden Untertanen liebevoll als „Meine Kinder“ anspricht. Ironischerweise ist aber Oidipus, das fatalerweise gerettete und dadurch seinem Schicksal verfallene Kind, Gegenstand der „Detektivgeschichte“, die folgen wird. Die gewaltige Emotionalität des griechischen Originals wird auch hier sinnfällig in körperliche Bewegung (etwa Akrobatik an einem Klettergerüst) und Lärmen (Hämmern und Schlagen mit Gegenständen auf das Gerüst) umgesetzt. Die Unerträglichkeit und Widernatürlichkeit des Bühnengeschehens hat der Theatermacher noch dadurch gesteigert, daß er seine Figuren mit künstlich verzerrten Stimmen sprechen läßt und sie dadurch in die Nähe von Robotern rückt. Vielleicht will er sie so als künstliche Potenzen künstlerisch abgründiger Phantasie vorführen. Diese beiden eindrucksvollen Inszenierungen mögen für viele andere stehen, die gerade keine museale Konservierung der antiken Tragödie im Sinne eines engherzigen Klassizismus anstreben, sondern durch das Ringen um neue Ausdrucksformen für das von Sophokles geschaffene Sinnganze dessen klassische „Sagkraft“ als kreativen Auftrag interpretieren, das Stück mit den Theatermitteln der eigenen Zeit zu neuer Lebendigkeit zu erwecken. 3) Klassische Rhetorik: Die Erfolgsgeschichte eines „mobilen Kanons“ Neben Mythologie und Theater beschäftigt mich gerade in jüngster Zeit ein Themenkomplex, der die Fernwirkung der Antike auch außerhalb der „schönen Künste“, also des „Schutzraumes“ von Literatur, Kunst und Philosophie, schlagend belegt: Ich meine die Redekunst, deren griechischer Name „Rhetorik“ (genauer: rhetorike techne) nach wie vor in aller Munde ist. Das von Walter Jens (*1923) begründete Tübinger Seminar für Allgemeine Rhetorik erfreut sich heutzutage eines weit größeren Zulaufes als die benachbarte Klassische Philologie. Die Absolventinnen und Absolventen beginnen meist keine Laufbahn als Lehrer oder Hochschullehrer, sondern erweisen sich als eine Art von „humanistischen Generalisten“ für die unterschiedlichsten Bereiche der „freien Wirtschaft“ und der Medienwelt gerüstet, wo sie namentlich für kommunikationsintensive Aufgaben und Teamarbeit eingesetzt werden. Gert Ueding, derzeit Leiter des Tübinger Seminars, definiert auf seinen Internetseiten den Gegenstand seiner Forschung und Lehre wie folgt: „Rhetorik ist ein zusammenfassender Begriff für die Theorie und Praxis der menschlichen Beredsamkeit in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten, ob sie in mündlicher, schriftlicher oder durch die technischen Medien (Film, Fernsehen, Internet) vermittelter Form auftritt. ... Das System der Rhetorik ist in allen wesentlichen Zügen bereits in der Antike (Aristoteles, Cicero, Quintilian) entwickelt worden und in dieser Form bis heute Grundlage der Allgemeinen und der Angewandten 21 Im Rahmen des „Young Directors Project II“: In Zusammenarbeit mit Oskaras Korsunovas, Tatras (Vilnius), Theater der Welt 2002 (Bonn, Düsseldorf, Duisburg, Köln), Zürcher Theaterspektakel sowie mit Unterstützung des litauischen Kulturministeriums (12./13.8.2002). Rhetorik.“22 Daraus ergibt sich zwingend, daß Uedings Studierende nach Lehrbüchern unterrichtet werden, die trotz eines Alters von etwa 2000 Jahren noch nicht veraltet sind. Das nenne ich Nachhaltigkeit! Natürlich werden nicht mehr vorrangig die Musterreden analysiert, mit denen sich Demosthenes und Aischines im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. bekämpften. Die regelmäßige Auszeichnung einer „Rede des Jahres“ durch eine hochkarätige Jury beweist aber, daß politische Reden der Gegenwart nach den Regeln des klassischen rhetorischen Systems der Antike mit größtem Gewinn erschlossen und qualifiziert bewertet werden können. Verlieh man im Jahr 2002 einer Debatte, nämlich den im Vorfeld der Bundestagswahl ausgestrahlten Fernsehduellen der Kanzlerkandidaten Schröder und Stoiber, die Siegespalme, so trug 2004 der Zeitungsjournalist Heribert Prantl mit seiner Festansprache Zivilgesellschaft ist vitaler Verfassungsschutz den Lorbeer der Tübinger davon.23 Im vergangenen Jahr wurde erhielt sogar eine akademische Rede mit dem Tübinger Siegeszeichen gekrönt: Die Vorlesung des Papstes Benedikt XVI. und Regensburger Honorarprofessors Joseph Ratzinger an seiner letzten alma mater (seit 1969; hauptamtlich bis 1977) sorgte fast genau vor Jahresfrist für einen furiosen Wirbel an öffentlicher Aufmerksamkeit. Neben den gezielten Fehldeutungen des Gebrauchs eines nur als Hinführung zum Kernthema verwendeten gelehrten Zitats waren bald auch ernstzunehmende Deutungen des „Regensburger Manifests“24 im Umlauf. Einen Beitrag für DIE WELT vom 19.09.2006 überschrieb der Journalist, Altertumswissenschaftler und Sachbuchautor Konrad Adam mit: „Im Anfang war der Logos. Denken und Sprechen: Der Papst und die Erbschaft der griechischen Kultur“.25 Die Themen und Kontexte wandeln sich also – aber die Kunst der menschlichen Beredsamkeit bleibt, und zwar in der Form, die ihr im ersten Jahrhundert vor Christus Marcus Tullius Cicero (insbesondere mit seinen drei Büchern Über den Redner [De oratore] von 55 v. Chr.) und im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Prinzenerzieher und erste römische Rhetorikprofessor Marcus Fabius Quintilianus († um 96 n. Chr.) mit seiner 12 Bücher umfassenden „Rednerenzyklopädie“ (institutio oratoria) verliehen haben. Cicero und Quintilian können deshalb nicht nur als nach wie vor gefragte „Lehrmeister Europas“ gelten, sondern eben auch als Klassiker der Rhetorik. Ob es sich um die drei Grundtypen der Rede oder um die fünf Arbeitsschritte oder „Pflichten“ des Redners (officia oratoris) handelt: Die alten Lehren vom „guten Reden“ (griech.: eu legein, lat. bene dicere) leben in den Businessanzügen unseres hektischen Saeculums fort. Natürlich sind sie vielfach verfeinert, differenziert und abgewandelt worden. Auch einer nur auf die Verwertbarkeit schielenden Banalisierung in Schnellkursen des Typus „Rhetorik für Berufsgruppe XY“ verschließen sie sich nicht. Das Geheimnis ihres Erfolges scheint mir ihre Janusköpfigkeit zu sein. Ein in der Grundanlage schlichtes, in den Verästelungen aber höchst komplexes Regelwerk hat seit Ciceros Zeit ein für allemal die Form eines verbindlichen Kanons angenommen. Dieser Kanon hat sich nun gerade durch seine Flexibilität oder besser Mobilität bewährt. So bezeichnet das movere im Sinne von „Psychagogie“ nicht nur eine der Leistungen der Rede, sondern als moveri (sich bewegen) auch eine Qualität der Redekunst selbst, die gerade durch ihre Anpassungsfähigkeit auf rednerische Herausforderungen in allen möglichen Situationen und vor allen möglichen Adressatengruppen Antworten an die Hand geben kann. Wir alle waren und sind als Gymnasiasten übrigens Schüler(innen) von Cicero und Quintilian, auch wenn uns das nicht bewußt gewesen sein sollte. Denn wenn wir als Schüler im Deutschunterricht Besinnungsaufsätze, lineare („Was spricht für Neuwahlen zum Deutschen 22 Gert Ueding in: http://www.uni-tuebingen.de/uni/nas/definition/rhetorik.htm Text nachzulesen unter: http://www.uni-tuebingen.de/uni/nas/rede/prantlrede.htm 24 So Christian Geyer, FAZ 2006. 25 DIE WELT 19.9.2006. 23 Bundestag im Herbst 2005?) oder dialektische Erörterungen („Segen und Fluch der Technik“) schrieben oder literarische Charakteristiken verfaßten („Baron Attinghausen in Schillers Wilhelm Tell“), widmeten wir uns den „Vorübungen des Redners“, den in der Antike sogenannten progymnasmata. Durften wir dann unter professioneller Anleitung unseren ersten freien Vortrag vor der Klasse halten, so gewannen wir Erfahrung in der actio. Doch dabei blieb es leider. Rhetorikunterricht als solcher ist im Pflichtprogramm des Gymnasiums nicht vorgesehen. Warum eigentlich nicht? Weil die Rhetorik durch ihren Mißbrauch in totalitären oder autoritären Systemen in Verruf geraten ist? Gegen die Überbetonung des Rhetorikverdachtes dürfen wir wiederum die römische Eloquenz ins Feld führen, die folgendes betont: 1) Rhetorik, die diesen Namen verdient, ist moralisch geprägt, da sie von viri boni (heute natürlich auch: feminae bonae) ausgeübt werden soll; und 2) Echte Rhetorik ist republikanische Rhetorik; sie kann sich nur im Freiraum demokratischer Debatte voll entfalten; sie erstarrt und erstirbt zu panegyrischer Kriecherei oder Phrasendrescherei, sobald sich, wie im Prinzipat des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, zwangsstaatliche Strukturen und Herrscherkult entwickeln. Rhetorik ist also nicht nur ein – grundsätzlich stets ambivalentes – Mittel der Beeinflussung des Publikums, sondern ebenso ein Instrument der Freiheitlichkeit, der kritischen Urteilsfähigkeit und des staatsbürgerlichen Einsatzes für das bonum commune. In diesem Sinne hat die Klassische Rhetorik auch im Europa der Zukunft noch lange nicht ausgedient. Es wäre den Gestaltern unserer Bildungslandschaft vielmehr zu wünschen, daß sie sich auch in diesem Bereich ihrer fontes besinnen und die sachlogische wie ästhetische Vervollkommnung des gesprochenen wie geschriebenen Wortes gründlich schulen, um die Zukunft im wachen Bewußtsein ihrer Herkunft mitzuprägen. Einem so verstandenen Humanismus ist – trotz aller Spezialisierung und professionellen Deformation – nach wie vor die Klassische Philologie verpflichtet, die sich nach meinem Empfinden noch stärker als Klassische Europäische Kulturwissenschaft profilieren sollte. Das Klassische solcherart als Bindeglied zwischen der „nächst-fernen“ griechisch-römischen Antike, unserer eigenen Zeit und den Herausforderungen der Zukunft zu erkennen. Zum Begriff des Klassischen: Genese und Wandlungen, Feinde und Retter Das Klassische als Link zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft • Aulus Gellius (130-190 n. Chr.) classicus ... scriptor, non proletarius • Immanuel Kant (1724-1804) Markus Janka Zum Begriff des Klassischen: Genese und Wandlungen, Feinde und Retter • Marcus Tullius Cicero (106-43 v. Chr.) philosophi quintae classis Zum Begriff des Klassischen: Genese und Wandlungen, Feinde und Retter Zum Begriff des Klassischen: Genese und Wandlungen, Feinde und Retter • Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) Zum Begriff des Klassischen: Genese und Wandlungen, Feinde und Retter • Hans Georg Gadamer (1900-2002) • Pascal Weitmann: „Das Heraus-Ragende in der Geschichte“ • Pat Easterling: staying power 1 „Klassische Mythologie“: Beispiel Achill: Vom „besten“ zum „bestialischsten“ Achaier? „Klassische Mythologie“: Beispiel Achill: Vom „besten“ zum „bestialischsten“ Achaier? • Wolfgang Petersen (geb. 1941): Troja (Troy) Thetis und Achilleus „Klassische Mythologie“: Beispiel Achill: Vom „besten“ zum „bestialischsten“ Achaier? • Joachim Latacz (geb. 1934) • Christa Wolf (geb. 1929): Kassandra • Publius Ovidius Naso (43 v.-17 n. Chr.) Klassisches Drama und seine Rezeption: Die unablässige Arbeit am tragischen Megatext • „Dionysus Since 69“ (Oxford University Press) • Michael Bleiziffer iam cinis est, et de tam magno restat Achille nescio quid parvum, quod non bene compleat urnam, at vivit totum quae gloria compleat orbem (Ovid, Metamorphosen 12,615-617) Klassisches Drama und seine Rezeption: Die unablässige Arbeit am tragischen Megatext • Alfred Kerr (1867-1948) Klassisches Drama und seine Rezeption: Die unablässige Arbeit am tragischen Megatext • Aristoteles (384-322 v. Chr.) 2 Klassisches Drama und seine Rezeption: Die unablässige Arbeit am tragischen Megatext • König Oidipus (Sophokles) Klassisches Drama und seine Rezeption: Die unablässige Arbeit am tragischen Megatext • K. D. Schmidt: „Ödipus – Peststadt“ (Ulm 1994) • Oskara Koršunovas (Salzburg 2002) • Jossi Wieler/Kurt Steinmann: „Ödipus auf Kolonos“ (München, Kammerspiele 2007) Klassische Rhetorik: Die Erfolgsgeschichte eines „mobilen Kanons“ • Walter Jens (geb. 1923) Klassische Rhetorik: Die Erfolgsgeschichte eines „mobilen Kanons“ • Rede des Jahres 2006 Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen. (Papst Benedikt XVI. am 12.9.2006 an der Universität Regensburg) Klassische Rhetorik: Die Erfolgsgeschichte eines „mobilen Kanons“ • Gert Ueding (geb. 1942) Klassische Rhetorik: Die Erfolgsgeschichte eines „mobilen Kanons“ •Marcus Fabius Quintilianus (gest. um 96 n. Chr.) 3