Das Buch als Magazin - Interview Peter Wagner - physio
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Das Buch als Magazin - Interview Peter Wagner - physio
Interview Peter Wagner | Fotos Jürgen Stein Knack Herr Norys sagt, dass Bewegung stark macht. 94 Das B uch als M agazin | DIE VERWANDLUNG Es passiert gern im Bett, gern am Morgen, nur ein Ruck, eine falsche Bewegung – und wir werden starr vor Schmerz. Der Rücken. Ein Gespräch mit dem Physiotherapeuten Markus Norys aus Garmisch-Partenkirchen über seine Patienten und deren Jammer mit dem Rückgrat. Herr Norys, was ist besser für meinen Rücken: Joggen oder Schwimmen? Jede Bewegung ist gut. Das Problem ist, dass sich fast sechzig Prozent der Bevölkerung gar nicht bewegen. Liegt es nur an der Bewegung? Ich habe gelesen, dass an Rückenschmerzen häufig der Kopf schuld ist. Stimmt auch. Ich sage Ihnen drei Zahlen. Fünfzehn Prozent der Rückenschmerzen sind radiologisch und klinisch nachweisbar. Fünfundzwanzig Prozent der Rückenschmerzen sind meiner Meinung nach muskuloskeletal bedingt – gut ausgebildete Physiotherapeuten können sie erkennen und behandeln. Sechzig Prozent der Rückenschmerzen sind nicht muskuloskeletal bedingt. Da spielt der Kopf eine Rolle. Wie kommen diese sechzig Prozent zustande? Stellen Sie sich eine Badewanne mit drei Wasserhähnen und einem Ablauf vor. Durch jeden der Hähne kommen negative Einflüsse in die Wanne und in Ihr Leben, die aber im Normalfall verarbeitet werden und abfließen. In einem ausgeglichenen Menschen bleibt der Wasserspiegel konstant. Was kommt aus den Hähnen? Aus dem einen Wasserhahn kommen Schmerzen aus dem muskuloskeletalen System. Woher zum Beispiel? Aus den Muskeln, aus den Gelenken, ich meine damit normale körperliche Beschwerden. Aus dem zweiten Hahn kommt negativer Alltagsstress, wie er im Beruf, auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkauf oder in einem turbulenten Familienalltag entsteht. Aus dem dritten Hahn kommt der Schmerz durch psychische Probleme, weil Sie vielleicht Trennungen verdauen müssen, Beziehungsprobleme oder Todesfälle. Das in der Badewanne ist dann so etwas wie Schmerzenswasser? Wenn Sie so wollen. Und der Wasserspiegel steht stellvertretend für meinen Schmerzpegel? Oder, aus der Sicht des Physiotherapeuten: für das Niveau Ihrer Rückenschmerzen. Wenn Zu- und Abfluss in einem normalen Verhältnis stehen, können Sie alles verdauen. Wenn aber der Schmerz mit voller Kraft aus einem Hahn feuert, läuft die Wanne über. Wasserschaden. Im Rücken werden Schmerzen wahrnehmbar. Sie reden so, als sei der Rücken so etwas wie das Fieberthermometer des Körpers. Kommen Sie mal mit. (Norys geht in den Aufenthaltsraum der Praxis und deutet hinter die Tür, dorthin, wo sich Fundsachen von Patienten sammeln.) In der Praxis gibt es eine Stelle, wo sich der Müll ansammelt. Hier ist meistens Chaos. Jedes Haus hat eine solche Ecke. Der Körper auch. Der Rücken ist die einzige Stelle des Körpers, an die ich nicht hinschauen kann. Ich glaube, Sachen, die nicht verarbeitet sind, werden in den Rücken projiziert oder in den Rücken verräumt. Je schlimmer es da aussieht, desto schlechter geht es Ihnen. Bedeutet das nicht, dass Sie eigentlich einen Psychotherapeuten in Ihre Praxis holen müssten? Eigentlich ja. Früher haben wir alle Patienten auf der Liegebank behandelt, am Muskel, am Schmerz. Das ist heute anders. Wir reden jetzt über das biopsychosoziale Schmerzmodell. Aber hat das denn Konsequenzen in der Behandlung? Viele Bandscheibenvorfälle werden vorschnell operiert. Von einem Psychologen keine Spur. Manche Ärzte haben nur drei Minuten für ihre Patienten. Die schieben die in den Kernspintomografen, schauen auf die Bilder, finden einen Bandscheibenvorfall und ordnen eine Operation an. Es gibt Chirurgen, die operieren dabei einen Rückenschmerz, der nicht klinisch reproduzierbar ist. Was heißt das? Vierzig Prozent aller Vierzigjährigen haben einen Bandscheibenvorfall oder eine Bandscheibenvorwölbung … › Das Buch als M agazin | DIE VERWANDLUNG 95 Das ist viel. … aber nicht alle haben damit Beschwerden. Ich will nur sagen, dass die Bilder aus dem Kernspin mehr Rückenbeschwerden dokumentieren, als wirklich vorhanden sind. Nicht jeder Bandscheibenvorfall muss operiert werden. Der Patient aber hat nun ein Bild und kommt mit dem Bild zu mir. Was machen Sie? Ich lege das Bild zur Seite und schaue mir den Menschen an. Nur ein paar Prozent der Betroffenen haben einen Vorfall, der eine Symptomatik verursacht. Wie stellen Sie das fest? (Norys geht in eines seiner Behandlungszimmer und legt sich auf die Behandlungsbank. Er hebt das linke Bein.) Ich nehme das Bein des Patienten in Rückenlage hoch. Wenn der Schmerz ins Bein und in den Rücken feuert, dann ist es zum Beispiel ein Zeichen, dass es ein Bandscheibenvorfall sein könnte. Wenn dann auch noch zusätzlich eine deutliche muskuläre Schwäche vorhanden ist und Reflexe nicht ausgelöst werden können, ist eine Operation sinnvoll. Aber was Sie beschreiben wird doch jeder Arzt vor Ihnen untersuchen? Der Orthopäde und viele Hausärzte untersuchen das normalerweise. Aber nicht immer. Und man kann schon mal was übersehen. Neulich war ein Patient bei mir und sagte: „Markus, schnell, renk mich wieder ein.“ Was bedeutet dieses Einrenken? Dieses „Ich hab mir was ausgerenkt“ oder „Ich hab Rücken“ bezeichnet meist eine klassische Blockierung. Nach einer plötzlichen Bewegung schießt der Schmerz in den Rücken, und ich kann mich nicht mehr bewegen. Viele stellen sich dabei einen ausgerenkten Wirbel vor. Meist entsteht die Blockade aber zwischen zwei Facettengelenken. Das ist die gelenkige Verbindung zwischen zwei Wirbelkörpern. Die Facetten kleben bei einer Blockade aufeinander wie zwei Glasplatten. Wenn man diese Blockade durch einen speziellen Griff löst, macht es „plopp“. Es scheint zu knacken. Dann ist der Patient wieder mobilisiert. War bei dem Patienten alles gut, als Sie ihn eingerenkt hatten? Ich habe ihn nicht mobilisiert. Erst musste ich einen physiotherapeutischen Befund aufnehmen. Er hatte Schmerzen, die ins Bein ausstrahlten. Das ist schon mal kritisch. Als ich den Test machte, war mir klar: So einfach, wie sich das der Allgemeinarzt vorstellte, der ihn zu mir überwiesen hatte, war das nicht. Der Mann hatte brutale Schmerzen und motorische Ausfälle. Wir haben ihm einen Termin beim Orthopäden verschafft, von dort ging es zum Neurologen und schließlich in die Fachklinik. Mit welchem Ergebnis? 96 Das B uch als M agazin | DIE VERWANDLUNG Das Interessante: Der Physiotherapeut von heute soll die Hände vom Schmerz nehmen. Er hat eine schwerwiegende neurologische Erkrankung. Aus einer Blockade wurde eine lebensverändernde Krankheit. Was schließen Sie aus der Geschichte? Innerhalb von drei Minuten kann man nicht entscheiden, was genau hinter Rückenbeschwerden steckt. (Norys steht von der Liege auf und geht zum Empfang seiner Praxis. Er zieht ein Rezept aus der Ablage.) Sehen Sie, hier ist ein typisches Rezept mit einer Diagnose. „BWS-Syndrom“. Das klingt wie eine Diagnose, bezeichnet aber nur einen ungenauen Schmerz im Brustwirbelsäulenbereich. Wo er genau herkommt? Häufig kümmert sich niemand darum. Ein anderes Beispiel: Im vergangenen Jahr hatte ich eine Patientin mit einer vom Arzt diagnostizierten Blockade des Iliosakralgelenks, die meist Schmerzen in der Hüfte oder im Beckenbereich auslöst. Während der dritten Behandlung fragte ich sie, was denn damals, vor zwei Jahren gewesen sei, als der Schmerz zum ersten Mal auftauchte. Sie sagte, sie sei damals mit Zwillingen schwanger gewesen. Sie ließ eine Fruchtwasseruntersuchung machen – und hatte danach einen Abgang. Das ist schrecklich. Aber im Rezept steht einfach nur: „ISG-Blockade“. Wissen Sie, der Frau ist nicht geholfen, wenn ich bloß den Rücken mobilisiere. Aber ich darf sie ja nicht an den nächsten Arzt überweisen, ich bin nur der Physiotherapeut. Ihren Hausarzt, den ich auf die Geschichte hinwies, den hat das nicht interessiert. Es war schon schwierig, ihn bloß ans Telefon zu bekommen. Auf einen Termin beim Psychologen warten Sie Monate – Sie bekommen schneller einen OP-Termin als einen Platz beim Psychologen. Was ist mit der Frau geschehen? Ich habe sie, ganz ehrlich, nach den Behandlungen aus den Augen verloren. Seit achtzehn Jahren haben Sie Ihre eigene Praxis für Physiotherapie. Wie haben sich in dieser Zeit Ihre Patienten verändert? Die Beschwerdebilder sind dieselben geblieben. Viel Wirbelsäule, viel Schulter. Aber die Menschen haben mehr Angst. Wovor? Vor der Zukunft. Der amerikanische Präsident Barack Obama macht jeden Morgen eine Stunde Sport. Er sagt, er würde sonst wahnsinnig werden. Das ist brutal wichtig. Bewegung setzt Potenziale im Hirn frei. Und im Leben. Ist unser Leben zu vollgestopft? Unser Anspruch an das Leben steigt. Sich mittags zehn Minuten hinlegen, Augen zumachen, loslassen, das ist für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Bei berufstätigen Frauen Das Buch als M agazin | DIE VERWANDLUNG 97 sehe ich es ganz krass. Sie wollen Karriere machen, gute Mütter und Ehefrauen sein, dann noch sportlich, engagiert. Burn-out oder Rückenschmerzen, eines von beiden ist oft die Folge. Ein bekannter Rückenspezialist sagte einmal, die Menschen seien früher fitter gewesen. Vor Beginn des automobilen Zeitalters sei man fünfzehn Kilometer am Tag gegangen, heute nur noch einen Kilometer. Wäre alles besser, wenn jeder joggen würde? ... viele Ärzte empfehlen ja eher Rückenschwimmen. Stimmt. Totaler Schwachsinn. Weshalb? Machen Sie mal im Hallenbad Rückenschwimmen, da haben Sie ruckzuck jemanden am Kopf. Die meisten wissen gar nicht, wie es richtig geht, und paddeln im Hohlkreuz dahin, sodass eher neue Probleme entstehen. Hm. Wenn einer fünfzig Jahre alt ist und nie schwimmen war und auch keinen Spaß daran hat: Warum soll ich ihm das empfehlen? Aber wenn jemand jahrelang gejoggt ist, dann soll er doch um Gottes willen weiterjoggen. Wenn es geht, vielleicht auf Waldboden. Ist Joggen denn wirklich gut für den Rücken? Der Körper wird aktiviert, wenn Sie gut mit den Füßen abrollen, federnd laufen, den Rumpf rotieren, Becken links, rechts, links, rechts, die Arme pendeln. Nordic Walking? Der Gag beim Nordic Walking ist, dass ich größere Schritte mache und den Stock weit vorne einsetze. So habe ich eine super Dehnung auf die Hüftbeuger, die häufig durchs viele Sitzen verkürzt sind. Wer die Stöcke schlapp nachschleifen lässt, kann es auch gleich sein lassen. Welcher Beruf ist am besten für den Rücken? (Überlegt lange.) Sportlehrer. Stimmt es, dass vor allem Leute aus der Gastronomie Rückenbeschwerden haben? Ich habe viele Kellner in Behandlung. Die haben mehr Stress als vor zehn Jahren und bewegen sich beim Servieren einseitig. Zu den Berufsgruppen, die besonders belastet sind, zählen außerdem Heizungsinstallateure, Menschen am Bau und in Pflegeberufen und Fensterbauer. Warum Fensterbauer? Immer mehr Fenster sind heute dreifach isoliert und dadurch besonders schwer. Was ist in Ihrem Job anders als vor achtzehn Jahren? Es gibt eine Untersuchung, nach der ein Physiotherapeut früher während einer zwanzigminütigen Behandlung zwanzigmal das Wort „Schmerz“ in den Mund genommen hat. 98 Das B uch als M agazin | DIE VERWANDLUNG Au. Das ist die wichtigste Änderung beim Behandeln von Rückenschmerzen: Es ist wichtig, nicht mehr so viel vom Schmerz zu sprechen. Wir verordnen jetzt, wenn es geht, das Gegenteil: Aktivität. Früher hat man den Menschen bei chronischen Schmerzen Ruhe verordnet. Ins Bett legen, nichts tun. Und es ist schlimmer geworden. Heute wissen wir: Die Leute müssen sich trotz chronischer Schmerzen bewegen. Wir versuchen unsere Hände von der Schmerzstelle wegzunehmen und den ganzen Menschen zu aktivieren. Das bedeutet? Heute habe ich fünf Geräte zur Rückenstärkung in meiner Praxis stehen. Am Anfang hatte ich keines. Klingt vernünftig. Leider bekommen die Leute in diesen chronischen Schmerzsituationen oft immer noch was anderes verschrieben: Massagen und Packungen. Dabei wird wieder der chronische Schmerz bearbeitet. Es wird wieder die Schmerzstelle massiert, der Patient kriegt die Packung und wird auf diese Weise im Schmerz bestätigt. Dabei wäre Krankengymnastik am Gerät das Richtige. Es ist nicht angenehm für den Patienten, aber wenn du einen Schmerz hast, musst du etwas tun. Auch wenn es richtig wehtut? Dazu muss man natürlich klären, was Schmerz ist. (Norys marschiert in seinen Gymnastikraum.) Hier ist ein Rückentrainer. Sie setzen sich drauf und drücken mit dem Rücken ein Gewicht nach hinten. Ich habe Patienten, die sagen: „Das geht gar nicht!“ Auch beim leichtesten Gewicht von zweieinhalb Kilogramm höre ich: „Oh, das ist brutal, das geht gar nicht.“ Nun gehen Sie mal in die Hocke, wie ein Skifahrer. Nach ein paar Sekunden spüren Sie, wie die Oberschenkelmuskeln brennen. Das ist, wenn man so will, auch eine Form von Schmerz. Diesen Schmerz meinen die Patienten manchmal beim Rückentrainer: Es gibt Patienten, da kann der Muskel vom Gehirn schlicht nicht mehr angesteuert werden. Nun misst Ihre Praxis dreihundert Quadratmeter, achtzig davon sind der Gymnastikraum mit den Rückentrainern. Rechnet sich das, wenn die Ärzte nur die gute alte Behandlung verschreiben? Allein für die Geräte habe ich siebzigtausend Euro investiert. Weil ich gesagt habe: Wir geben Gas und machen die Praxis zukunftsfest für die chronischen Schmerzpatienten. Aber ich krieg den Raum nicht ausgelastet. Hier müsste neun Stunden am Tag Programm sein, ich krieg ihn aber nur sechs Stunden belegt. Die Einzelbehandlung bei chronischen Rückenschmerzen wird immer noch mehr verordnet als die Krankengymnastik an den Geräten. Was kostet das eine und das andere? Die Ärzte in Deutschland schreiben lieber eine zwanzigminütige Massage für neun Euro auf, damit sie ihr Heilmittelbudget nicht überziehen. Die Stunde am Gerät kostet für die gesetzlich Versicherten circa fünfundzwanzig Euro. Angeblich zu teuer. Nur zwei Prozent aller Physiotherapieverordnungen innerhalb der gesetzlichen Versicherung in Deutschland laufen auf Krankengymnastik am Gerät hinaus. Sie haben sechzehn Mitarbeiter und jeden Tag von acht bis zwanzig Uhr geöffnet. Wie halten Sie Ihren Rücken sauber? Ich habe ein tolles Team und rede mit jedem viel. Ich mache Sport, um den Kopf frei zu bekommen. Und ich habe auch nach achtzehn Jahren noch das Gefühl, den richtigen Job zu machen. Außerdem habe ich einen super Ausgleich in meiner Familie. Wie voll ist Ihre Badewanne? Der Wasserspiegel ist meist gut ausgeglichen. 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