Stiftung Liebenau zu Eckpunkte Wohn-, Teilhabe

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Stiftung Liebenau zu Eckpunkte Wohn-, Teilhabe
Position der Stiftung Liebenau zu den Eckpunkten für ein Gesetz für unterstützende
Wohnformen, Teilhabe und Pflege (Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz)
Grundsätzliche Vorbemerkungen
In den letzten Jahren haben sich in Baden-Württemberg trotz hoher ordnungsrechtlicher
Anforderungen und deren landesweit nicht-einheitlichen Auslegung durch die zuständigen
Aufsichtsbehörden vielfältige, neue und innovative Wohn- und Betreuungsformen entwickelt.
Diese entsprechen den Wünschen von unterstützungsbedürftigen Menschen immer häufiger
und werden deren Bedürfnissen in unterschiedlichem Maße gerecht.
Das in Vorbereitung befindliche neue Wohn-, Pflege- und Teilhabegesetz für BadenWürttemberg muss unserer Auffassung nach diese Entwicklungen untermauern – es muss
zu einem Förderer neuer Wohn- und Betreuungsformen werden und diese nicht durch
praxisferne ordnungsrechtliche Anforderungsvorgaben verhindern. Zugleich gilt es dabei
eine menschenwürdige Versorgung zu sichern, aber vor allem auch Teilhabe und Inklusion
gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention zu fördern.
Insgesamt müssen unserer Auffassung nach, die Vorgaben eines modernen
Landesheimgesetzes so gestaltet werden, dass sich möglichst vielfältige, sich flexibel auf
individuelle Bedarfslagen anpassende Wohn- und Betreuungsstrukturen entwickeln können.
Zudem bietet die Überarbeitung des bisherigen Landesheimgesetztes die Chance, das
Leistungssystem effizienter zu gestalten. Es gilt, möglichst viele Ressourcen gezielt in die
Pflege und Betreuung zu lenken. Nach aktuellen Angaben des Statistischen Bundesamts
müssen sich heute bereits in einem Pflegeheim mit 60 Bewohnern rein rechnerisch etwa 3,5
Vollzeitkräfte täglich ausschließlich um die Pflegedokumentation kümmern. In einem
ambulanten Pflegedienst mit 60 Patienten sind rein rechnerisch 2,3 Vollzeitkräfte nur mit der
Pflegedokumentation beschäftigt.
Vor diesem Hintergrund muss die Qualitätssicherung durch die zuständigen
Aufsichtsbehörden künftig personenzentriert die tatsächliche Ergebnisqualität und weniger
institutionenorientiert bestimmte, normierte Prozess- und Strukturqualitäten in den Blick
nehmen.
Die Versorgungs- und Betreuungsinfrastruktur muss in Richtung quartiersorientierter,
kleinräumiger und gemeinwesenintegrierter Strukturen weiterentwickelt werden, die
hierdurch eine hohe Transparenz für die Betroffenen, deren Angehörigen sowie für das
unmittelbare soziale Umfeld im Alltag gewährleisten. Hierdurch kann die Notwendigkeit
behördlicher Kontrolle in den Hintergrund rücken.
Bewertung der vorliegenden Eckpunkte vor diesem Hintergrund
Mit den vorliegenden Eckpunkten als Grundlage für eine Novellierung des
Landesheimgesetzes Baden-Württemberg beabsichtigt die Landesregierung die Teilhabe
und Selbstorganisation von Menschen in den Pflege- und Behinderteneinrichtungen und in
der Gesellschaft zu fördern sowie die Bildung neuer und innovativer Wohn- und
Betreuungsformen für hilfe- und unterstützungsbedürftige Menschen zu unterstützen.
Wir begrüßen daher prinzipiell, das zur Zielerreichung skizzierte System einer
Differenzierung von Angebotstypen mit gestaffelten und bedarfsangepassten
Anforderungsprofilen je geschützter Wohnform.
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Eine Ausweitung des Geltungsbereiches auf die Bereiche, in denen das Landesheimgesetz
bisher nicht gegolten hat, wie bspw. auf ambulant betreute Wohngemeinschaften für
Menschen mit Behinderung, lehnen wir jedoch ab.
Diese haben sich bewährt – eine qualitätsgesicherte Leistungserbringung auf Basis
moderner Pflege- und Betreuungskonzepte ist in diesen durch die entsprechende
Abstimmung mit den zuständigen Kostenträgern bereits heute gewährleistet.
Vor dem Hintergrund eines absehbar zunehmenden Bedarfs an niedrigschwelligen Wohnund Betreuungsformen für ältere/ pflegebedürftige, behinderte und psychisch erkrankte
Menschen im ambulanten Versorgungssystem hemmt eine entsprechende Ausweitung des
Geltungsbereiches die Entstehung genau jener.
Ambulante Dienste spielen für die Gestaltung einer niedrigschwelligen sozialen
Versorgungsinfrastruktur eine zentrale Rolle. Von einer sich hieraus ableitenden Ausweitung
des Geltungsbereichs und der Kontrollen auf die ambulante Dienstleistungserbringung ist
abzusehen. Durch die regelmäßige Leistungszulassung der ambulanten Leistungserbringer
nach den einschlägigen Sozialgesetzbüchern kann grundsätzlich von deren
qualitätsgesicherten Leistungserbringung ausgegangen werden. Eine etwaige Ausweitung
wäre eine enorme Zusatzbelastung durch die Bindung von Personalressourcen bei
ambulanten Leistungserbringern, die bereits heute massiv mit dem Fachkräftemangel
konfrontiert sind. Daher stimmen wir zu, dass eine Ausweitung der heimrechtlichen
Überwachung auf ambulante Pflegeserviceangebote, wie aus den vorgelegten Eckpunkten
hervorgeht, nicht vorgesehen ist.
Der als zwingenden Voraussetzung zur Betriebszulassung angedachten Einsicht von
Kund/innen in die wesentlichen Ergebnisse der Heimaufsichtskontrollen vor
Vertragsabschluss mit einem frei gewählten Leistungserbringer stehen wir ebenfalls
skeptisch gegenüber. Schon heute ist es allzu oft gängige Praxis, dass die Prüfergebnisse
selbst den Trägern erst mit erheblicher Zeitverzögerung zugänglich gemacht werden.
Vielmehr muss das Beratungs- und Begleitungssystem für Betroffene und deren Angehörige
gestärkt werden, was eine wesentliche zukünftige Kernkompetenz der
Heimaufsichtsbehörden sein sollte.
Im Rahmen der Novellierung des Heimgesetzes sollte zudem die Chance genutzt werden,
die de facto existierende Überschneidungsmenge von Prüfungsinhalten bei Kontrollen von
Heimaufsicht und MDK seitens des Ordnungsrechts zu reduzieren. Auch wenn die jeweiligen
Aufsichtsbehörden formal unterschiedlichen Prüfaufträgen nachgehen, gibt es in der Praxis
vielfache Überschneidungen und Unklarheiten, bspw. bei den Prüfinhalten zu Strukturdaten/
Personal, Unterkunft/ Wohnen, Hygiene/ Infektionsschutz/ Medikamente sowie Verpflegung/
Hauswirtschaftliche Versorgung – beim Vergleich der Prüfinhalte ist de facto erkennbar, dass
ca. 60 Seiten aus dem Prüfleitfaden der baden-württembergischen Heimaufsichten inhaltlich
deckungsgleich mit den Anforderungen der MDK-Prüfungsanleitung sind. Für die Träger
führt dies zu enormen und bald nicht mehr stemmbaren Belastungen durch umfassende
Mehrfachprüfungen.
Um Dopplungen zu vermeiden, erscheint eine Begrenzung des Prüfauftrags der
Heimaufsicht auf eine regelmäßige Mindestprüfung oder anlassbezogene Prüfungen neben
einem umfassenden allgemeinen Beratungsauftrag für Klienten, deren Angehörige und
Träger in bestimmten Fragen zweckdienlich. Erreicht eine Einrichtung des Weiteren ein
gutes Ergebnis, sollte eine Verlängerung der Prüfintervalle für diese in Abstimmung der
unterschiedlichen Prüfinstanzen untereinander möglich sein. Gerade für kleinere
Einrichtungen wäre dies von großer Wichtigkeit, denn je kleiner ein Heim, desto größer die
Belastung durch unkoordinierte Mehrfachprüfungen.
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Konkrete Forderungen für künftiges Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz
Das in den Eckpunkten skizzierte System einer Differenzierung von Angebotstypen mit
gestaffelten und bedarfsangepassten Anforderungsprofilen je geschützter Wohnform
muss derart gestaltet werden, dass die Anforderungen für neue Wohn- und
Betreuungsformen nicht an den Maßstäben für stationäre Versorgungsformen gemessen
werden – die WG darf nicht zum Heim werden.
Wird im Bereich der Behindertenhilfe eine neue Wohn- und Betreuungsform unter
Heimgesichtspunkten gewertet, greifen automatisch die Schutzvorgaben weiterer
Rechtsgebiete, wie bspw. Hygieneschutzvorschriften. Eine zu strenge Auslegung jener führt
leider allzu oft zu einer Verhinderung des Entstehens der politisch gewollten,
niedrigschwelligen Versorgungs- und Betreuungsstrukturen.
Insgesamt ist es von großer Bedeutung, dass die Integration von Menschen mit
Assistenzbedarf in das normale Lebens- und Wohnumfeld ermöglicht wird. Um dies zu
fördern, müssen beim Bezug von Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt
Abweichungen von den geforderten Standards möglich sein. Wenn insgesamt ein allgemein
üblicher Wohnstandard eingehalten wird, müssen kleinere Abweichungen bspw. beim
Zimmerzuschnitt möglich sein, damit das höherrangige Ziel des normalen Wohnens und der
Gemeindeintegration realisierbar ist.
Für Träger ist des Weiteren bei der Realisierung neuer Wohn- und Betreuungsformen von
wesentlicher Bedeutung, dass die gestaffelten, angebotsbezogenen und
zielgruppenspezifischen Anforderungen ihnen Planungssicherheit und Umsetzungsflexibilität
ermöglichen. Daher sollten die ordnungsrechtlichen Vorgaben zu Personal und Bau in
Abhängigkeit von der jeweiligen Wohnform (ggf. Einrichtungsgröße/ Platzzahl), der
Zielgruppe und der fach- und zielgruppenspezifischen Konzeption mit klar bestimmten
Rechtsbegriffen definiert werden:
• Bedarfsbezogen-flexible Gestaltung von Wohngruppengrößen;
• qm²-Vorgaben für Individual-, Gemeinschafts-, Funktionsräume dürfen nicht
kleinteilig auf Stockwerke, Wohngruppen etc. bezogen werden, sondern müssen im
Gesamten gelten, bei flexibler konzeptioneller Umsetzung;
• Personalanforderungen sind auf eine gesamte Einrichtung und nicht auf einzelne
Wohnbereiche beziehen.
In diesem Kontext sollte zudem die Sicherstellung eines Rechtsanspruchs zum Aufrufen von
nachträglichen bzw. außerplanmäßigen Pflegesatzverhandlungen für Träger der
Behinderten- bzw. Altenhilfe gegenüber den jeweiligen Kostenträgern verankert werden.
Dies ist notwendig, um nachträglich angezeigten, ordnungsrechtlichen
Anpassungsanforderungen auf Grundlage dann insgesamt auskömmlicher Leistungs- und
Entgeltvereinbarungen nachkommen zu können.
Darüber hinaus dürfen trägerorganisierte Wohn- und Betreuungsangebote keinen strengeren
Bau-und Hygienestandards unterworfen werden, als solche, bei denen der Vermieter nicht
gleich dem Leistungsanbieter ist. Es darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden, wenn
Wohnungsunternehmen oder Sozialunternehmen den Wohnraum vermieten.
Nicht zuletzt im Lichte des bereits heute spürbaren Fachkräftemangels sind zudem flexible
Personalvorgaben und -organisationsmodelle (Personalunion von Pflegedienst- und
Einrichtungsleitung, eine Einrichtungsleitung für mehrere Häuser) für die Stärkung und
Aufrechterhaltung einer kleinteilig-gemeinwesenorientierten Versorgungsinfrastruktur von
großer Bedeutung.
Liebenau, 18. September 2012
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